Untitled - Instytut Książki
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NEUE BÜCHER AUS POLEN DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT Das Polnische Buchinstitut ist eine staatliche Kultureinrichtung, deren Hauptziele darin liegen, die Lesebereitschaft zu fördern, das Buch als Medium und die Leselust in Polen zu verbreiten sowie weltweit für die polnische Literatur zu werben. Diese Ziele werden umgesetzt durch: »Vorstellung der besten polnischen Bücher und Werbung für ihre Autoren »Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten Umgang mit dem Buch verdeutlichen »Programme zur Leseförderung »Präsentation der polnischen Literatur im Ausland »Übersetzerkolleg »Seminare für Verleger »Übersetzungsprogramm © POLAND »Sample Translations © POLAND »Informationszentrum für Kinderbücher »Informationsportal zur polnischen Literatur www.bookinstitute.pl Das Buchinstitut organisiert Literaturprogramme bei polnischen Auftritten auf ausländischen Buchmessen, bereitet Lesungen polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals vor, gibt regelmäßig den Katalog „NEUE BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in dem literarische Neuerscheinungen präsentiert werden, organisiert Studienreisen und Seminare für Übersetzer polnischer Literatur, zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und verleiht den Preis „TRANSATLANTYK“ für den besten Vermittler polnischer Literatur im Ausland. Das Programm der Leseförderung besteht aus einer Reihe von Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und NGOs richten. Dazu gehört u.a.: das Projekt Buchdiskussionsklubs. www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland, präsentiert Neuerscheinungen und Verlagsprogramme und betreibt einen regelmäßigen Rezensions-Service. Man findet dort außerdem über 100 Kurzporträts zeitgenössischer polnischer Autoren, die Vorstellung von über 500 Publikationen, Fragmente, Essays, Anschriften der Verleger und Literaturagenten. Alles über polnische Bücher – auf Polnisch, Englisch, Deutsch und Hebräisch. AUSGEWÄHLTE PROGRAMME DES BUCHINSTITUTS DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND Ziel des Programms ist es, Übersetzungen polnischer Literatur zu fördern und ihre Präsenz auf den ausländischen Buchmärkten zu stärken. Das Programm umfasst insbesondere Belletristik und Essayistik, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbücher. Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen. Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert werden: • bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs • bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus dem Polnischen. SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen Verlegern zu präsentieren. Bezahlt werden 20 Seiten einer Probeübersetzung. Die Bewerbungsformulare beider Programme können postalisch beim Buchinstitut in Krakau angefordert, oder von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden. ÜBERSETZERKOLLEGIUM Das Programm wird vom Buchinstitut in Zusammenarbeit mit dem Verein Villa Decius und der Jagiellonen-Universität durchgeführt. Es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur, die Belletristik, Essayistik, Dokumentarliteratur oder geisteswissenschaftliche Literatur im weitesten Sinne übertragen und bietet ein- bis dreimonatige Stipendienaufenthalte in Krakau. TRANSATLANTIK Transatlantik ist der alljährig von dem Buchinstitut vergebene Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Verbreitung der polnischen Literatur im Ausland einsetzen. Der Preis, dotiert mit 10.000 Euro, kann u. A. an Übersetzer, Verleger, Literaturkritiker, Polonisten verliehen werden. KONTAKT: Das Polnische Buchinstitut ul. Szczepańska 1 PL 31-011 Kraków E-mail: [email protected] Phone: +48 12 433 70 40 Fax: +48 12 429 38 29 www.bookinstitute.pl Direktor des Polnischen Buchinstituts: Grzegorz Gauden INHALT SEITE AUTOR TITEL 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Liebling, ich habe die Katzen getötet 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 DOROTA MASŁOWSKA JOANNA BATOR TOMASZ RÓŻYCKI ZYTA ORYSZYN KRZYSZTOF VARGA SYLWIA CHUTNIK IGOR OSTACHOWICZ ZOŚKA PAPUŻANKA MARIUSZ SIENIEWICZ ADAM WIEDEMANN ŁUKASZ ORBITOWSKI MAŁGORZATA SZEJNERT WOJCIECH JAGIELSKI JACEK HUGO-BADER KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA PAWEŁ SMOLEŃSKI MARIUSZ WILK OLGA TOKARCZUK FILIP SPRINGER MARTA GUZOWSKA ADRESSEN DER VERLAGE UND AGENTEN Dunkel, beinah Nacht Bestiarium Die Rettung von Atlantis Späne Die Schlawinerinnen Die Nacht der lebenden Juden Das Affenhaus Dornröschens Beichte Entsprechungen Gespenster Das Heim der Schildkröte. Sansibar Brennendes Gras Kolyma-Tagebücher Sumpflein Der Araber schießt, den Juden freut‘s Der Zug der Gänse Der Moment des Bären Von schlechter Geburt Die Opferung der Polyxena 6 DOROTA MASŁOWSKA DOROTA MASŁOWSKA (GEB. 1983), SCHRIFTSTELLERIN, DRAMATIKERIN. DEBÜTIERTE 2002 MIT IHREM ROMAN „SCHNEEWEISS UND RUSSENROT“. DER ZWEI JAHRE SPÄTER ERSCHIENENE ROMAN „DIE REIHERKÖNIGIN“ BRACHTE IHR DEN NIKE-PREIS EIN. IHR DRAMA „ZWEI ARME POLNISCH SPRECHENDE RUMÄNEN“ WURDE U. A. IN AUSTRALIEN, IN DEN USA UND AUF DER INSEL SACHALIN AUFGEFÜHRT. Photo: Marcin Nowak Liebling, ich habe die Katzen getötet Dieser Roman ist eine Offenbarung! Wer hätte geglaubt, dass das sensationelle „Schneeweiß und Russenrot” noch zu übertreffen wäre? Aber Dorota Masłowska, die begabteste Autorin der jungen Generation, ausgezeichnet u.a. mit dem Paszport Polityki und dem Nike-Preis, hat ihr vermutlich bisher bestes Buch veröffentlicht. Eine Überraschung folgt hier auf die andere: Nicht, wie bisher, in Polen spielt der Roman, sondern in New York. Die Erzählform, bisher meist ein gigantisches Experiment, ist hier zurecht gestutzt, geglättet – hurtig geht es voran, ohne auch nur ein bisschen an Ausdruckskraft, ja magnetisierender Anziehungskraft einzubüßen. Die Sätze kommen so unangestrengt daher, als hätten sie sich von allein geschrieben. Gleichwohl muss hinter ihrer Eleganz, Präzision, hinter treffenden Vergleichen und Metaphern und dem Witz eine konzentrierte schriftstellerische Arbeit gestanden haben. Die Erzählung rankt sich um die weibliche Hauptperson. Was unverändert geblieben ist, sind die treffenden Beobachtungen und Ausbrüche von Humor, an die wir bei dieser Autorin gewohnt sind (deren Gestalt auch diesmal im Buch auftaucht!). Die Hauptperson ist Farah („der Farrer“, wie ihre Bekannten schnippisch sagen) – ein auf die Dreißig zugehender Single – auch wenn ihr Geisteszustand eher den Begriff der alten Jungfer rechtfertigen würde. Farah verbringt ihre Zeit mit der Lektüre von Ratgebern für geistige Entwicklung, grübelt über ihr verpatztes Leben nach und übt sich überhaupt im Totschlagen der Zeit. Außerdem achtet sie fanatisch auf eine gesunde Lebensweise und geht so zurück zum Inhaltsverzeichnis weit, dass sie vor der versuchten Selbstverstümmelung die Rasierklinge desinfiziert. Zu einer persönlichen Tragödie wird es für sie, als ihre Herzensfreundin Jo einen Freund findet. Wir lernen eine ganze Heerschar ihrer (eher entfernten als nahen) Bekannten kennen, die Mittel gegen Depressionen nehmen und versuchen, in der Welt der Avantgardekunst Karriere zu machen... „Liebling, ich habe die Katzen getötet“ ist eine Persiflage auf die westliche, großstädtische Lebensweise und alle dazugehörigen, zeitgenössischen Modeerscheinungen: den wohlfeilen, vom Osten abgekupferten geistigen Tiefgang, den Zwang zum Gutaussehen, zur gesunden Ernährung, vor allem aber dazu, ostentativ glücklich zu sein. Masłowska bringt uns wie üblich nur deshalb zum Lachen, damit uns dieses nach einer Weile im Hals stecken bleibt und wir unserer eigenen Dummheit, Flachheit und Unvernunft ins Auge schauen. Und schließlich die Einsamkeit – eines der Hauptthemen in diesem reifsten Buch der „Reiherkönigin“-Autorin ist der unaufhörliche, verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuch, den anderen Menschen zu erreichen. All das beschrieben in einer explosiven Sprachmixtur, die amerikanische Fernsehserien, den Straßenslang der Großstadt, Google Translator und poetische, nur dieser Autorin zugängliche Register miteinander vereint. Ein tolles Buch. Patrycja Pustkowiak Ja, hier trifft man Jedermann: Bettler wie Fürsten. Den nackten König auch, sobald nur einer dieser bekloppten Modeschöpfer verkünden würde, dass in dieser Saison aus Luft genähte Klamotten der Renner sind... Luftig, durchscheinend, ultrasexy, und am allerwichtigsten: man braucht sie nicht zu waschen... Nachteile: die Mängel der Figur kann man schlecht darunter verbergen. Ja, und andere Leute atmen deine Kleidung. An einer Ecke drängt dir jemand Hip-Hop auf, frisch aufgenommen bei MacDonalds auf dem Klo, oder eine Tasche Original chenel, obgleich die Tüte, in der sie verpackt ist, eher die vier Dollar wert zu sein scheint. An der anderen Ecke will dich ein beinloser Säufer dazu überreden, dein Leben Jesus zu schenken und dein Geld ihm, Prophet sein kostet schließlich auch... Und gleich an der dritten im Boutique-Hotel auf dem goldenen Sofa, unter Bildern von Kjowebiyr Anogiw, der jetzt schwindelerregende Preise erzielt, sitzen wie die Unschuld vom Lande die Töchter von Senatoren und diversen Prominenten, saufen sich die Hucke voll und blättern dabei in „Die widerlich reiche Muschi heute“... „Womit wirft man am besten nach dem Plasma-Bildschirm? Wir testen Champagner-Gläser.“ „Nach der Ausschabung in fünf Minuten wieder topfit? Kein Problem. Express-Schminke für den Notfall.“ „Sexy auf Entzug. Zehn Tricks, um nach einer Million Dollar auszusehen, wenn du dich in Wirklichkeit wie fünfzehn alte Deutschmark fühlst.“ „Papa, ich habe deinen Hubschrauber zu Schrott geflogen! Wie münze ich einen amüsanten Fehltritt in Erfolg um.“ „Was tun gegen den Schnauzengeruch des Pekinesen.“ „Weißt du, dass Hunde Säugetiere sind?! Neues aus der Wissenschaft.“ Diese jungen Dinger sind vielleicht nicht gut in der Schule, aber eins muss man ihnen lassen, in der Mode kennen sie sich bestens aus. Die neueste Kollektion von Zach de Boom, die sie anhaben, bekam den Namen „Holy“, und ratet mal, warum. Es ist das „Pilgerermädchen“, das in der letzten Saison die Phantasie der Modeschöpfer befruchtet hat. Louboutine hat eine Pumps-Serie herausgebracht, inspiriert von Orthopädie-Sandalen gegen Hühneraugen, und Vivienne Westwood bietet dazu weiße dicke Herrenstrümpfe mit dem Bild gekreuzter Tennisschläger in Knöchelhöhe, oder ganz einfach nackte Füße, aussätzig, mit einem karierten Taschentuch verbunden. Die Haare haben in dieser Saison unfrisch zu sein, „unattraktiv“, und ganz wichtig: „fettendes“ Make-up, trockene Lippen, am besten aufgeplatzt beim Küssen des Kruzifixes, leichte Selbstverstümmlungen. Von weitem könnte man denken, das seien irgendwelche durchgeknallten Dämchen, die auf den Knien von Lourdes hierher gerutscht sind, um das Wort Christi zu verkünden, aber schaut man genauer hin, sieht man zwischen den Polyesterlippen perlweiße Zähne blinken, die teurer sind als deine Seele, als dein ganzes beschissenes Dasein. Schon will dir scheinen, ihre einzige Beschäftigung sei das Schreien: O mein Gott! O mein Gott! und der prüfend schweifende Blick, ob der große Eindruck, den sie machen, sich gleichmäßig über dieses Tal der Tränen verteilt. Doch versuch nur einmal, dich wie ein Sack unnützen Mülls an sie heranzuwanzen, Erbarmen kannst du von ihnen nicht erwarten, sie nehmen dich in die Mangel. Wenn du kein Brot hast, sagen sie erst, dann iss Kuchen; und wenn du keinen Kuchen hast, dann iss Sahnetorte mit organischen Himbeeren. „Ich habe keine solche Torte“, flüsterst du und schluckst schmerzhaft. „Dann lass dir eine mit dem Flugzeug aus der Schweiz schicken.“ Da gibt es nichts, sie hassen einstudierte Hilflosigkeit, auch für sie war das Leben kein Zuckerlecken. Auch sie waren einmal obdachlos und haben nicht lange gejammert, sondern sich einen Palast in Florenz gekauft. Auch sie hatten einmal keinen Porsche, da haben sie sich einen Ferrari gekauft. Also wenn du schon so ein verrenktes Stück Ich-Scheiße bist, dann hab wenigstens Mitleid und verpiss dich von hier, sonst rufen sie die Wachleute. Sie kennen keinen Gnade, kein Schönheitschirurg, der etwas auf sich hält in dieser Stadt, trägt diesen Namen! So ist das in der Bohemian Street, da braucht man nicht lange drum herumzureden; demokratisch ist hier allein das Donnerleuchten der Stadt aus der Ferne und dieser Gestank, den man letzten Endes auch lieb gewinnen kann: eine Mischung aus Müll, frisch gebackenen Muffins, teuersten Parfüms, Menschen-Aa und Blechzeug aus den Eingeweiden der Metro. Das obsessive Leben dieses Distrikts endet nie, und des Nachts wird es erleuchtet vom petrochemischen Schimmer der nahegelegenen Maklergebäude. Genau hier arbeitete Joanne Jordan, zwischen der Chase und dem Laden mit Ajurveda-Kosmetika. 7 Viele assoziieren den Salon mit seinem auffällig an den Haaren herbeigezogenen Namen: „Hairdonism“. Was soll’s... Ausgedacht hat ihn sich der Besitzer, ein Kunstliebhaber mit dem Vornamen Jed, der sich bei Künstlern gern lieb Kind macht, aber im Grunde verzehrt wird von einem nie erlöschenden Groll auf das Karma, weil er selbst nicht als einer von ihnen geboren wurde. Und aus noch ein paar anderen Gründen. Wie so viele versucht er, diese Unzufriedenheit mit Hilfe von Äthylalkohol abzutöten; darin ist er konsequent, geduldig und imprägniert gegen die unausbleiblichen Niederlagen. Denn dieser Groll scheint nie zur vergehen, sondern im Gegenteil, wie das so ist, literweise begossen mit Wein, unverdünntem Whisky und „Stolitschnaja“, aufzuquellen und, Knospen gleich, immer neue Handlungsstränge zu treiben, sich neue Objekte zu suchen und weitere Schichten seiner ziemlich einsamen Lebensweise zu durchdringen. Jed ist ein großer, dicker Kerl mit recht sympathischem Gesicht, das dazu neigt, in sämtlichen Rottönen zu schillern, was ziemlich genaue Schlüsse auf den Grad seines Wirklichkeitsverlustes zulässt: von leichtem Wangenrouge bis hin zum melancholisch blinkenden Scharlachrot des nicht durchgebratenen Beefsteaks. In ganz passablen Jacketts und italienischen Schuhen versucht er, seinem Betrieb künstlerischen Schick zu verleihen, indem er jede Spalte mit Büchern voll stopft, wie es gerade kommt und stapelweise für einen Dollar zu kaufen war (Moby Dick, Mit der Osteoporose auf du und du, Leben und Tod Stalins, Decoupage an einem Wochenende, Sein wie Elton John). Er behauptet, einmal vergleichende Literaturwissenschaft studiert zu haben, dann aber drogenabhängig geworden zu sein, zum Glück hat er da heil wieder heraus gefunden, was nicht gerade oft vorkommt... Wenn er das wieder einmal erzählte, sturzbetrunken, Hand aufs Herz, dann musste man ihm einfach abnehmen, dass aus ihm ein ganz guter Essayist geworden wäre. Wenn sie gerade keinen Kunden hat, wirft Joanne manchmal einen Blick in diese bizarre Büchersammlung, liest aufs Geratewohl herausgepickte Sätze vor und wahrsagt sich selbst daraus oder setzt sie auf ziemlich sinnlose Weise mit ihrer eigenen Meinung zum betreffenden Thema in Bezug, zum Beispiel: „Er ließ sich nicht ablenken: Hör mal, der alte Köter quält sich nur!“ las sie und fügte von sich aus hinzu: „Der arme Hund. Ich hasse es, Tiere leiden zu sehen“, bevor sie den Steinbeck ins Regal zurück stellte. Oder so wie jetzt: „Zum Glück habe ich Reste von Karriere und phantastische Kinder.“ He, soll ich das als Prophezeiung nehmen? Meine Periode ist längst überfällig! „Schon wieder? seufzte Mallery, die gerade ins Magazin ging, um Bleichmittel zu holen.“ „Schon wieder“, sagt Joanne, streckt ihr die Zunge heraus und greift sich ein anderes Buch: „Soweit mir bekannt ist, enden Gebiete nicht plötzlich, sondern gehen unmerklich in die benachbarten über.“ Das war dann doch zuviel für sie. „Was für ein Unsinn“, sagte sie und drehte das Radio lauter (Beyoncé lief, die fand sie toll). „Ist dieser Beckett nicht ein Tennisspieler? Eins ist sicher: der Typ ist ganz schön durchgeknallt.“ Und genau als sie das sagte, kam ein Mädchen in den Salon. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl © Dorota Masłowska 2012 in Absprache mit Author’s Syndicate Literary Agency Für die polnische Ausgabe © 2012, Editions Noir sur Blanc, Warszawa NOIR SUR BLANC, WARSZAWA 2012 145 × 235, 160 PAGES ISBN: 978-83-7392-393-5 TRANSLATION RIGHTS: AUTHORS’ SYNDICATE LITERARY AGENCY RIGHTS SOLD TO: FRANCE / NOIR SUR BLANC zurück zum Inhaltsverzeichnis 8 JOANNA BATOR JOANNA BATOR (GEB. 1968) IST PROSAISTIN, PUBLIZISTIN UND EHEMALIGE LEHRBEAUFTRAGTE AN DER UNIVERSITÄT WARSCHAU. SIE BEFASST SICH U.A. MIT FEMINISMUS, POSTMODERNE UND PSYCHOANALYSE. BISHER SIND DIE BEIDEN ROMANE SANDBERG UND WOLKENFERN ERSCHIENEN, DEREN HANDLUNG IN BATORS HEIMATSTADT WAŁBRZYCH SPIELT, SOWIE DER JAPANISCHE FÄCHER, EIN EXZELLENTES BUCH, DAS JEDER JAPANLIEBHABER GELESEN HABEN SOLLTE. Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Dunkel, beinah Nacht Mit ihrem neuen Buch beweist Joanna Bator wieder einmal, dass sie eine der interessantesten polnischen Schriftstellerinnen der mittleren Generation ist. Dunkel, beinah Nacht entführt den Leser – ähnlich wie die hervorragend aufgenommenen Vorgängerromane Sandberg und Wolkenfern – auf eine Reise nach Wałbrzych in Schlesien. Diesmal ist es allerdings eine etwas düsterere Erkundungsfahrt. Zusammen mit der Protagonistin des Buches, der Zeitungsreporterin Alicja Tabor, erfährt der Leser die schmerzliche, bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreichende Geschichte ihrer Familie und nahestehender Personen. Alicja fährt von Warschau in ihre Heimatstadt Wałbrzych, um einen Artikel über das geheimnisvolle Verschwinden dreier Kinder – Andżelika, Patryk und Kalinka – zu schreiben. Doch der Fall verbindet sich mit anderen, bislang unaufgeklärten Ereignissen: In der Stadt ist es zu einer Reihe von Fällen grausamer Tierquälerei gekommen, und selbsternannte Propheten sind am Werk. Alicja quartiert sich in dem alten, von den Deutschen erbauten Wohnhaus ihrer Kindheit ein und tritt mit den sich äußerst seltsam benehmenden Einwohnern der Stadt in Kontakt, um Material für die Reportage zu sammeln. Den verworrenen Geschichten entnimmt sie nach und nach die Wahrheit über sich selbst und ihre tragische Kindheit, auf die der Wahnsinn der Mutter und der Tod der Schwester, die von der Legende um Schloss Fürstenstein und seine schöne, von einem Bann belegte Bewohnerin Prinzessin Daisy fasziniert war, ihren Schatten warfen... Ähnlich wie in ihren bisherigen Büchern nutzt Bator auch hier die verschiedensten literarischen Gattungen, um daraus eine einzigartige Geschichte zu zurück zum Inhaltsverzeichnis weben. Beherzt bedient sie sich der Konvention der Gothic Novel, aber auch des psychologischen und des Kriminalromans. Das Ergebnis dient jedoch nicht, wie man glauben könnte, der scherzhaften Parodierung literarischer Gattungen. Interessant ist nämlich, dass sich – auch wenn der Roman an die heute sehr zur humoristischen Lesart verleitende Schauerliteratur anknüpft – aus Dunkel, beinah Nacht eine ernsthafte Reflexion der Welt herauskristallisiert, einer Welt, durchdrungen vom Bösen (das hier den Phantasienamen der „Katzenfresser“ trägt), von historischem Leid, vom Wahnsinn und von der Tragödie derer, die diese Last ihrer Empfindsamkeit wegen nicht zu tragen imstande sind. Die Vergangenheit erweist sich als schwere, wenn nicht gar untragbare Bürde; die Geschichte wiederholt sich gern, schlafende Dämonen können jederzeit geweckt werden. Und irgendwo außerhalb dieser allgemeinen Reflexionen spielt sich schließlich auch noch die einsame Geschichte der Hauptfigur ab, die an der Unfähigkeit leidet, tiefere, zufriedenstellende Beziehungen mit anderen Menschen einzugehen. Bator beschreibt dies alles in einer Sprache, in der die stilistische Einfachheit dicht neben der Poesie liegt, die Legende sich mit der rauen Gegenwart verflicht. Ein interessantes, originelles Buch. Patrycja Pustkowiak Als ich die Tür hinter ihm zuknallte, fiel das Hufeisen herunter, das an ihrer Innenseite aufgehängt worden war, um Glück zu bringen – wobei das Glück diesen Wink jedoch übersehen haben musste. Und das Hufeisen war nicht die letzte Sache, die an diesem Tag abfiel, auseinanderfiel oder sich als hoffnungslos kaputt erwies. Das Haus starb vor meinen Augen, als wollte es sich dafür rächen, dass ich es so lange alleingelassen hatte. Im Tageslicht wurden Flecken abblätternder Farbe an der Decke und von Feuchtigkeit ausgebeulte Blasen unter den Tapeten sichtbar, verzogene Böden und Sofas, die von Motten so zerfressen waren, dass man an einigen Stellen nur noch den weißen Kettfaden sah. Das Abziehbild mit den Veilchen an der Badezimmertür hatte die Farbe verloren und die einst helllila Blüten und grünen Blätter sahen nun wie die Flügel toter Insekten aus. Ich stand in der rostgesprenkelten Wanne und wartete darauf, dass die betagte Gastherme ansprang und ich duschen konnte, doch als das warme Wasser endlich zu fließen begann, gab der Duschschlauch auf und platzte entzwei. „Wir machen Keramik- und Terrakottafliesen“, hatte mein Vater versprochen, „oder vielleicht statt einfacher Terrakotta lieber einen Zedernholzboden? Dazu ein Whirlpool, ihr könnt im Whirlpool herumplantschen wie die kleinen Seehunde im Zoo von Wrocław, was haltet ihr davon? Oder wir lassen uns aus Frankreich eine Messingwanne auf Löwenfüßen kommen?“, hatte er weiter überlegt und in großer Geste mit dem imaginären Geld um sich geworfen. Laufende Reparaturen schienen ihm bei solch hochfliegenden Plänen nicht der Rede wert gewesen zu sein. Ich ließ Wasser in diese schreckliche Wanne einlaufen und tauchte ganz unter, auch mit dem Kopf, wie als Kind, wenn meine Schwester daneben gesessen und aufgepasst hatte, dass ich nicht ertrank. Damals hatten mich die Geräusche unter Wasser fasziniert: das Klopfen, das Knirschen von Metall auf Stein, Rufe in verschiedenen Sprachen, hohle Klänge, Ächzer. Das war die Welt, in die unser Vater hinabstieg und für die er schlussendlich mit dem Leben bezahlt hatte. Es war vorgekommen, dass er an einem beliebigen Ort mit dem Finger nach unten zeigte, vor unsere Füße, und im Brustton der Überzeugung sagte: Irgendwo hier ist er. Irgendwo. Hier. Ist Hitlers Schatz. Wenn ich ihn finde, und ich habe jetzt eine Karte von wunderbarem Wert und zuverlässiger Zielsicherheit, ändert sich unser Leben bis zur Unkenntlichkeit. Er würde uns so glücklich machen, dass wir einander von Neuem kennenlernen müssten. Irgendwo unter dieser alten Wanne, in der die Geräusche der unterirdischen Stadt widerhallten, war der Schatz, den unser Vater gesucht hatte, wenn er sich in seinen ausgetretenen tschechoslowakischen Schuhen auf den Weg machte, eine Bergarbeiterleuchte vor der Stirn. Ich hatte versucht zu verstehen, warum er lieber dort war als hier, bei Ewa und mir. „Bitte sehr, meine Damen und Herren“, hatte meine Schwester gewitzelt, wenn ich tauchte, „hier sehen Sie Alicja Tabor, die Wasserkameldame, Forscherin der Meere und Ozeane, in die sie sich begibt, wenn sie von der Wüste genug hat! Die einzige Kameldame mit Flossen und Kiemen. Eine seltene Gattung. Unter strengem Artenschutz. Heute erzähle ich Ihnen, was sie im Unterwasserreich unserer Badewanne alles gesehen und gehört hat.“ Der Spaß hatte darin bestanden, dass ich wahrheitsgemäß erzählte, was ich gehört hatte – ein Klopfen, wie jemand auf Deutsch oder einer ähnlichen Sprache zählte, in der es ein statt eins hieß, wie ein Glas auf Steinboden fiel –, und Ewa dann den Rest dazudichtete. Sie hatte sich Geschichten ausgedacht, das konnte sie am besten. Und ich konnte zuhören. Vielleicht irrte ich mich ja, wenn ich glaubte, schon so stark zu sein, dass dieses Haus voller Tod und Geister mir nichts anhaben könnte. Ich wusste, dass ich der Angst nicht nachgeben durfte, und war deshalb hier abgestiegen und nicht in dem von der Redaktion reservierten Hotel, in der niemand eine Ahnung hatte, dass mir ein altes Haus in Wałbrzych gehörte. Ich redete nicht gern über die Vergangenheit und knüpfte selten so enge Kontakte mit anderen Menschen, dass Vertraulichkeiten von mir erwartet wurden. „Ich habe keine Familie“, sagte ich, wenn die Frage nach meinen Eltern und Geschwistern kam, die Frage, die meine Bekannten so liebten, denn sie konnten sich Ewigkeiten über das ihnen widerfahrene Unrecht auslassen, die Traumata und die Arten, mit ihnen fertigzuwerden, oder eher: nicht fertigzuwerden, indem man sich jahrelangen Therapien unterzog. Ich dagegen hatte mein ganzes erwachsenes Leben hindurch meine Kräfte gesammelt, wie man Vorräte für einen langen Winter zusammenträgt, und ich hatte das Gefühl gehabt, ganz gut auf diese Reise vorbereitet zu sein. Als in Wałbrzych Kinder zu verschwinden begannen, wusste ich, dass der Moment gekommen war und dass ich, die von den Kollegen aus der Redaktion „Alicja Panzernashorn“ genannt wurde, über sie schreiben musste. Nun war ich hier und das Haus, dessen Schlüssel ich immer bei mir trug, bleckte sein schadhaftes nachdeutsches Gebiss. 9 Nach Bad und unterirdischem Konzert beschloss ich, durch alle Räume zu gehen und nachzusehen, wozu diese Bruchbude imstande war und wozu ich, Alicja Panzernashorn, imstande war. Im ersten Stock waren zwei Schlafzimmer, eins davon hatte früher Ewa und mir gehört, und hier, auf dem alten Doppelbett mit dem Eichenrahmen und der durchgelegenen Matratze, wollte ich auch jetzt schlafen. Der Tisch, an dem wir früher unsere Hausaufgaben gemacht hatten, zwei Stühle, ein leerer Schrank, ein Flickenteppich, weiter nichts. Das zweite Schlafzimmer war seit Jahren leer, dort stand nur ein matratzenloses Metallbett, traurig wie ein verlassenes Schiffswrack auf einer Sandbank. Früher einmal, in Zeiten, an die ich mich nicht erinnerte, war es das Ehebett meiner Eltern gewesen, aber später zog mein Vater nach unten um, und von da an war das Arbeitszimmer für ihn Schlafzimmer, Esszimmer und Zufluchtsort in einem. Dorthin ging ich als nächstes, über die Treppe, die so knarrte, dass ich fürchtete, sie könnte unter meinem geringen Gewicht zusammenbrechen. Die Banalität des Verfalls ärgerte mich, vielleicht weil ich im tiefsten Innern erwartet hatte, dieses Haus würde auf irgendeine spektakulärere und weniger absehbare Weise sterben. Als ich die Tür zu Vaters Zimmer öffnete, schlug die verdichtete Zeit mir wie eine Woge entgegen. Vor dem Fenster wuchs das Schloss Fürstenstein aus einem Buchenwald empor, und wenn unser Vater am Schreibtisch arbeitete, der immer von Stapeln verstaubter Papiere und Bücher überhäuft war, hatte er, sobald er den Blick von seinen historischen Abhandlungen, Karten und Plänen hob, dieses Gebäude gesehen. Nun blickte ich, seine jüngere Tochter, auf Schloss Fürstenstein und die Nebelschwaden am Fuße seiner Mauern, und es gehörte zu den wenigen Dingen, die mir immer noch so groß und schön erschienen wie in meiner Kindheit. Ich zog die alte Wanduhr auf, und als ihr Pendel zu schwingen begann, spürte ich, wie die hier gefangene Zeit in Bewegung geriet. Etwas machte Klick, als hätten die Zeit dieses Hauses und meine Zeit sich erst jetzt miteinander verflochten. Das mit gelblichem Leder bezogene Sofa, auf dem ich als Kind in den seltenen Momenten gesessen hatte, in denen unser Vater nicht mit der Schatzsuche beschäftigt war und sich gewachsen fühlte, dem Vatersein die Stirn zu bieten, gab unter meinem Gewicht einen seufzerähnlichen Ton von sich. Eine Zeitlang saß ich regungslos da und bemühte mich sogar, nicht zu atmen, aber ich spürte nichts als Trauer. Das Leder des Sofas war rau und rissig wie die Ferse eines alten Menschen, ich streichelte es zur Begrüßung. Ich warf einen Blick in die Küche, die in einem grauen Lichtschein schwamm, als wäre sie voller Wasser, und Wasser war es tatsächlich, das ununterbrochen in die Spüle tropfte, von einem kleinen Stalaktiten herab, der sich im Lauf der Jahre gebildet hatte. Von der Tür, die in den Garten führte, zog es kalt herüber, Nebel drängte gegen die Fensterscheiben. Der Tisch und die vier Stühle sahen aus wie die Skelette längst ausgestorbener Tiere, die niemand je zu benennen oder ins Herz zu schließen vermocht hatte. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes W.A.B., WARSZAWA 2012 123 × 195, 528 PAGES ISBN: 978-83-7747-628-4 TRANSLATION RIGHTS: W.A.B. zurück zum Inhaltsverzeichnis 10 TOMASZ RÓŻYCKI TOMASZ RÓŻYCKI (GEB. 1970), LYRIKER, ESSAYIST, ÜBERSETZER AUS DEM FRANZÖSISCHEN, VERFASSER VON SIEBEN GEDICHTBÄNDEN, DARUNTER DAS WEITHIN BESPROCHENE POEM ZWÖLF STATIONEN (2004). GEBOREN UND UNUNTERBROCHEN WOHNHAFT IN OPPELN. Photo: Krzysztof Dubiel Bestiarium Bestiarium ist das späte Romandebüt dieses anerkannten Lyrikers, eines der interessantesten Autoren der mittleren Generation. Ein ungewöhnlich origineller Prosatext – eine sehr dichte, metapherngesättigte literarische Vision, die sich schwer in diskursive Sprache „übersetzen“ lässt. In einer Julinacht erwacht der namenlose Held in einer fremden Wohnung. Er verhehlt nicht, dass er dem Alkohol übermäßig zugesprochen hat. Desorientiert und gleichsam bewusstlos will er nach Hause zurückkehren, wo Frau und Kinder auf ihn warten, doch dieses banale Vorhaben gerät ihm zu einer geheimnisvollen, phantasmagorischen Reise – gar nicht einmal so sehr durch die Stadt, in der sich die Züge von Oppeln erkennen lassen, sondern durch die mäandernde Düsternis der Erinnerung. Es ist weniger die individuelle Erinnerung des Helden, als vielmehr eine Familienerinnerung von unbestimmtem zeitlichen Zuschnitt, und auch die Erinnerung des Ortes, einer Stadt also, die selbst aus vielen historischen Schichten (den Ebenen von Geschichte und Kultur) besteht und an ein Palimpsest erinnert. Von einer Handlung kann man schwerlich sprechen. Wollte man sie aber in ganz allgemeinen Zügen rekonstruieren, sähe sie folgendermaßen aus: zuerst kommt der Held – über der Stadt schwebend – in eine Wohnung, in der er seine Urgroßmutter Apolonia findet; diese händigt ihm einen Schlüssel aus, den er ihren Schwestern zukommen lassen soll (sowohl diesem Schlüssel wie praktisch allen Motiven im Bestiarium verleiht der Autor metazurück zum Inhaltsverzeichnis phorische Bedeutung). Dann taucht Onkel Jan auf, mit dem der Held eine seltsame Reise durch die unterirdische Stadt unternimmt. Der Onkel sagt eine Sintflut voraus, die gleich darauf zu einem Motiv wird, das die phantastischen Ereignisse miteinander verknüpft. Den Sinn der großen Sintflut wiederum versucht ein anderer Verwandter zu deuten – der Bruder des Vaters. Es geht um eine tiefe Reinigung – vielleicht der Geschichte, vielleicht der Gegenwart. Klar wird das nicht. Auch andere Ereignisse des Romans (die endlosen Wanderungen durch das Labyrinth der Keller, die unterirdischen Kanäle, Begegnungen mit Verwandten oder ihren Geistern) entziehen sich einer stabilen Deutung. Wie dem auch sei, die Sintflut kommt, und die vom Onkel gebaute Arche, die die Familie retten sollte, geht unter, auch wenn das Finale selbst keineswegs grauenerweckend ist. Dem Helden gelingt es am Ende, seinem Traum, oder waren es nur Übungen der Einbildungskraft, zu entsteigen. Nichts ist endgültig entschieden. Sicher ist dagegen, dass Różycki seinen früheren Themen und Obsessionen treu bleibt und uns Angelegenheiten serviert, die wir – zu einem gewissen Grad – aus seinen vorzüglichen Gedichten kennen, was keineswegs heißt, dass Bestiarium hinter die lyrische Erfahrung des Autors zurückfiele, es ergänzt sie vielmehr auf ganz erlesene Weise. Dariusz Nowacki Mein Onkel, den funkelnden und wenig gegenwärtigen Blick nach vorn gerichtet, nahm mitten im Zimmer Aufstellung, hob den Finger und gebot mir ihm zu folgen. Er schaltete das Licht im Nachbarzimmerchen an, und meinen Augen bot sich ein ungewöhnliches Bild: In der Ecke am Fenster stand ein zerwühltes Bett, die Wäsche zerzaust, zerknüllt und wieder aufgebauscht zu skurriler Blüte. Der Rest des Zimmers war bis zur Decke mit Regalen vollgestellt, in denen Stapel von dunklen und durchsichtigen Flaschen lagerten, dicht aneinander wie edle Weine, die in irgendeinem Kellerchen besserer Zeiten harren. Erstaunlich war die Anzahl der Flaschen, von denen viele bemoost und verstaubt, andere glänzend und sauber waren. Die Regale, hergestellt von einem Fachmann für die Weinlagerung, belegten drei Wände und reichten so hoch, dass die zuoberst liegenden Flaschen, gar nicht mehr sichtbar, irgendwo verschwanden. Eine an die Regale gelehnte Leiter erleichterte dem Hausherrn den Zugang zu diesen entferntesten Regionen der Trunkenheit. Doch als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass die Flaschen, auch wenn jede von ihnen ihre eigene Form und Farbe besaß – und darunter waren Wodka-, Milch- und Limonadeflaschen, Bierflaschen, Öl- und Essigflaschen, Wein- und Cognacflaschen, Whisky-, Grappa-, Likör-, Champagner- und Bourbon-Flaschen, Porto- und MalagaFlaschen, Portwein- und Eiercognac-Flaschen, Becherovka-, Żubrówka- und Ebereschenbranntwein-Flaschen, Krupnikflaschen, Mineralwasser-, Pfirsichwasser-, Met-, Calvados- und Raki-Flaschen, Flaschen von Selbstgebranntem, von Pfeffer- und Zuckerbranntwein, Bimber und Magenbitter, Saft-, Cider-, Brot-, Kwaß- und Sahneflaschen, Slivovitz- und Rumflaschen, Palinka- und Spiritusflaschen, Limoncello- und Amaretto-, Armaniak- und Bergerac-Flaschen, Wermut- und Absinth-Flaschen und Coca-Cola-Flaschen, Sake- und Reisweinflaschen, Arak-, Puntsch-, Grog- und Goldwasserflaschen, Ginflaschen, Kümmellikör-, Anis-, Himbeer- und Kirschwasserflaschen, Pastis- und Ouzoflaschen, Kornelkirschenlikör-, Brandy- und Malibuflaschen, Mondwasser-, Nusslikör-, Ratafia- und Tequila-Flaschen, Weinbrand-, Fusel- und Schnapsflaschen, Cherry-, Sangria-, Ciociosan- und Martiniflaschen, Campari-, Kumiss-, Dünnbier-, Porter- und Ale-Flaschen, Muskat-, Riesling-, Bordeaux-, Burgunder- und Tokajer-Flaschen, Flaschen von Rhein, Mosel, Cabernet, Sauternes, Retsina, Madera, Lager, Budweiser, Okowice, Gorzałka, Dom Perignon, Köllnisch Wasser, Birkenwasser, Gurkenwasser, Sirup, Rizinusöl, Formalin, Jodin und Atropin, Borsäure, Ameisenwasser, Glyzerin und Äthanol, Herbavit, Kefir, geweihtem Wasser aus Lourdes, Öl, Klemastin und Aldehyd – dass all diese Flaschen leider leer waren. Alle waren leer, doch steckte in jeder ein Korken oder sie war zugedreht, mit einem Lappen, zugestopft mit einem Papier oder mit rotem Lack versiegelt, abgesehen von denen auf den untersten Regalen – die ruhten geöffnet an ihrem Ort. 11 die von Zeit zu Zeit irgendwo im Geäst zwitscherten und pfiffen, langsame Schritte auf einem Kiesweg. Dann gleich noch etwas, etwas dazwischen, herauszuhören unter diesen Stimmen, ein dumpfes, unterdrücktes Schluchzen. Weiter hatte ich den Eindruck, Geräusche eines Bahnhofs zu hören, die Menschenmenge, Männer- und Frauenrufe, Kinderweinen, Gelächter, die Pfiffe der Lokomotiven, das Keuchen der Dampfloks, das Klopfen der Wagenräder, man hörte Tiere, Hühnergegacker und Pferdewiehern, das Stimmengewirr einer Unterhaltung und das Geschrei von Streitenden, Flüche und das Geräusch vieler Schritte. Schließlich mächtiges Knallen, Rufe der Verabschiedung und Stille, und in ihr das anfangs gemächliche, dann immer schnellere Dröhnen der Zugräder. Die nächste Flasche enthielt den Klang einer Straßenbahnbimmel und eines von jemandem gesummten Liedes, dann Stimmen vom Markt, Zurufe und fröhliches Necken. Eine andere barg ein Gebet, wieder eine andere Kinderquietschen, Geräusche aus einer Wäscherei, einer Druckerei, einem Geschäft, einer Kirche, einer Schusterwerkstatt, die Stimme von jemandem, der seine eigene Kindheit in einer offenbar fremden und doch sehr gut verständlichen Sprache erzählte, irgendwelche Abenteuer, Schule, Ferien, Arbeit, Krieg, lächerliche und furchtbare Ereignisse, eine Stimme, die von den Kindern erzählte, von ihren Eltern, Freunden, Onkeln und Tanten, von Feiertagen und Sitten, eine Stimme, die von Zeit zu Zeit ein Lied sang, aber niemals das ganze, nur das ihr in Erinnerung gebliebene Fragment, oder ein Stück von einem Gedicht aus der Schule rezitierte, die Stimmen vermischten und überlagerten sich, nach kurzer Zeit schon schrie die Luft ringsum mit Tausenden von Stimmen und Lauten, doch all das in einem einzigen Seufzer, in etwas, das gleich darauf zuging, wie der schwere Deckel einer Kiste. „Hörst du?“ rief der Onkel, „ich habe sie hier alle, ein ganzes Archiv, in Flaschen abgefüllt, verstehst du? Ein ganzes Leben habe ich daran gesammelt, ein ganzes Leben. Zwanzig Jahre mit Flaschen herumgezogen. Ha!“ Und sein Blick war fürchterlich. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl Der Onkel holte eine verstaubte grüne Weinflasche hervor, die mit einem zusammengerollten bunten Lappen verstopft war, und hielt sie gegen das Licht. Ich sah, wie ein Glühbirnenfunke durch das matt gewordene, märchenhafte Glas im Farbton von Seegras fuhr. Darinnen war nichts. Jetzt gebot er mir mit einer Fingerbewegung Schweigen, entkorkte die Flasche langsam und hielt mir ihren schlanken Hals ans Ohr. Ich hörte zuerst ein Rauschen, so etwas wie ein schwaches, doch aufbrandendes Seufzen, das ferne, gedämpfte Summen eines Bienenschwarms. Das Rauschen wurde lauter, und bald darauf konnte ich ihm schon einzelne Laute entnehmen, Geräusche, ein Rascheln und Reiben. Aus diesem Abgrund, wie aus einem Meer, waren bald darauf einzelne Laute herauszuhören, Stimmen wie aus einer Ferne, Schritte auf Treppen, das Öffnen einer quietschenden Tür, ein Krachen, Schläge von einem Hammer, das Geschrei der Kinder, die aufgeregt im Kreise laufen, eine scharfe, ermahnende Frauenstimme. Dann Geschirrklappern, Besteckgeklingel, irgendwelche Geräusche und Laute, eine brummend böse Männerstimme, und dann wieder der Hammer, der etwas zerschlug. Ich hörte auch so etwas wie das Knurren eines Motors, das Rauschen von einer nahegelegenen Straße und ein Radio, das eine fünfzig Jahre alte Melodie spielte. „Pisma twoji polutschaja, slyschu ja golos rodnoj“ und weiter auf Russisch, das ich wegen des Knackens und Klopfens nicht verstand. Das alles verschloss sich langsam in Stille, das Stöhnen ließ nach, der Gesang der Teilchen verstummte. Mein Onkel öffnete eine zweite, kleine und bauchige Flasche. Feiner, schwer definierbarer Geruch, süßlich, eine Blume, ein Kraut? Eine Wiese? Eine Blüte, doch verwelkt. Das Rauschen, das ihr entstieg, verwandelte sich bald in Vogelgesang und so etwas wie das Rauschen des Windes in den Zweigen. Vögel, ZNAK, KRAKÓW 2012 124 × 190, 198 PAGES ISBN: 978-83-240-1891-8 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK zurück zum Inhaltsverzeichnis 12 ZYTA ORYSZYN ZYTA ORYSZYN (GEB. 1940), SCHRIFTSTELLERIN UND PUBLIZISTIN, IN DEN ACHTZIGER JAHREN WAR SIE AKTIVISTIN DER OPPOSITION UND ALS REDAKTEURIN VON ZEITSCHRIFTEN TÄTIG, DIE INOFFIZIELL UND AUSSERHALB DER ZENSUR ERSCHIENEN. SIE DEBÜTIERTE 1970 MIT DEM ROMAN NAJADE, SPÄTER PUBLIZIERTE SIE U. A. DIE ERZÄHLBÄNDE SCHWARZE ERLEUCHTUNG (1981) UND MADAME FRANKENSTEIN (1984). BIS ZUM ERSCHEINEN DER RETTUNG VON ATLANTIS (2012) GALT DER ROMAN GESCHICHTE EINER KRANKHEIT, GESCHICHTE EINER TRAUER (1990) ALS IHR AUFSEHENERREGENDSTES WERK. Photo: private Die Rettung von Atlantis Die Rettung von Atlantis ist kein klassischer Roman, es ist eher eine Sammlung von Erzählungen, die – durch Figuren, Ereignisse und die Erzählsituation – eng miteinander verbunden sind. In gewisser Hinsicht ist dieses Werk eine Zusammenfassung des bisherigen Schaffens der Autorin, es ergänzt Handlungsstränge aus ihrer früheren Prosa und führt sie zu Ende. Die Erzählungen in Die Rettung von Atlantis kreisen im Prinzip um ein Thema: die Auswirkung der großen Geschichte im Leben einfacher, durchschnittlicher Menschen. Die Autorin interessiert sich unverändert für die destruktive Kraft der Geschichte – vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis zu den Jahren des Kriegsrechts in Polen. Zunächst führt uns Oryszyn in die östlichen Vorkarpaten, wo sich in einem Bunker, bzw. eher einem unterirdischen Versteck, eine polnische Familie zusammen mit Kriegsflüchtlingen aus dem Zentrum des Landes verbirgt. Draußen ziehen die Armeen, wüten die Partisanen. Oryszyn konzentriert sich auf die Emotionen der einfachen und unschuldigen Protagonisten. Hier regiert die Angst, und die Situation wird verglichen mit einer niemals endenden Jagd. Später befinden wir uns in der Realität der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Die Familie verlässt den Osten, geht nach Niederschlesien und bezieht eine Wohnung in einem ehemals deutschen Haus. Die Traumata der jüngsten Geschichte überschneiden sich scheinbar mit aktuellen Traumata – Polen tritt in die Epoche des Stalinismus ein, das Misstrauen nimmt zu, es mehren sich die Denunziationen, es verschwinden zurück zum Inhaltsverzeichnis Menschen, die vom Repressionsapparat verhaftet werden. Der Ort selbst (Leśny Brzeg, kurz zuvor noch das deutsche Waldburg) ist vom Drama der Vertreibungen gezeichnet, dem Leid der ehemaligen Bewohner, die einst für Hitler waren und an denen nach 1945 Rache geübt wurde. Von all diesen Dingen erzählt Oryszyn aus einer naiven und scheinbar verengten Perspektive. Die Protagonisten rechnen nicht mit der Geschichte ab, sie analysieren die Welt nicht nach moralischen oder soziopolitischen Kriterien – sie sagen, was ihnen oder jemandem aus ihrem engsten Umfeld widerfahren ist. Das ist ein Blick von unten, der auf konkreten Erfahrungen beruht, weitab von jeder Erhabenheit, und deshalb authentisch und berührend ist. Im letzten Kapitel des Buches findet sich ein Bezug auf den paradoxen Titel – das Leben wurde gerettet, aber es trägt schwer an der Gewalt, und unter so widrigen Bedingungen sollte es verschwinden wie Atlantis. Dariusz Nowacki Die Gleise verschwanden im Wald hinter der Kurve. Hinter der Kurve begann die Welt. Durch die Welt fuhr man mit dem Zug bis nach Wrocław. Hinter Wrocław begann das Universum. Das Universum war von einem eisernen Vorhang in zwei ungleiche Teile geteilt. Die Hauptstadt des Universums von Olek Walewski war Moskau. Was die Hauptstadt des zweiten Universums war, war nicht so ganz klar. Die Amerikaner meinten, es sei Washington, aber die standen ja auf dem Kopf. Die Franzosen erklärten, es sei Paris, aber die aßen jeden Tag Frösche und Schnecken. Die Engländer beharrten darauf, es sei London. Was für ein lustiger Einfall. Olek Walewski konnte ihre Inselchen unter einem kleinen Tintenfass verschwinden lassen. Die Welt wurde von Buchen, Hainbuchen und Eichen, auch von Fichten und Tannen verdeckt. Einmal kletterte Olek Walewski auf die höchste Eiche. Das Wetter war kristallklar, wie die Oma bemerkte. Die Kokereien qualmten nicht, weil es einen Unfall gegeben hatte. Olek dachte sich, dass er unter so glücklichen Umständen nicht nur die Hügel Gedymina und Sobótka würde sehen können, sondern auch die Schneekoppe, auf der die Grenze verlief. Und wenn er schon die Schneekoppe sehen würde, dann auch den eisernen Vorhang, denn schließlich musste dieser Vorhang bis zum Himmel hinaufreichen. Es war überhaupt nicht klar, ob der eiserne Vorhang bis zum Himmel hinaufreichte, oder nur bis zu den erstbesten Wolken. Mietek Szczęsny meinte, dass er nur bis zu den ersten Wolken gehe. Denn wenn er bis zum Himmel hinaufreichen würde, dann müsste es in ihm irgendwelche Schleusen oder so geben, damit die Flugzeuge hindurchfliegen konnten. Es war auch nicht klar, wie weit dieser Vorhang nach unten ging. Ob er nur die Erde berührte. Oder ob er sich auch tief in sie eingegraben hatte. Denn wenn er sich eingegraben hatte, dann brauchte man unbedingt eine Pionierschaufel, um einen Gang darunter hindurchzugraben. Die Oma von Olek Walewski war der Meinung, dass der Vorhang nicht besonders hoch sei und dass man ihn wie einen Eisberg bezwingen könne, und sie überredete die anderen, sich mit Seilen und Haken einzudecken. Ihre Flitterwochen hatte sie vor dem Ersten Weltkrieg in Chamonix verbracht, und dort hatte sie gesehen, wie angeseilte Alpinisten den Gletscher Bosson bezwangen. Sie hatten Spezialschuhe. Solche mit hervorstehenden Nägeln. Die Oma bestand darauf, dass sich alle vor der Expedition hinter den Vorhang die Schuhe mit Nägeln beschlügen. Und dass diese Nägel extra hervorstünden. Mietek Szczęsny und Franka Salatycka stimmten für die Pionierschaufel. Gegen die Seile und extra beschlagenen Schuhe. Erstens: Sie hatten keine Schuhe, nur Latschen mit Gummisohle. Zweitens: Interessant, wie Frau Walewska Senior am Eisen hinaufklettern wollte, selbst wenn es ein wenig rau war. Denn vermutlich war es rau, wo es doch die Sonnenstrahlen nicht so stark reflektierte, dass der Widerschein in Leśny Brzeg zu sehen war. Dieser Widerschein hätte einen geblendet und geleuchtet wie Schnee, und Olek Walewski blendete nichts, auch leuchtete ihm nichts entgegen, als er auf jener allerhöchsten Eiche saß. Der eiserne Vorhang hatte sich einige Monate vor dem Referendum gesenkt. Genau am fünften März 1946. Olek Walewski hockte gerade auf der Baustelle und beobachtete den Vorfrühling. Der Vorfrühling sah aus wie Frau Pitkowa im Morgenmantel, wenn sie morgens die Asche auf den Müll brachte. Unter dem Morgenmantel waren ihre gebräunten, rissigen Fersen und ein zerschlissenes, schmutzig graues Nachthemd zu sehen. Die von der ständigen Dauerwelle versengten Haare ragten im Wind empor wie ausgebleichtes, trockenes, knacksendes Unkraut. Frau Pitkowa atmete durch den Mund. Ihr halb geöffneter Mund zeigte schwarze Zähne. Der Mund und die Zähne sahen aus wie eine Baugrube. Die Baustelle, das waren Erdhaufen und eine Grube neben dem Mietshaus. Das waren mitsamt den Wurzeln ausgerissene und auf einen Haufen geworfene Bäume. Backsteine und Säcke mit versteinertem Zement. Zigarettenstummel, verdorrtes Gras und ein rostiger Bagger mit hoch erhobener Schaufel. Die Schaufel ähnelte einem Galgen. Unter dem Galgen standen zwei Hütten. Eine für Hunde und eine für Menschen. In der Hundehütte kläffte, ohne dass sie herauskam, tagelang eine schwarze Hündin. Nachts heulte sie, angeblich knabberte sie an ihren eigenen Pfoten. Das sagte der Wächter, und er gab ihr den Namen Fiśka. 13 Der Wächter wohnte in der Hütte für Menschen. Er hatte einen Karabiner und ein Radio. Die Hütte hatte keine Fenster. Nur Ritzen in der Verschalung. In der Hütte stand eine Liege. Es gab darin elektrisches Licht. Der Wächter saß oft vor der Hütte für Menschen und hörte zu, wie Fiśka bellte. Manchmal schnappte er sich den Karabiner und schwor: „Es wird der Tag kommen, an dem ich dich umlege, du Dreckstöle.“ Er hörte auch Radio. Er war der Meinung, dass alle Bewohner des Mietshauses Radio hören sollten. Weil man im Radio erfahren kann, wer fremd ist, und wer dazugehört. Und Fremden ist das Betreten der Baustelle verboten. Spionen zum Beispiel. Und jeder Spion ist ein Fremder. Auf einen Fremden muss man den Karabiner anlegen wie auf Fiśka und laut ausrufen: Halt, wer da, du Spion! Niemand wusste, wie der Wächter hieß. Es war komisch, eine Amtsperson nach dem Vornamen, Nachnamen und Geburtsort zu fragen wie beim Verhör. Als Olek Walewski genau am fünften März 1946 neben der Hütte für Menschen hockte und den Vorfrühling beobachtete, schaltete der namenlose Wächter das Radio ein. Fiśka begann zu bellen, und das Radio bummerte plötzlich los – bumm, bumm, bumm, bumm – und stellte sich um: „Hier spricht Radio London. Olek wunderte sich, dass der Wächter ein englisches und kein Radio von den Deutschen hatte, und als er sich genug gewundert hatte, hörte er in diesem englischen Radio, dass sich ein eiserner Vorhang auf die Erde gesenkt hatte. Einmal quer über den europäischen Kontinent. Daraus ging hervor, dass sich solche Hauptstädte wie Warschau, Berlin, Sofia, Prag oder Budapest und Bukarest vor diesem eisernen Vorhang befanden – auf der Seite Moskaus. Und der Rest des Universums hinter dem Vorhang war. Olek Walewski sprang auf, denn das war eine Hiobsbotschaft. Hals über Kopf lief er zur Oma, um ihr die Hiobsbotschaft zu überbringen. Unterwegs wiederholte er für sich, wer und wo entdeckt hatte, dass dieser Vorhang niedergegangen war: und zwar ein gewisser Churchill in der Ortschaft Fulton. Die Oma versteckte sich leider schon wieder. Er suchte sie an den üblichen Stellen – hinter der verzinkten Wanne im Flur, in der Wohnung unter dem Bett, hinter dem Schrank, aber er fand sie nicht. Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012 135 × 215, 272 PAGES ISBN: 978-83-273-0040-9 TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI zurück zum Inhaltsverzeichnis 14 KRZYSZTOF VARGA KRZYSZTOF VARGA (GEB. 1968), SCHRIFTSTELLER UND JOURNALIST, AUTOR VON 11 PROSABÄNDEN, VERÖFFENTLICHTE ZULETZT DIE ROMANE EIN GRABSTEIN AUS TERRAZZO (2007) UND UNABHÄNGIGKEITSALLEE (2010). Photo: Krzysztof Dubiel Späne Protagonist und gleichzeitig Erzähler von Späne ist der fünfzigjährige Piotr Augustyn, der als Handelsvertreter eines Warschauer Unternehmens unentwegt durch Polen reist. Der Roman enthält den Monolog dieser Figur, gestaltet als eine Art umfassende Beichte, als Generalabrechnung mit dem Leben, als Gewinn- und Verlustrechnung, obwohl von Gewinn eigentlich gar keine Rede sein kann. Schließlich bleibt diese Biografie in jeglicher Hinsicht unerfüllt, sie ist verdammt zu unzähligen Niederlagen, Enttäuschungen und Demütigungen; der unglückliche und im Grunde groteske Vertreter legt einen Widerwillen gegen alles und jeden an den Tag. Er verflucht seine Eltern, die ihm keine anständige Kindheit ermöglicht haben, seine gierige Frau, die sich, enttäuscht von ihrem Angetrauten, vor Jahren von ihm getrennt hat, seine Mitreisenden im Zug (er ist unterwegs von Warschau nach Wrocław), er verachtet die Mitarbeiter des Mutterkonzerns und die Angestellten anderer Firmen, mit denen er sich ständig trifft, er hasst Erfolgsmenschen und Verlierertypen, versnobte Jugendliche und modische Künstler. Diese Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen, Augustyn ist zutiefst frustriert, permanent läuft ihm die Galle über. Das einzige positive Merkmal des (gelinde gesagt) unsympathischen Vertreters ist seine große Liebe zur alten Musik, in der er sich bestens auskennt. Doch auch dieses Attribut wendet sich gegen ihn – Augustyn fühlt sich von der Gegenwart abgeschnitten und kann sie weder verstehen noch akzeptieren, das heutige Polen (der Protazurück zum Inhaltsverzeichnis gonist monologisiert im Jahr 2011) gilt ihm als in jeder Hinsicht schlecht eingerichtet, seine Einwohner sind Versager wie er, nur unvergleichlich verlogener. Hier liegt der vielleicht größte Reiz von Späne. Vargas Roman lässt sich als radikales Pamphlet über die Gegenwart lesen. Die titelgebenden Späne sind der kümmerliche Stoff, aus dem die Seele des Protagonisten gemacht ist, sie kennzeichnen sein Bewusstsein, repräsentieren aber gleichzeitig, oder vielleicht sogar in erster Linie – so der Autor – das Wesen der Gesellschaft. Die Späne stehen für die allgemeine Verlogenheit, die allgegenwärtige Heuchelei und den billigen Schund, Verblödung, Neid und den Triumph des Zynismus, für intellektuellen und mentalen Murks. Natürlich entsteht so ein bewusst überzeichnetes, karikaturistisches Bild, das aber dennoch bezwingt. Das Finale, in dem ein letztlich unmotiviertes Verbrechen geschieht, darf als eigenwilliges Memento interpretiert werden. Der Autor legt nahe, dass Soziopathie und gewohnheitsmäßiger Hass auf die Mitmenschen nicht nur einer Geisteshaltung entspringen, sondern auch einer kriminellen Veranlagung. Dariusz Nowacki Ich bin Vertreter für Verzichtbares, mein Job ist es, durch Polen zu fahren, mich mit fremden Menschen zu treffen, die ich gar nicht treffen möchte, mit ihnen Zeit zu verbringen, die ihren festen Preis hat, obwohl sie keinerlei Mehrwert erzeugt, dann nach Warschau zurückzukommen oder den nächsten Ort anzufahren, mal mehr, mal weniger weit entfernt. Ich bin ein professioneller Pilger, der für seine Akkordpilgerei bezahlt wird, der Geld bekommt für die vielen hundert Wallfahrtskilometer, die er fast täglich zurücklegt. Ich pilgere durch Polen, und das ist die schwerste Bußübung, die überhaupt verhängt werden kann, sie wird aber verständlich, wenn man bedenkt, dass derjenige, der sie verhängt hat, mir zuvor die Beichte abgenommen hat. (…) Ich werde wohl im Laufe meiner (nennen wir es hochtrabend) Berufslaufbahn in vielleicht hundert Städten gewesen sein, natürlich hauptsächlich in solchen der mittleren Kategorie, dieses Jahr waren es sechsunddreißig Städte, also rein statistisch drei Städte pro Monat, aber die Statistik verschleiert ja üblicherweise mehr als sie aufklärt, schließlich war ich in mehreren Städten mehr als einmal, und es ist gewiss keine Überraschung, dass dies vor allem die größten Städte betrifft, die Metropolen, jedenfalls für polnische Verhältnisse. Ich weiß genau, wo ich wie oft war, weil das alles in einem eigens angelegten Notizbuch mit festem Einband verzeichnet ist, das ich pedantisch führe: An- und Abreisedatum, Stadt, Hotel. Natürlich mache ich diese Buchführung nicht aus Sentimentalität, sondern aus Abrechnungsgründen, ich stelle meine Reisekosten in Rechnung, das heißt, ich bekomme die Fahrtkosten erstattet, leider nur 2. Klasse, immerhin Intercity, was aber auch nicht viel heißt, weil die sowieso immer Verspätung haben, und die Hotelkosten, natürlich maximal drei Sterne. Dieses Buch mit seinen Daten und Zahlenkolonnen ist meine Lebensgeschichte. (…) Meine Auslagen für Essen führe ich nicht auf, für die Verpflegung zahle ich nämlich selbst, deshalb kaufe ich mir Durchschnittsessen zu Durchschnittspreisen, nichts Repräsentatives, meistens Kaffee, meistens in einer Kette, Coffee Heaven, Starbucks oder so etwas, meine Vertragspartner haben ein Faible für Caféketten, sie denken, das steigere ihr Prestige, außerdem wissen sie, dass ich zahle, und es ist ja auf jeden Fall besser, im Starbucks seinen Kaffee zu bekommen als in irgendeinem Marysieńka’s oder so. Sie haben bei den Ketten dieses Profi-Gefühl; es geht nicht einmal darum, dass die Kaffeemenge größer ist und der Becher, oder dass statt der müden Frau mit nachgedunkeltem Haaransatz, die gelangweilt die Tassen bringt, eine forsche, junge Bedienung sie an den Tresen ruft, es geht allein darum, dass der Kunde dort dieses Profi-Gefühl hat. Jeder Versager mit seinem Pappbecher Café latte in der Hand, der so tut, als hätte er es eilig, vermittelt dieses Profi-Gefühl. Alle Vertragspartner verabreden sich mit mir an solchen Orten, der Pappbecher Café latte befördert sie von einem Niemand zu einem Niemand Plus, außerdem hoffen sie, von einem Bekannten gesehen zu werden, der sich zur selben Zeit mit einem meiner Vertreterkollegen trifft. Unmengen dieser mürrischen Burschen und genervten Frauen mit Pappbechern in der Hand habe ich auf meinen Wanderungen an mir vorbeiziehen sehen, in furchtbarer Eile zu einem Meeting von geradezu unsagbarer Wichtigkeit unterwegs, auf allen Kanälen funkend: Ich bin hier der Profi, ich habe keine Zeit für irgendetwas außer meinem Job, ich treffe mich nur mit Leuten meiner Kragenweite, ich interessiere mich nicht für Leute, die es nicht eilig haben und die nicht den Kaffee mit aufgeschäumter Milch von der Kette trinken, bei der ich ihn immer kaufe (obwohl ich jedes Mal heulen könnte, wenn es ans Bezahlen geht). Der einzige Trost für die Frauen ist, dass sie nur Geld für Kaffee und Wasser ausgeben, wenn es um – übertrieben gesprochen – Ernährung geht, manche auch noch für Mentholzigaretten, aber das immer seltener, ausnahmslos alle sind schlank und balancieren ihre bleichen Leiber auf dem schmalen Grat zum Untergewicht, diesen ewigen Kampf mit dem eigenen Körper können sie nur mit ihrem unsympathischen Auftreten kompensieren; bei meinen zahllosen Meetings hatte ich nicht ein einziges Mal mit einer sympathischen Vertragspartnerin zu tun, alle sind sie unterkühlt und zeigen unverhohlen, wie es sie ekelt, sich, und sei es nur beruflich, mit einem übergewichtigen Fünfzigjährigen mit zunehmend raumgreifender Platte treffen zu müssen. Die Caféketten haben w-lan, meine Partner kommen grundsätzlich mit Laptop, den sie während des Meetings hastig und ohne den geringsten Anlass hochfahren, aber ihre Laptops sind immer im Standby, ein Klick und über ihre Gesichter flackert ein zufriedenes Lächeln, das gleich wieder gespielter Konzentration weichen muss. 15 Ich gebe ihnen meine Unterlagen, sie geben mir ihre Unterlagen, ich schaue mir ihre an, sie sich meine, unter Umständen ist eine Unterschrift gefragt, aber nicht zwangsläufig, es besteht keinerlei Notwendigkeit, den Laptop mitzunehmen, alle Details sind vorab geklärt worden, per E-Mail, bei Meetings brauche ich keinen Laptop, ich habe ihn nur, um abends in meiner Hoteleinsamkeit, untermalt von Straßenlärm und Aufzuggeräuschen, meinen Posteingang zu überprüfen und der Zentrale die jüngsten überwältigenden Firmenerfolge zu melden. So sitzen wir mit unseren Café latte-Bechern herum, sehen wortlos die Papiere durch und unterschreiben sie anschließend, aber auch das nicht immer, manchmal unterbreiten wir einander auch lediglich Angebote, ich lege ihnen eine Offerte vor, sie nehmen sie entgegen, wie ein Einschreiben bei der Post, und tragen sie zu ihren Vorgesetzten, zu denjenigen, die tatsächlich entscheidungsbefugt sind, ich bin ja im Grunde eine gemeine Brieftaube, keine weiße, sondern ein grauer Straßentäuberich. Die Leute, mit denen ich mich treffe, haben meist keinerlei Befugnisse, sie sind Dienstboten, Piccolos, Laufburschen auf dem Caféketten-Parcours, die sich im Auftrag ihrer Arbeitgeber mit meinesgleichen treffen, obwohl sie natürlich ungeheuer wichtig tun, sich aufplustern, in die Brust werfen und ihr kümmerliches Pfauenrad zu schlagen versuchen, das ihnen die Vorgesetzten schon ordentlich gerupft haben. Sie sind belanglos, genau wie ich, alles nur Spiegelfechtereien, und dabei sind sie immer jünger als ich, Mitte zwanzig, höchstens dreißig, sie könnten meine Kinder sein, den mühseligen Aufstieg haben sie noch vor sich und sie glauben, sie könnten den Gipfel erreichen, ich weiß aber, dass sie jahrelang auf ihrem schmalen Felsvorsprung sitzen und sich daran festklammern werden, um durchzukommen. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler CZARNE, WOŁOWIEC 2012 125 × 205, 368 PAGES ISBN: 978-83-7536-366-1 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM zurück zum Inhaltsverzeichnis 16 SYLWIA CHUTNIK SYLWIA CHUTNIK (GEB. 1979), SCHRIFTSTELLERIN UND STADTFÜHRERIN DURCH WARSCHAU, HAT KULTURWISSENSCHAFTEN UND GENDER STUDIES STUDIERT, IST SOZIAL ENGAGIERT UND VORSITZENDE DER STIFTUNG MAMA, DIE SICH IN POLEN FÜR DIE RECHTE VON MÜTTERN EINSETZT. CWANIARY (DT. DIE SCHLAWINERINNEN) IST IHR DRITTER ROMAN. Photo: Mikołaj Długosz Die Schlawinerinnen „Es gibt keinen größeren Schlawiner als den Warschauer“, sang einst Stanisław Grzesiuk, polnischer Liedermacher im Warschau der Vorkriegszeit und unbestrittener Patron des neuesten Romans von Sylwia Chutnik. Der Rhythmus seiner Balladen, die hier so manches Mal zitiert werden, und er selbst, der namentlich genannt wird, machen den Ton, den Schick und den Charme des ganzen Romans aus. Chutnik zeigt, dass Grzesiuks Welt – oder eher Unterwelt – die nur selten mit der sogenannten großen Welt zusammentrifft, die Macht hat, die zeitgenössische, entzauberte, getünchte und modernisierte Wirklichkeit Warschaus zu überdecken. Man muss lediglich die Literatur und die Geschichte gut kennen, und den Rhythmus der Geschichten über Stasiek Messerstecher, Antek, den Sohn der Straße, über Geliebte, Säufer und Dirnen, und am Ende über den Henker, der schon am Galgen wartet, aufnehmen können. Sylwia Chutnik hat ein besonderes Gespür für diese Rhythmen. Und sie ist außergewöhnlich einfallsreich. Sie lässt sich inspirieren von Grzesiuks Balladen über Warschau, von Pola Gojawiczyńskas „Die Mädchen aus Nowolipki“ (dem Kultroman über das Leben junger Frauen im Warschau der Zwischenkriegszeit) und vom Anarcho-Punk-Feminismus. Sie hat einen eigenständigen, originellen Stil entwickelt, einen sowohl witzigen als auch bewegenden, melodramatischen, grausamen und politischen Roman. Denn es gibt durchaus einen größeren Schlawiner als den Warschauer – das ist die Schlawinerin, das unbesiegbare Banditen-Mädchen, das zurück zum Inhaltsverzeichnis immer für eine gerechte Sache kämpft. Jedenfalls fast immer. Manchmal kämpft sie aus purem Vergnügen. Vor allem agiert eine Schlawinerin nicht allein. Chutniks Roman besingt die Erfolge einer ganzen Bande weiblicher Rächerinnen. Einer Bande, die soziale Schichten, Stadtbezirke und Generationen vereint, so wie einst in den Schulklassen. Celina, Halina, Stefa und Bronka spielen hier die erste Geige. Sie sprechen selbst Recht. Die Haupthandlung ist ein Rachefeldzug gegen einen brutalen Bauunternehmer, der eine Aktivistin der Mieterbewegung angezündet hat. Sie beruht auf einer wahren Geschichte, die in Warschau passiert ist. Die Täter wurden nie gefunden – die Schuld des Bauunternehmers ist lediglich eine symbolische. Im Roman nehmen sich die jungen Frauen der Sache an, und nur dank ihrer siegt die Gerechtigkeit. Die Geschichte beginnt auf dem Friedhof in Bródno und endet gewissermaßen auch auf einem Friedhof, denn das ist das Schicksal der Kriegerinnen, das grausame und traurige Ende der Ballade. Kazimiera Szczuka Halina, die Klinge, begann gedankenversunken ihre Hände zu bewegen. Erst als die Gabel herunterfiel, schreckte sie hoch. Sie sah sich um. Dann begann sie zu sprechen, als stünde sie neben sich. Erst leise, dann immer lauter und schneller. In der Schule wurde ich jedes Jahr für vorbildliche Leistungen ausgezeichnet. Das hat mich gewurmt, verstehst du. Habe mich gefragt, was das soll. Vorbildlich? Für wen denn? Für die anderen Mädchen, die genauso sind wie ich? Mit Schürze, mit Pferdeschwänzen oder geflochtenen Zöpfen und in Strumpfhosen. Wir alle sind aufgewachsen mit Ala aus der Fibel, die sich mit ihrer Mutter wie eine Maschine in der Küche abrackert, deren Bruder Kosmonaut ist oder Feuerwehrmann, oder weiß Gott wer. Was war ich schon für ein Vorbild für die anderen Kinder? Weil ich fleißig war und artig? Gott, wie ich es gehasst habe, artig zu sein. Ich habe absichtlich Unfug getrieben, gespuckt, geflucht, meine Schönschreibhefte zerfleddert. Aber das hat nichts geholfen. Einmal hat mir einer im Hausflur aufgelauert. Ich war sechzehn, mein Kopf leer, ich bin ständig auf Konzerte gerannt, in Springerstiefeln, und hab direkt vor der Bühne Pogo getanzt. Der Typ hält mir ein Messer an die Kehle und schreit: „Ausziehen!“, „Hose runter!“. Ich rufe nach Hilfe, darauf der, dass ich das Maul halten soll, sonst bringt er mich um. Ich weiter, Hilfe, und er, dass mich hier keiner hört, und tatsächlich – keiner wollte mich hören, im Wohngebiet zweitausend Menschen, Sommer, die Fenster stehen offen, aber in diesem Moment, Scheiße, sind die auf einmal alle taub. Ich schreie, aber viel zu leise. So in mir drin, innen ein einziger Schrei, außen Stille. Der fummelt an seinem Hosenstall, keucht, völlig im Wahn. Es war schwül, um meinen Kopf sirrte eine Fliege, und ich war mit den Gedanken schon ganz woanders, ich tat, als hätte ich mit dieser unangenehmen Szene nichts zu tun, und dachte mir nur, ach, ich ruhe mich dann zu Hause aus, ziehe mir die Decke über den Kopf und niemand kann mir was Böses. Da kommt plötzlich ein Nachbar mit seinem Mülleimer und schaut in unsere Richtung, und der Typ rennt weg, schafft es aber noch, mich hinzuschubsen. Bin mit voller Wucht auf meine Hand gefallen, das hat ziemlich weh getan. Da lag ich nun mit halb heruntergezogenem Schlüpfer und schwerem Schock. Der Nachbar machte einen großen Schritt über mich hinweg, weil ich im Weg lag. Dann knallte der Mülltonnendeckel, bumm, und weg war er. Ich konnte nicht aufstehen, hatte gehofft, er würde mir helfen, aber er wollte mich nicht hören, nicht bemerken, hatte verdammt noch Mal seine eigenen Sorgen: Frau, Kinder und so weiter. Also wirklich, die Hormonbomben liegen jetzt überall herum, sonnen sich und drücken ihre Pickel aus, dass es erschöpften Menschen geradezu ins Gesicht spritzt. Warum schert sich denn keiner darum, warum berichtet keiner im Fernsehen darüber? Wo sind die Eltern und die Erziehungskommission? Wo? 17 meine Hand losgelassen und war vom Hocker aufgestanden. Sie war plötzlich Xena, Hothead Paisan und Göttin Kali in einem. Sie sprach, eigentlich zischte sie ganze Wortströme in mein Ohr, hämmerte sie mir ein, so wie man jemandem mathematische Formeln und heilige Gebote einschärft. Sie war mein Mahomet, der erschien, um die Wahrheit zu verkünden: Rache bringt dir Erlösung. Nur Rache bringt dir Erlösung, Mädchen. So eine Lebensweisheit findest du nicht in der Zeitung. So eine Lebensweisheit wird nur unter Eingeweihten weitergegeben. Noch einen Wodka bitte. Für die Dame auf dem Hocker hier natürlich. Halina setzte sich aufrecht hin und hörte auf, nervös an ihren Fingernägeln zu knabbern, ihre Zöpfe zu öffnen, vor sich hin zu murmeln, zu transpirieren. Jetzt ist alles wieder gut, die böse Geschichte ist abgeheftet unter „erledigt“. Jetzt ist alles gut, jetzt kann ich Karate und spüre die scharfen Waffen, die ich unterm Kleid trage. Es bringt nichts, über die Vergangenheit nachzusinnen. Schließen wir die verzierte Schatulle für Traumata und atmen tief durch. Hey, willkommen Abenteuer, morgen ist ein neuer Tag! Mädchengeschichten mögen plötzliche Wendungen in der Handlung. Da glaubst du, einfach ein bisschen zu plaudern, und plötzlich vertraut dir jemand so was an. Und schon nimmt das Gespräch eine andere Wendung, auf der Achterbahn geht es ganz nach oben, und dann saust der Wagen runter. Wenn du nicht hinterherkommst, halt den Mund. Halina wechselte das Thema, sprach über die neuesten Ausstellungen und das kaputte Fahrrad, das ihr Marek repariert hatte. Schnatter, schnatter, was für ein Tempo, was für eine Melodie! Die Geschichtenschatulle ist mit einer speziellen Mädchenchiffre verschlossen. Sie wird sich lange nicht öffnen lassen, weil sich kaum jemand diese Chiffre merken kann. „Ist das nicht ein bisschen viel Wodka?“, fragte Celina, als sie mit dem Essen fertig war. „Alkohol ist doch gesund, gut für die Verdauung, schwangere Frauen sollen Wodka trinken, weil das dem Babyblues und Blähungen vorbeugt. Das haben amerikanische Wissenschaftler bei Rattenexperimenten festgestellt. Da hatten die Weibchen die Wahl zwischen Wasser und Alkohol. Und sie entschieden sich für Letzteres. Na, die Ratten werden es wohl wissen. Dadurch wurde bewiesen, dass schwangere Frauen auf der ganzen Welt Alkohol trinken sollten. Sogar im Kreissaal fließt Spiritus statt Oxytocin aus dem Tropf, so hat das Neugeborene gleich zehn Punkte auf dem, na, wie heißt das gleich, auf dem Alko-Score.“ Celina schaute ihre Freundin verwirrt an und wollte ihr schon widersprechen, es sei wohl ein symbolisches Glas Rotwein gemeint, aber sie war nicht mehr sicher und fürchterlich müde. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska Der Nachbar ging. Ich nicht. Die Clique tanzte. Ich nicht. Nach einer Weile erhob ich mich, stöhnte vor Schmerz und ging nach Hause. Und da drehte ich das kalte Wasser auf und hielt den Kopf drunter. Ist ja gar nichts passiert, dachte ich. Schließlich hatte er mich nicht vergewaltigt. Ich zitterte am ganzen Leibe und ging ins Treppenhaus, um eine zu rauchen. Da traf ich eine Bekannte, und die sagte: „Wie geht’s dir? Siehst so blass aus.“ Die Hand, auf die ich geknallt war, war dick angeschwollen, kugelrund, als würde sie gleich platzen. Keine Ahnung, wieso ich genau in dieser Pfote die Kippe hielt und nichts sagte. Mir liefen die Tränen, aber ich schwieg, und die Bekannte zu mir: „Eh, hat dich dein Alter geschlagen?“ Ich schwieg weiter, und sie hat bestimmt gedacht, dass ich mich schäme, das zuzugeben, und wahrscheinlich tat ich ihr leid. Abends hatte ich den Eindruck, dass es mir besser geht. Dass diese dumpfe Wut nur ein vorübergehender Rausch ist. Eine Woche später habe ich mir zum ersten Mal die Pulsadern aufgeschnitten. Im Krankenhaus war eine tolle Schwester. Ich erzählte ihr, was passiert war, und dass ich mich lieber selbst umbringen würde, als den, der mir das angetan hatte. Sie wandte sich ab und schwieg lange. Als sie mich wieder ansah, war sie nicht mehr die freundliche Krankenschwester mit Käppi und Kittel. Sie hatte ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012 135 × 215, 240 PAGES ISBN: 978-83-273-0187-1 TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI zurück zum Inhaltsverzeichnis 18 IGOR OSTACHOWICZ IGOR OSTACHOWICZ (GEB. 1968), STUDIERTE INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN, ARBEITETE ALS PFLEGER AN EINEM PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHEN INSTITUT UND IM MANAGEMENT ZAHLREICHER FIRMEN, SEIT EINIGEN JAHREN IM STAATSDIENST. GEGENWÄRTIG IST ER ALS STAATSSEKRETÄR IN DER KANZLEI DES POLNISCHEN MINISTERPRÄSIDENTEN DESSEN PR-BERATER UND REDENSCHREIBER. Photo: Maciej Śmiarowski Die Nacht der lebenden Juden „Die Nacht der lebenden Juden“ ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Vor allem aber, weil es dem Autor gelungen ist, ein gewichtiges Thema des polnischen kollektiven Bewusstseins literarisch zu bearbeiten und eine Geschichte zu erzählen, die schon seit Jahren erzählt sein will: Das im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichgemachte Warschau als verwilderter Friedhof im Dämmerzustand, mit den damals Ermordeten als unvermittelt Fleisch gewordenen Geistern. Lebende und Tote – Aug in Auge. Wer ist nun wirklich zu Hause in Warschau, in Polen, an diesem vom Genozid gezeichneten Ort? Der wunderbar geschriebene Roman sucht nach Antworten und bedient sich dabei verblüffender, irritierend unkonventioneller Mittel. Die krasse, humoristische Poetik des popkulturellen Horrorgenres scheint im Grunde unvereinbar mit dem Shoah-Stoff. Schon der Titel, der in Anspielung auf einen Horrorfilm-Klassiker die „Toten“ durch „Juden“ ersetzt, wirkt verstörend. Ins Rollen gebracht wird die ganze Geschichte durch ein den Juden gestohlenes Amulett in Form eines silbernen Herzens, das seinem Besitzer Glück und Erfolg verheißt. Der Protagonist, der im Handlungsverlauf zunehmend an einen Comic-Superhelden im Kampf gegen die Judenvernichtung erinnert, lebt mit seiner Freundin in Muranów, einem auf den Trümmern des Ghettos errichteten Stadtteil von Warschau. Eines Tages entsteigen der Kellerluke (…) tote Juden in zerschlissenen Mänteln. Nach und nach wird deutlich, dass sie sich am liebsten im Arkadia aufhalten, einem nahe gelegenen Einkaufszentrum. zurück zum Inhaltsverzeichnis Bei allen Pop-Elementen ist „Die Nacht der lebenden Juden“ ein stark reflektiertes, ein reifes Werk. Der Autor legt die Prinzipien der aus sich selbst geschaffenen Stadt nachvollziehbar offen. Das Einkaufszentrum Arkadia als Hort ewiger Glückseligkeit, geheiligt durch Handel und Umsatz, wird mit der gespenstisch anmutenden Aura von Muranów konfrontiert. Das hinlänglich bekannte Gefühl des Grauens und der Fremdheit, das über dem modernisierten, verwestlichten Stadtraum liegt, bricht sich in der Realität Bahn. Aus dem Horrorgenre entlehnt, ist das Romankonzept gleichzeitig poetisch und erstaunlich pointiert, vorgegeben durch historische Realien. Die jüdische Geschichte des Nicht-Seins muss ergänzt werden um das Grauen, die Materialisierung dessen, was verdrängt werden will. Die Bewusstwerdung des Protagonisten über diesen Prozess (und über die symbolische Macht des Amuletts) gibt die überzeugende, frappierende Dramaturgie des Romans vor. Kazimiera Szczuka Ich will nicht behaupten, sie wären überhaupt nicht angestarrt worden, aber man nimmt die anderen doch nur sehr flüchtig wahr, meist nur die Kleidung, wenn nicht erotische Attraktionen vorliegen, vielleicht ist es aber auch ein Zauber, der sie unsichtbar macht, geriet ich ins Grübeln. Mir war der Unterschied gleich aufgefallen, noch bei mir im Treppenhaus – nicht das übliche, akustisch verstärkte Gelächter und Geschrei, stattdessen merkliche Konzentration, das Knistern neuer Kleider und das Knirschen verdorrter Gelenke. Ich hatte ein ganzes Heftchen mit Fahrscheinen gekauft, jeder wollte seinen selbst entwerten, neugierige Blicke aus dem Fenster, nichts Besonderes, ein Betreuer fährt mit einer Gruppe Teenie-Leichen spazieren. Das Arkadia hatte sie schwer beeindruckt, Rachel und David spielten Stammkundschaft und trugen die Nase höher als alle anderen. Rachel begrüßte Chirico übertrieben herzlich, um aller Welt zu zeigen, dass sie eine lebendige Freundin hat, noch dazu aus Fernost. Selbstverständlich packte sie alle der Kaufrausch, und ich musste eine Pro-Kopf-Deckelung einführen, ich konnte ja nicht jedem in Warschau ermordeten Bengel Klamotten und Technik finanzieren. „Ich geh noch in die Insolvenz wegen euch.“ Und ständig aufpassen, dass sie zusammen bleiben, dass keiner verloren geht, ich war völlig fertig. „Die machen Fotos von ihnen.“ Bei meinen mühsamen Versuchen, die Ordnung in der Gruppe aufrecht zu erhalten, drang diese Information nicht gleich zu mir durch. Meine Kids hielten im Empik-Store alle CD-Hörstationen besetzt, manche wälzten Bücher, Alben, Papierkram, dauernd fiel etwas herunter oder kippte um und ich fühlte mich zuständig, außerdem vergoss der kleine Aron, der nur noch ein Auge hat, mit diesem einen Auge bittere Tränen und schluchzte herzzerreißend, weil er nebenan im Musikgeschäft eine Geige entdeckt hatte, die er jetzt unbedingt haben musste, ich durfte ihm nun auseinandersetzen, dass solche Sonderwünsche über mein Budget gingen. Erst im dritten oder vierten Anlauf erreichte Chirico, die an meinem Ärmel zerrte, mit ihrer Meldung mein Gehirn: „Die machen Fotos von ihnen.“ Tatsächlich, grinsende Skinheads fotografierten meine Schützlinge. Da ruft mich Chuda an. Sie schlürft ihren Kaffee und lässt mich wissen, dass gerade die Ambulanz da war und den alten Kerl und die dicke Omi mitgenommen hat, jetzt ist es endlich schön still in der Wohnung. „Wer heult denn da so?“, fragt sie. „Aron will eine Geige“, antworte ich. „Dann sei doch nicht so, kauf sie ihm“, kriege ich zu hören. „Der arme Junge, das ist doch der ohne Auge, sei so gut, schenk ihm ein bisschen Wärme.“ Jetzt platzt mir doch der Kragen: „Ich bin hier mit fünfzehn Leichen im Einkaufszentrum unterwegs!“, brülle ich, aber Chuda kommt nicht mehr dazu, sich davon beeindrucken zu lassen. „Es hat geklingelt“, sagt sie. „Ich ruf nachher nochmal durch.“ 19 die ganze Truppe, instinktiv, wie die Hunde der Katze. Chirico bekommt von mir das Fahrscheinheft und den Auftrag, die Gruppe geschlossen nach Hause zu bringen, in den Keller. Ich nehme die Verfolgung von Szymek und den anderen auf. Zehn Skins und zwei Wachleute, es sieht aus, als liefen sie alle vor mir davon, jetzt müsste ich mich nur noch kurz umziehen, das blaue Trikot mit dem rot-gelben „S“ auf der Brust und das knappe rote Mäntelchen um die Schultern, ich verstoße gegen meine heilige Nichteinmischungsdoktrin, bin gleich als Held mit blankem Hintern vor Ort, kassiere meine Tracht Prügel und gut ist es, klassisches romantisches Verhaltensmuster, ich sollte besser in ein leeres Haus rennen, zu Chuda, einen schönen Grüntee trinken, solange ich noch alle Zähne habe. Was macht schon ein totes Jüdlein mehr oder weniger – ich denke ganz nüchtern, laufe aber weiter, in Schweiß gebadet. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler ZZ kontrollierte die Herztätigkeit, indem er einer Frau, die gerade jemanden zum Krankenwagen brachte, ungestraft in den Busen zwickte. Er glaubte sie zu kennen, wusste aber nicht mehr genau, woher. Aus Norwegen? Aber war ich denn in Norwegen gewesen? Bevor sie wegfuhr, ließ er sich Telefon und Adresse diktieren, sie diktierte anstandslos. Sie stiegen die Treppe hinauf. In der Wohnung war nur das Yoga-Mädchen. „Wo ist er?“, fragte ZZ und versuchte ihr unter den Rock zu fassen. Sie schüttelte ihn erschrocken ab. Unfähig etwas zu sagen, kreischte sie nur: „Hilfe!“ Also wirkt das Artefakt bei ihr genauso wenig, wie bei ihrem Freund, dachte ZZ. Sie zogen die Tür hinter sich zu. „Das sind meine Kumpels, Bolo und Bandzioch, die werden dich liebend gerne durchpimpern.“ Mist, ich will sie zusammentrommeln, kriege sie aber kaum los von ihren Kopfhörern, CDs, Comics und dem ganzen Kram, sie weinen, „ich hab noch fast nichts gehört, ich musste ja die ganze Zeit warten“ usw., ich bin schon ganz verschwitzt, jeder zweite heult laut, die Leute gucken schon, die Rechten knipsen mit ihren Fotohandys, zum Glück hilft Chirico mir ein bisschen. „Wir gehen jetzt, nichts wird gekauft, legt alles zurück in die Regale.“ Die Skins lachen über die Tränen und über meine Panik, sie zeigen mir mit ihren Fäusten, was mich gleich erwartet. Als wir gehen, springt der Alarm an. Szymek rennt los, die Wachleute hinterher, dann folgen die Skins, zum Glück W.A.B., WARSZAWA 2012 123 × 195, 256 PAGES ISBN: 978-83-7747-700-7 TRANSLATION RIGHTS: W.A.B. zurück zum Inhaltsverzeichnis 20 ZOŚKA PAPUŻANKA ZOŚKA PAPUŻANKA (GEB. 1978), THEATERWISSENSCHAFTLERIN, ARBEITET ALS POLNISCHLEHRERIN. PROMOVIERT IN LITERATURWISSENSCHAFT. „DAS AFFENHAUS“ IST IHR LITERARISCHES DEBÜT. Photo: Dawid Kozłowski Das Affenhaus Dieser Roman ist gewunden wie eine Sprungfeder. Komponiert aus kurzen Szenen erzählt er von mehreren Jahrzehnten einer Krakauer Familie, von einem Leben voller Spannungen, Konflikte und so tiefem Unverständnis, dass sich dem Leser die ganze Lektüre hindurch geradezu die Frage aufdrängt: Wieso hält das, warum bricht das nicht auseinander? Natürlich gibt es Hinweise, aus denen man die eine oder andere Antwort entnehmen kann, aber sie überzeugen nicht ganz: weil sie das heilige Sakrament der Ehe verbindet, weil Vorfälle aus der Vergangenheit auf ihr lasten, weil sie – zumindest für den Mann – eine Art Buße ist, und weil sich Gegensätze anziehen usw. Hier wird nichts endgültig geklärt – wir haben es nicht mit einem zweitklassigen Roman über die Hölle des Familienlebens zu tun. Das ist wirklich Literatur. Und zwar ernste Literatur. Mit Verve geschrieben, mit Ergriffenheit und literarischem Können. Papużanka operiert mutig mit der Literatursprache, ergeht sich in leichtfüßigen Wortspielen, beweist Feingefühl für die individuellen Sprachstile, die die Figuren besser charakterisieren als das eine potenzielle, von einem Erzähler gelenkte Beschreibung tun würde. All das ist großartig, die schriftstellerische Gerissenheit eingeschlossen, mit der die Autorin den Roman erdacht hat, , wobei sie sich gewiss von etwas hat lenken lassen, das man „schriftstellerische Bescheidenheit“ nennen mag – sie konstruiert keine ausschweifende Erzählung, was sich bei dem Thema eigentlich anbieten würde, sie entwickelt keine Familiensaga, sondern zurück zum Inhaltsverzeichnis beschreibt lediglich in einer Art Telegrammstil Szenen aus verschiedenen Zeitabschnitten des Familienlebens, wobei sie die Erzählperspektive wechselt, so wie es im Übrigen im ersten Absatz des Romans angekündigt wird. Dieser Roman ist eine Art Konzentrat, zu dem man – um ein konventionelles Werk zu erhalten – „Wasser zum Verdünnen hinzufügen“ müsste. Allerdings bin ich nicht sicher, ob das dem Roman in der Gesamtbewertung gut tun würde, denn womöglich würde das die Kraft seiner Wirkung mindern, die sich mit einem Faustschlag vergleichen lässt. Leszek Bugajski Es ist immer das Gleiche. Kinder verlaufen sich im Wald – die alte Leier. Da lässt sich nichts machen. Selbst wenn wir dem Instinkt ein Schnippchen schlagen wollten, nehmen wir die ausgetretenen Pfade. Verlorene Zeit, die man nie wieder bekommt. Selbst wenn wir nur einen Augenblick in Erinnerung behalten wollten, zeigt sich immer wieder, dass es anders war, dass keiner mehr weiß, wer was getan hat, wer was gesagt hat, dass uns nur Fetzen bleiben, Reste auf den Tellern, die zu niemandem gehören. Nie wird man wissen, wer Erzähler ist, wer Protagonist, wer Figur im Hintergrund, wessen Worte niedergeschrieben werden. Nur wer verliert und wer gewinnt, steht immer schon am Anfang fest. Es gab keinen Grund für diese Ehe. Keinen einzigen. Weder einen rationalen noch einen irrationalen. Keinerlei Gefühle, ganz sicher. Keine Situation, keinen Zufall, nicht einmal Geld. Weder mochten sie sich, noch passten sie zueinander. Sie war schon einmal verheiratet gewesen. Der Mann war zwar längst begraben, aber sie hätte es ja auch dabei belassen können. Man wusste nicht viel über ihn, sie selbst erzählte gern, dass er wunderschön gesungen hatte, weniger gern, dass er geplündert, Verbotenes getan und sie auf diese Weise unterhalten hatte. Als dieser Mann, der als Jánošík galt, Dreck in eine Wunde am Bein bekommen hatte und gestorben war, kehrte sie ins Elternhaus zurück, mit einem Koffer und einer dreijährigen Göre mit aufgeschürften Knien, die sie halb zog, halb trug. Ihre Mutter öffnete die Tür, seufzte, und ohne die heimkehrende verlorene Tochter eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich ihren eigenen Dingen zu. Na bitteschön, eben erst waren wir diesen Lärm los, da ist er gleich doppelt wieder zurück. Die verlorene Tochter beachtete die Mutter gar nicht, setzte das Kind in eine Ecke, drückte ihm eine Scheibe Brot in die Hand, krempelte die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Sie nahm von niemandem etwas an, half aber allen hier und da. An sich selbst dachte sie fast gar nicht. Es wurde Herbst, es wurde Winter, es wurde Frühling, die alten Kleider begannen, über ihrem Bauch zu spannen, ihre Hände waren abgearbeitet vom Wäschewaschen und der Feldarbeit. Sie stemmte die Arme in die Hüften, stellte die Beine weit auseinander, um so viel Welt wie möglich hinter sich zu verdecken. Sie neigte den Kopf leicht, wie ein Huhn, das so tut, als verstünde es etwas. Sie sagte allen immer die Wahrheit, und zwar auf der Stelle, selbst Wahrheiten, die man nicht hören wollte. Dass der eine zu dünn sei, der andere verpickelt, und eine dritte nie einen Kerl finden würde, und schon gar nicht bei Tageslicht. Alle schätzten sie. Keiner mochte sie. Und genau das war ihr Ziel. Wenn sie die Kartoffelsetzlinge aus dem Korb genommen hatte, beugte sie sich über das schnurgerade Beet und platzierte ihren großen festen Hintern auf dem stabilen Gestell ihrer Beine, so dass alle wussten, wo sie sie mal konnten. Warum er sie geheiratet hat? Eine Witwe mit Kind? Gemein und ewig unzufrieden? Wahrscheinlich tat sie ihm leid. * „Lieber Bruder“, schrieb Bronek, „ich sende dir herzliche Grüße. Krakau ist riesig, es gibt hier viele Sehenswürdigkeiten. Wenn ich Zeit habe, gehe ich spazieren und besichtige sie, ich war bereits auf dem Wawel und in der Drachenhöhle. Hier ist alles anders. Ich habe eine gute Stelle in einem Geschäft. Im Moment wohne ich bei einem Bekannten, lege aber Geld zurück, um endlich etwas Eigenes zu kaufen. Ich habe nämlich ein Mädchen kennengelernt, als ich in einem Café war. Sie arbeitet dort als Kellnerin, kommt aber vom Lande. Wir wollen heiraten. Ja, es gibt viel Neues bei mir. Überleg nicht lange, pack deine Sachen und komm her, ich helfe dir, Arbeit zu finden, und auf meiner Hochzeit lernst du sicher jemanden kennen. Wie lange kann man denn allein leben? Dein dich liebender Bruder Bronisław.“ „Lieber Bruder“, flitzte die fertige Antwort erst durch den Kopf und dann aufs Papier, „ich denke schon lange darüber nach. Mutter läuft im Zimmer auf und ab, die Kuh musste sie verkaufen, weil es zuhause immer schlechter geht. Stasia und ihr Mann wohnen noch immer bei uns, weil sie nirgends unterkommen, im Frühling kommt das dritte Kind. Valentin wird auch heiraten, und wo sollen sie wohnen, wenn nicht in unserem Haus? Jan als vollwertiger Landwirt sitzt hingegen auf seinen Hektars, die die Frau mit in die Ehe gebracht hat, und lässt niemanden über die Schwelle. Keiner braucht mich hier, ein hungriges Maul weniger, ich habe meine Sachen schon gepackt. Jan borgt mir Geld für die Fahrkarte, wenn ich verspreche, nie zurückzukehren.“ Kaum war er aus dem Zug gestiegen, wurde er wie ein Schaf unter die Wölfe geschoben, auf halbem Wege zwischen Wodka und Häppchen, auf halber Zeit zwischen Bronek im neuen Anzug und seiner Braut mit den dicken Zöpfen 21 und dem symbolischen Jungfrauenkranz – den echten hatte ihr Bronek eine Woche zuvor bereits in der Scheune entwendet, er hatte darauf bestanden, obwohl ihm dabei das Heu ordentlich in den Hintern gepiekt hatte. Man setzte ihn zwischen den Edelmann, den Schulzen und den Pfarrer auf einer unpoetischen Hochzeit bei Krakau, ohne Rachel, ohne goldene Hufe, dafür unter lauter Strohpuppen. Bronek schenkte dem Bruder immerfort Wodka nach, wie einer exotischen Pflanze, die Tanten der Braut kümmerten sich um ihn, wobei sie ihre Wurst- und Gurkenargumente anwendeten. Ein Opa – niemand wusste wessen, dafür war er mit Sicherheit hundert Jahre alt –, dessen gewaltiges Schnarchen die Tischdecke flattern ließ, erwachte plötzlich, und rief „Wer sagt denn, dass ich ein Hirsch bin?“, woraufhin er erneut in Glücksseeligkeit verfiel, wobei er mit seinen Händen sein gewaltiges Geweih bedeckte. Eine lustige Cousine, die eben noch traurig gewesen war vom Trinken, fasste plötzlich Mut und beschloss, laut die ganze Wahrheit über ihren Mann zu sagen, woraufhin dieser ihr öffentlich den Hintern versohlte, wobei sich herausstellte, dass dieser Hintern keine Unterwäsche kannte. Alle Mädchen schauten sich aufmerksam den Bruder des Bräutigams an, der von weit her gekommen war und lautstark vorgestellt wurde, was ihn sehr beschämte. Alle Mädchen beobachteten die Bewegungen seiner schlanken Hände, die mit Käsekuchen und Bigos beschäftigt waren, alle Mädchen, auch die, die mit anderen tanzen, die aus den Massen an Röcken und Unterröcken freudig ihre dicken prallen Knie hervorholten, alle Mädchen, selbst die, neben der Bronek dem Bruder den Platz angewiesen hatte, die, die am lautesten lachte, die am meisten tanzte und am meisten trank, die, die sich gerade dazusetzte und sich an der Wand abstützte, als wolle sie das ganze Haus umstürzen, und jetzt ihr Haar zu einem Knoten band, wobei sie die runden Schweißflecken auf ihrer weißen gestickten Bluse offenbarte, die, neben die Bronek ihn absichtlich gesetzt hatte, denn wie lange kann man denn allein leben. „Das ist mein Bruder, aus Pommern ist er angereist, er wird in Krakau mit mir zusammen arbeiten, ist ein guter Junge, aber mutterseelenallein auf der Welt, der soll mal einen Wodka trinken, dann findet er bestimmt alles nett hier, ich finde es schon nett. Liebes Fräulein, mit mir trinken sie keinen?“ „Von wegen Fräulein“, sagten zwei kräftige Zahnreihen, und kauten auf dem rosafarbenen saftigen Zungenfleisch, „von wegen Fräulein, Frau bitte, ich bin Witwe, ja, ja, so jung und schon Witwe.“ Das klang stolz, nicht traurig. „Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben, aber was soll ich mir das groß zu Herzen nehmen, das Leben ist beschissen genug, hat mir noch gefehlt, mir was zu Herzen zu nehmen, wir alle sterben doch, sind Sie für länger in Krakau?“ „Wahrscheinlich für immer, meine Liebe, wahrscheinlich für immer.“ Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012 135 × 215, 208 PAGES ISBN: 978-83-7799-824-3 TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI zurück zum Inhaltsverzeichnis 22 MARIUSZ SIENIEWICZ MARIUSZ SIENIEWICZ (GEB. 1972), PROSASCHRIFTSTELLER UND FEUILLETONIST, GILT ALS EINER DER VIELVERSPRECHENDEN AUTOREN DER JÜNGEREN GENERATION, ZULETZT ERSCHIENEN DIE REBELLION (2007) UND DIE STADT DER GLASELEFANTEN (2010). Photo: private Dornröschens Beichte Mariusz Sieniewicz, einer der wichtigsten Prosaautoren seiner Generation, bleibt auch in seinem jüngsten Roman den Themenkreisen verhaftet, die ihn besonders interessieren. Die Dekonstruktion der nationalen wie lokalen kulturellen Identität, die schon seine früheren Arbeiten „Der vierte Himmel“ und „Jüdinnen werden nicht bedient“ geprägt hatte, spielt auch in „Dornröschens Beichte“ eine gewichtige Rolle. Protagonistin des in drei Teile gegliederten Romans und gleichzeitig dessen Erzählerin ist die dreißigjährige Emila, die als Single ständig neue toxische Verbindungen mit Männern eingeht. Außerdem ist Emila Narkoleptikerin, sie erleidet täglich mehrere Schlafattacken. Dabei träumt sie die unglaublichsten Geschichten mit einem beharrlich wiederkehrenden Motiv – Selbstmord. Allerdings wird sie an der Ausführung immer wieder gehindert. Eines Tages tritt Swietka in ihr Leben, eine geheimnisvolle Belarussin, die erklärt, sie sei Emilas Schwester. Und weiter geht die Jagd nach dem nächsten Mann, dem nächsten „Bärchen“. Das Bärchen ist eine besondere Gattung Mann, die jedoch zahlreiche Untergruppen kennt: Selbstverliebte, Depressive, fanatische Patrioten … Die Welt in „Dornröschens Beichte“ balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Wachzustand, für zusätzliche Effekte sorgt der spöttischgroteske Erzählstil. Unter dem Deckmantel einer leicht absurden Märchengeschichte, wirft der Autor einen kritischen Blick auf die Lebenswirklichkeit zurück zum Inhaltsverzeichnis im heutigen Polen (im Hintergrund spielen auch die 1980er Jahre eine Rolle) mit ihren kulturell verankerten Erwartungen an Rollenbilder (für die unter anderem das titelgebende Dornröschen steht) und den Möglichkeiten der virtuellen Kommunikation im Netz. Sieniewicz bedient sich sprachlicher Floskeln, die er mit seiner einzigartigen Erzählweise als lächerlich bloßstellt, und zeigt so die ganze Absurdität der beherrschenden Kultur. Hier erklingt die ausdrucksstarke, groteske, polen- und gegenwartskritische Stimme eines Vierzigjährigen. Marcin Wilk Emilas aktuellen Geliebten kann man nicht gerade als ausgemachten Single bezeichnen, der die ganze Welt als seine Geburtstagstorte begreift und beim bloßen Klang des Wortes „Ich“ nicht nur mentale Erektionen bekommt. So eine Emila könnte dem Single höchstens eine von vielen Kerzen sein, die er auspusten darf, nachdem er sich etwas gewünscht hat. Als Emila damals die Gombrowicz-Tagebücher gelesen hatte, war ihr sofort aufgefallen, dass der Autor auf der ersten Seite die Verfassung des Singles niedergeschrieben hatte. Die in einen Single verschossene Frau hat ihren Wochenrhythmus nach dem folgenden Muster zu organisieren: Montag – er, Dienstag – er, Mittwoch und Donnerstag – er und er, Wochenende – er, mit ihm, ihn, ihm, über ihn. Die sieben Single-Fälle. Das hat Emila zu einem apokalyptischen Schluss kommen lassen: Der Menschheit steht eine Katastrophe bevor, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt, schlimmer als der Dschihad. Die Ichitis. Denn der Tag wird kommen, da nur noch Singles diese Welt bevölkern. Und es wird ekstatisch schallen von überall her: ich, für mich und über mich vor allen Dingen! Die Singles werden sich gegeneinander wenden, wenn ihr Verlangen nach Verehrung auf taube Ohren stößt. Und ein Single wird die Hand erheben wider seinen Single-Bruder. Und mit dem Hohelied des „Ich“ auf den Lippen werden sie übereinander herfallen. Sie werden einander hinterrücks erschießen, sich sehenden Auges mit Stöcken erschlagen. Und die Erde wird in SingleBlut ertrinken. Und ein Krieg wird ausbrechen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Ein Krieg der Ein-Mann-Heere. Und diese Heere werden in die Millionen gehen. Emila hofft nur, dass sie diese blutigen Konsequenzen der Ichitis nicht mehr miterleben muss. Mit ihrem Verlobten verhält es sich anders. Er ist jederzeit verfügbar. Nachts genauso wie am helllichten Tag, selbst während der sonntäglichen Messe, ihr Geliebter kann das geheime Spiel der Lust eröffnen, dem Emila sich nicht entziehen kann und will: streichelnde Finger, heißer Atem, behutsame Berührungen an Brüsten und Hüfte. Will Emila lieber alleine sein, wartet er geduldig in der Küche oder im Esszimmer. Auch er hat seine Ruhephasen. Alle drei bis vier Tage liegt er einmal rücklings vor ihrem dem Bett, das schwarze Köfferchen im Arm. Emilas Liebhaber ist nicht der Gesprächigste, das schätzt sie an ihm ganz besonders. Er langweilt sie nicht mit diesen im Fernsehsessel geschauten typischen Bärchen-Weisheiten über diese unsere Welt, schon gar nicht mit denen aus Discovery Science. Sie brechen sich in aller Regel nach dem Mittagessen Bahn. Emila nennt diese Philosophie nur den „Nachmittagismus“. Der Nachmittagismus ist eine Kombination aus „Scheißegalismus“ und „Neopenetrantismus“. Und wie Cato immer gepredigt hat, dass Karthago zerstört werden müsse, so beschließen diese Philosophen ihre Weisheitsausbrüche mit dem Ausruf: – Alles Verbrecher! Alle wegsperren! Steht noch ein Bier kalt? Papi und Mami stehen ihrer Beziehung nicht im Weg. Sie protestieren nicht einmal, wenn Emila ihn beim Essen begehrlich berührt und unter ihren Fingerkuppen die Lust aufleben lässt. Nie würde ihnen einfallen, ihre Tochter mit Fragen nach Verlobung oder Hochzeit zu bedrängen. Einmal nur hatte ihre Mutter gefragt, ob er nicht etwa Finne oder Schwede sei, sein Name wäre so komisch, so gar nicht polnisch. Und warum er denn so ein Hänfling wäre, ein richtiger Däumling. Sicher, eine Basketballkarriere stand ihm nicht bevor, aber so hatte sie ihn wenigstens fest im Griff. Mäkeleien wären in ihrem Alter ohnehin ein unzulässiger Luxus. „Kugelrund, spindeldürr, riesengroß, miniklein – alle, alle, alle können Ehemänner sein“ – das Lied war ihnen auf den Leib geschrieben. Und der Name? Weil er allzu fremd klang, nannte sie ihn irgendwann einfach Eryk. Ihre Eltern behandeln Eryk wie Luft. Nur ganz ab und zu bitten sie ihn reichlich kühl, etwas für sie zu erledigen: Schlangestehen vor dem Ärztehaus, die Gasrechnung überprüfen oder rausfinden, was es bei Tante Krystyna in Deutschland neues gibt. Eryk erfüllt jeden Wunsch im Handumdrehen. Er ist ausgesprochen hilfsbereit und würde sich – im Gegensatz zu ihren verflossenen Bärchen – nie ein abfälliges Wort erlauben, keine aufgetakelten Perückenschnepfen oder verklemmten Betbrüder. Eryk hat noch einen weiteren, viel wichtigeren Vorzug: Er hat vollstes Verständnis für Emilas krankhafte Neigungen, die für ihre meisten Bärchen ein unüberwindliches Hindernis darstellten. Schon nach zwei oder drei Anfällen suchten ihre potenziellen Zukünftigen panisch das Weite. Sie gaben Emila und ihren Zweitzahnbürsten den Laufpass. Der lachende Dritte war ihr Vater. 23 Der Zahnbürstenvorrat, den er für seine wenigen noch verbliebenen Zähne angesammelt hatte, würde bis ans Ende seiner Tage reichen. Oder ihrer. Eryk fürchtete Emilas Krankheit nicht. Allerdings muss man Frauen ohne Anomalien heutzutage auch mit der Lupe suchen. Jede hat ihre Wehwehchen und einen bunten Strauß psychischer Devianzen. So auch Emila. Aber der Reihe nach: Wenn es Schnapsdrosseln und Kräuterhexen gibt, wenn man auf Schritt und Tritt über Ökofaschistinnen, Gralshüterinnen von Männerkonten, über Fitness- und Vollkornpäpstinnen stolpert, wenn man die Mitglieder der als Club der Cappuccino-Freunde getarnten Geheimen Silikon- und Botox-Schwesternschaft identifizieren kann, wenn man auf den ersten Blick erkennt, wer der Hedone zu Diensten ist, wer aus der heilen Pfarrei-Idylle ins kalte Lebenswasser gestürzt ist und wer den Hammerhai im Rock spielt, dann ist Emila … Emila ist narkoleptikerin. Da hilft keine Spezialdiät und auch kein Nordic Walking. Also gibt Emila ihrer Krankheit nach, statt gegen sie zu kämpfen. Sie räumt der Narkolepsie ein, nicht ihre zweite, sondern ihre erste Natur zu werden. So kommt Emila zu einer zusätzlichen Biografie. Die eine ist korrekt und glatt wie der Lebenslauf aus einer Bewerbung als Bürokraft. Die andere ist verschlafen, verborgen, unterirdisch, eine Art venezianischer Spiegel. Wenn Emila kollabiert und ihre Flashbacks hat – die zynischen WachseinsApostel sprechen vom „Nageleinschlagen“ – kann nur Eryk sie wieder zu Bewusstsein bringen. Die narkoleptischen Schübe dauern mal eine Minute, mal eine halbe Stunde, aber wenn es vorbei ist, fragt Eryk nicht blöde, was sie geträumt hat, oder ob er den Krankenwagen rufen soll. Gerade summt Eryk, der auf dem Rand des Kissens liegt, Never Ending Story. Emila spielt die Verschlafene. Sie streckt die Hand nach ihm aus, um sich sogleich auf die andere Seite zu drehen. Eryk verstummt und gönnt seiner Liebsten ein paar Minuten Schlaf. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler ZNAK, KRAKÓW 2012 140 × 205, 260 PAGES ISBN: 978-83-240-1896-3 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK zurück zum Inhaltsverzeichnis 24 ADAM WIEDEMANN ADAM WIEDEMANN (GEB. 1967), LYRIKER, PROSASCHRIFTSTELLER, LITERATUR- UND MUSIKKRITIKER, ZEICHNER, ÜBERSETZER AUS DEM UKRAINISCHEN, SLOWENISCHEN UND ENGLISCHEN (U.A. HARRY MATHEWS UND GERTRUDE STEIN) Photo: Instytut Książki Entsprechungen Adam Wiedemann, der in letzter Zeit eher als Lyriker in Erscheinung getreten ist, hat ein neues Prosawerk vorgelegt. Seit seinem letzten Erzählband („Gewaltige Verschlechterung des Gehörs“, Hainholz Verlag 2001) ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, die Neuerscheinung ist also bezeichnend, bemerkenswert und obendrein gelungen. Bei den „Entsprechungen“ handelt es sich wiederum um eine Sammlung von (insgesamt 20) mal längeren, mal kürzeren Geschichten. Diese in Polen heute nicht sonderlich beliebte Form liegt Wiedemann immer noch am besten, glücklicherweise verfällt er nicht in die verbreitete Unsitte, Erzählungen zu Romanen aufzublasen. Abgesehen von wenigen pasticheartigen Texten erzählt Wiedemann über das, was er am besten kennt – über sein Leben. In diesem Erzählen über sich, einen Künstler mittleren Alters, der in reichlich mittelmäßigen Zeiten sein Leben lebt, legt er allerdings eine Verve und einen Humor an den Tag, die von jeglichem Mittelmaß weit entfernt sind; er stellt sich mit unverhohlener Sympathie in die Traditionslinie eines Modus des Erzählens über das eigene Leben, den in der polnischen Literatur Miron Białoszewski geprägt hat. Nur überwiegt in den „Entsprechungen“ nicht die Beschreibung des häuslichen Treibens, sondern das Auswärtsspiel in reportageartigen Erzählungen über die Abenteuer („Geschehnisse“ wäre der treffendere Ausdruck) bei den zahlreichen Festivals, Messen und Stipendienaufenthalten im Ausland, die sich über die Jahre angesammelt haben. zurück zum Inhaltsverzeichnis Wir haben es also mit sehr persönlichen Berichten über ein „normales“ Einzelleben mit (zumal für Leser jenseits des Literaturbetriebs) durchaus exotischen Zügen zu tun, die sich stets der sprachlichen Fallstricke bewusst sind, die alles Erzählen durchkreuzen. „Du denkst, du erlebst etwas, du erlebst es sogar wirklich, und dann weißt du plötzlich, du hast nichts erlebt, und das ist auch kein Schaden.“ Wir haben sogar alle einen ästhetischen, ja einen existenziellen Nutzen davon. „Es ist kein Schaden, dass du nichts mehr davon weißt, was du nicht erlebt und was du erlebt hast, obwohl du dachtest, du würdest es vielleicht nicht mehr erleben. Du hast es noch erlebt, und es hat dir sogar etwas gebracht“, schreibt Wiedemann in seinem kurzen Text über eine Stipendiatenepisode in Iowa City. Freuen wir uns, dass es Wiedemann (und den Lesern) so viel gebracht hat. Marcin Sendecki Du denkst, du erlebst etwas, du erlebst es sogar wirklich, und dann weißt du plötzlich, du hast nichts erlebt, und das ist auch kein Schaden. Es ist kein Schaden, dass du nichts mehr davon weißt, was du nicht erlebt und was du erlebt hast, obwohl du dachtest, du würdest es vielleicht nicht mehr erleben. Du hast es noch erlebt, und es hat dir sogar etwas gebracht. Ich erinnere mich dunkel an Zimmer, Häuser. An Menschen. Diese Menschen gibt es nicht und ich weiß nicht mehr, wovor sie Angst hatten. Mary hatte mich geweckt, sie hatte einen Umschlag mit meiner EC-Karte dabei. Ich hatte auf etwas Netteres gehofft, möglichst ohne Mary-Dreingabe, dabei war Mary höchst wahrscheinlich. Mary ist wie eine Mutter für uns, sie liebt uns, weil sie uns geboren hat, was verständlicherweise für Unmut sorgt, denn wer will schon das Kind von einer wie Mary sein. Jetzt frage ich mich nur noch, ob dieser ganze düstere Alptraum durch das Poltern an der Tür ausgelöst wurde, oder ob das Poltern mich vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Die Karte war sehr hübsch und es stand drauf, man sollte etwas mit ihr tun. Das verschob ich auf später, so schnell geht das nicht, vor dem Aufstehen, vor dem ersten Drink. Ich ließ sie auf der Schlafcouch zurück und machte mich an Gertrude Stein, die auf dem Tisch lag. Man stelle sich nur einmal vor, Gertrude Stein hat das alles im nüchternen Zustand geschrieben. Sie hat das alles im nüchternen Zustand geschrieben, heißt es. Ein nüchterner Mensch. Ordentlich. Solche Menschen muss man lieben. Ich muss Schwester Teresa schreiben, dachte ich. Aber ich schrieb nicht. Ich übersetzte ein paar Seiten „Useful Knowledge“, bis sie for, four und fortunately stapelte, das war zu viel. Es war schon halb fünf. Auf der Schlafcouch sah ich die Karte liegen. Die Karte ließ mir drei Optionen: hingehen, mailen oder anrufen. Ich rief an. Es meldete sich ein Automat, ließ mich verschiedene Dinge tun, ich tat sie, solange ich konnte. Als ich nicht mehr konnte, meldete sich eine andere Stimme. Bist du ein echter Mensch?, fragte ich. Jawohl, das bin ich, antwortete die Stimme. Sie ließ mich dasselbe tun wie der Automat. Das war ganz einfach. Wir verabschiedeten uns in beiderseitigem Einvernehmen auf das herzlichste. Diese Stimme gibt es noch. Ich mag sie. Ich könnte sie noch einmal anrufen. Ich könnte sie in der Realität treffen. Ich könnte mich mit ihr verabreden. Ich könnte, könnte, aber nüchtern betrachtet, was soll die Quälerei. Ich zog mich an und verließ die Wohnung. In einem Antiquariat gab es das Buch „Wars I Have Seen“ für 6 $, ich nahm es und ging zur Kasse. Könnte ich das kaufen?, fragte ich. Ich denke, du könntest, sagte die Kassiererin. Sie war dick. Ich lachte laut. Ich bezahlte 6.80 inklusive tax. Und ich ging in die Bar nebenan, eine Hamburger-Bar. John hatte nämlich gesagt, dort gibt es die authentischsten Hamburger, die muss man probiert haben. Ich setzte mich und nahm mir die Karte, es gab alle Arten von Hamburgern. Ich wollte einen ganz normalen, bestellte aber einen mit Speck, das klang irgendwie besser. Und eine Limo, hier haben sie überall Limo und man kann sie einfach so bestellen, ohne zu erklären, was man will und wie das geht. Willst du was zum Hamburger dazu?, fragte die Bedienung. Pommes? Für Hamburger mit Pommes ist es noch zu früh, antwortete ich und meinte damit, vielleicht beim nächsten Mal. Die Bedienung ging den Hamburger holen. Ich zog „Wars I Have Seen“ heraus und begann zu lesen. Gertrude kann man in der Bar lesen. Man kann sie überall lesen, sie gebraucht keine überqualifizierten Verben. Die Bedienung brachte die Limo, sie war riesig. Mir gegenüber setzte sich ein älterer Mann ohne Arm, er war sehr unglücklich oder verrückt. Er bestellte etwas und beklagte dann lauthals sein Schicksal. Adam, beruhige dich, rief eine Bedienung von hinten. Der Mann ohne Arm beruhigte sich. Wir bekamen unsere Hamburger. Der Speck in meinem war gut gewürzt, das Brötchen gut gebacken, man konnte das gut essen. Willst du noch was?, fragte die Bedienung und setzte sich zu den Leuten am Nebentisch. Oh, Adam, sagten die, wie geht’s, schön dich hier zu sehen. Lesend leerte ich die Limo, Gertrude wurde immer besser, die Limo wurde wässrig. Ich stand auf und ging zur Kasse, ich hatte 6 $ klein. Die Rechnung belief sich auf 6,41 inklusive tax, ich hielt einen Hunderter hin. Ich muss dir in Fünfern rausgeben, sagte die Kassiererin. Und wenn ich mit Karte zahle?, sagte ich und zahlte mit Karte, obwohl ich die Karte das erste Mal vielleicht lieber unter erhebenderen Umständen gebraucht hätte. Hier ist Platz für den tip, sagte die 25 Kassiererin, schreib soviel du willst. Aber der tip war doch schon mit drin?, sagte ich und verwechselte tip mit tax. Tax ist immer schon mit drin, sagte die Kassiererin, hier kannst du den tip für mich hinschreiben. Ich schrieb 29 Cent, damit es aufging, trat vor die Tür und machte mir klar, dass ich 69 hätte schreiben sollen. Nein, 59, was habe ich nur mit den Zahlen? Ich ging die Straße hinab und dachte an die tips oder taxes. Dass man nie wusste, wie viel man zahlt. Was schert mich die Kassiererin, was schert mich die Bedienung, ich gehe da nie mehr hin, das waren meine Gedanken. Zwei Jungs joggten vorbei, einer oben ohne, sehr attraktiv. Ich ging um ihn herum, er hatte nämlich an einer Ampel gestoppt, Schweißtropfen auf der Haut, schwer atmend, umsonst. In einem Geschäft suchte ich Kuchen, ich fand BioKekse für 3 $. Der Kassierer war komplett tätowiert, er bekam tax. Tax bekommen die, die es nicht verdienen, dachte ich, obwohl dieser tax tip für den Kassierer war. Alle sind hier total tattooed, machen aus sich einen Text. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler RITA BAUM, WROCŁAW 2012 130 × 178, 228 PAGES ISBN: 978–83–924251–8–2 TRANSLATION RIGHTS: ADAM WIEDEMANN CONTACT: RITA BAUM zurück zum Inhaltsverzeichnis 26 ŁUKASZ ORBITOWSKI ŁUKASZ ORBITOWSKI (GEB. 1977), PROSAIST UND POPULÄRER PUBLIZIST, AUTOR REALISTISCHER HORROR- UND SCIENCE-FICTION-LITERATUR, VON SEINEN LESERN WIRD ER AUCH FÜR DIE SAMMLUNG MÄRCHENHAFTER ERZÄHLUNGEN DER VORSITZENDE UND DER STRICH. WIE KATZEN SICH DIE WELT ERKLÄREN GESCHÄTZT. Photo: Bartłomiej Kwasek Gespenster Łukasz Orbitowski beweist in Gespenster, dass er zu jenen Autoren gehört, die die ungezügelte narrative Imagination der phantastischen Literatur geschickt mit der Aufmerksamkeit eines scharfsinnigen Psychologen und Beobachters der Wirklichkeit zu verbinden wissen. Die breit angelegte Handlung des Romans beginnt mit einer beunruhigenden Szene, an der ein kleines Mädchen und ein Soldat beteiligt sind. Die geheimnisvolle Schachtel, die hier auftaucht, ist das Leitmotiv, das sich durch die gesamte Erzählung zieht. Die eigentliche Verbindung wird jedoch nach einem guten Dutzend Seiten hergestellt, vor dem für den 1. August 1944 geplanten Warschauer Aufstand. Krzyś (er ist dem jungen und berühmten Dichter Krzysztof Kamil Baczyński nachempfunden, der im Aufstand ums Leben kam) wird daran teilnehmen, er ist auf dem Weg zum Sammelpunkt. Seine Verlobte, Basia, soll eine Schachtel verstecken, ohne dass ihr zukünftiger Mann etwas davon mitbekommt. Aber es kommt nicht zum Aufstand. Die Waffe funktioniert nicht. Die Geschichte Polens nimmt einen anderen – alternativen – Lauf, auch für Krzyś, der in Orbitowskis Buch nicht bei Kampfhandlungen ums Leben kommt. Jener Krzysztof lebt im sozialistischen Polen und versucht einen Roman zu schreiben, der den aktuellen politischen Bedürfnissen gerecht wird. Das bereitet ihm riesige Schwierigkeiten. Außerdem kämpft er mit gewöhnlichen Alltagsproblemen im Kontakt mit anderen Menschen und sich selbst. Im Hintergrund der Abenteuer von Krzysztof zurück zum Inhaltsverzeichnis kommt es zur gleichen Zeit zu schicksalshaften Ereignissen zwischen dem Milizionär Wiktor und dem politischen Gefangenen Janek. Der Roman Orbitowskis schillert in vielen Farben. Die phantastische Narration vermischt sich mit realistischen Schilderungen, von einer historischen Aura umgebene Motive entpuppen sich plötzlich als identisch mit der Gegenwart, und der Elan bei der Darstellung der Figuren hat direkt zu tun mit der psychologischen Beobachtung zwischenmenschlicher Beziehungen. Auf diese Weise jongliert Orbitowski ausgezeichnet mit Stilen, Perspektiven und Atmosphären. Seine solide, mitunter filmische Prosa hat ohne Zweifel ihren Platz im Kreis der wichtigsten Autoren der phantastischen polnischen Gegenwartsliteratur. Marcin Wilk Krzyś zog die Papiere aus dem Versteck, es waren dort ein paar Untergrundzeitungen, zerknitterte Exemplare des Neuen Spatzen, militärische Lehrbücher aus der Vorkriegszeit und das schon unter deutscher Besatzung im Untergrund herausgegebene Buch Emotionale Psychologie von Petrażycki. Darunter lagen Karten und Schulungsmaterialien, die die wahren Schätze verdeckten: eine Thompson mit langem Kolben, zwei Sten Guns, eine Schmeisser, außerdem ein paar Granaten und ein wenig Munition. General Monter hatte gesagt, falls jemand keine Waffe habe, solle er einen Stein nehmen und eine erbeuten. Krzyś hatte eine Waffe. Er krümmte sich einen Moment über dem kleinen Kasten zusammen, aber nicht wegen des Asthmaanfalls, wer hätte sich an so einem Tag um Asthma geschert? Krzyś überlegte, was er nehmen sollte, schließlich gehörten ihm die Waffen nicht, aber mit leeren Händen in die Focha-Straße zu gehen hatte nun auch keinen Sinn. Und was ist, wenn ihn eine Patrouille anhält? Es war ein warmer Tag, eine Sten würde er unter dem Mantel verstecken können, nur dass ein Mantel am 1. August verdächtig aussah. Doch sollten an jenem Tag auf Warschaus Straßen jede Menge Menschen im Mantel zu sehen sein. Krzyś wusste, dass Soldaten außer Mänteln und Stens auch Schuhe brauchten, und er musste sich welche organisieren. Es war nicht genug Zeit. Er verspürte einen komischen Unwillen, es war, als ob ihm mit diesem Auftrag zu verstehen gegeben worden wäre, dass er sich im Hintergrund halten und den Kämpfenden behilflich sein sollte, als ob man den Gedanken von seinen Augen hätte ablesen können, dass Kämpfen bedeutete zu töten; Krzyś hingegen schien ein Mensch zu sein, der stirbt, ohne zu murren, aber mit dem Töten ein Problem hat. Er verscheuchte diese Gedanken und tröstete sich damit, dass jetzt alle in Warschau von Zweifeln geplagt wurden und ein jeder anderswo sein wollte, in einem anderen Kommando, in einem anderen Haus oder einer anderen Einfahrt als der, in der er gerade saß, und ganz sicher gab es Menschen, die in diesem Moment gerne vor einem Versteck voller Waffen gekniet hätten. Er legte zwei Granaten aufs Bett, räumte das Papier zurück und setzte die Parkettstäbe wieder ein. Er schob die Couch zur Seite und setzte sich darauf, er war außer Atem. Basia fehlte ihm, ihre Worte und ihr Mund am allermeisten, aber auch dieser einfache Handgriff: immer, wenn er das Versteck geschlossen hatte, war Basia mit Besen und Wischlappen gekommen, sie war erstaunlich vorsichtig, dafür, dass sie so ein schönes Mädchen war. Er konnte sich nicht erklären, warum Basia das tat, schließlich war es überflüssig; wenn jemand sie denunziert hätte oder irgendein Deutscher zufällig hereingekommen wäre, hätte er sofort die Couch bemerkt und an die Dielen darunter gedacht, da hätte kein Fegen geholfen. Aber Basia fegte, sie fegte immer wieder. Er dachte jetzt daran, wo sie wohl sein mochte, ob sie schon in der PańskaStraße war, und falls nicht, ob sie dorthin gelangen wird, bevor es losgeht, schließlich muss man kein General sein, um zu wissen, was sich zusammenbraut. Die Mobilmachung dauerte schon einige Tage an, von Praga, von Radzymin und Otwock feuerte die sowjetische Artillerie ihre Salven ab, und Fischers Befehl, Gräben auszuheben, war anstelle der ganzen Stadt nur eine Handvoll Idioten nachgekommen. Basia – die nie etwas hatte wissen wollen – weiß Bescheid, es lohnt sich zu fragen, was sie mit diesem Wissen macht, verkriecht sie sich irgendwo oder folgt sie Krzyś? Diese Frage setzte ihm zu, und ein Schmerz breitete sich in seinem Körper aus, arm und dürr wie er war. Krzyś wusch sich das Gesicht, steckte die Granaten in die Hose und verdeckte sie mit seinem sandfarbenen Mantel, der für seine schmalen Schultern zu groß war, aus den überlangen Ärmeln ragten dünne Handgelenke, aus dem gestärkten Kragen der Kopf eines Jungen mit ängstlichen Augen hervor. Er warf einen Blick durch das Fenster, auf die Uhr und wieder durch das Fenster, dort eilten Menschen über gepflasterte Gehwege, strebten in chaotischen Grüppchen den ihnen bekannten Zielen zu; wenn irgendein Gesicht im Fenster erschien, dann nur, um gleich wieder zu verschwinden, aus einer dunklen Einfahrt sprang barfuß ein stinkender Hosenmatz hervor, auch ihn verschluckte umgehend eine andere dunkle Einfahrt. Die Phantasie des Poeten ergänzte den Rest: die Mauern des Wohnhauses in der Hołówka-Straße reißen auf wie frisch vernarbte Wunden, unter dem Putz scheinen feuchte rote 27 Backsteine hervor, die Tore sind hoch, schmal, haben die Form uralter Steine, das leere Abbild heidnischer Kreise, aus denen diejenigen herausfallen, die von Warschau gefressen wurden, die auf die Teller der Moskowiter, Sowjets und Deutschen geworfen wurden, sie werden verputzt mit Besteck aus den Knochen der Volksdeutschen, zerbissen, zerkaut – nun sind sie wieder heil, sie stürmen in die Freiheit – die beim Massaker von Praga abgeschlachteten Jungs, die vom sibirischen Frost Dahingerafften, die auf der Szuch-Allee Erschossenen, die Verhungerten, das Lebendige in der Asche des vor kurzem noch existierenden Ghettos, alle sausen im Wind aus den Eingeweiden der Stadt. Über dieses Bild schob sich ein anderes, das sogar Krzyś überraschte: Es herrscht Frieden, die Deutschen sind vernichtet, die befreiten Geister verbrüdern sich, Freunde und Liebende finden zueinander, endlose Kolonnen schwarzer Autos jagen zum Spaß dahin und feiern den Sieg, wo furchterregende Kapellen lebhaft spielen, suchen sich Verliebte einen Platz in den oberen Rängen oder paaren sich direkt vor aller Augen, überzeugt davon, dass sie, da sie doch tot sind, für ihre Ausschweifungen nicht werden büßen müssen. Erschlagene Legionäre dreschen einen Skat oder Poker, abgestochene Huren flirten mit ihnen, von den Toten auferstandene Kinder werfen fröhlich die Scheiben in den Häusern ein, schließlich sind sie schon im September, vor fünf Jahren, zu Bruch gegangen. Und dann schweben die Gespenster, was noch schöner ist, in Richtung Altstadt, auf die Marszałkowska-Straße, wo sie sich in einen Leichenreigen ergießen, der erstrahlt im Glanze des Sieges. Jeder trägt eine lustige Mütze oder farbige Kleidung, rotes Konfetti schießt in den Himmel, es ertönt Gelächter, es erklingt ein Lied von Akkordeons, Gitarren und Leierkästen, und jene Fröhlichen, Siegreichen, Verstorbenen reißen die Lebenden mit sich in ihren freudigen Taumel, heben die Krüppel aus ihren Rollstühlen, stoßen den Greisen ihre Stöcke weg und ziehen sie mit sich, sie drücken Soldaten, deren Frauen, Mütter an sich, feuern Salutschüsse ab, schneller und schneller, Lebende und Tote, Könige und Unteroffiziere, vereint in einem Reigen auf den Straßen Warschaus. Wo auch immer man hinblickt, kein einziges trauriges Gesicht, es sei denn die Fresse eines Schmalzowniks oder Volksdeutschen – oder eines an der Laterne aufgeknüpften Blauen Polizisten, der eine wütende Grimasse schneidet. Warschau lacht, Warschau tanzt, zusammen mit den Menschen tanzen Tiere und Häuser, die Stadt fährt auf in den Himmel in diesen heiligen Tagen des August. So sah es zumindest Krzyś, eindeutig erschrocken über sich selbst überlegte er, ob er das nicht aufschreiben und irgendwie Basia geben sollte, als gutes Omen – wenn man dem Dichter den Kopf aufschneiden und daraus die Zukunft lesen könnte, wäre das Leben einfacher. Er lächelte bei diesem Gedanken – dem Anblick der Priester über dem gespaltenen Schädel des einen oder anderen Dichterpropheten – und entschied, dass er es nicht aufschreiben würde, weil er sich beeilen musste. Wo auch immer Basia war, sie würde sicher warten. Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel WYDAWNICTWO LITERACKIE, KRAKÓW 2012 145 × 205, 544 PAGES ISBN: 978-83-08-04774-3 TRANSLATION RIGHTS: WYDAWNICTWO LITERACKIE zurück zum Inhaltsverzeichnis 28 MAŁGORZATA SZEJNERT MAŁGORZATA SZEJNERT (GEB. 1936), JOURNALISTIN, REPORTERIN, SCHRIFTSTELLERIN. MITBEGRÜNDERIN DER ZEITUNG „GAZETA WYBORCZA”, BEI DER SIE 15 JAHRE LANG DAS REPORTAGERESSORT LEITETE UND ZAHLREICHE JUNGE REPORTER AUSBILDETE UND SCHULTE. Photo: Andrzej Bernat Das Heim der Schildkröte. Sansibar Małgorzata Szejnerts neues Reportageabenteuer nahm seinen Anfang bei der Begegnung mit einer … Schildkröte. Szejnert fuhr nach Sansibar, um tauchen zu lernen. Kaum unter Wasser, begegnete sie einer Grünen Meeresschildkröte, der heute äußerst seltenen Königin der sansibarischen Gewässer. – „Die Sonnenstrahlen beleuchteten sie; sie sah aus wie eine goldene Honigwabe“, sagte Szejnert später. Als sie aufgetaucht war und das Tauchgerät abgenommen hatte, setzte Małgorzata Szejnert sich an den Computer, um mehr über die Grüne Meeresschildkröte zu erfahren. Und erfuhr, dass diese Tiere 170 Jahre alt werden – könnten, gäbe es da nicht den Schädling namens Homo sapiens. Dass das Schildkrötenweibchen seine Eier an dem Strand ablegt, an dem es selbst geboren wurde. Und dass es an diesem Strand immer häufiger ein vom Homo sapiens errichtetes Hotel vorfindet. Und Beton, durch den die Schildkrötenflossen sich keinen Weg bahnen können. „Diese Heimatlosigkeit der Schildkröte, die schließlich auf dem Rücken ihr eigenes Heim mit sich herumträgt, hat mich sehr berührt“, sagt Małgorzata Szejnert. Und so wurde die Schildkröte zum Leitmotiv ihres Buches, das die Geschichte der Insel im Zeitraum von ebendiesen 170 Jahren schildert. Dabei zeigt sich, dass die Menschen im Laufe des Lebens einer einzigen Schildkröte imstande sind, sich ein wahres Kaleidoskop von Geschehnissen, Haltungen, Ideologien, Kriegen, Revolutionen, Wortbrüchen und Fanatiszurück zum Inhaltsverzeichnis men zu bereiten. Małgorzata Szejnerts Sansibar sprudelt über von außergewöhnlichen Ereignissen und Gestalten – kaum zu glauben, dass das alles auf einer einzigen kleinen Insel geschehen sein soll. Ein fieser Sklavenhändler rettet einen eingefleischten Gegner der Sklaverei vor dem Tod; ein polnischer Aufständischer ertränkt (als französischer Konsul) seinen Kummer in der Dichtkunst; ein britischer Reisender bricht zum Herzen Afrikas auf und verfällt dem Wahnsinn, woraufhin Träger ihn neun Monate lang weitertransportieren, damit er in Westminster beerdigt werden kann. Das Sansibar Małgorzata Szejnerts ist die Welt im Miniaturformat; hier finden alle großen Übel der vergangenen zwei Jahrhunderte ihren Widerhall. Zuerst der Kampf um die Rechte der schwarzen Sklaven, später dann der Schatten des im fernen Deutschland aufkeimenden Imperialismus, der sich mit der Zeit zum Faschismus auswuchs. Der Kommunismus, der sich in eine blutige Revolution verwandelte. Schlussendlich dann die heutigen Zeiten: das wachsende Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich. Und die Zubetonierung der Strände, an denen reiche Touristen sich wie zu Hause fühlen und Schildkrötenweibchen keinen Platz zur Eiablage finden. Dafür allerdings scheint sich, außer der polnischen Reporterin, kaum jemand zu interessieren. Witold Szabłowski Gewürznelken. Unguja und Pemba, Sansibar Die Zeugnisse der Sklavenarbeit sind verschwunden – die Rikschas von den Straßen in Stone Town, die Nelkenknospen von Sansibars Flagge. Pflückt man die Knospen nicht rechtzeitig, sind sie, wie man weiß, nichts mehr wert. Doch wer sollte sie pflücken? Vor der Revolution sammelten Saisonarbeiter vom afrikanischen Festland sie ein. Jetzt halten Engpässe bei der Nahrungsversorgung auf den Inseln die Arbeiter von der Herfahrt ab. Die Ernten werden zusätzlich dadurch beeinträchtigt, dass die Vereinigung der Nelkenanbauer der staatlichen Kontrolle unterstellt wurde und ihre Erfahrungen kaum noch weitergeben kann. Die Organisation der Arbeit verkommt. Es ist bequemer, nur die Knospen von den unteren Zweigen zu pflücken und die oberen am Baum zu lassen. Auf einigen Plantagen bleiben angeblich vierzig Prozent der Knospenstände an den Bäumen. Die von der Regierung festgelegten Nelkenpreise sind um vieles niedriger als die auf dem Weltmarkt, und so wird bereits ein Teil der Ernten nach Festlandafrika geschmuggelt. Die Behörden drohen mit Todesstrafe für dieses Verbrechen, aber Unguja und Pemba verfügen über historische Erfahrung im Schmuggeln: So wie einst Sklaven unter einer Abdeckung in den kleinen dhows befördert wurden, fahren die flinken und leisen Segelboote heute mit Gewürznelken beladen gen Westen, hauptsächlich nach Kenia, und bringen wertvolle Gebrauchsartikel mit zurück, Zucker, Mehl, Öl, Kleidung, Zahnpasta, Seife, Streichhölzer und so weiter. Der Nelkenschmuggel nimmt solch mächtige Ausmaße an, dass sein jährlicher Wert in die Millionen Dollar geht. Die Regierung schätzt, dass 1975 ein Drittel der Ernte aus Sansibar herausgezogen wurde. An Daten zu kommen, ob und wie viele Personen mit dem Tod bezahlen mussten, ist nicht möglich. Vielleicht bekam sogar niemand je die Höchststrafe, weil die Schmuggler so viel verdienten, dass sie Aufseher und Gerichte bestechen konnten. Ajit Singh. Ng’ambo, Sansibar Ajit Singh Hoogan verlässt Sansibar nicht, obwohl er diese Möglichkeit sicher in Betracht zieht. Doch er muss sein Haus bewachen. Pretty One ist prächtig genug, um sich auf der Verstaatlichungsliste wiederzufinden, die von Ali Sultan Issa, Vater von Raissa, Fidel, Maotushi und Stalin, aktuell gehalten wird. Der Verlust dieses Hauses, bei dessen Bau er Gottes Liebe gespürt hatte, wäre sehr schmerzlich für Singh. Aber nicht nur deshalb bleibt er auf der Insel. Die neue Regierung will die Stadt Sansibar völlig umgestalten. Bislang wurde das arabische Stone Town mit der Hauptstadt gleichgesetzt, und daran änderten auch Duttons und Singhs frühere Projekte auf der anderen Seite nichts. Obwohl Sansibars revolutionäre Regierung selbst die vornehmen, von der Vorgängerregierung übernommenen Gebäude nutzt, entthront sie das arabische Stone Town und lenkt den gesamten Investitionsstrom nach Ng’ambo. Auf Ajit Singh, den Gestalter des Raha Leo Civic Centers, das bei der Revolution eine so wichtige Rolle spielte, warten große Aufgaben. In der Hoffnung auf Arbeit und Aufstieg strömt Sansibars Bevölkerung in die Stadt. Die Populationskurve der Hauptstadt, in weit gefassten Grenzen, steigt ab 1964 steil nach oben. Im Jahrzehnt nach der Revolution verdoppelt sich die Stadtbevölkerung und übersteigt gegen Ende die Hundertfünfundzwanzigtausend. Transparente werben für die Idee einer sozialistischen Stadt, und der beliebteste Slogan der damaligen Zeiten lautet: Unsere Mutter ist die Revolution, unser Vater die Afro-Shirazi-Partei. Das Vorzeigeprojekt trägt den Namen Michenzani. Abdul Sheriff, Historiker und Professor an der Universität von Daressalam und Autor zahlreicher Bücher über Sansibar, nannte dieses Projekt Die Kreuzigung. Heute, im Jahr 2010, braucht man nur eine Satellitenaufnahme der Hauptstadt auf dem Computer aufzurufen, um die Richtigkeit dieser Behauptung zu überprüfen. Von oben sieht die Stadt aus wie eine kunstvolle Patchworkarbeit aus lauter winzigen Rechtecken und Quadraten. Die linke Seite – Stone Town – ist dicht gearbeitet, keine Spur von Rissen oder platzenden Nähten. Die rechte Seite – Ng’ambo – durchschneiden von Ost nach West, Nord nach Süd die Arme eines riesigen Kreuzes. Sogar auf einem Foto aus großer Höhe weckt sein Anblick Besorgnis und Neugier. Das Kreuz erinnert nicht an Gebäude, sondern an Ingenieurskonstruktionen – Festungen, Kanäle, Startbahnen? Es sind aber Häuser, oder eher Blocks. Der undeutliche Kreis an der Stelle, wo die Arme des Kreuzes sich überschneiden, ist das Becken eines Springbrunnens. Auf der Luftaufnahme sieht man, dass kein Wasser darin ist, sondern Müll, und dass verrostete Rohre herausragen. Im Übrigen kommt 29 niemand an das mit Beton ausgekleidete Becken heran; es liegt in der Mitte eines Kreisverkehrs. Die Wohnblocks sind je dreihundert Meter lang und haben fast alle sechs Stockwerke. Sie sind aus grauem Beton gebaut und werden von Außengalerien im Zickzack gekreuzt. Alle Module sind gleich schmutzig, abgeblättert, rissig, Aufgänge und Wohnungen sind nicht gekennzeichnet; unverständlich, wie Tausende von Bewohnern hier ihre Wohneinheiten wiederfinden. Wohneinheiten sind es nämlich, und die haben mit der afrikanischen Art des Haushalts und familiären Zusammenlebens nichts gemein; zwei Zimmer und Küche in Beton. Die Blocks bilden endlose, wie ausgestorbene Perspektiven, die auch heute – im Jahr 2010 – kein Straßenverkehr beleben kann, keine an die Mauern gesprayten Schriftzüge, kein Handel mit Sofas, Sesseln, Puffs, die an den Wänden im Erdgeschoss entlang aufgestellt werden wie Reihen von alternativen, niedrigen, aber – der Abwechslung halber – weichen und bunten Gebäuden. Nicht Ajit Singh ist jedoch verantwortlich für dieses Kreuz. Abeid Karume ist es, der sich mit der Bitte um Hilfe beim Umbau der Hauptstadt an Architekten aus der Deutschen Demokratischen Republik wendet. Der leitende Architekt heißt Hubert Scholz. Das Architektenteam sieht den Bau von zweihundertneunundzwanzig Gebäuden mit insgesamt fast sechstausend Wohnungen für dreißigtausend Menschen vor. Das erfordert den Abriss von über fünftausend alten Häusern in Ng’ambo. Doch die Eltern Partei und Revolution sind nicht in der Lage, Scholz’ Projekt in Gänze zu verwirklichen. Das Land ist zu arm, und Ng’ambo wird nicht vollständig in eine sozialistische Stadt umgestaltet. Bi Kidude wohnt noch immer in ihrem kleinen Haus in der Nähe von Raha Leo, sitzt auf dem steinernen Treppchen davor und raucht Zigarette um Zigarette. Manchmal nimmt sie sich ein Stück Schokolade, manchmal einen Schluck aus der Flasche. Ihrer Stimme schadet das nicht; sie ist bei guter Gesundheit. In Berlin, wie sie die Wohnblocks nennt, hätte sie nicht lange überlebt, meint sie. Garth Andrew Myers, ein amerikanischer Professor mit dem Fachgebiet der afrikanischen Urbanistik, meint, die enormen Investitionen in Ng’ambo, die größten in der Geschichte der Stadt Sansibar, hätten das Problem der Überbevölkerung in der Stadt nicht gelöst. Sie hätten so gut wie gar nichts genützt. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes ZNAK, KRAKÓW 2011 165 × 235, 400 PAGES ISBN: 978-83-240-1819-2 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK zurück zum Inhaltsverzeichnis 30 WOJCIECH JAGIELSKI WOJCIECH JAGIELSKI (GEB. 1960), JOURNALIST, REPORTAGENSCHREIBER. THEMEN SEINER BERICHTE SIND DIE WELTWEIT WICHTIGSTEN POLITISCHEN EREIGNISSE RUND UM DIE JAHRTAUSENDWENDE, WOBEI ER SICH AUF DIE LÄNDER AFRIKAS, DES MITTLEREN OSTEN UND DES KAUKASUS SPEZIALISIERT. JAGIELSKIS BÜCHER WURDEN BEREITS INS ENGLISCHE, SPANISCHE, NIEDERLÄNDISCHE, ITALIENISCHE UND DEUTSCHE ÜBERSETZT, UND ER SELBST WIRD HÄUFIG MIT RYSZARD KAPUŚCIŃSKI VERGLICHEN. Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Brennendes Gras Wojciech Jagielskis aktuelles Buch handelt von einem Land, das es in dieser Form – glücklicherweise – nicht mehr gibt. Doch die Idee, die hinter der Organisation dieses Landes steckte, war so voller Gift, und das Leben seiner Einwohner so bis ins Detail strukturiert, dass die neuen Regelungen eine Sache sind, der Alltag aber eine ganz andere; eigentlich hat sich alles geändert, aber so, dass sich fast nichts änderte. Da wirkliche Veränderungen gewöhnlich viel länger brauchen, als es jedermann scheinen mag, lassen sie sich nicht verordnen, und ihr willkürlich festgelegter Beginn bezeichnet nicht den Zeitpunkt, an dem sie tatsächlich Wurzeln schlagen. Die Republik Südafrika, eine Kleinstadt in der Provinz Transvaal mit dem Namen Ventersdorp: Hier herrschte Eugène Terre’Blanche, Bure und Nachfahre holländischer calvinistischer Siedler, Populist und Poser, mit Sicherheit leidenschaftlicher Redner und Mythomane, vor allem aber eifriger Anhänger der Apartheid, die Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen, gemeinsame Schulen, Krankenhäuser, Strände, Sportplätze, Parkbänke und Bushaltestellen verbot, ganz zu schweigen von den Bussen selbst. Die Regeln für die Menschen sollen ebenfalls auf die Tiere übertragen worden sein – Friesenpferde wurden nicht mit Arabern gekreuzt, schreibt Jagielski in Brennendes Gras. Obwohl Terre’Blanche in der Kleinstadt offiziell keinerlei Funktion ausübte, galt er als ihr König. Darüber hinaus hatte er zahlreiche Anhänger in der zurück zum Inhaltsverzeichnis ganzen Republik Südafrika. Sein Traum war eine unabhängige Burenrepublik, in der die rassistischen Regelungen für weitere Jahrhunderte beibehalten werden sollten. Er starb, zu Tode geprügelt von schwarzen Arbeitern seiner eigenen Plantage; der Grund war ein Streit um die Lohnauszahlung. Mit dem Tag des Mordes an diesem weißen Volksführer beginnt Jagielskis Buch. Es ist jedoch weder eine Kriminalgeschichte mit gesellschaftspolitischem Aufhänger noch eine Reportage von der Art, für die sein Autor berühmt ist: Jagielski setzte sich hier anspruchsvollere Ziele. Seine bis ins kleinste Detail gehende Analyse der Apartheid zeigt die finsteren Seiten der menschlichen Natur, die uns einerseits andere verachten und andererseits niemals den Wunsch nach Rache vergessen lassen. Eher als die klassische Reportage ist das Buch daher ein Studium eines durch ein vorsehungshaftes Verständnis der Glaubenswahrheiten gestützten ideologischen Wahnsinns. Für ein solches Studium eignet sich die Sprache der Reportage ganz ausgezeichnet. Paweł Smoleński Bereits 31 den ganzen Nachmittag versuchte Martha Terre‘Blanche, ihren Mann am Telefon zu erreichen. Eugène führte schon immer sein eigenes Leben, zu dem sie keinen Zugang hatte. Er konnte für ganze Tage verschwinden oder sich in seine Gedankenwelt zurückziehen. Sie wohnten sogar getrennt: Er auf der Farm, sie in der Stadt. An Einsamkeit und Schweigen hatte sie sich gewöhnt. Die Unruhe, die die Abwesenheit ihres Mannes gerade an diesem Tag in ihr weckte, überraschte sie selbst. Sie wuchs mit jedem vergeblichen Anruf, schnürte ihr den Hals zu, lähmte. Durch das Fenster sah sie einige Schwarze beim Zaun warten. Sie erkannte Chris, den Eugène ein halbes Jahr zuvor zum Rinderhüten auf der Farm und für Gartenarbeiten beim Haus in der Stadt angestellt hatte. Er stand mit einem Jungen, den sie auch schon auf der Farm gesehen hatte, vor dem Tor. Später fuhr Eugène in einem weißen Lieferwagen vor. Er wies die Schwarzen an, sich auf die Ladefläche hinter dem Fahrerhäuschen zu setzen, und machte sich dann zurück auf den Weg zur Farm nach Ratzegaai, etwa fünfzehn Kilometer hinter der Stadt. Von da an ging er nicht mehr ans Telefon. Ernsthaft besorgt beschloss sie gegen Abend, die van Zyls anzurufen, deren Landbesitz der Farm der Terre‘Blanches gegenüberlag, nur durch einen Weg getrennt. Am Telefon meldete sich Dora, Eugènes Schwester, die er sehr liebte. „Nein, ich habe ihn heute noch nicht gesehen“, sagte sie. „Aber am Abend wollte er bei uns vorbeikommen.“ An diesem Samstagabend vor dem Ostersonntag, dem Fest der Auferstehung und Erlösung, wollten sie den Geburtstag ihres ältesten Sohnes feiern. „Er ist sicher ausgeritten und hat das Telefon zu Hause gelassen“, sagte Dora. „Ich sage Dan, dass er nachsehen soll, was drüben los ist.“ Auf der Veranda warf Dan van Zyl einen Blick auf die Uhr. Es war fast fünf. Die Schatten im Tal wurden länger und dichter. Dan van Zyl setzte sich, um dem Schauspiel zuzusehen. Normalerweise verbrachte er seine Abende nicht so, für solche Dinge hatte er keine Zeit. Aber an diesem Tag setzte er sich auf die Veranda seines Hauses und schaute zu, ganz so, als folge er einer inneren Eingebung. Von seinem Haus auf dem Hügel hatte er einen guten Blick auf den Feldweg im grünen Tal und die dichten Haine, die das Gelände der Farm am gegenüberliegenden Abhang bewuchsen. Sie gehörte seinem Schwager, Eugène Terre‘Blanche. In den letzten Jahren war Eugènes Hof stark verfallen. Van Zyl saß auf der Veranda und sann darüber nach, wie das mit der Erde so war. Wenn jemand nicht das Herz oder den Kopf für sie hatte, war auch sie ihm nicht geneigt und hörte auf, Früchte hervorzubringen. Eugène lebte für die große Politik. Seine Welt, das waren endlose Debatten darüber, wie schlecht die Dinge im Land vorangingen und wie schlimm es noch werden würde, wenn die Schwarzen am Ende die Macht übernähmen. Er trommelte seine Anhänger zu Beratungen und Demonstrationen zusammen, zerbrach sich den Kopf, wie eine Regierung der Schwarzen verhindert werden konnte. Und die Erde verkam. ab gelegenen Landgut fühlte sie sich nicht sicher. In den letzten Jahren war es auf den rund um die Kleinstadt gelegenen Farmen immer häufiger zu Überfällen und Morden gekommen, und viele Farmer hatten für ihre Familien Häuser in Ventersdorp gekauft. Auf ihre Farmen fuhren sie wie ins Büro und kehrten für die Nacht in die Stadt zurück. Die Sonne ging langsam unter, und Dan wollte schon ins Haus gehen, als sich von Terre‘Blanches Hof den Hügel herab ein schwarzes Pferd näherte. Es durchquerte die Wiese am Abhang, wobei es eine Spur in dem hohen gelblichen Gras hinterließ, und galoppierte bis zum Zaun am Feldweg, dann machte es kehrt und jagte im selben Tempo in Richtung des Hauses zurück. Van Zyl kannte dieses Pferd gut und wusste sofort, dass etwas Schlimmes geschehen war. Eugènes Welt, das waren nächtliche Kundgebungen im Fackelschein. Er pflegte zu Pferd einzureiten, hielt festlich herausgeputzt in einer Paradeuniform und inmitten flatternder Fahnen flammende Reden und drohte mit Krieg. Konnten Menschen wie er sich mit der Erde befassen? Eugène schmeichelte es, dass die Zeitungen ihn einen Burenkommandanten, General, den letzten Verteidiger der weißen Rasse nannten. Obwohl er im heimischen Ventersdorp kein besonderes Amt ausübte, galt er als der wichtigste Bürger der Stadt, als unantastbar und keinen Rechten unterlegen außer denen, die er selbst festgesetzt hatte. Bei den Schwarzen rief er echte Furcht hervor, aber auch die Weißen wagten nicht, sich ihm zu widersetzen. „Was für eine Verschwendung“, seufzte Dan van Zyl mit einem Blick auf die Familienfarm der Terre‘Blanches, die Eugène vom Vater übernommen hatte. Das Unkraut breitete sich mit jedem Jahr mehr im hohen, ungemähten Gras aus, auf dem Terre‘Blanche das Vieh weiden ließ, und auf dem Weideland waren hier und da Gruppen junger Bäume und Büsche aufgeschossen. Abwesend und in Gedanken versunken betrachtete Dan van Zyl die wandernden Schatten im Tal. Er rührte sich nicht einmal, als im Wohnzimmer das Telefon klingelte. Das Klingeln hörte auf, setzte aber nach einer Weile noch lauter und drängender wieder ein. Er hörte die Stimme seiner Frau. Am Apparat war Terre‘Blanches Ehefrau Martha. Sie wohnte nicht auf der Farm, sondern im Städtchen. Auf dem weit- Aus dem Polnischen von Lisa Palmes Chris Mahlangu und Patrick stiegen durch das nicht ganz geschlossene Fenster ins Schlafzimmer ein. Drinnen herrschte Halbdunkel. Der Farmer lag auf dem Rücken auf einem ausladenden Bett, die Arme weit ausgebreitet, vollständig angekleidet, nur die Hose war aufgeknöpft. Er schlief. Eine Weile standen sie da und betrachteten den schlafenden Mann. Schon der erste Schlag, den Mahlangu ihm mit einer Metallstange versetzte, raubte Terre‘Blanche das Bewusstsein. Chris Mahlangu schlug weiter zu, wieder und wieder, legte in jeden Schlag all seine Kraft, seinen Hass, seine Wut und Angst. Die Schläge trafen den liegenden Farmer am Kopf, den Schultern, der Brust. Mahlangu hörte das Krachen berstender Knochen, roch Blut in der Luft. Als die Kräfte ihn verließen, reichte er die Eisenstange an Patrick weiter, der danebenstand und ihm unverwandt beim Morden zusah. Nun jedoch ergriff er wortlos die Stange und ließ sie drei Mal auf Kopf und Brust des Weißen niedersausen. Jeder der Schläge riß Terre‘Blanches Körper hoch, als gebe er ihm das Leben zurück. Im Schlafzimmer war es nun fast ganz dunkel und sehr stickig. Schwer atmend betrachteten sie den blutüberstömten Leichnam, der in nichts mehr an den furchteinflößenden weißen Farmer erinnerte. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, einer der Schläge hatte den Kiefer zertrümmert, Wange und Zunge zerfetzt. Das Blut schien überall zu sein, auf dem Bett, dem Kopfkissen und dem Körper des Opfers, an Wänden und Decke, den Kleidern und Händen der Mörder, auf ihren Gesichtern und in ihren Haaren. Chris Mahlangu zog ein Messer hinter seinem Gürtel hervor. Gerade beugte er sich über den geschundenen Körper des Toten, als Terre‘Blanches Handy und Autoschlüssel aus der Tasche seiner verrutschten Hose auf den Boden fielen. Das metallische Klirren tönte unangenehm laut in der Stille. Mahlangu zuckte zusammen. Er warf noch einen Blick auf den übel zugerichteten Leichnam, verstaute jedoch wortlos das Messer in seiner Hosentasche und bückte sich nach Handy und Schlüsseln. Das Handy läutete, kaum dass er es berührte. Er steckte es tief in seine Tasche und gab Patrick ein Zeichen. „Gehen wir.“ Beim Hinausgehen warfen sie die Küchentür hinter sich zu. ZNAK, KRAKÓW 2012 140 × 205, 256 PAGES ISBN: 978-83-240-2255-7 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK zurück zum Inhaltsverzeichnis 32 JACEK HUGO-BADER JACEK HUGO-BADER (GEB. 1957), POLNISCHER JOURNALIST UND REPORTER, ARBEITET SEIT 1990 FÜR DIE „GAZETA WYBORCZA”. SEIN ZUVOR ERSCHIENENES BUCH „WEISSES FIEBER“ ERHIELT SEHR POSITIVE REZENSIONEN IN AUSLÄNDISCHEN MEDIEN. Photo: Julia Pychałowa Kolyma-Tagebücher Das neueste Buch von Jacek Hugo-Bader, Journalist der Gazeta Wyborcza und Autor von „Weißes Fieber“ sowie „W rajskiej dolinie wśród zielska“ (Im paradiesischen Tal inmitten von Unkraut), ist eine Wegerzählung. Denn die „Kolyma-Tagebücher“ sind Reiseaufzeichnungen, die der Reporter während seiner Fahrt entlang der Kolyma-Trasse gemacht hat. Er hat 2025 Kilometer zurückgelegt - das sind über zwei Millionen Meter, wie er selbst ausrechnet. Millionen Meter von Erfahrungen, Begegnungen, Emotionen. Die Kolyma ist wegen des Klimas und ihres düsteren Erbes aus den Zeiten der Sowjetunion ein besonders attraktiver Ort. Hugo-Bader bezieht sich mehrmals auf den „Archipel Gulag“ von Solschenizyn und noch öfter auf die „Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalamow. Doch auch wenn in Hugo-Baders Buch das kommunistische Regime hier und da auftaucht, so sind seine wichtigsten Protagonisten die Menschen. Aber vielleicht sollte man eher schreiben: die Wesen dort, die fähig sind, in den schweren sozialen, kulturellen und klimatischen Bedingungen zu überleben. Da ist der Tschekist Dima, der „am lautesten spricht, am unflätigsten flucht, am häufigsten rülpst. Alles was er macht, macht er widerwärtiger, abscheulicher, ekelhafter als andere. Groß, dick, verkatert“. Die neunundsiebzigjährige Natascha, Tochter von Nikolai Iwanowitsch Jeschow, der die „eiserne Faust Stalins genannt wurde, Chef der sowjetischen Geheimpolizei war und Hunderttausende auf dem Gewissen hat... Ach wo - Millionen von zurück zum Inhaltsverzeichnis menschlichen Existenzen“. Aleksandr Basanski, der goldene Oligarch, der unter anderem an „sechsundzwanzig Arten von Süßwasser für eine Million Dollar im Jahr“ verdient. Bobik, der Hund, „ein hohes Tier, außerdem ein Genie, aristokratisch, und obwohl ein Mischling, so doch wahrscheinlich entfeeeernt verwandt mit einem Laika“. Hugo-Baders Reise dauert ein paar Wochen, und die einzelnen Etappen der Trasse verleihen der Erzählung einen gleichmäßigen literarischen Rhythmus. Die kurzen Reportagen, die eigentlich Porträts sind, wechseln sich ab mit Tagebuchnotizen. Der Autor versteckt sich nicht hinter seinen Protagonisten, ganz im Gegenteil: man spürt seine Anwesenheit. Auf diese Weise markieren die „Kolyma-Tagbücher“ - als Erzählung über die journalistische Arbeit eines Menschen, der in Russland zu überleben versucht – eine neue Qualität der polnischen Schule zeitgenössischer Reportage, deren Meister auf der einen Seite Ryszard Kapuścinski und auf der anderen Mariusz Wilk sind. Marcin Wilk Die Hauptschlagader, der Hauptnerv der Kolyma war und ist der Kolyma-Trakt, also die Trasse. Ich werde – so wie viele ältere Bewohner der Kolyma – trakt und trasse groß schreiben. Denn es handelt sich um eine über zwei Tausend Kilometer lange Straße, die mit Menschenleben gepflastert ist. Sie liegt auf Knochen. Und das ist keine Metapher. Denn wieso gibt es entlang der ganzen Trasse nicht einen einzigen alten Friedhof? Deshalb, weil die Toten einige Zentimeter unter der Straßenoberfläche liegen. Tausende Menschen. Die Arbeit am Bau des Trakts war neben dem Goldabbau die schwerste in Kolyma. Wer dabei umgefallen war, dem wurden die Lager-Lumpen heruntergerissen (sie würden noch von Nutzen sein), er wurde mit dem Gesicht nach oben hingelegt und mit der Erde der Kolyma zugedeckt, mit der die Trasse aufgeschüttet ist. Worüber denken die Leute in den ersten Tagen der Reise am intensivsten nach? Wie kann man hier pissen? Ich steige aus dem Wagen und in meinem Schädel bohrt ständig der Gedanke, dass ich irgendeinem armen Teufel auf den Kopf pinkle. Vielleicht ist es einer von uns, ein neunzehnjähriger, kleiner Soldat, der nach dem Überfall auf Polen 1939 unter dem Befehl meines Großvaters stand, ein armer Junge aus meinem Warschau, der noch nie ein Mädchen hatte, und als er vor Hunger starb, flüsterte er... Eben, was hat er wohl gesagt? Und ich alter Zyniker schäme mich jetzt, dass ich so einen Schwachsinn, wie für eine Telenovela, schreibe. Doch wenn du am Ende der Welt, in einem schäbigen Hotel alleine da sitzt und dir zum Heulen ist, weil dich die MS überfällt, schreibst du, um Hände und Hirn zu beschäftigen, ein Tagebuch, und dann entstehen solche Stilblüten. (MS steht nicht für Multiple Sklerose sondern für Melancholie des Schreibenden). Der Bau der Trasse beginnt 1932, als Trust Dalstroj gegründet wird. Am Ende des Jahrzehnts zieht sich die Straße bis zur Siedlung Ust-Nera beim Kilometer 1007. In den vierziger Jahren wird sie bis Chandyga verlängert, das am Angara-Fluss, Kilometer 1065, liegt. Das ist die westliche Grenze des Trusts. Der Bau am letzten Abschnitt bis Jakutsk, Kilometer 2025, wurde Anfang der fünfziger Jahre beendet, doch das ist ein so genannter zimowik – eine Straße, die man nur im Winter benutzen kann, wenn der Matsch gefriert. Erst seit den neunziger Jahren ist auch im Sommer der ganze Kolyma-Trakt passierbar. Ich folge ihm auf den Spuren von Warlam Tichonowitsch Schalamow, mit seinem dicken Sammelband Erzählungen aus Kolyma, der über tausend Seiten zählt. Das ist große, russische Literatur – das erschütterndste, ungewöhnlichste Bild einer Lagerzivilisation, die Schalamow in drei Gebote zu verdichten weiß: glaube nicht, hab keine Angst, bitte nie um etwas. Und noch eine ’Tugend’, ohne die du im Lager nicht überlebst: du musst stehlen können, angefangen mit dem Brot deiner Mitgefangenen. Im Lager kann der Mensch nur schlechter werden. Schalamow entdeckt, dass dort auch Gott stirbt, während für Aleksander Solschenizyn der Gulag den Charakter auf die Probe stellt – eine Situation, aus der der Gefangene als Sieger hervorgehen kann. Schalamow sitzt achtzehn Jahre in den Lagern, plus zwei als ‚Freier’, doch ohne das Recht, wegzufahren (davon verbringt er siebzehn Jahre in Kolyma). Er wird nach Stalins Tod 1953 entlassen. Bis zum Ende seines Lebens bleibt er dem Lager-Thema besessen treu. Er ist also mein erster, ständiger Paputschik. Paputschik, das ist eins meiner russischen Lieblingswörter. Es bedeutet Reisebegleiter, ein Mensch, der denselben Weg einschlägt (auf Russisch: po puti). Wörtlich und im übertragenen Sinne. Jemand, mit dem du dieselbe Route fährst, in demselben Zugabteil und mit dem du dich zum Beispiel in politischen Dingen gut verstehst. Ihr habt ein Ziel, das ihr verfolgt. Dieses Buch ist im Grunde über solche Menschen, doch nicht nur über diejenigen, mit denen ich gefahren bin, sondern auch über solche, die ich auf der Strecke getroffen habe. In diesem Teil werden viele Fahrer vorkommen. Die Lastwagenfahrer werden in Russland meistens Dalnobojeschtschiks genannt. Das sind Menschen des weiten Kampfes (auf Russisch: dalno – weit; boj – Kampf), der langen Trasse, bei uns heißen sie Fern- oder Brummifahrer. Manchmal werden sie auch Kamazisten genannt, auch wenn ihre Lastwagen keine Kamaz sind, oder Ugolschtschiks, wenn sie Kohle transportieren, weil ‚ugol’ Kohle bedeutet. Doch in der Kolyma wurde schon zu Zeiten des Gulags ein eigenes Wort für sie erdacht: Die einheimischen Fahrer heißen die Trassowiks (von Trasse). Die Kolyma-Trasse ist ein sehr gefährlicher Weg. Sie besteht aus aufgeschüttetem, gelblichem Kolymer Boden, in dem mehr Steine sind als Erde. Die Straße hat keinen festen Straßenbelag, also wird sie von jedem stärkeren 33 Regenschauer unterspült, der Dauerfrostboden bricht und zerbröckelt sie. Im Winter macht der Schnee das Leben schwer, und wenn nicht viel von ihm da ist, wandelt er sich zum rutschigen, weißen Asphalt. Im Sommer setzt einem der furchtbare, gelbe Staub zu, der lange in der Luft wirbelt; dann gibt es Auffahrunfälle wie im Nebel. Am Weg sind viele ’Grabmale’: statt eines Kreuzes hängt an einem kleinen Pfahl ein zerbrochenes Lenkrad, statt eines Grabsteins – eine Komposition aus Reifen oder ein löchriger Kühler. An vielen Stellen am Rand stehen Zaunreste gegen Schneeverwehungen. Die Gulag-Gefangenen haben sie aus Lärchenzweigen geflochten. Der Trakt ist für die Fahrt gefährlich, doch das Leben auf ihm ist sicher. Das allgemeine Banditentum ist selten. Hier gab es sogar in den schrecklichen neunziger Jahren keinen, damals ganz Russland quälenden, Straßenraub, als Schutzgelder für die Durchfahrt erpresst wurden. Die schlimmste Zeit, was die Kriminalität angeht, macht Kolyma 1953 durch, als sich nach Stalins Tod die Lager leeren und Tausende von Menschen in die Freiheit entlassen werden. Darunter sind viele Kriminelle, denen jedoch nicht erlaubt wird, auf den Kontinent zurückzukehren. Um sich in den Städten sicherer zu fühlen, laufen dort die Menschen in Gruppen herum. Männer bringen ihre Frauen zur Arbeit, weil viele der entlassenen Gauner seit Jahren keine Frau gesehen haben. In diesem Moment macht sich ein ehemaliger Politischer mit dem Nachnamen Riabokoń – ein Soldat der anarchistischen, revolutionär-aufständischen Ukrainischen Armee des Atamans Nestor Iwanowitsch Machno – entlang der Trasse auf den Weg. Schalamow widmet ihm eine Erzählung. Der Anarcho-Veteran bildet eine vierköpfige Bande, die mit leichter Hand über ein Jahr lang jeden, der ihren Weg kreuzt, ausraubt und mordet. Die Männer streiten sich jedoch bei der Aufteilung der Beute und verraten sich gegenseitig. Alle bekommen fünfundzwanzig Jahre Gulag. Diese Zeiten sind längst vorbei. Jede Begegnung mit einem Menschen auf der Trasse ist heute pures Vergnügen, und die Bars an der Kolyma-Straße liebe ich einfach. Es gibt vielleicht etwas mehr als zehn von ihnen zwischen Magadan und Jakutsk. Ich kann stundenlang drin sitzen und mir die einfachen, ehrlichen Gesichter, die Menschen aus der Taiga in Tarnanzügen, die Fernfahrer mit ölverschmierten Händen (Technikschmutz sei kein Schmutz – sagen sie) und die vom Rheuma gezeichneten Goldsucher anschauen. Ich fühle Erleichterung, dass ich nicht in die roten, überfressenen Gesichter der Oligarchen schauen muss, in die hervorstehenden Augen der versoffenen Offiziere. Endlich höre ich „danke“, „bitte“ und das Mütterchen, das in der Bar in Larjukowa, bei Kilometer 386, mit einem dreckigen Lappen über den Boden schmiert, sagt sogar „Entschuldigung“ zu mir. Das hört man von den Städtern aus Magadan nur selten. Aus dem Polnischen von Joanna Manc CZARNE, WOŁOWIEC 2011 133 × 215, 320 PAGES ISBN: 978-83-7536-292-3 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM zurück zum Inhaltsverzeichnis 34 KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA (GEB. 1967), POLNISCHE JOURNALISTIN. SIE PUBLIZIERT HAUPTSÄCHLICH REPORTAGEN UND INTERVIEWS ZU AKTUELLEN GESELLSCHAFTLICHEN THEMEN. Photo: Julia Domańska Sumpflein Die bekannte Reporterin der Gazeta Wyborcza, Katarzyna ������������������������ Surmiak-Domańska, hat – wie es scheint – ihr bestes Buch geschrieben. „Sumpflein“ ist ein realistisches, der Wirklichkeit entnommenes Porträt der tiefen polnischen Provinz. Doch es ähnelt nicht den stereotypen Bildern einer Marienfrömmigkeit, oder, zur Abwechslung, der anhaltenden Pathologie und Armut nach dem Ende des Kommunismus und dem Schock des Systemwechsels. Nichts dergleichen werden wir hier finden. Sumpflein ist aber auch kein typisches Dorf, schreibt die Autorin im Vorwort. Es ist eher die Vorstadtsiedlung einer mittelgroßen Stadt, eine Gegend, in der das patriarchale Muster der Familienbeziehungen in einer, seit Jahrhunderten unveränderten, Form fortzubestehen scheint, und wo die sichtlichen Anzeichen einer Idylle mit dem düstersten, unter der Oberfläche fließenden Strom des Gemeinschaftslebens verflochten sind. Sumpflein, das ist so etwas wie Dogville im Film des Regisseurs Lars von Trier; ein uralter Ort mit üppig blühenden Vorgärten, Schweigen, Lügen und Gewalt. Die Protagonisten der von Kata����� rzyna Surmiak-Domańska festgehaltenen Welt sind eine Ansammlung von Archetypen wie Opfer, Henker, Richter und Kommentator: Mutter, Vater, Ehemann, Geliebter, Schwiegermutter, Freundin, Schwägerin. Ihre Stimmen bilden eine mehrdimensionale Studie der Gesellschaftspsychologie, die genauso flach und offensichtlich ist, wie undurchdringlich und rätselhaft. Die Autorin folgt der Protagonistin aus einem ihrer Interviews. Halszka Opfer (der Name wurde, ähnlich wie die Ortsnamen, geändert), eine reife, früher völlig unbekannte Frau, hat in Polen vor ein paar Jahren eine laute Diskussion ausgelöst. Sie publizierte ihre Bekenntnisse, in denen sie detailzurück zum Inhaltsverzeichnis liert und drastisch über das Trauma berichtet, vom eigenen Vater sexuell missbraucht worden zu sein. Sie beschrieb, wie sie, ein vierjähriges Mädchen, von ihrer Mutter eigenhändig ins Bett des Vaters getragen wurde. Wie sie, während sie aufwuchs, zur ’bewussten’, auf die Geschenke erpichten, Geliebten des Vaters wurde. Wie die Mutter ihr ganzes Leben schwieg und sich einem düsteren, maskierten Schatten gleich durch das Haus bewegte. Dieses Buch – wie Surmiak-Domańska schreibt – wurde zu einem großen Erfolg in Sumpflein, dem Wohnort von ’unserer Halszka’. Ähnlich wie zuvor ein sehr ähnliches, doch aus dem Deutschen übersetztes Buch. In der Ortsbibliothek haben sich alle ‚normalen’, ’wir’, ’einfachen Leute’, auf die Liste setzen lassen, um das zu erfahren, was „einem nicht in den Kopf gehen will“. ‚Unsere Halszka’, das ist klar, ist gar nicht ’unsere’. Sie ist fremd, merkwürdig, anders. Wie wir erfahren, war sie schon immer so. Das sagen die Ortsansässigen. Trotz der offensichtlichen Mechanismen ist für die Autorin eine Sichtweise, die lieber die Schuld dem Opfer gibt als den „Henker-Vater“ zu verurteilen, nicht ohne Belang. Im Gegenteil. Sie versucht, diese Sicht aufzuzeigen und zu vertiefen, sie anderen Erzählungen gegenüberzustellen. So gelingt es Katarzyna Surmiak-Domańska, etwas sehr Flüchtiges zu greifen: das Gefühl, dass die Wirkung des Bösen unumkehrbar ist und dass Schutzprojekte, Therapien und die Situation, wenn Opfer zu Wort kommen, sehr fragil sein können. Kazimiera Szczuka Sumpflein ist kein typisches Dorf. Hier gibt es keine Bauernhütten oder Scheunen, eher solide mehrstöckige Häuser mit Thujen vor den Eingängen und gepflegten Rasen auf der Rückseite. Niemand züchtet hier Kühe, die Männer fahren täglich mit ihren eigenen Autos in die nah gelegene Stadt zur Arbeit, die Frauen kümmern sich für gewöhnlich um den Haushalt. Obwohl die Böden hier feucht sind, an manchen Stellen geradezu sumpfig, wächst die Bevölkerung stetig, da die Gegend als die schlesische Enklave der Ruhe, der Natur und der sauberen Luft bekannt ist. Im Dorf gibt es einen Gasthof und ein Kulturhaus, und viele der zweitausend Einwohner nutzen regelmäßig die Ortsbibliothek, die selbst an Samstagen geöffnet hat. In der Geschichte der Bibliothek von Sumpflein gab es zwei Bücherhits; das erste Mal gegen Ende der 1990er Jahre. Damals handelte es sich um die deutsche Reportagen-Erzählung Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter, die von der Journalistin Karin Jäckel in enger Zusammenarbeit mit der Titelheldin herausgegeben wurde. Monika B., eine über dreißigjährige Deutsche, enthüllte darin die Wahrheit über ihre Kindheit; über ihren Vater, der sie zehn Jahre lang regelmäßig vergewaltigte und den Söhnen zum Vergewaltigen überließ, sowie über die Mutter, die die Augen davor verschloss. ’Für Monika’ trugen sich die Einwohner von Sumpflein auf einer Warteliste in der Bibliothek ein. Danach stellte so mancher fest, es sei das erschütterndste Buch gewesen, das er in seinem Leben gelesen habe. Die Bibliotheksleiterin erinnert sich an die allgemeine Solidarität, die der jungen Frau entgegengebracht wurde, an das Wettern gegen die Eltern: „Solche gehören mit dem Tod bestraft“, und an die Kommentare: „Wie war so etwas in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts möglich, in diesem – wie man meinen könnte – zivilisierten Deutschland?!“ Zehn Jahre später kam der zweite Bücherhit heraus. Diesmal war es das polnische Buch Kato-tata. Nie-pamiętnik (Henker-Vater. Nicht-Erinnerungen), deren Autorin eine gewisse Halszka Opfer war. Auch bei diesem Buch handelte es sich um Tatsachenliteratur, und es erzählt eine ähnliche Geschichte wie die von Monika B. Die Autorin beschließt als reife Frau, sich ihre Vergangenheit genau anzuschauen. Sie beschreibt, wie sie über zwanzig Jahre die Geliebte des eigenen Vaters war. Laut Halszka hatte der Vater nicht nur sie zum Sex gezwungen, sondern auch ihre Geschwister und die Mutter körperlich und psychisch misshandelt. Er hatte zum Beispiel die Angewohnheit, seine Frau zu ’erziehen’, indem er sich in ihre Handtasche oder auf das nicht abgewaschene Geschirr entleerte. Sie hingegen brachte abends die gebadete und in ein Handtuch eingewickelte Halszka, die gerade ein paar Jahre alt war, zu ihm ins Bett und zog sich diskret in ein anderes Zimmer zurück. Auch ’Halszka’ haben fast alle in Sumpflein gelesen, und man musste sich wieder auf eine Warteliste setzen lassen. Und auch diese Bekenntnisse riefen große Emotionen hervor. Doch die Haltung gegenüber der Heldin war eine völlig andere als beim ersten Buch. Das, was die zwei Bücher vor allem unterscheidet, fasste die Bibliothekarin nach einiger Überlegung zusammen, ist die Tatsache, dass Monika B. in Deutschland wohnt und niemand hier sie persönlich kennt. Dagegen wissen alle im Dorf, dass sich hinter dem Pseudonym Halszka Opfer die eigene Nachbarin und langjährige Einwohnerin von Sumpflein verbirgt. Ich habe Halszka Opfer im Winter 2008 kennengelernt, als ich ein Interview zu ihrem Buch mit ihr führte. Schon damals machte mich, mehr als der degenerierte Vater, die Gestalt der Mutter neugierig: eine Frau, die unerschütterlich die Fakten verdrängte, Dinge rationalisierte, die – könnte man meinen – unmöglich zu rationalisieren sind, die jedoch dabei nicht für einen Moment aus ihrer Rolle als polnische Mutter, Christin und gute Hausfrau fiel. Für mich war es unvorstellbar, wie die zwei Frauen miteinander reden konnten, in einem Moment, als der Verfolger schon nicht mehr lebte, als es also niemanden mehr gab, vor dem sie sich hätten fürchten müssen und das Buch bereits erschienen war. Als ich zwei Jahre später nach Sumpflein zurückkehrte, nahm ich wieder Kontakt mit Halszka auf, und überredete sie, mich mit ihrer Mutter bekannt zu machen. Darauf fragte sie, ob ich mich einer delikaten Mission annehmen könnte, und diese Mission wurde zum Kern meiner Erzählung. Halszka Opfer bekam nach dem Erscheinen ihres Buchs viel Unterstützung und man bewunderte sie. Dank ihr haben viele Frauen den Mut gefunden, über den eigenen Missbrauch laut zu reden und sich damit von der Scham 35 und dem Gefühl der Schuld zu befreien, die so erfolgreich die Täter schützen. Die Sache ist nur die, dass für all diese Personen Halszka als Person genauso weit weg ist wie Monika B. aus dem deutschen Buch für die Einwohner von Sumpflein. Ich wollte wissen, was Halszkas Buch in ihrem näheren Umfeld verändert hat. Ich wollte wissen, wie man im Alltag mit jemandem lebt, der sich selbst den Namen ‚Opfer’ gegeben hat. Deshalb habe ich außer der Mutter noch ein paar andere Personen aus Halszkas Umfeld besucht und sie gebeten, mir zu erzählen, wie sie die Autorin und ihr Buch sehen. Auf ihren Wunsch nenne ich keine Nachnamen und nicht die wirklichen Vornamen oder andere Details, die dazu führen könnten, dass man die Personen außerhalb ihrer Familie oder Nachbarschaft erkennen könnte. Ich behielt Halszkas Pseudonym bei, um vor allem ihre Mutter und ihre Geschwister zu schützen. Für andere Angehörige aus ihrer Familie, die in meinem Buch auftreten, habe ich die Namen übernommen, die Halszka in Kato-tata (HenkerVater) und Monidło (Retusche), das 2011 herauskam, verwendet hatte. Für die übrigen Personen habe ich mir die Namen ausgedacht. Ich werde auch den wirklichen Namen von Sumpflein nicht preisgeben, sowie von Kormoranów, dem Heimatort von Halszka, wo ihre Mutter, Frau Karolina, immer noch wohnt – eine Frau, die von niemandem mit dem Namen Opfer oder mit irgendeinem Buch in Verbindung gebracht wird. Höchstwahrscheinlich. Aus dem Polnischen von Joanna Manc CZARNE, WOŁOWIEC 2012 125 × 195, 144 PAGES ISBN: 978-83-7536-364-7 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM zurück zum Inhaltsverzeichnis 36 PAWEŁ SMOLEŃSKI PAWEŁ SMOLEŃSKI (GEB. 1959), REPORTER, PUBLIZIST, JOURNALIST. ARBEITET SEIT 1989 FÜR DIE „GAZETA WYBORCZA”, ZUVOR WAR ER FÜR DIVERSE UNTERGRUNDZEITSCHRIFTEN TÄTIG. SEIN BUCH „BEGRÄBNIS FÜR EINEN BANDITEN” WURDE 2003 MIT DEM PREIS FÜR POLNISCH-UKRAINISCHE VERSÖHNUNG AUSGEZEICHNET. DIES IST SEIN 10. BUCH. Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Der Araber schießt, den Juden freut‘s Paweł Smoleński, Publizist und Reporter bei der „Gazeta Wyborcza“, setzt sich in seinen Texten seit Jahren mit israelischen Fragen auseinander. In seinem Buch mit dem provokanten Titel Der Araber schießt, den Juden freut‘s beschäftigt er sich größtenteils mit dem israelisch-arabischen Konflikt. Smoleńskis Erzählung beginnt auf sinnbildliche Weise, nämlich mit einem alten Fotoalbum. Es stammt von der armenischen Familie Kahvedjian aus dem christlichen Teil der Jerusalemer Altstadt, sodass die Bilder darin auf vielsagende Weise die Kreuzungspunkte der verschiedenen Kulturen festhalten. Doch nicht die Kultur an sich oder die sich aus dem kulturellen Leben ergebenden politischen Konsequenzen sollen Smoleński in Der Araber schießt, den Juden freut‘s interessieren. Die wichtigste Geschichte gestalten hier die Menschen selbst – jeder seine eigene, wahre Geschichte, die zusammen mit den anderen ein umfassendes, vielschichtiges Bild der Situation in Israel ergibt. Das Buch ist in Kapitel zu einzelnen Städten gegliedert. In jedem dieser Kapitel begegnet der Leser anderen Charakteren. In Akkon versuchen die Regisseure des städtischen Theaters – der sephardische Jude Moti, der Araber Chalid – das Wesen des Konflikts zu ergründen. Hauptperson in Be‘er Scheva wiederum ist Riad Abarii, Professor der Pharmakologie an der Ben-GurionUniversität, an der bis vor Kurzem nur zwei Professoren von insgesamt 500 arabischer Abstammung waren (mittlerweile sind es schon 20 arabische Prozurück zum Inhaltsverzeichnis fessoren). Chalil aus Jaffa wiederum hält sich bedeckt, was sein Arabertum angeht – „ein Macho“ zwar, schreibt Smoleński, „aber nicht von arabischer Fasson“. Viel über den Konflikt weiß Wadi aus Haifa zu berichten: „Wir alle, Araber und Juden, haben dieselbe grässliche Eigenschaft. Jeder spricht nur über sich. Wir reden nur von unserem eigenen Leid.“ In Smoleńskis Buch erhält jeder der Protagonisten seine „fünf Minuten“ – egal, welchen gesellschaftlichen Status er besitzt oder für welche Seite er sich einsetzt. Das Buch bildet ein Mosaik der verschiedensten Einstellungen, Gefühle, persönlichen Geschichten. Von der Qualität des Erzählten künden hingegen die einzelnen, so einfach wie möglich gehaltenen Sätze sowie die Distanz und der zeitweise sogar sarkastische Humor, die Smoleński stilistisch in die Nähe Etgar Kerets rücken. Marcin Wilk Fangen wir bei einem Foto an, das – denke ich – sinnbildlich für Israel ist. Die steinernen Wohnblocks sind die gleichen wie heute, und sogar die Pflanzen, die es geschafft haben, einen Platz in den Mauerritzen zu finden, sind die gleichen. Nur die Enge verwundert; die Häuser drängen sich geradezu gegen die Mauer, der Gehsteig ist schmal und überfüllt. Und die Mauer: eine Mauer eben, nichts weiter. Dennoch sehen wir ins Gebet versunkene Menschen direkt neben gleichgültigen Fußgängern, mit Waren beladene Esel, einen Händler und ekstatische Gesichter. Das ist die Klagemauer; heute erstreckt sich vor ihr herrschaftlich ein Platz. Der Anfang aller Dinge, für manche jedoch auch – das Ende von allem. Wäre diese uralte Mauer an anderer Stelle erbaut worden, gäbe es die heutigen Streitigkeiten nicht. Betrachten wir das Bild einiger weiser Männer. Sie sehen wie Wüstenscheiche aus: alt, bärtig und weißhaarig, in langen Gewändern, die auf dem Foto würdevoll wirken, in Wirklichkeit jedoch abgetragene Fetzen sein konnten. Sie beugen sich – so habe ich es in Erinnerung – über ein dickes Buch, fahren mit den Fingern die Zeilen nach, haben die Stirnen in Falten gelegt und tiefe Runzeln auf den Wangen. Es sind allerdings keine Scheiche, sondern sephardische Juden beim Studium der Thora. Nehmen wir nun die Mitleid erregenden Fotografien einiger Blinder; es sind die Jahre, in denen der damals unheilbare Grüne Star einen hohen Tribut forderte. Sitzen sie auf dem weißen Pflaster vor der Klagemauer, wissen wir, dass es Juden sind; sitzen sie auf dem weißen Pflaster des Innenhofes der AlAqsa-Moschee, müssen es Araber sein. Sie betasten die Steine, flüstern etwas, heben die vom Grünen Star getrübten Augen zur Sonne, vielleicht beten sie, vielleicht sprechen sie auch Verwünschungen aus. In ihrem Aussehen, und erst recht in ihrer Krankheit, unterscheiden sie sich in nichts voneinander; ihre Brüderschaft ist in ihrem Unglück mit eingeschlossen. Wären die Fotos nicht mit Ort und Datum versehen, könnte man meinen, es wären verschiedene Aufnahmen derselben Szene. Oder die Segelboote, die auf die Mündung des schmalen und flachen Flusses Yarkon zusteuern, der heute die Innenstadt von den reichen, nördlichen Vierteln Tel Avivs trennt. Rumpfform und Flaggstöcke sind wie bei den Booten, die sich auf den ältesten arabischen Abbildungen den Weg über das Meer bis nach Indien und zu den Molukken bahnen. Schwer zu erraten, was diese Segelboote geladen haben, aber von anderen Fotos wissen wir, dass der heutige Hafen von Jaffa, der vielleicht größte Hafen dieser Erde, die Anlegestelle für ein paar Dutzend Fischerboote war; Ufer und Mole sahen aus wie heute. Der Hafen von Tel Aviv dagegen muss sich – einem weiteren Bild zufolge – erst in jenen Hafen verwandeln, der den von Jaffa übertrumpfen wird, so wie auch Tel Aviv selbst Jaffa übertrumpfte. Heute kann man sich in dieser Stadt bis zum Morgengrauen in gut besuchten Bars und Clubs amüsieren. Man kann ein Vermögen in eleganten Boutiquen ausgeben. Den Hafen gibt es schon lange nicht mehr, auch wenn es vor nicht allzu langer Zeit ohne ihn Tel Aviv gar nicht gegeben hätte. Einige Bilder haben mich in ihren Bann gezogen: die Schuhputzer beim Jaffator in Jerusalem. Ein arabischer Mann, der Mokkakannen verkauft. Aber auch ein Beduinenmädchen hat es mir angetan. Auf dem Kopf trägt es einen Korb voller Kräuter, oder vielleicht auch frisch gewaschener Wäsche. Es ist sehr jung, hübsch und offensichtlich ohne Schamgefühl; das aufgeknöpfte Kleid gibt den Blick auf die nackten, kleinen Brüste frei. Wie kam es, dass Elia Kahvedijan in dieser Zeit und an diesem Ort ein solches Modell fand? Hat er den richtigen Moment abgepasst? Hat er sie überredet, für ihn zu posieren? Keine Ahnung. Unter diesen Bildern ist plötzlich eines, das wohl den Ausgangspunkt aller dieser Geschichten darstellt. Ein so trauriges Bild, dass es schmerzt. Es zeigt zwei alte Menschen, sicherlich Mann und Frau, oder auch ein Geschwisterpaar; sie müssen sich lieben, da sie sich so fest aufeinanderstützen. Sie haben runzlige Gesichter und tragen weiße Kopftücher. Ihre Kleider sind zerlumpt und schmutzig. Sie sind barfuß, was allerdings kaum verwundert, und – ob ihr es glaubt oder nicht – bis zu den Knien mit schwerem, lehmigem Schlamm beschmiert; zu all dem Unglück mussten sich auch noch ein Regenguss und (wir sehen es, spüren es fast körperlich) eine schneidende Kälte gesellen. Die Frau hält einen dicken Ast in der Hand. Der Mann stützt sich auf einen Stock. Sie blicken auf die Erde. Vor ihnen ist nur die vom Regen aufgeweichte, öde und traurige Landschaft. Wer ist dieses Paar? Der armenische Fotograf hat vergessen, zu fragen. Wohin gehen sie? Wir wissen es nicht. Das Foto ist wirkungsvoll genug, um uns 37 die Antwort einzugeben: Sie gehen ins Ungewisse, einem schlimmen Schicksal, dem Verderben entgegen. Sie gehen dorthin, wo sie nicht hingehen wollen und sollten. Doch sie gehen, weil sie müssen. Unter dem Bild die Beschriftung: „An Nakba“, und das Datum: 1948. Soll es für die ganze Geschichte gelten. Für die Juden ist 1948 das Jahr des Unabhängigkeitskrieges: Einige verbündete arabische Länder überfielen damals das Land Israel, um das zu zunichte zu machen, was erst im Entstehen war, und die Juden im Mittelmeer zu ertränken. Für die in Palästina lebenden Araber (damals sagte noch niemand „Palästinenser“; dieses Volk, und nicht nur dieses, erschien erst später, und ich habe das Gefühl, dass an so etwas zu der Zeit noch niemand gedacht hätte) ist es „An-Nakba“ – die Katastrophe. Das Ende war eingetreten, die Endzeit erreicht. Ohne An-Nakba sähe alles anders aus. Jeder Krieg hat seine Symbole – sicher jede der kämpfenden Seiten ihre eigenen. Sie erklären, warum das geschah, was geschah. Für die palästinensischen Araber ist das Dorf Deir Yassin zweifellos so ein Symbol. Frühmorgens im April 1948 wurde die Siedlung von der Irgun, einer rechtsextremen, paramilitärischen jüdischen Organisation, umstellt. Hundert Untergrundkämpfer (man sagt auch, nicht völlig zu Unrecht, Terroristen) töteten über hundert Araber, ohne Rücksicht auf Frauen, Säuglinge, alte Menschen; auf einen jüdischen Kämpfer kamen Eins-Komma-irgendwas arabische Tote. Alles zusammen dauerte nur wenige Stunden und hatte, scheint‘s, militärisch keine besondere Bedeutung. Es gab in diesem Krieg Ereignisse von größerem Gewicht, und auch dramatischere. Doch nach Deir Yassin ging ein Aufschrei durch Palästina: Flieht, Araber, sonst ergeht es euch ähnlich. So schrien manche Juden, aber auch die Politiker aus Amman, Damaskus, Kairo, Bagdad, Beirut, Riad. Wäre da nicht die Angst vor den Juden gewesen, aber auch das Zureden von arabischer Seite, hätten die 700.000 arabischen Bewohner Palästinas ihre Häuser nie verlassen. Was nicht heißt, dass das Morden in Deir Yassin irgendeine Rechtfertigung erfahren soll. In den israelischen Geschichtsbüchern wird es, wohlgemerkt, als ein Massaker beschrieben, das den Geburtstag Israels befleckt hat. Die arabischen Schulen in Israel begehen den Tag der Nakba. Das heißt – manchmal gibt es Politiker (in letzter Zeit leider immer öfter), die fordern, das zu verbieten, da es ihrer Meinung nach nicht sein dürfe, dass irgendein israelischer Bürger den Unabhängigkeitstag als den Tag einer Katastrophe in Erinnerung hat. Allerdings, und das wissen wir mit Sicherheit, reagiert das menschliche Gedächtnis nicht auf Gebote und Verbote. Nach dem Blutbad in Deir Yassin nannte David Ben-Gurion, der erste Premierminister des jüdischen Staates, den damaligen Leiter der Irgun und späteren Premierminister und Friedensnobelpreisträger Menachem Begin „Menachem Hitler“. Es hätte kaum stärkere Worte geben können; die Öfen der Krematorien waren noch warm. Die Araber griffen einen Sanitätskonvoi auf dem Weg nach Jerusalem an und ermordeten alle Verwundeten. In Kairo, Rabat und Tunis gab es antijüdische Pogrome. In der Jerusalemer Altstadt blieb nicht ein einziger Jude. Alle Synagogen der Altstadt wurden zerstört. Doch es sind die Juden, die letzten Endes diesen Krieg gewannen, auch wenn sie ihn nicht gewinnen sollten. Sieger richtet man nicht, heißt es. Was das betrifft, bin ich mir nicht ganz sicher. Ich kenne viele israelische Bürger – Juden und Araber –, die ähnlich denken. Und selbst Ben-Gurion hat einmal gesagt, dass man sein Glück nicht auf dem Unglück anderer aufbauen könne. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012 135 × 215, 272 PAGES ISBN: 978-83-7799-006-3 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM zurück zum Inhaltsverzeichnis 38 MARIUSZ WILK MARIUSZ WILK (GEB. 1955), PROSAIST, JOURNALIST, REISENDER, AKTIVIST DER DEMOKRATISCHEN OPPOSITION, DER ENDE DER ACHTZIGER JAHRE DIE POLITIK UND EUROPÄISCHE ZIVILISATION AUFGAB, UM SICH IM HOHEN NORDEN RUSSLANDS NIEDERZULASSEN. Photo: Piotr Wójcik Der Zug der Gänse Der neueste Teil des Nördlichen Tagebuchs von Mariusz Wilk mit dem Titel Der Zug der Gänse scheint den vorhergehenden Büchern der Serie zu ähneln, in denen der Autor seine Streifzüge durch den hohen Norden beschrieben hat. Noch immer scheint er in kurzen Tagebuchnotizen die Erlebnisse seiner realen und intellektuellen Streifzüge einfangen zu wollen, die ihn zu einer befreienden Leere führen, mit der er sich vom Trubel der Wirklichkeit abgrenzt, um in sich selbst vorzudringen und sich kontemplativen Betrachtungen der ihn umgebenden Welt hinzugeben. Noch immer scheint Wilk sich desselben, einzigartigen Stils zu bedienen, in dem er Phrasen und Worte aus dem Russischen mit dem Altpolnischen mischt – und doch ist Der Zug der Gänse im Werk des Autors von Voloki ein außergewöhnlicher Band. Wilk ist Vater geworden, seine Tochter Marta bewirkte, dass – wie er selbst anmerkt – „meine Welt durcheinandergeraten ist, das heißt, sie hat sich auf den Kopf gestellt. Obwohl manche meiner Bekannten behaupten, es sei umgekehrt – sie habe sich auf die Füße gestellt.“ Die Geburt des Kindes zwang den Autor und Vagabunden zu einer grundlegenden Revision seiner Lebensstrategien, zu neuen Zielsetzungen. Zwar begibt er sich weiterhin auf Wanderschaft und erstattet dem Leser Bericht von seinen Fahrten. In dem neuen Buch beschreibt er Petrosawodsk und Menschen, die mit der Stadt in Zusammenhang stehen (Wasserspiegel), einen Abstecher nach Labrador (Karibu-Hackfleisch) oder eine weitere Jahreszeit im alten Holzhaus zurück zum Inhaltsverzeichnis am Onegasee (Hinter den Spiegeln), stellt weitere Lieblingsautoren vor (vor allem den Autor und Weltenbummler Kenneth White, den Schöpfer solcher Begriffe wie „intellektueller Nomade“ oder „Geopoetik“) und macht uns mit seinen geistigen Eingebungen bekannt. Jedoch hat er pausenlos das Bild des geliebten Töchterchens im Hinterkopf und den Gedanken, dass er von nun an der Spur, dem Pfad seines Lebens vor allem mit dem Ziel folgen wird, Marta darauf vorzubereiten, die Spur aufzunehmen, wenn er selbst nicht mehr weiter wird gehen können. Der Autor hat sich verändert, ebenso seine Prosa. Der Zug der Gänse ist vor allem eine berührende und tiefgründige Erzählung von den Freuden und Sorgen einer späten Vaterschaft. Robert Ostaszewski 11. August Derweil werden die Nächte wieder dunkel und immer länger. Morgens steigt dichter Dampf (Peter zufolge ist es die Schlacke unter Pudosch) über dem aufgeheizten Zaoneschje auf. Am Himmel grollt es ein wenig und jeden Tag toben Gewitter mit unvorstellbarer Macht. Vielleicht hat die Erde es satt und versucht, uns abzuwerfen? Wie Rentiere, die hochgiftige Parasiten und Fliegen abschütteln. Der ängstliche Zustand der Natur ließ mich Die Straße von Cormac McCarthy zur Hand nehmen, auch wenn ich keinen Geschmack an Katastrophenromanen finde. Die Straße handelt von einer postapokalyptischen Welt, durch die ein Vater mit seinem kleinen Sohn wandert. Man weiß nicht, was die Katastrophe ausgelöst hat, vielleicht ein Atomkrieg, vielleicht die Kollision unseres Planeten mit einem Asteroiden – aber das ist auch unwichtig … Die Welt liegt in Schutt und Asche, die Sonne scheint nicht, es gibt weder Vögel noch Pflanzen noch irgendwelche Nahrung, deshalb machen die wenigen Menschen, die überlebt haben, des Fleisches wegen Jagd aufeinander. Ich hätte Die Straße rasch beiseitegelegt, wenn ich nicht auf den Gedanken des Autors aufmerksam geworden wäre, dass, wenn du ein guter Vater bist, zwischen dir und deinem Tod einzig dein Kind steht. Etwas wurde mir klar. Seit unsere Marta auf die Welt gekommen ist, mache ich mir sehr oft Gedanken über den eigenen Weg. Die Geburt meiner Tochter hat mir das baldige Ende vor Augen geführt. Sie war ein eigenartiges Erwachen, der Stock des Zen-Meisters, der zuschlägt, um den Schüler aus der Lethargie einer wohligen Meditation zu reißen. Vielleicht mag sich jemand darüber entrüsten, dass ich vom baldigen Ende schreibe, obwohl ich gerade einmal fünfundfünfzig Jahre alt bin. Nun ja, aber vor ihr liegt der Weg eines ganzen Lebens, auf dem ich sie nur ein kurzes Stück begleiten kann, soweit die Beine mich tragen. Deshalb hat mich dieser Gedanke von McCathy so berührt. 12. August Der Wind zerzaust die Pappeln vor dem Fenster, er wirft ein bewegliches Netz von Blättern auf die Wand – wie auf einen Bildschirm –, die Sonne flimmert und streut ihre Lichttupfen über den Boden. Der Schimmer auf der Holzdecke wiederholt das Spiel der Ohrenquallen im See, und selbst die Wiege, die an einem Deckenbalken aufgehängt ist, schaukelt im Rhythmus des Onega. Das ganze Haus ist in ein sanftes, zitterndes Netz aus Licht gehüllt. Marta ist ein Jahr alt. Obwohl sie, streng genommen, schon älter ist, denn für mich – genau wie für die Saami – beginnt das Leben des Menschen im Moment der Empfängnis und nicht beim Verlassen des Mutterleibes. Ich erinnere mich, wie wir sie beim Ultraschall betrachtet haben. Sie schwamm im Fruchtwasser wie im kosmischen Ozean aus Tarkowskis Solaris. Noch bis zu ihrer Geburt standen wir vor dem Dilemma, wo wir mit dem winzigen Kind leben sollten: in der Stadt oder hier, auf dem halb ausgestorbenen Dorf. Bekannte rieten uns zur Stadt, weil es sowohl einen Arzt in der Nähe als auch warmes Wasser aus der Wand gibt und hier bekanntlich die Wege im Winter nicht geräumt werden, und falls dann, Gott bewahre, etwas passiert, dann kommt kein Notarztwagen rechtzeitig. Genau, und außerdem – fragten sie –, wie kommt ihr denn ohne fließendes Wasser zurecht, in alten Zimmern, die man nie und nimmer bis zur durchschnittlichen Raumtemperatur aufheizen kann? Wo wascht ihr, wo badet ihr die Kleine? An Ärzte hatte ich nicht gedacht, denn wenn ich das Leben mit der kleinen Marta von einem Krankenhaus abhängig gemacht hätte, dann hätte ich mich sicherlich nie dafür entschieden, ihr so etwas anzutun. Und was den sogenannten Komfort betrifft, also fließendes Wasser und eine warme Toilette – das sind Bequemlichkeiten für die Eltern, folglich muss man sich nicht hinter dem Säugling verstecken. Dagegen hat das Leben in Konda unvergleichlich viel mehr Vorteile als in Petrosawodsk. Erstens Ruhe und Frieden, keine Autosirenen, die mit ihrem durchdringenden Geheul die Nacht in der Stadt zerreißen, keine Nachbarn hinter der Wand. Zweitens ist hier ringsum Natur, man muss weder Park noch Ufermauer suchen, um ein wenig frische Luft zu schnappen, es genügt, die Kleine im Kinderwagen vor das Fenster zu stellen, um sie im Auge zu haben, und das Rauschen des Sees und das Rascheln der Pappeln wiegen sie von selbst in den Schlaf. Drittens beginnt Marta ihr Leben hier umgeben von Schönem, schließlich ist die Umgebung das Erste, was den Verstand prägt (erst danach kommen Sprache, Schule …), zudem ist es von Beginn an von Bedeutung, was sie sieht, riecht, was sie berührt und in den Mund nimmt, ob das Holz, Lehm und Gras ist oder Duraluminium, Polyethylen und Beton. Hier wird ihr Bewusstsein geformt vom Raum eines 39 großen Hauses, den bernsteinfarbenen Lichttupfen auf dem Fußboden, dem richtigen Feuer im Ofen, dem Rhythmus der Natur, dem Gesang der Vögel und den Gerüchen von draußen; dort würde sie pausenlos attackiert werden vom Gestammel der Reklame (das überall erschallt), von Neonlichtern und abwechselnd dem Geruch von Deodorants und Abgasen. Viertens wird hier der erste Geschmack geprägt von frischen Nahrungsmitteln – frisch aus dem Garten, See und Wald –, es ist also nicht verwunderlich, dass Marta das von ihrer Mutter gebackene Vollkornbrot und den Schnittlauch sehr gern hat, den sie selbst aus den Beeten reißt; in der Stadt würde sie bestimmt von irgendwelchen Bebivita-Gläschen kosten … Noch lange könnte ich so die Vorteile aufzählen, die das Leben mit dem Kind in Konda bietet, jedoch meine ich, dass ich den denkenden Leser überzeugt habe. Ich werde nicht so tun, als ob es einfach gewesen wäre. Vor allem der Winter hat uns zugesetzt, obwohl wir uns frühzeitig auf ihn vorbereitet hatten, indem wir die Böden erneuert haben, damit es nicht von unten zieht, und indem wir die Zimmer über uns abgedichtet haben, damit die Wärme nicht durch die Holzdecke entweicht. Wer hätte vorhersehen können, dass es wieder einen Jahrhundertwinter geben würde (der zweite in diesem Jahrhundert!), wir so einfrieren und eingeschneit werden, dass ich die meiste Zeit jeden Tages mit Schneeschippen verbringe? Trotz der Beschwerlichkeiten war es der zauberhafteste Winter in meinem Leben, denn alles war zum ersten Mal, obwohl es das zweite Mal war – der erste Schnee und die ersten Lichtlein am Weihnachtsbaum, der erste Heiligabend, das erste Silvester und das erste Neujahr. Auch wenn ich das selbst irgendwann schon einmal zum ersten Mal erlebt habe, ohne es zu verstehen, so konnte ich dank der Kontemplation von Marta dieses erste Mal wiederholen – mit ihr. Denn in Wirklichkeit habe ich mich, dank meiner Tochter, auf die weiteste Reise meines Lebens begeben – eine Expedition zum Ursprung begonnen. Dabei geht es nicht um eine Rückkehr zum eigenen Ursprung durch die Blutsgemeinschaft, das kommt später, wenn wir gemeinsam Märchen lesen werden, jetzt geht es ganz allgemein um die Anfänge des Menschen. Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel NOIR SUR BLANC, WARSZAWA 2012 145 × 235, 210 PAGES ISBN: 978-83-7392-372-0 TRANSLATION RIGHTS: NOIR SUR BLANC zurück zum Inhaltsverzeichnis 40 OLGA TOKARCZUK OLGA TOKARCZUK (GEB. 1962) IST DIE BEKANNTESTE UND ANGESEHENSTE POLNISCHE SCHRIFTSTELLERIN. SIE WURDE MIT ZAHLREICHEN LITERATURPREISEN AUSGEZEICHNET UND IHR WERK IN 21 SPRACHEN ÜBERSETZT. AUF DEUTSCH ERSCHIENEN SIND ZULETZT SPIEL AUF VIELEN TROMMELN (2006), UNRAST (2008) UND DER GESANG DER FLEDERMÄUSE (2009). Photo: Wojciech Wojtkielewicz Der Moment des Bären Olga Tokarczuks neuestes Buch stellt eine besondere Art der Einheit dar, auch wenn es nicht als Einheit geschrieben wurde. Die Sammlung von Artikeln, Vorworten, Gelegenheitsauftritten, Gedankenspielen und manches Mal auch feuilletonistischen Scherzen wird unerwartet zu einem wichtigen Kompendium der Philosophie der Schriftstellerin. Und auch zu einem Manifest der politischen Ideen. Tokarczuk hat das politische Potenzial ihres Schreibens nie bestritten, es nie der eigenen künstlerischen Freiheit oder Vervollkommnung der literarischen Form entgegengestellt. Ganz im Gegenteil betrachtet sie gerade die Fähigkeit zur Reaktion auf Gewalt, Ausbeutung, propagandistische Lügen in der Welt der Herrschenden als eine ihrer schriftstellerischen Pflichten. Unter einer einzigen Bedingung allerdings: Dass sie selbst in ihrer eigenen Sprache und nach ihren eigenen Vorstellungen die Ideen formuliert und ausspricht, die heute Gesellschaft und Generationen zusammenhalten. Das Politische und das Literarische trennt die Autorin von Der Moment des Bären nie voneinander. Tokarczuk bedient sich häufig der Form des ausgebauten Aphorismus, schafft manches Mal eigentümliche, sich zu Zyklen zusammenfügende Gleichnisse und dann wieder scherzhafte Reiseführerartikel – wie den „Kleinen Polenführer für Deutsche zum Anlass des EU-Beitritts“. Den Vorrang gab sie hier jedoch den „Heterotopien“. Der hinterlistig im Untertitel ein „Gesellschaftsspiel“ genannte Text „Wie erfindet man eine Heterotopie?“ ist ein zurück zum Inhaltsverzeichnis gut verständlicher – und literarisch hervorragend verarbeiteter! – Vortrag über Olga Tokarczuks politische Philosophie. Diese ist, führt man sie auf ihre Grundlagen zurück, keine großartige Entdeckung. Eine Entdeckung ist die Sprache, welche die Schriftstellerin den Ideen gibt. „Eine andere Welt ist möglich. Man muss sie sich nur zuerst denken und dann aufschreiben“ – so lautet, in aller Kürze, das Credo, dem Tokarczuk ihr ganzes Werk verschreibt. Ihre Heterotopien sind Welten, die beispielsweise die Heteronorm mit ihrer Anprangerung sexueller Minderheiten in Frage stellen; es ist in ihnen auch großer Raum für einen heftigen Protest gegen die Misshandlung und den Verzehr von Tieren. Manches Mal ist Tokarczuk in Der Moment des Bären todernst, nur um dem Leser kurz darauf den goldenen Sand des Scherzhaften, Erdachten, Amüsanten in die Augen zu streuen. Radikale Gegnerin jeglicher nationaler Ideologien, vermag sie ihrem eigenen Polentum auf exzellente Weise Stimme zu verleihen. Und schließlich: der „Moment des Bären“ aus dem Titel, ein Gleichnis darüber, dass die Verzauberung der Welt nur unter der Bedingung gelingt, dass vom monotheistischen Verständnis des Wahrheitsbegriffs abgewichen wird. Ein entschiedenes „Ja!“ zur Literatur, diesem „seltsamen und von Kraft erfüllten Ort zwischen vielen individuellen Wahrheiten“. Kazimiera Szczuka Kleiner subjektiver Polenführer für Deutsche zum Anlass des EU-Beitritts Lage Ungünstig. Großes Flachlandgebiet zwischen Osten und Westen, zwei raubgierigen Großmächten, zwei zivilisatorischen Urgewalten, erinnert an eine Ping-Pong-Platte. Von Napoleon bis zum Zweiten Weltkrieg Bühne aller großen Schlachten. Das Gute an einer solchen Lage: Überallhin ist es nah. Grenzen Recht flexibel. In einigen geschichtlichen Epochen weit, manchmal gar von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. In anderen ganz verschwunden. Zuletzt in Jalta von drei Großmächten – USA, Großbritannien, Sowjetunion – nach eigenem Ermessen festgelegt, wodurch Polen Lwów und Wilno verlor und Wrocław und Szczecin gewann. Ob das gut oder schlecht ist, wird noch immer diskutiert. Sprache Slawisch, angeblich sehr schwierig wegen der vielen Zischlaute (wer das nicht glaubt, der lese laut „Chrząszcz brzmi w trzcinie“). Etablierte sich nach der Abschaffung des Lateinischen im multikulturellen polnischen Staat als gemeinsame Sprache und war, als es den polnischen Staat nicht gab, einziger Träger der gemeinsamen Identität. Wird deswegen von den Polen hoch geschätzt, die sogar den Ausdruck „ojczyzna-polszczyzna“ schufen, der so viel bedeutet wie: „Unsere Heimat ist die polnische Sprache“. Heute sprechen auf der Welt über 50 Millionen Menschen Polnisch. Bevölkerung Fast 40 Millionen im In- und um die 10 Millionen im Ausland (siehe „Emigration”). Das Ergebnis einer jahrhundertelangen ethnischen Durchmischung (Ukrainer, Juden, Weißrussen, Litauer, Deutsche, Schlesier und sogar Tataren). Dass jeder Pole einen Schnauzbart trägt, ist nicht wahr. Frauen Hier gibt es das noch nicht ganz aufgeklärte soziologische Phänomen, dass ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von Polinnen auswandert und im Ausland heiratet, wodurch inoffizielle diplomatische Minivertretungen entstehen. Dank diesen trifft man, wenn man als Pole durch die Welt reist, überall auf die Seinen. Möglicherweise befassen sich mit diesem Phänomen aber schon die Geheimdienste der anderen Länder. Religion Der polnische Katholizismus. Eine besondere Art des Katholizismus: Es kennzeichnen ihn eine starke Verbundenheit mit der nationalen Identität und dem Gefühl einer Mission (siehe „Große Mythen“) und ein besonders ausgeprägter Marienkult. Der Kirche zufolge ist die Muttergottes die unstürzbare und einzige Königin Polens. Von diesem Gesichtspunkt her kann die polnische Staatsform zu den Monarchien gezählt werden. Die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche erklären in Polen 95,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung (in Spanien sind es 94,1 und in Italien 97,1 Prozent; die statistischen Jahrbücher geben nicht an, welcher Prozentsatz seinen religiösen Glauben auch praktiziert). Dieser Zustand besteht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als Polen infolge dieses Krieges und der geopolitischen Verschiebungen (siehe „Grenzen“) aufhörte, ein multikultureller und multiethnischer Staat zu sein. Kunst und Kultur Der höchste Pro-Kopf-Poetisierungsfaktor. In Polen schreiben ungefähr hunderttausend Menschen Gedichte, darunter zwei Nobelpreisträger, die noch dazu in ein und derselben Stadt lebten – Krakau. Wissenschaft Polen ist eine der bedeutenderen Eliteschmieden der Wissenschaft. Die überwiegende Mehrheit der in Polen ausgebildeten Wissenschaftler arbeitet jedoch außerhalb Polens und trägt so zum Wohle der Menschheit bei (siehe „Emigration“). Achtung: In Polen hat niemand Zweifel daran, dass Kopernikus Pole war. Stabilisierter Krisenzustand Der natürliche gesellschaftspolitische Zustand, an den die Polen seit Generationen gewöhnt sind und mit dem sie wunderbar zurechtkommen. Es steht zu befürchten, dass jedwede Normalisierung der Verhältnisse zu gesellschaftlichen Unruhen führt. Nationaler Charakter Die Polen machen auf den ersten Blick einen recht mürrischen Eindruck, wirken manchmal gar arrogant. Individualisten kommen vor, Exzentriker eher nicht. Häufig verhalten sie sich um des lieben Friedens willen konformistisch, auch wenn paradoxerweise jede Art der Herrschaft ihr Misstrauen weckt und sie somit geborene Anarchisten sind. Achtung: Polenwitze mögen sie nicht. Ihre Laune pendelt zwischen Bewunderung für sich selbst und einem melancholischen Minderwertigkeitsgefühl. 41 Große Mythen Erstens: Polen ist das Antemurale Christianitatis, das Bollwerk der Christenheit. Damit verbindet sich die Pflicht zur Verteidigung der westlichen Zivilisation gegen die Barbaren (hier findet sich eine entfernte Ähnlichkeit zum Selbstbild der Ungarn und Spanier). Zweitens: Vor zweihundert Jahren bildete sich aus einem sehr engen Zusammenleben mit der jüdischen Kultur bei den Polen der Begriff des nationalen Messianismus heraus. Das ist die Überzeugung von der eigenen Außergewöhnlichkeit und der Mission, den Rest der Welt zu erlösen, wobei die Leiden der Nation Teil dieser Mission sind. Die Polen sind bekannt dafür, überall auf der Welt sofort zur Hilfe zu eilen, wo Freiheit und Unabhängigkeit in Gefahr sind. Die Realisierung dieser Mythen ist sehr kostspielig und wird von den Verteidigten und Geretteten normalerweise nicht verstanden. Küche Wenig spektakulär, der deutschen recht ähnlich. Als typisch polnische Gerichte gelten ukrainischer Borschtsch, russische Piroggen und Karpfen nach jüdischer Art. Empfehlenswert sind hingegen die Pilzgerichte und der polnische Bergkäse. Polen gehört zu den unglückseligen Orten Europas, an denen keine Weinreben wachsen und die Bewohner somit lernten, Wodka zu produzieren. In letzter Zeit nimmt jedoch im Zusammenhang mit der Erderwärmung der Genuss importierter Weine zu. Es ist nicht wahr, dass der Pole in Europa den meisten Alkohol zu sich nimmt. Statistiken zeigen, dass der Alkoholgenuss sich nur leicht über dem Durchschnitt ansiedelt. Städte Warszawa – das Hongkong Mitteleuropas. Hauptstadt des Landes und Sitz der Politiker. Eine eilige Stadt mit einer Besessenheit für Neues, Erfolg und Geld. Polenweit die stärkste Invasion von Anglizismen. Bewohner der Provinzen verstehen hier nicht viel. Eine schöne neue Altstadt. Kraków – hält seit Jahren traditionell an der Einteilung der Bevölkerung fest: die Hälfte sind Künstler, die Hälfte Philister. Dank dieser dialektischen Spannung blühen hier Kunst und Kultur. Wrocław – eine deutsche Stadt, vollkommen zerstört von den Deutschen, wiederaufgebaut und bewohnt von den Polen, hauptsächlich aus Lwów und Umgebung. Land In westlichen Dokumentarfilmen über die polnische Landwirtschaft werden mit großer Vorliebe und in langen Sequenzen Pferdewagen gezeigt. Es besteht der Verdacht, dass irgendein Logistikunternehmen ihren Verleih organisiert. Verdienste für die Welt Erstens: die fachmännische und diskrete Demontage des Kommunismus. Zweitens: die Einführung des Kaffeetrinkens in Europa und Eröffnung der ersten Kaffeehäuser in Wien. Drittens: die Erfindung des Baseballs für die Amerikaner (was diese bis heute viel Aufmerksamkeit kostet); laut Norman Davies soll er vom Schlagballspiel der polnischen Emigranten abgeleitet sein. Viertens: die polnische Wurst. Was Polen in die EU einbringen kann Die Fähigkeit, in schwierigen Situationen zurechtzukommen (siehe „Stabilisierter Krisenzustand“). Das Talent, Löcher im Steuerrecht ausfindig zu machen. Den Bialowiezer Urwald. Etwas Chaos. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes WYDAWNICTWO KRYTYKI POLITYCZNEJ, WARSZAWA 2012 125 × 195, 192 PAGES ISBN: 978-83-62467-36-5 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM zurück zum Inhaltsverzeichnis 42 FILIP SPRINGER FILIP SPRINGER (GEB. 1982), JOURNALISTISCHER AUTODIDAKT, ARBEITET SEIT 2006 ALS REPORTER UND FOTOGRAF. VERGANGENES JAHR DEBÜTIERTE ER MIT DEM REPORTAGEBUCH MIEDZIANKA. HISTORIA ZNIKANIA [MIEDZIANKA. EINE GESCHICHTE DES VERSCHWINDENS]. Photo: private Von schlechter Geburt Bücher und Ausstellungen wie David Crowleys Cold war modern haben gezeigt, dass die Architektur und die Ideologie der späten Moderne eine wichtige Front im ideologischen Krieg zwischen den beiden Seiten des eisernen Vorhangs waren. In den ehemaligen Ostblockländern fand sich diese Architektur auf der Müllhalde der Geschichte wieder. Besonders die kritiklos kapitalismusfaszinierten Polen zerstören bis heute mit der Leidenschaft von Neophyten alles an die Vergangenheit Erinnernde. Auf den Trümmern des Warschauer Supermarktes Supersam oder des brutalistischen Kattowitzer Bahnhofes erschien jedoch eine junge Generation von Aktivisten, Kunsthistorikern, Künstlern und Schriftstellern. Weitere Ausstellungen, Publikationen und Bücher verteidigen oder beschreiben ganz einfach die Kunst zur Zeit des Kommunismus, inklusive der sozialistischen Moderne, die sich als von „schlechter Geburt“ erwies, was der Titel von Filip Springers Buch ausgezeichnet wiedergibt. Der Journalist und Fotograf betrachtet die Denkmäler der vorherigen Epoche mit dem unschuldigen Blick des gerade einmal sieben Jahre vor den ersten freien Wahlen Geborenen und stellt fest, das sei doch „gute Architektur“! Von schlechter Geburt ist sowohl ein mit wertvollen archivalischen und Springers gegenwärtigen Aufnahmen gefülltes Fotoalbum als auch eine Sammlung von Reportagen über bauliche Stiefkinder. Beide Narrationen ergänzen einander hervorragend. Wichtiger als die gebrandmarkten Bauprojekte erweisen sich nämlich die Architektenschicksale, die die Wirklichkeit der Volksrepublik Polen in den vielfältigsten Schattierungen zeigen. Der Auzurück zum Inhaltsverzeichnis tor deckt die Schicksale der Kriegsgeneration auf, die nach dem Sieg des Kommunismus an Weichsel und Oder nach einer lokalen Version der Moderne suchte. Besonders spannend sind deren Spiele mit den Machthabern. In den Zeiten des Stalinismus, als die Behörden mit bitterem Ernst auf dem historisierenden Stil des Sozrealismus bestehen, errichtet der Kunsthistoriker und Architekt Marek Leykam für die Regierung eine eklektische Kopie der italienischen Renaissancedenkmäler. In Kattowitz bekommen die Architekten Buszko und Franta den besonderen Segen des lokalen Parteibonzen erteilt. Der Warschauer Architekt und Städteplaner Jerzy Hryniewiecki spottet öffentlich über die Regierung und ihre Machthaber und erhält trotzdem die Aufsicht über die wichtigsten und ehrgeizigsten Projekte, indem er sie dank seiner Beziehungen aus der Zeit in einem deutschen Gefangenenlager durch die entsprechenden Kabinette schleust. Der Reportagenschreiber Filip Springer baut daher im Grunde auf die Menschen und nicht auf die Architektur. Doch zwischen den Zeilen seines Buches scheinen auch die Schicksale der Gebäude nach dem Jahr 1989 durch, der Umbau und die Eingrenzung von Wohnsiedlungen, die Zerstörung ihrer Struktur durch neue Investitionen. Immer noch offen bleibt hingegen die Frage: Lässt es sich in diesen künstlerisch genialen, modernen Symbolen für den Stil eines offiziellen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ überhaupt wohnen? Max Cegielski Lord Vader gegen die Quelle der Wahrheit In tiefstem Granitschwarz schimmernd tauchte er recht unvermittelt an der Bracka-Straße auf und füllte die Lücke in der südlichen Frontfassade an den Jerozolimskie-Alleen. Es war das Jahr 2011, eben waren die Baugerüste verschwunden, und so blieben die Vorbeigehenden stehen und legten den Kopf in den Nacken, um ihn sich anzusehen. Gewöhnlich schauten sie schweigend und gingen nach einer Weile in ihre Richtung weiter. Er zog jedoch magisch an, sie drehten sich noch einmal um und schenkten ihm einen letzten Blick. Vielleicht dachten sie sogar noch an ihn, wenn sie in den Bus stiegen oder um die Ecke bogen. Andere Bezeichnungen für Lord Vader: Sarkophag, Totenschuh, Monolith. Mit einem Wort: Die dunkle Seite der Macht. Es ist eines der letzten Bauprojekte Stefan Kuryłowiczs. Das pechschwarze Einkaufs- und Bürozentrum ließ die bekannte Krakauer Familie Likus hier erbauen. Mit seinen abgerundeten Ecken korrespondiert das von Kuryłowicz entworfene Gebäude mit dem gegenüberliegenden Zentralen Warenhaus, heute allgemein „Smyk“ („Knirps“) genannt. Der helle, modernistische Sandsteinblock des Smyk und Kuryłowiczs schwarzer Monolith begannen einen Dialog, eine architektonische Konversation. Das ist gut. Vielleicht blieben die Vorbeigehenden – wenn auch völlig unbewusst – gerade deshalb hier stehen, um sich diese Schwärze anzusehen. Darth Vader zog jedoch nicht nur magisch an. Der schwarze undurchdringliche Block hatte noch eine weitere Eigenschaft. Er konnte vernichten. Das, was er absorbierte, war seine Antithese, sein völliges Gegenteil. Es war eine Wolke aus Licht und Luft, ein Glänzen. Ein Kritiker schrieb gar darüber: „Wer das nicht gesehen hat, wird die Quelle der Wahrheit nie begreifen.“ Diese Quelle nannte sich „Chemiepavillon”. Entworfen haben ihn Jan Bogusławski und Bohdan Gniewiewski, und in Trümmern lag er am elften April 2008. Die Kritiker konnten sich kaum fassen vor Begeisterung über das, was im Jahr 1960 an der Ecke Bracka- und Nowogrodzka-Straße im Entstehen begriffen war. Bereits der Ort war nicht zufällig gewählt – die Bracka war die natürliche Fußwegsverbindung zwischen dem Trzech Krzyży-Platz und dem Zentralen Warenhaus an den Jerozolimskie-Alleen und, etwas weiter, der Chmielna-Straße. Gerade aus städtebaulichen Gründen wurde hier ein Spalt in der Bebauung und ein kleiner Platz gelassen. Den Pavillon selbst beherrschten asymmetrische Formen und viel Licht. Er war fast vollständig verglast, stützte sich auf kunstvolle, V-förmige Pfeiler und einen von außen unsichtbaren Betonsockel. So erweckte er den Eindruck, ganz aus Glas zu sein und sich nur dank unsichtbarer Kräfte zu halten. Oder eben dank des Lichtes, das an den Abenden sein ganzes Inneres ausfüllte. Es war geradezu ein Übermaß an Licht, und so drang es durch die unsichtbaren Wände und überflutete die ganze Umgebung. Von der Straße sah der Chemiepavillon wie eine Lichtwolke aus, eine übernatürliche Kumulation von Energie. Er sah wie etwas Gutes aus. (Darth Vader sieht wie etwas Schlechtes aus, auch wenn er in Wirklichkeit nichts Schlechtes ist.) Ganze Jahre hindurch zog der Chemiepavillon auch wegen seines Warenangebots an, von dem wir heute sagen würden, dass es nicht besonders erlesen war und in jedem größeren Supermarkt eher einen unteren Rang einnähme. In den schlichten Zeiten ihrer Geburt lieferte die Quelle der Wahrheit aus Kunststoff gemachte Schüsseln und Schälchen, Eimer, Bürsten und Deckchen. Sie waren die in exakten Reihen angeordneten Beweise dafür, dass die heimatliche chemische Industrie nicht nur Düngemittel mit den wundersamen Eigenschaften von Raketentreibstoff produzierte. Als die Zeit der Lügen vorbei war, fiel die Quelle der Wahrheit in Ungnade. Sie wurde mit Werbeplakaten zugehängt und ihre Neonbuchstaben verschwanden unter immer neuen Bannern. Die Vitrinen vor dem Eingang wurden zerstört und mussten entfernt werden, um den dort parkenden Autos Platz zu machen. Drinnen richtete sich eine private Initiative ein. Alles wurde hoffnungslos schmutzig und grau. Die wie in einem Kaleidoskop wechselnden Mieter hatten nicht die Zeit, die Mittel und die Lust, sich um das Gebäude zu kümmern. Die Quelle der Wahrheit hatte keine begeisternde Wirkung mehr, sondern nur noch eine abschreckende. Es musste etwas mit ihr geschehen. Im Jahr 2001 kaufte die Krakauer Familie Likus den Abschnitt zwischen Nowogrodzka- und Bracka-Straße und den Jerozolimskie-Alleen. Der in seiner Mitte stehende verwahrloste, einst so ätherische Pavillon interessierte sie nicht im Geringsten. Für das Grundstück hatten sie dicke Millionen ausgegeben, die Investition musste sich lohnen. Sie beschlossen also, Darth Vader hier hinzustellen, die Verkörperung der dunklen Seite der Macht: ein randvoll mit 43 Luxusartikeln angefülltes Einkaufszentrum, das die weltweit teuersten und namhaftesten Marken in sich versammelte. Es sollte ein in Warschau noch nie dagewesener Ort sein. Ein Konflikt war unausweichlich. Zur ersten Schlacht gegen das Imperium rückten die Bewohner eines nahen, in der Bracka-Straße 13 gelegenen Mietshauses aus. Nach den Plänen Stefan Kuryłowiczs sollte sich die schwarze und fast fensterlose Wand des neuen Einkaufszentrums gerade einmal zwölfeinhalb Meter vor ihren Fenstern und Balkonen befinden. Und das bedeutete de facto die völlige Verdunklung ihrer Wohnungen. Der gerichtliche Kampf um das Licht dauerte fünf Jahre – dann kamen Wojewodschafts- und Oberstes Berufungsgericht zu dem Schluss, die Klagen der Bewohner seien unbegründet und das Gebäude könne entstehen. Von Journalisten nach dieser Sache gefragt, antwortete Kuryłowicz: „Es tut mir ehrlich leid für die Bewohner der Bracka-Straße 13, aber das ist die Warschauer Innenstadt. Jahrelang war dort ein scheußlicher Parkplatz. Das Gebäude hat eine Bebauungslücke gefüllt.“ Auf diesem scheußlichen Parkplatz stand auch die Quelle der Wahrheit. Kuryłowicz muss ihren Wert gekannt haben. Er hatte einen Professorentitel und zu seinen Seminaren an der Fakultät für Architektur am Warschauer Polytechnikum strömten die Studenten in Massen. Trotzdem wird am elften April 2008 der Platz eingezäunt und die ersten Bulldozer fahren beim Chemiepavillon vor. Sein Abriss dauert nicht lange. Viele Warschauer bemerkten ihn erst, als ihnen auffiel, dass mit dem Pavillon auch der Secondhandshop verschwunden war, in dem sie sich mit billiger, gebrauchter Kleidung eingedeckt hatten. Am Tag nach dem Abriss der Quelle der Wahrheit erscheint in der „Gazeta Wyborcza” ein Text von Jerzy Majewski. Er schreibt darin, dass die Sache mit dem Chemiepavillon vor allem ein Zusammenprall der bekanntesten Namen in der Geschichte der polnischen Architektur sei – auf der einen Seite Bogusławski und Gniewiewski, auf der anderen der absolute Star des freien Polen, Stefan Kuryłowicz: „Es ist auch ein Zusammenprall zweier verschiedener Denkweisen über die Stadt – die modernistische aus den 1960er Jahren, voller freier Räume, und die postkommunistische, zufällig erbaute Stadt. Und schließlich ist es ein Kampf zwischen David und Goliath, in dem zu unserer Verwunderung Goliath sich als der Gewinner herausstellt.“ 2011 ist Kuryłowiczs Einkaufszentrum schließlich fertig, die finstere schwarze Wand nimmt den Bewohnern der Bracka-Straße 13 erfolgreich die Sicht auf die Welt. Von der Quelle der Wahrheit, der ätherischen Lichtwolke, ist nicht die kleinste Spur geblieben. Man könnte sagen, die Dunkelheit ist an ihre Stelle getreten. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes KARAKTER, KRAKÓW 2012 190 × 245, 272 PAGES ISBN: 978-83-62376-12-4 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM zurück zum Inhaltsverzeichnis 44 MARTA GUZOWSKA MARTA GUZOWSKA, HAT EINEN DOKTOR IN ARCHÄOLOGIE UND IST SEIT ZWÖLF JAHREN MITGLIED DES AUSGRABUNGSTEAMS IN TROJA. „DIE OPFERUNG DER POLYXENA“ IST DER ERSTE BAND DER REIHE VON ARCHÄOLOGIE-KRIMIS UM DEN PROTAGONISTEN MARIO YBL. DIE AUTORIN ARBEITET GERADE AM NÄCHSTEN BAND. Photo: Farkas Pinter Die Opferung der Polyxena Der polnische Kriminalroman wird immer vielseitiger. Zwar dominieren in diesem Genre immer noch Gegenwarts- und Retro-Krimis, doch immer interessanter präsentieren sich auch Unterarten dieser Gattung, zum Beispiel der archäologische Kriminalroman, der bei Ausgrabungen spielt und in dem Wissenschaftler als Ermittler fungieren. Für diese Variante des Genres entschied sich Marta Guzowska in ihrem Debüt „Die Opferung der Polyxena“. Der Roman eröffnet die Reihe um den Anthropologen Mario Ybl. Die Autorin hat einen Doktor in Archäologie und ist seit mehreren Jahren Mitglied des Ausgrabungsteams in den Ruinen des antiken Troja. Kein Wunder also, dass der Roman gerade an diesem Ort spielt. In einem außergewöhnlich heißen Sommer entdeckt ein internationales Team von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen auf einer Nekropole in der Nähe von Troja ein ungewöhnliches Grab mit den Überresten einer Frau. Die Forscher vermuten, dass sie einen sensationellen Fund gemacht haben: die Knochen der mythischen Polyxena. Es stellt sich jedoch heraus, dass das Skelett durchaus modern ist. Die Wissenschaftler sind nicht nur frustriert, sondern auch entsetzt, denn jemand fängt an, nach dem Muster antiker Überlieferungen in Troja Frauen zu morden. Der Roman von Guzowska verzaubert vor allem aus zwei Gründen. Zum einen ist man von der Szenerie hingerissen: der Roman spielt in der Türkei und die Autorin beschreibt vor dem Hintergrund der Intrige das heutige Land, aus zurück zum Inhaltsverzeichnis der Sicht eines westlichen Besuchers. Zum anderen fasziniert der Protagonist (und gleichzeitig der Erzähler der Story): der brillante Anthropologe Mario Ybl. Es ist schwer, diese Figur in wenigen Worten zu beschreiben. Ybl ist eine Kreuzung aus Adrian Monk, Indiana Jones und Philipp Marlowe, ein „Säufer, Possenreißer und Zyniker“, wie er sich selbst charakterisiert. Ein Mann mit einem ausgesprochen losen Mundwerk und der Gabe, sich die Menschen zu Feinden zu machen; ein unangepasster Typ, der stets nur das tut, war er will, ohne Rücksicht auf jegliche Regeln. Ybl leidet unter Nyctophobie, der krankhaften Angst vor der Dunkelheit, und er bändigt diese Angst auf die denkbar einfachste Art, indem er sich abends bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt. Er ist ein einsamer Wolf, der letztlich – auf eigene Faust und unter zahlreichen Gefahren – das Rätsel der Morde klären wird. Robert Ostaszewski Wenn euch jemand erzählen sollte, dass die Arbeit eines Archäologen spannend sei, könnt ihr ihn gleich auslachen. Spannend sind Filme mit Indiana Jones und Lara Croft. Wobei die letzteren sogar noch besser sind, wegen der ästhetischen Vorzüge von Angelina Jolie in Shorts. Die Archäologie ist so dermaßen langweilig, dass es einem den Magen umdreht. Ihr denkt bestimmt, dass das alles so romantisch ist: ein Archäologe in coolen Klamotten steht über einem Erdloch und schaut zu, wie immer weitere Hiebe mit einer Spitzhacke immer weitere Schichten von Ruinen vergangener Zivilisationen enthüllen. Tut mir Leid, wenn ich euch enttäuschen sollte, aber das ist kompletter Schwachsinn. Erstens: vergesst die Spitzhacke. Die meiste Arbeit auf einer Ausgrabung wird mit einer kleinen Spachtel und einem Pinsel ausgeführt. Wisst ihr, wie lange es unter solchen Bedingungen dauert, nicht eine Zivilisation, sondern auch nur einen blöden kaputten Tonkrug auszugraben? Ihr wisst es nicht? Dann stellt es euch vor. Zweitens, meine werten Herrschaften: es gibt keine verborgenen Zivilisationen. Sie wurden allesamt schon längst entdeckt, katalogisiert und mit Laufzetteln versehen. Die Archäologie ist ungefähr genauso romantisch wie die Buchhaltung. Auch die Arbeit sieht ähnlich aus, denn sie besteht aus dem Notieren von Hunderten und Tausenden von Nummern. Nummern von Erdschichten, Nummern von Objekten, Nummern von Scherben, Nummern von Was-Auch-Immer, verdammt noch mal. Diese Nummern werden später in eine Datenbank eingearbeitet, analysiert, und anschließend wird ein Bericht verfasst, der so viel Romantik enthält wie die Quartalsabrechnung eines Zeitungskiosks. Außerdem fällt es einem normalen Menschen schwer, einen Arbeitstag zu ertragen, der mit Aufstehen um fünf beginnt, noch vor Sonnenaufgang, und der lange nach Mitternacht in einem Besäufnis endet – einen Tag, der voller unendlicher Stunden in der heißen Sonne ist, in einer Hitze, die durch die Genfer Konvention verboten werden sollte. Ich sage nur eines: wenn irgendein Gefangener, egal ob ein Politischer oder ein stinknormaler Krimineller, unter solchen Bedingungen arbeiten müsste, hätte Amnesty International schon längst eingegriffen. Heute war es genauso wie gestern, vorgestern und an jedem der beschissenen letzten vierzehn Tage. Die Sonne brannte wie ein atomarer Scheiterhaufen und der Himmel, von der Farbe und dem Gewicht wie flüssiges Blei, hing zwei Zentimeter über meinem armen Kopf. Die Erde erhitzte meine Füße durch die dicken Schuhsohlen hindurch. Nicht einmal der Wind brachte Linderung, sondern verbrannte die Haut und trieb mir Staub in den Rachen. Die Bäume waren schon längst zu raschelnden Skeletten geworden, der Fluss zu einem schlammigen Bachbett, und das Meer zu einem nach Algen stinkendem Brei. Hinter dem Vorhang aus vibrierender Luft schoben sich weiße Schiffe wie Gespenster durch den engen Hals der Dardanellen. Von dem Platz aus, an dem ich stehen geblieben war, um zu Atem zu kommen, konnte man nicht genau sehen, ob sie über das Wasser fuhren oder über die glühenden Felder marschierten. Ein feuchter Dunst verbarg die Inseln Bozcaada und Tavşan Adası. Nur abends fletschte die untergehende Sonne ihre Zähne und die Konturen der Eilande wurden lebendig, wie die Figuren aus Kamelhaut vor dem Seidenvorhang im türkischen Schattentheater. (…) Als mich Pola vor einem halben Jahr angerufen hatte, frühmorgens, schlief ich selbstverständlich noch. „Erzähl keinen Unsinn“, meinte sie. „Wie spät ist es eigentlich?“ „Mmmm.“ Ich versuchte, auf den Wecker zu schauen. Ich lupfte das Augenlid. Das Licht der Nachttischlampe blendete mich. „Egal. Du musst jetzt zuhören. Wir haben eine Nekropole. Die Bulldozer haben die Fundamente für irgendwelche Datschen gegraben und sind dabei direkt auf ein Grab gestoßen. Nicht in Troja selbst, zehn Kilometer weiter, an der Küste. Du weißt, was das bedeutet?“ Pola hielt einladend inne. „Eee …“ Ich verzichtete auf einen erneuten Versuch, die Augen aufzumachen und tastete blindlings auf dem Nachtschränkchen herum, auf der Suche nach dem Wasserglas. „Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, was es zu bedeuten hat! Das bedeutet, dass es die Begräbnisstätte der Achaier sein könnte!“ „Aha …“, murmelte ich. 45 „Das erste Grab, das die Planierraupe zerstört hatte, war eine Urne. Also eine Feuerbestattung. Die Fotos sind ein bisschen undeutlich, aber alles spricht dafür, dass …“ Sie verstummte. „Du weißt, wovon ich spreche, oder?“ „Nein.“ „Du Banause!“ „Pola“, röchelte ich. „Rufst du mitten in der Nacht an, um mich zu beleidigen? Kannst du nicht bis um neun warten?“ „Kann ich. Die Achaier kamen nach Troja, um die schöne Helena zurückzuholen. Der Trojanische Krieg, vielleicht sagt es dir etwas?“ „Verdammte Scheiße!“ Das Wasserglas tat genau das, was alle Gläser tun, wenn man sie im Dunkeln sucht: es fiel auf den Boden und zerstob in winzige Teilchen. „Genau!“ In Polas Stimme schwang Befriedigung mit. „Frank hat eine Lizenz und hat mir versprochen, dass ich die Grabung leiten werde. Im ganzen Abschnitt der Begräbnisstätte. Begreifst du das?“ „Klar.“ „Und du weißt, worum es mir geht?“ „Sicher.“ „Und du weißt, welchen Frank ich meine?“ „Sicher.“ Ein Moment der Stille im Hörer. „Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche, oder? Und es interessiert dich nicht einmal besonders. Oder irre ich mich?“ „Nein.“ Ein Moment der Stille. „Ich werde einen Anthropologen brauchen.“ Mit zugekniffenen Augenlidern setzte ich mich auf den Bettrand und stellte die Füße auf dem kalten Fußboden ab. Von den Fenstern her zog es fürchterlich; ich konnte mich die ganze Zeit nicht aufraffen, sie abzudichten. Ich rieb mit den Handflächen über die Stoppeln in meinem Gesicht und räusperte mich ein paar Mal. „Was hat das mit mir zu tun?“ „Im Juli. Oder Anfang August. Und ich möchte, dass du mindestens zwei Studenten mitbringst.“ „Pola …“ „Ehrlich gesagt hätte ich gerne jemanden von den höheren Semestern. Oder Doktoranden, damit du sie nicht ständig beaufsichtigen musst.“ „Pola …“ Es gelang mir endlich, ein Auge aufzumachen und einen Blick auf den Wecker zu werfen. Der rote Doppelpunkt zwischen der Zwei und der Dreißig pulsierte in einem hypnotischen, schläfrigen Rhythmus. „Pola, es ist halb drei Uhr. Morgens. Am siebten Januar.“ Sie verstummte für einen Augenblick und sagte dann leise: „Ich dachte, du würdest dich freuen …“ Also freute ich mich. Hatte ich eine andere Wahl? Aus dem Polnischen von Paulina Schulz W.A.B., WARSZAWA 2012 123 × 195, 432 PAGES ISBN: 978-83-7747-646-8 TRANSLATION RIGHTS: W.A.B. zurück zum Inhaltsverzeichnis ADRESSEN DER VERLAGE UND AGENTEN CZARNE Wołowiec 11 38-307 Sękowa phone:+48 18 351 00 70 fax : +48 18 353 58 93 [email protected] czarne.com.pl KARAKTER ul. Kochanowskiego 19/1 31-127 Kraków [email protected] www.karakter.pl OFICYNA LITERACKA NOIR SUR BLANC ul. Frascati 18 00-483 Warszawa phone:+48 22 625 19 55 fax: +48 22 625 08 12 [email protected] www.noir.pl RITA BAUM Box 971 50-950 Wrocław 68 [email protected] www.ritabaum.pl ŚWIAT KSIĄŻKI Weltbild Polska LTD ul. Hankiewicza 2 02-103 Warszawa phone:+48 22 517 50 18 [email protected] www.weltbild.pl zurück zum Inhaltsverzeichnis W.A.B. ul. Usypiskowa 5 02-368 Warszawa phone / fax: +48 22 646 05 10, +48 22 646 05 11 [email protected] www.wab.com.pl WYDAWNICTWO KRYTYKI POLITYCZNEJ Ul. 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Box 39 ©Das Polnische Buchinstitut, Krakau 2012 Redaktion: Izabella Kaluta, Andre Rudolph Übersetzung: Olaf Kühl, Joanna Manc, Lisa Palmes, Antje Ritter-Jasińska, Paulina Schulz, Benjamin Voelkel, Thomas Weiler Weitere Informationen über die polnische Literatur auf: www.bookinstitute.pl Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel New Book From Poland Fall 2012 kann über das Buchinstitut bezogen werden. Graphik und Satz: Studio Otwarte, Krakau s tu di otw a r te www.otwarte.com.pl zurück zum Inhaltsverzeichnis