Meine Soldaten- und Kriegszeit

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Meine Soldaten- und Kriegszeit
Meine Soldatenund Kriegszeit
Kriegstagebuch von Johann Gräpel
aus den Jahren 1915 - 1919
Herausgegeben von Volker Wolters
Meine Soldatenund Kriegszeit
Aufzeichnungen des Gefreiten Johann Gräpel
über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg vom
08. Januar 1915 bis zum 08. Januar 1919.
Privatdruck
Volker Wolters
Hoher Weg 7
27337 Blender
Telefon 04233-942813
Telefax 04233-942815
E-Mail [email protected]
Vorwort
Mein Großvater Johann Gräpel wurde am 14. Dezember 1894 in Steinborn bei Asendorf,
Landkreis Diepholz geboren. Nach seinem Tod am 27. Dezember 1993 fanden wir neben
vielen anderen alten Erinnerungsstücken auch sein handschriftlich geführtes Kriegstagebuch
aus dem Ersten Weltkrieg.
Während seiner Zeit im Ersten Weltkrieg hat Johann Gräpel auch eine Vielzahl von
Feldpostbriefen nach Hause geschrieben. Aufgrund der Inhalte dieser Feldpostbriefe hat er
vor vielen Jahren sein ursprüngliches Kriegstagebuch überarbeitet und gleichzeitig mit der
Schreibmaschine neu geschrieben.
Das überarbeitete Kriegstagebuch sowie die vielen Feldpostbriefe, zum Teil mit Fotografien
sowie seine weiteren militärischen Unterlagen, wie z. B. Soldbuch, Wehrpass und
Abzeichen, wurden ebenfalls aufgefunden.
Nach Durchsicht dieser Unterlagen kam mir der Gedanke, hieraus ein Buch zu schreiben,
um diese Kriegserinnerungen für die Nachwelt festzuhalten.
Die nachstehenden Informationen zu
•
den weiteren Auszeichnungen von Johann Gräpel und der
•
Geschichte Litauens
stammen aus dem Internet.
Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang meiner Arbeitskollegin Petra Haltermann für eine
erste Durchsicht des Buches und vor allem meiner Frau Silke für die sorgfältige
Endkorrektur.
Blender, im Dezember 2004
Volker Wolters
Inhaltsverzeichnis
1. Die Musterung .................................................................................................................. 1
2. Grundausbildung in Hannover .......................................................................................... 2
3. Das Munsterlager.............................................................................................................. 6
4. Soldatenlieder ................................................................................................................... 7
5. Es geht ins Feld .............................................................................................................. 10
6. Ankunft in Russland ........................................................................................................ 13
7. Die Feuertaufe ................................................................................................................ 15
8. Die neue Stellung ........................................................................................................... 17
9. Die Verwundung ............................................................................................................. 22
10. Weiter gen Osten .......................................................................................................... 24
11. Gut Antomir................................................................................................................... 28
12. Gut Pokiertynie I ........................................................................................................... 32
13. Die Zeit in der Schreibstube .......................................................................................... 36
14. Revolution ..................................................................................................................... 44
15. Der Rückzug ................................................................................................................. 46
16. Die letzen Tage ............................................................................................................. 50
Anhang .............................................................................................................................. 52
A. Weitere Auszeichnungen von Johann Gräpel ............................................................ 53
1. Die Kriegsdenkmünze 1914/18 des Kyffhäuser-Bundes ................................................. 53
2. Ehrenkreuz für Frontkämpfer .......................................................................................... 55
B. Weitere Unterlagen....................................................................................................... 57
1. Militärpass ...................................................................................................................... 57
2. Soldbuch......................................................................................................................... 58
C. Die Geschichte Litauens .............................................................................................. 59
1. Die Anfänge .................................................................................................................... 59
2. Der Erste Weltkrieg ......................................................................................................... 60
3. Die Unabhängigkeitserklärung - Die erste Republik ........................................................ 61
4. Der Zweite Weltkrieg....................................................................................................... 62
5. Die deutsche Besetzung ................................................................................................. 63
6. Die sowjetische Besetzung ............................................................................................. 64
7. Die Unabhängigkeit seit 1991 ......................................................................................... 65
D. Daten über Litauen ....................................................................................................... 66
E. Landkarten .................................................................................................................... 68
1. Europakarte 2004 ........................................................................................................... 68
2. Litauen 1935 ................................................................................................................... 69
3. Ostpreußen 1914 ............................................................................................................ 70
4. Das heutige Litauen ........................................................................................................ 71
1. Die Musterung
Am 27. November 1914 fand die erste Kriegsmusterung für die zurückgestellten
Mannschaften
der
Jahrgänge
1892,
1893
und
1894
im
Hotel
„Dörgeloh“
in Bruchhausen-Vilsen statt. Meinem Geburtstag zufolge, dem 14. Dezember 1894, hatte ich
auch dort zu erscheinen und wurde als „tauglich für Infanterie I" befunden. Sechs Wochen
konnte ich noch zu Hause bleiben, dann schlug für mich die Abschiedsstunde.
Am 08. Januar 1915 hatte ich mich beim
Bezirkskommando in Nienburg zu stellen.
Es waren vielleicht zweihundert Mann, die
zusammenkamen.
Unteroffiziere
der
Ersatzbataillone der Infanterieregimenter
73 und 74 aus Hannover standen schon
bereit, uns abzuholen. Nach Verlesung
der Anwesenheitsliste
Singen
Bahnhof,
des
von
ging es mit dem
Deutschlandliedes
wo
die
zum
Abfahrt
zum
Garnisionsort erfolgte.
Vorladungsschein für die Musterung
Seite 1
2. Grundausbildung in Hannover
Nach Ankunft in Hannover, ich war den 73igern zugeteilt worden, traten wir dann den Marsch
zur Bultkaserne an und wurden dort an die Kompanien des Rekruten-Depots überwiesen.
Diese Rekruten-Depots hatten keine Nummern, sondern trugen den Namen des jeweiligen
Kompanieführers. Meine Kompanie hieß „Stein“. Infolge eines Offiziermangels hatte man
ältere Feldwebel zu Offiziers-Stellvertretern gemacht und diese mit der Führung beauftragt.
In der Kaserne fand ich schon Bekannte vor, die schon sechs Wochen „krumm hatten“1.
Dieses waren unter anderem
Heinrich
Mahlstädt
Steinborn,
sowie
Heinrich
Dreyer
aus
Tischler
aus
Kampsheide. Beide waren bei
der Kompanie „Föckel“. Als gut
bekannten
Stubengenossen
hatte ich Georg Marquard aus
Haendorf bei mir.
Bultkaserne in Hannover
1
Anderer Begriff für „in der Ausbildung waren“
Seite 2
Am zweiten Tag wurden wir eingekleidet.
Wir erhielten noch die blauen Uniformen,
die
aber
sehr
abgetragen
waren.
Die ersten Tage gingen mit dem üblichen
Arm-, Bein- und Fußspitzenrollen sowie
Marschieren hin. Am vierten Tag bekamen
wir unsere Gewehre. Es war das Modell
71, das hinsichtlich seiner Größe und
Schwere nicht sehr handlich war. Nun ging
das Griffekloppen los, immer Gewehr auf
und Gewehr wieder ab. Als nächstes kam
das Zielen an die Reihe. Kasernenhofdrill
und Ausmärsche in die Umgebung von
Hannover wechselten in ständiger Folge.
Auf der kleinen Bult hinter der Stadthalle
habe
rechts: Johann Gräpel
ich
manchen
Schweißtropfen
vergossen. Nach dreiwöchigem Dasein
hatten wir das erste Scharfschießen auf den Schießständen der Bult. Wir erhielten hierzu
das Gewehr Modell 98. Ich konnte die Bedingungen „Hundertfünfzig Meter Scheibe liegend
aufgelegt, drei Schuss“ mit insgesamt dreißig Ringen gut erfüllen. Auch bei den späteren
Schießen schnitt ich gut ab, bis auf „stehend freihändig“. Da habe ich auch mal „Gewehr
pumpen müssen“2. Die Zeit im Rekruten-Depot dauerte fünf Wochen. Anschließend wurde
ich mit anderen Kameraden zu der 2. Kompanie des 2. Ersatz-Bataillons Füsilier-Regiment
73 überwiesen. Mit unseren Habseligkeiten bezogen wir nun die Kaserne Nr. 3 am
Waterlooplatz in Hannover.
Die Kasernen waren alt und hatten wohl schon zu hannoverschen Zeiten Soldaten als
Aufenthalt
gedient.
Wasser
musste
in
Eimern
heraufgetragen
werden,
ebenso
Schmutzwasser wieder herunter. Latrinen ohne Wasserspülung waren auf dem Hof hinter
der Kaserne. Alles sehr primitiv. Ein Glück, dass es elektrisches Licht gab, da in der
Bultkaserne beim Stubendienst noch Petroleumlampen gesäubert werden mussten.
2
Dann musste das 9 – 10 Pfund schwere Gewehr 98 mit beiden Armen vorgestreckt werden, während man
dabei langsam in die Kniebeuge ging. Schon nach den ersten Dutzend solcher Übungen fingen die Arme und
Beine an zu zittern.
Seite 3
Wir wurden nun in die feldgraue Kluft gekleidet. Ein Vorteil hiervon war, dass das
Blankputzen der Knöpfe entfiel. Uns schwoll die Brust, kamen wir der Kriegswirklichkeit doch
näher. Jedoch herrschte hier auch ein anderer Wind. Mit dem Spieß war nicht zu spaßen,
auch zu den oberschlesischen Unteroffizieren hatten wir nicht das größte Vertrauen. Von
nun ab war die Ricklinger Ohe und die Vahrenwalder Heide unser Ausbildungsgelände.
Namentlich auf der letzteren hat uns unser Bataillonskommandeur Hauptmann von
Ahlemann oft Dampf gemacht. Sowohl bei hohem Schnee, wie auch an den ersten warmen
Märztagen haben wir mit dem Sandsack im Tornister die Gegend um Langenhagen und
Engelbostel durchstreift.
Ich erinnere mich noch genau an einen Sonnabend. Ich hatte für den folgenden Sonntag
Urlaub eingereicht. Für diesen Sonnabend war nun eine Bataillonsübung angesetzt worden.
In der Nacht von Freitag auf Sonnabend war dermaßen viel Schnee gefallen, dass der
gesamte Verkehr in Hannover stockte. Während die anderen Truppenteile an diesem
Morgen in der Kaserne blieben, zog unser Hauptmann von Ahlemann mit uns hinaus in den
knietiefen Schnee bis nach Langenhagen zur Gefechtsübung. Völlig durchnässt kamen wir
erst gegen 13.00 Uhr wieder zurück. Nach dem Essen war bis 15.00 Uhr Bettruhe
angeordnet. Alsdann mussten Gewehr und Sachen in Stand gesetzt werden und vieles
mehr. Ich konnte nun nicht mehr so zeitig fahren, um in Hoya den letzten Zug nach Asendorf
zu erreichen. Auch musste ich erst zur Bahnhofskommandantur, um mir eine Genehmigung
für die Benutzung von D-Zügen3 einzuholen. Uns Landsern4 war die Benutzung von D-Zügen
nur im Ausnahmefall gestattet. Mein Kamerad Heinrich Ehlers aus Hassel bemühte sich um
eine Genehmigung. Sie wurde ihm jedoch mit der Begründung versagt, dass er noch den
nachfolgenden Personenzug benutzen könne und die vier Kilometer von Eystrup nach
Hassel auch gut zu Fuß gehen könnte.
Ich hatte nun in Eystrup Anschluss an den letzten Zug nach Hoya, wo ich gegen 22.30 Uhr
ankam. Hier lag auch hoher Schnee, der noch nicht geräumt wurde. Nun ging der
Fußmarsch nach Steinborn los (zwölf Kilometer). Bis Tivoli hatte ich noch Gesellschaft von
Kameraden, die aber dann nach Sellingsloh gingen. Ich musste nun alleine weiter, hatte
noch sieben Kilometer vor mir und war schon so müde. Bis halb den Duddenhauser Berg
hinauf ging es noch, da wollten die Beine streiken. Auf einem Kilometerstein ruhte ich mich
erstmal aus. Endlich zwang ich mich zum Weitergehen und gelangte nachts um 01.00 Uhr zu
3
4
D steht hierbei für Durchgang. Ursprünglich wurden Züge damit bezeichnet, die durch ihre Bauart bedingt
durchgehbar waren (im Gegensatz zum Abteilwagen alter Bauart). Später wurde diese Bezeichnung für Züge
benutzt, die auf überregionalen Strecken sehr wenige Halte hatten.
Umgangssprachlich für einen Soldaten
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Hause an. Ich war auch am Ende meiner Kräfte, weiter hätte ich nicht gekonnt. Für den Rest
der Nacht schlief ich nun den Schlaf des Gerechten. Ich wachte erst am hellen Vormittag auf.
Die Zeit zu Hause verging schnell. Versehen mit Mutters Proviant musste ich schon um
18.30 Uhr wieder den Zug in Asendorf besteigen, da ich pünktlich um 22.00 Uhr wieder in
Hannover sein musste.
Karfreitag wurde unsere Gruppe zum Wachdienst in die Bultkaserne kommandiert.
Die Wache dauerte insgesamt vierundzwanzig Stunden, im Wechsel erst zwei Stunden
Dienst und dann vier Stunden Ruhe. Ich brauchte allerdings nicht Posten zu stehen, sondern
wurde als Ordonanz zugeteilt und hatte Besucher vom Kasernentor in die Kaserne zu
geleiten. Weiterhin musste ich einige Laufdienste verrichten.
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3. Das Munsterlager
Unser Dasein auf dem Waterlooplatz dauerte bis zum
07. April 1915. An diesem Tag wurden wir mit dem
Ziel „Munsterlager“ verladen.
Dort angekommen,
präsentierte sich eine Holzbaracke als Unterkunft. In
manchen Nächten war es trotz eines kleinen Ofens
empfindlich kalt. Das Soldatenleben nahm hier einen
kriegsähnlichen Charakter an. Viele Platzpatronen
wurden verknallt. Das war so der einzige Spaß, alles
andere war auf deutsch gesagt „Scheiße“. Die
Verpflegung ließ auch zu wünschen übrig. Ein Glück,
dass die Pakete von zu Hause die Lücke ausfüllen
konnten. Im Munsterlager brachte man uns auch das
Geländeschießen bei. Jeder durfte fünfundzwanzig
scharfe Patronen auf sogenannte „Pappkameraden“
verfeuern. Das war der letzte Schliff, den wir im
Übungsbataillon „Major Kunze“ hatten. Am 27. April
Johann Gräpel im Munsterlager
1915 war Besichtigung durch den kommandierenden
General mit einer verbundenen Gefechtsübung. Wie die Kritik ausgefallen war, entzieht sich
meiner Kenntnis. Jedenfalls waren wir froh, am anderen Tage der Munster Heide den
Rücken zu kehren und wieder in Hannover zu sein.
Wir konnten leider unsere lieb gewonnene Bude in der Kaserne nicht wieder beziehen,
sondern mussten mit einem Saalquartier vorlieb nehmen. Uns Munsterleute verteilte man
wieder auf die Kompanien. Viel Dienst haben wir nicht mehr gemacht. Ich war noch zweimal
mit auf Schlosswache. Von hier aus wurden die Wachen am Zeughaus, beim Archiv, den
Regierungsgebäuden und der Brückmühle bezogen. Der Wachdienst dauerte wieder
vierundzwanzig Stunden, davon immer zwei Stunden Postenstehen und vier Stunden ruhen.
Im allgemeinen wurden die Munsterleute von den Vorgesetzten als alte Soldaten angesehen,
die für das Feld reif waren. Einem Drill wurden wir nicht mehr ausgesetzt.
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4. Soldatenlieder
Wir Soldaten verkehrten, sofern wir Zeit und Geld hatten, im Rheinischen Hof, einem Lokal in
der Schillerstraße. Sonntagabends ging es dort hoch her. Eine Hauskapelle spielte dort
Vaterländische Weisen. Alle sangesfreudigen Soldaten sangen dann feste mit. Das folgende
Lied hatte einen hohen Stellenwert:
Des Seemanns Los
Stürmisch die Nacht und die See geht hoch,
tapfer noch kämpft das Schiff.
Warum die Glocke so schaurig klingt,
dort zeigt sich ein Riff.
Brav ist ein jeder an seinem Stand,
ringt mit der See für das Vaterland,
Dem Tode nah, dem Tode nah,
furchtlos und mutig stehn alle da.
Refrain:
Laut ruft die Glocke jetzt über das Deck,
nichts half das Kämpfen, das Schiff, es ist leck.
Macht Euch bereit, macht Euch bereit,
jetzt segeln wir in die Ewigkeit.
Gott sei mit uns.
Wir gehen schlafen am Grunde des Meeres,
Gott sei mit uns.
Als nun die stürmische Nacht vorbei,
ruht ach so tief das Schiff.
Dort ziehn Delphine und gierige Hai',
rings am hohen Riff.
Von allen Menschen, so lebensfroh,
keiner dem grausigen Tod entfloh,
Dort unten auf dem Meeresgrund,
schlummern sie friedlich mit bleichen Mund.
Refrain
Seite 7
Still rauscht das Meer jetzt sein uraltes Lied,
mahnend dringt es uns tief ins Gemüt.
Seemann gib acht, Seemann gib acht,
horch was der Wind und das Meer dir sagt:
Schlaft wohl, schlaft wohl.
Unter Korallen in friedlicher Ruh,
Schläfst dereinst auch Du.
Auch das Engellandlied wurde im Rheinischen Hof gesungen:
Das Engellandlied
Heute wollen wir ein Liedlein singen,
trinken wollen wir den kühlen Wein.
Und die Gläser sollen dazu klingen,
denn es muß, es muß geschieden sein.
Refrain:
Gib' mir deine Hand, deine weiße Hand,
Leb' wohl, mein Schatz, leb' wohl mein Schatz,
Leb' wohl, lebe wohl.
Denn wir fahren, denn wir fahren,
denn wir fahren gegen Engelland, Engelland.
Unsre Flagge und die wehet auf dem Maste,
sie verkündet unsres Reiches Macht.
Denn wir wollen es nicht länger leiden,
daß der Englischmann darüber lacht.
Refrain
Kommt die Kunde, daß ich bin gefallen,
daß ich schlafe in der Meeresflut,
Weine nicht um mich, mein Schatz, und denke:
für das Vaterland da floß sein Blut.
Refrain
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Anfang des Ersten Weltkrieges wollte man den Tagesgruß: „Guten Tag“ ändern in „Gott
strafe England“, während der Angesprochene dann erwidern sollte: „Er strafe es“. Doch das
hat sich nicht einbürgern können, da auch die Kirchen dem ablehnend gegenüberstanden.
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5. Es geht ins Feld
Nach einigen Tagen stellte man den ersten Feldtransport zusammen. Ich war noch nicht
darunter, aber mein Freund und Kamerad Heinrich Koch aus Doenhausen bei Eystrup.
Der Transport ging zu den Karpaten. Lange dauerte es nicht mehr, da kamen auch wir
übrigen an die Reihe. Am 08. Mai 1915 wurden wir neu eingekleidet und erhielten
feldmäßige Ausrüstung wie Feldzwiebäcke, eiserne Portion5 und anderes mehr. Gewehr und
Seitengewehr6 erhielten wir jedoch noch nicht. Der 09. Mai 1915 war ein Sonntag, den haben
wir noch einmal tüchtig durchgekostet. Dietrich Wendt aus Duddenhausen und Johann
Dickhoff aus Haendorf waren auch zugegen.
Am Montagmorgen war noch Appell mit allem, was wir empfangen hatten. Mittags war der
denkwürdige
Ausmarsch
vom
Waterlooplatz
zum
Güterbahnhof
Mühringsberg.
Ganz Hannover war auf den Beinen, denn es zogen viele hinaus. Beim Abmarsch stand
unser Unteroffizier Urbantczyk (Oberschlesier) am Wege und drückte jedem seiner
Korporalschaft tränenden Auges die Hände. Er war schon an der Front gewesen und wusste,
was uns bevorstand.
Am späten Vormittag begann unser Transportzug zu rollen. Die große Frage lag offen:
„Wohin geht es, nach Westen oder nach Osten?“ Der Schleier lüftete sich schon, als der
Zug durch den Hauptbahnhof Richtung Lehrte fuhr. Da war es Gewissheit, es ging Richtung
Russland. Berlin durchfuhren wir um Mitternacht, konnten also von der Reichshauptstadt
nicht viel sehen. Die meisten von uns lagen in den Abteilen auf den Böden und Bänken im
tiefen Schlaf. Eintönig sangen die Räder das Schlummerlied.
Im Morgengrauen ging es bei Küstrin über die Oder. Weiter nach Landsberg an der Warthe,
dann zum Eisenbahnknotenpunkt Kreuz. Hier wurde der erste Halt gemacht. Wir sind schnell
raus aus den Abteilen und haben uns die Füße vertreten. Es war früh am Morgen und recht
kühl. Hier bekamen wir die Morgenverpflegung: heißen Kaffee und trocken Brot.
5
Notverpflegung
6
Kurze Hieb- und Stichwaffe, die an der Seite zu tragen war. Dient auch als Bajonett (Dolch, der für den
Nahkampf auf den Gewehrlauf gesetzt wird).
Seite 10
Bald darauf rollten wir gen Schneidemühl auf Bromberg und Thorn zu. Hier bekam man die
ersten Schützengräben zu Gesicht. Bei Thorn war ein ganzes Waldstück gefällt worden, um
freies Schussfeld zu haben. Gegen Abend ging die Fahrt schon durch das ostpreußische
Land. In der Dämmerung hielt der Zug bei einem Sägewerk. Raus aus dem Abteil und kurze
Bretter geklaut war das Werk eines Augenblicks. Wir legten dieselben nun quer über die
Bänke, so dass ein Teil der Mannschaft auf dem Boden, die anderen ein Stockwerk höher
auf den Brettern schlafen konnte. Auch diese Nacht nahm ein Ende.
Mittwochmorgen waren wir in Allenstein. Der Transport wurde nun auf die Strecke nach
Ortelsburg geleitet. Auf diesem Gelände hatte sich die Tragödie der Tannenbergschlacht
abgespielt. Ein großer Teil des russischen Heeres war hier vernichtet und gefangen
genommen worden. Die Schrecken des Krieges wurden auch sichtbar: abgebrannte
Gebäude sowie Soldatengräber säumten die Bahnstrecke. Über Johannisburg ging es zur
Grenzstation Dlottowen. Hier war vor dem Krieg die Bahnstrecke zu Ende gewesen.
Eisenbahnpioniere hatten dieselbe aber bis zu dem zwölf Kilometer entfernten polnischrussischen Städtchen Kolno verlängert. Gegen Mittag wurde zum Aussteigen geblasen.
Russland hatte uns jetzt aufgenommen.
Seite 11
Streckenkarte Norddeutschland 1914
Seite 12
6. Ankunft in Russland
Nachdem wir das Gepäck aufgebürdet hatten, sind wir in Gruppenkolonne angetreten und in
das Städtchen Kolno einmarschiert. Es kam einem dort so anderes vor: holpriges Pflaster,
schmierige Juden mit wallenden Bärten und langem Kaftan7 belebten die Straßen. Auch die
Bauweise der Häuser ist mit der deutschen nicht zu vergleichen. Kurzum, es ist nicht
Deutschland. Auf dem Marktplatz wurde erstmal Halt gemacht. Kleine Judenjungen
drängelten
sich
durch
unsere
Reihen, um Gebäck und andere
Sachen zu verkaufen. Die Bengels
waren
Die
schon
Stadt
sehr
war
Nachschubtruppen
sogenannten
aufdringlich.
voll
mit
belegt,
der
Etappe8.
Hier
entwickelte sich ein geschäftiges
Leben. Nach längerer Rast ging es
Hauptstraße in Kolno
wieder hinaus in die weite polnische
Landschaft. Die Straße war staubig
und die Sonne brannte hernieder. Es war ein beschwerlicher Marsch. Zwei Stunden hatten
wir schon marschiert, da sahen wir rechts und links vor uns zwei Ortschaften. Unsere
Gruppe teilte sich nun. Ich war bei dem Trupp, der nach links in das Dorf Korzenist einbog,
während die Abteilung von Johann Dieckhoff aus Haendorf und Dietrich Wendt aus
Duddenhausen nach rechts zum Infanterie-Regiment 152 marschierte.
Ich wurde mit meinen Kameraden der 1. Kompanie des mobilen Ersatz-Bataillons
Füsilierregiment 33 einverleibt. Kompanieführer war ein Leutnant Reinhardt. Wir machten es
uns in den geräumten Häusern bequem. Die Feldküche verabfolgte uns ein kräftiges
Gulaschessen, das uns nach der beschwerlichen Reise gut mundete. In der Nacht schliefen
wir dann tief und fest. Am anderen Morgen bemerkten dann einige Kameraden, dass sie
Bekanntschaften mit Wanzen gemacht hatten. Die Kompanie war in der vorherigen Nacht zu
einer fünf Kilometer entfernten Stellung marschiert und kam erst im Morgengrauen unter
Zurücklassung von Postierungen wieder zurück ins Dorf. Bis Mittag war nun Ruhe. Nach
dem Essen wurden wir den Gruppen zugeteilt und erhielten unsere Gewehre.
7
Langärmeliges, vorne offenes, weites Obergewand.
8
Nachschubgebiet hinter der Front
Seite 13
An diesem Tage musste das Bataillon eine neue Stellung beziehen. Ein anderthalbstündiger
Marsch stand uns bevor. Es ging durch niedrigen Nadelwald und tiefen Sand, dazu eine
heiße Sonne von oben; kein Wunder, dass der Schweiß rann. Dankbar begrüßten wir eine
Rast. Nun war es nur noch einen Kilometer bis zur neuen Stellung. Die Truppen, die wir dort
ablösten, hatten sich schon häuslich eingerichtet. Es waren schon Blockhäuser erbaut
worden, die vom Bataillonsstab und der Schreibstube in Besitz genommen wurden. Von hier
bis zum Schützengraben waren es nur noch siebenhundert Meter. Nach Ankunft bezogen wir
die sehr primitiven Unterstände. Diese hatten höchsten Platz für fünf Mann, mehr gingen
nicht rein. Aufrecht stehen konnte man nicht.
In den folgenden Tagen begann der Ausbau des Grabens. Er wurde tiefer gegraben und mit
Pfählen abgestützt. Weiterhin wurden Schießscharten angelegt. Im Unterstand dienten junge
Birkenreiser als Bettersatz. Ein Laufgraben mit Sappe9 wurde bis zum Waldrand
vorangetrieben, etwa einhundertzwanzig Meter von unserer Stellung entfernt. Von dort bis
zur Russenstellung waren es vielleicht dreihundert Meter. Auf Sappenposten konnten wir
manchmal die Russen bei Schanzarbeiten beobachten. Doch der Feind war auch vorsichtig
und steckte den Kopf nicht oft über die Böschung heraus.
9
Laufgraben im Festungs- und Stellungskrieg
Seite 14
7. Die Feuertaufe
Am Abend des ersten Tages erhielten wir die Feuertaufe. Die russische Artillerie machte
einen Feuerüberfall mit Granaten und Schrapnell10. Da dieser Zauber nur eine Viertelstunde
dauerte, hatten wir kaum Verluste. Das wiederholte sich öfter. Unsere Artillerie war allerdings
auch nicht untätig und beschoss gleichfalls die russische Stellung. Wir freuten uns über
diese
Vergeltung.
Das
vor
unseren
Stellungen
liegende
Dorf
Nowemiasto
(deutsch: Neustadt) erhielt gleichfalls Treffer und viele Häuser gingen in Flammen auf.
Nachdem Stacheldraht angeliefert worden war, wurde mit dem Bau von Stacheldrahtverhau
begonnen. Diese Arbeit war nicht nach unserem Geschmack, da wir oft Verletzungen und
zerrissene Uniformen davontrugen. Im übrigen konnten wir uns über Langeweile nicht
beklagen. Wer nicht Postenstehen brauchte, wurde mit einer anderen Beschäftigung warm
gehalten. Wasser musste aus fünfhundert Metern Entfernung vom Bataillonsstab geholt
werden, desgleichen das Essen von der Feldküche. Später hatten wir unter Anleitung und
Aufsicht von Pionieren eine Reservestellung gebaut. Diese konnte nur nachts gebaut
werden, da die Gegend bei Tage von den Russen eingesehen werden konnte.
Post gab es nur alle paar Tage. Wer sich nur das Geringste zuschulden kommen ließ,
musste im rückwärtigen Gelände mit Nachexerzieren rechnen. Drei Tage Arrest wurde damit
abgegolten, dass ein Soldat an drei Tagen jeweils für zwei Stunden mit dem Gesicht zum
Feind an einen Baum gefesselt wurde. Davon bin ich glücklicherweise verschont geblieben.
Ebenfalls im rückwärtigen Gelände unserer Stellung wurden die gefallenen Kameraden zur
letzten Ruhe bestattet. Während unseres siebenwöchigen Aufenthaltes wurden die Gräber
immer mehr. Sie wurden von Kameraden liebevoll geschmückt und gepflegt.
In den Blockhäusern war auch eine Kantine eingerichtet. In Abständen von einer Woche fuhr
ein Soldat vom Bataillonsstab nach Ostpreußen und kaufte Zusatzverpflegung ein. Es wurde
nur das gekauft, was noch ohne Lebensmittelmarken zu haben war, wie Margarine,
Kunsthonig, Marmelade und Süßigkeiten. Diese Dinge waren für uns auch schon sehr teuer,
denn mit unserer Tageslöhnung von dreiundfünfzig Pfennig konnte man nicht sehr viel davon
kaufen. Ich hatte sogar einmal das Glück, ein Glas Bier zu erhaschen.
10
Hohlgeschosse die mit Kugeln gefüllt wurden und dann durch einen speziellen Zünder kurz vor dem Aufschlag
explodierten. Dadurch hatten sie nicht nur die normale Splitterwirkung, sondern verschossen auch noch
hunderte von Kugeln. Eine Erfindung des Engländers Henry Shrapnel.
Seite 15
Einmal wurde unsere Gruppe zu einer vierundzwanzigstündigen Dorfwache zu dem Ort
Josefowo, ca. drei Kilometer hinter unserer Stellung, abkommandiert. Das Dorf war angefüllt
mit Artillerie und Tross11. Auch unser Tross lag hier. Im Waldgelände neben dem Ort
befanden sich auch die Stellungen unserer 21-cm Mörser12. Wache brauchte ich nicht zu
schieben, sondern musste mit einem Kameraden in der Nacht mehrmals um das Dorf
patrouillieren. Teilweise war die Zivilbevölkerung noch in ihren Häusern.
Während der Schützengrabenzeit hatten wir auch das Vergnügen, einer Theatervorstellung
beizuwohnen. Im rückwärtigen Gelände, etwa siebenhundert Meter vom Graben entfernt,
hatten andere Gruppen Erde zu einer Bühne aufgeschichtet. Die Kulissen waren aus
Strauchwerk. Eines Morgens war strenges Schießverbot, um die Russen nicht zu reizen.
Nachmittags konnte alles, was abkömmlich war, der Aufführung beiwohnen. Die
Schauspieler waren Angehörige unseres Bataillons. Dem Können nach, hatten die wohl
schon früher auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gestanden. Was die Spieler mit den
primitivsten Mitteln zustande brachten, war erstaunlich. Glücklicherweise hat der Feind die
Aufführung nicht gestört.
Die Verpflegung war nicht gerade üppig. Morgens und abends gab es Brot, dazu vielleicht
ein bisschen Marmelade, Schmalzersatz, Margarine oder ein Stück Wurst. Dazu gab es
lauwarmen Kaffee. Mittags gab es aus der Feldküche aufgewärmtes Essen, wie z. B. Reis,
Graupen und Erbsen. Die Schützengrabenzeit dauerte bis zum 05. Juli 1915. Wir mussten
dann die Stellungen räumen, die anschließend von alten Landstürmern besetzt wurden.
11
12
Wagenpark, der die Truppe mit Munition und Verpflegung versorgt
Geschütz mit einem kleinen Verhältnis zwischen Rohrlänge und Kaliber
Seite 16
8. Die neue Stellung
In der Dunkelheit traten wir den Marsch nach Kolno an. Derselbe war sehr beschwerlich.
Es ging zeitweise durch knöcheltiefen Sand und dichtes Buschwerk. Die Luft war sehr
schwül. Durch die aufgewirbelten Sandwolken konnte man kaum Luft bekommen. Außerdem
kam hinzu, dass wir den Marsch mit vollem Kriegsgepäck nicht mehr gewohnt waren.
Viele Kameraden machten schlapp. Ich habe noch mit letzter Kraft durchgehalten, war aber
am Ende meiner Kräfte.
In Kolno erhielt unsere Gruppe im Haus eines Juden Quartier. Ein Erlebnis besonderer Art
war, dass uns die Frau des Juden Pfannkuchen mit Streuzucker gebacken hatte.
Eine Delikatesse, die wir lange entbehrten. Natürlich mussten wir hierfür bezahlen.
Eines Tages begegnete ich zufällig auf der Straße Heinrich Möllmann aus Affendorf.
Die Freude des Wiedersehens war groß, zumal ich keine Kameraden aus der engeren
Heimat in der Kompanie hatte. In der Nacht vom 10. bis 11. Juli 1915 erfolgt der Abmarsch
nach Teurustel, einen kleinen Dorf westlich von Kolno. Übernachtet haben wir unter den aus
mitgeführten Zeltplanen und Stöcken errichteten Zelten. Am Nachmittag des 11. Juli 1915
konnten wir noch ein kühles Bad in dem Flüsschen Pissa nehmen, was uns wunderbar
erfrischte. Während wir noch am Baden waren, gab es Alarm. Nach Abbruch der Zelte stand
das Bataillon innerhalb kürzester Zeit wieder abmarschbereit, um eine neue Stellung zu
beziehen. In einem nahen Waldgelände hoben wir Gräben für unsere Unterkunft aus.
Am folgenden Tag, dem 12. Juli 1915 eröffnete man uns, dass am nächsten Tag das von
den Russen besetzte Dorf Kruska gestürmt werden sollte, wovon wir ungefähr sechshundert
Meter entfernt waren. Eiserne Schutzschilder wurden verteilt, um die eigenen Verluste zu
mindern. Doch waren dieselben in der Beweglichkeit sehr hinderlich und wurden daher kaum
eingesetzt. In der Frühe des 13. Juli 1915 begannen dann unsere Artillerie und Minenwerfer,
die
vor
dem
Dorf
verlaufenden
russischen
Gräben
sturmreif
zu
schießen.
Nach dem Beschuss trat das Regiment Königsberg 1 zum Sturm an und trieb die Russen
aus den Gräben. Da das gesteckte Ziel erreicht wurde, brauchten wir nicht mehr
einzugreifen. Leider hatte auch unsere Kompanie durch Schrapnell- und Granatfeuer
Verwundete zu beklagen.
Seite 17
In der folgenden Nacht sollte ein Trupp von acht Mann Handund Gewehrgranaten in die vorderste Kampflinie bringen.
Diese war auf einer Anhöhe hinter dem eroberten Dorf
Kruska. Es hieß: „Freiwillige vor“. Doch niemand meldete
sich. Dann nochmals: „Das Eiserne Kreuz ist zu verdienen!“
Keiner von unserer Gruppe trat vor. Daraufhin sagte unser
Gruppenführer, Unteroffizier Zier zu mir: „Mensch Gräpel,
melde du dich doch, du hast es doch auch noch nicht.“
Gut, sagte ich, ich gehe. Ein junger achtzehnjähriger
Ostpreuße schloss sich mir an.
Endlich waren acht Mann aus unserem Zug zusammen.
Eisernes Kreuz von
Johann Gräpel
Es war ein Himmelfahrtskommando. Wir nahmen die
Munition auf und rannten dreihundert Meter über freies Feld,
umsurrt von Geschossen. Der eroberte russische Schützengraben war unser Ziel. Selbiger
war an vielen Stellen zusammengeschossen, doch bot er noch einigermaßen Schutz vor den
explodierenden Granaten. Der Graben verlief parallel mit der Hauptstraße des Dorfes. Von
dem Dorf standen noch vier bis fünf Gebäude. Die übrigen fünfzig bis sechzig Gebäude
lagen in Schutt und Asche. Wir krochen und robbten uns über Leichen hinweg, um den
kämpfenden Kameraden die begehrte Munition zu bringen. Leider kamen wir nur mit vier
Mann an. Über das Schicksal der anderen vier ist nichts bekannt geworden. Die Anhöhe war
im Halbkreis von den Russen umschlossen und musste nach zwei Seiten verteidigt werden.
Nachdem unser Auftrag erfüllt war, machten wir uns wieder auf den Rückweg. Das feindliche
Feuer hatte inzwischen nachgelassen, nur vereinzelt gab es noch Einschläge. Bei
stockdunkler Nacht kam ich mit meinem jungen Kameraden in die Nähe unseres
Aufbruchortes. Die beiden anderen Kameraden waren von uns abgekommen. Wir fanden
eine Lücke im Stacheldrahtverhau und krochen durch. Die hohen Tannen verbreiteten eine
solche Finsternis, dass man keine Hand mehr vor Augen sah. Tastend rutschten wir auf den
Knien weiter. Auf einmal greife ich rechts auf einen Kopf und links auf Stiefel bzw. Füße. Auf
einmal wurde mir klar, dass ich in die Lücke der in zwei Reihen zusammengetragenen
zwanzig Toten gekrochen war, die am Tage zuvor gefallen waren und hier begraben werden
sollten. Nun aber schnell wieder zurück. Durch diesen Umstand hatten wir beide wieder
Orientierung und waren kurz darauf bei unseren schlafenden Kameraden. Es war
mittlerweile 02.00 Uhr. Ingesamt fünf Stunden hatte unser „Ausflug“ gedauert.
Seite 18
Der
Russe
hatte
sich
später
weiter
zurückgezogen
und
wir
folgten.
Am 17. Juli 1915 kamen wir wieder mit ihm in Berührung. In dieser Nacht hatte ich mit
meinem Gewehr Ladehemmung, das Schloss ging nicht mehr auf. Nur durch den Umstand,
dass ein Kamerad links von mir in der Schützenlinie tödlich getroffen wurde, konnte ich mit
dessen Gewehr weiterschiessen. An diesem Tage hatte die Kompanie über vierzig Mann
Verluste, davon dreizehn Tote. Am folgenden Tag gab der Feind auch diese Stellung auf und
zog sich weiter zurück. Wir rückten wieder nach. In den Tagen um den 20. Juli 1915 trafen
wir den Russen wieder in einer festen Stellung. An einem kleinen Abhang gruben wir uns ein
und warteten auf den Angriffsbefehl. Am Himmel stand der feindliche Fesselballon mit
seinem Beobachter, der das Feuer der Geschütze leitete. Es gab hauptsächlich Schrapnellund vereinzelt auch Granatfeuer. Auch unsere Artillerie belegte die feindlichen Gräben mit
Granaten und Schrapnell. Es war sehr traurig zu sehen, wie die Bewohner des nahe
liegenden Dorfes mit ihren Habseligkeiten aus dem Kampfbereich flüchteten. Auf einmal
sahen wir, wie die russische Infanterie weiße Tücher aus dem Graben hisste und das
Schießen einstellte, was dann auch von unserer Seite geschah. Bald kamen ganze Trupps
mit erhobenen Händen zu uns herübergelaufen und ergaben sich. Die Waffen hatten sie
schon vorher weggeworfen. Von allen Seiten strömten immer mehr auf uns zu. Zuletzt waren
es ca. achthundert Mann, heilfroh, dass für sie der Kampf zu Ende war. Zwei Gruppen
unseres Zuges wurden beordert, die Gefangenen vier Kilometer rückwärts zu bringen,
darunter auch ich. Ein langer russischer Unteroffizier fragte mich in gebrochenem Deutsch,
ob sie nach Döberitz kämen. Sein Schwager wäre auch schon dort. Ich konnte ihm natürlich
die gewünschte Auskunft nicht geben. Nach dem Marsch zur Etappe übernahm dann die
Kavallerie die Gefangenen zum Weitertransport.
Gegen Abend erreichten wir dann wieder unseren Truppenteil. Der Vormarsch ging am
folgenden Tag weiter. Gegen Abend kamen wir auf eine Anhöhe und hoben dort
Schützenlöcher aus und zogen die Zeltplane über unserem Kopf zusammen. Wasser zum
Waschen, Trinken und Kochen entnahmen wir einem schmutzigen Tümpel. Spät am Abend
kam noch Feldpost. Darunter war auch ein Brief für mich aus der Heimat. Ein Jugendfreund
teilte mir mit, wie sie sich in der Heimat vergnügten, unter anderem bei Musik und Tanz bei
Gastwirt Reineke in Gehlbergen. Kein Wunder, dass man eine Wut bekam. Wir trugen
unsere Haut zu Markte und daheim wurde gefeiert.
Seite 19
Nach weiterem Vormarsch kamen wir am 23. Juli 1915 in ein schweres Gefecht mit den
Russen. Mittags war Sturm auf die feindlichen Gräben angesetzt. Unsere Artillerie und
Minenwerfer entluden ihr Feuer auf die feindlichen Stellungen. Leider hatten letztere nicht
viel abbekommen, da die Einschläge viel zu kurz lagen. Bei unserem Vorwärtsstürmen
kamen wir nur bis vor den feindlichen Drahtverhau und sahen, dass derselbe nicht
zerschossen und somit ein Durchkommen unmöglich war. Hätten wir uns mit der
Drahtschere durcharbeiten sollen, wäre jeder einzelne von uns abgeschossen worden.
Mit vier Kameraden lag ich nun in einer
flachen Mulde in Deckung. Einer war schwer
verwundet worden und schrie erbärmlich. Helfen konnten wir nicht, sobald nur einer den
Kopf oder Arm hob, zischten schon die Kugeln. Artillerie und Minenwerfer konnten uns nicht
entlasten, da ihre Geschosse uns gefährdeten. So haben wir dann in der Tageshitze,
überlaufen von Ameisen bis zur Dämmerung dort gelegen. Nach Einbruch der Dunkelheit
haben wir uns dann unter Mitnahme der Toten und Verwundeten in unsere Ausgangsstellung
zurückgezogen.
Als
die
Kompanie
sich
sammelte,
waren
es
noch
ca. fünfundvierzig Mann. Wieder über vierzig Mann Verluste, darunter elf Tote. Verwundet
waren auch unser Kompaniechef sowie unser Zugführer. Am anderen Morgen erlebte unser
Bataillon noch einen furchtbaren Feuerüberfall, bei dem wieder Verluste zu beklagen waren.
Durch das unaufhörliche Krachen wurden wir ganz apathisch und es war einem alles egal.
Wir Überlebenden schlugen rückwärts im Wald unser Biwak auf. Teilweise lagen noch
unbeerdigte Tote umher und mancher Kamerad lag auch schon unter der Erde.
Am nächsten Morgen bekamen wir Ersatz, um die Lücken in der Kompanie aufzufüllen.
Der erlebte dann auch gleich seine Feuertaufe. In Grabennähe baute sich die Artillerie mit
drei Geschützen auf, um dann flink anzufeuern. Das konnte nicht gut ausgehen.
Der russische Fesselballon stand am Himmel und hatte Einsicht in die Geschützstellung.
Es dauerte nicht lange, da kam der russische Gegenschlag und entlud sich über unseren
Köpfen. Die Kanoniere gingen sofort in Deckung und ließen ihre Geschütze stehen. Auch wir
entfernten
uns
schnellstmöglich,
um
im
rückwärtigen
Wald
Schutz
zu
suchen.
Nach geraumer Zeit wurde es ruhiger. Wir gingen wieder in unsere alte Stellung und
begannen damit, den Graben tiefer zu graben, um bessere Deckung zu haben.
Seite 20
Am Abend des 26. Juli 1915 musste ich wieder auf Posten ins Vorgelände. Je zwei Mann
standen im Abstand von fünfzig Meter in einem Schützenloch. Der Feind schoss ziellos mit
Granaten und Schrapnell, so genanntes Streufeuer. Im Morgengrauen zogen wir uns in
unsere Gräben zurück, wo wir Deckung fanden und der Schlaf uns übermannte. Am
nächsten Morgen lieferten sich die Artillerien beidseits ein Duell. Die Einschläge der
feindlichen Granaten
lagen jedoch zweihundert bis dreihundert Meter hinter unseren
Stellungen. Leider schoss unsere Artillerie auch jetzt wieder zu kurz und gefährdete uns. Ein
Einschlag lag auf der Grabenböschung und brachte die Steilwand zum Abrutschen. Durch
diesen Umstand wurde ein Kamerad verschüttet. Wir haben ihn aber noch lebend aus den
Sandmassen herausgeschaufelt.
Seite 21
9. Die Verwundung
Während des Vormittages, es war der 27. Juli 1915, brannte die Sonne unbarmherzig nieder
und die Läuse machten sich am Körper bemerkbar. Da das Geschützfeuer nachließ, zog ich
kurzentschlossen mein Hemd über den Kopf und machte Jagd auf Läuse. Bei dieser
Beschäftigung erhielt ich plötzlich durch einen Granatsplitter einen Schlag auf den Kopf, der
eine tiefe Wunde und eine Verletzung der Schädeldecke verursachte. Ich wusste überhaupt
nicht, wie mir geschah und verlor zeitweise das Bewusstsein. Hätte ich den Kopf zwei
Zentimeter
höher
gehalten,
wäre
mir
der
Schädel
gespalten.
Der
Splitter
war
ca. fünfundzwanzig Zentimeter lang und sechs Zentimeter breit, dazu die Kanten
rasiermesserscharf. Es war wohl nicht von der Hand zu weisen, dass dies deutsche
Wertarbeit war.
Meine Kameraden und der herbeigerufene Sanitäter haben mich verbunden und durch die
mit Wasser gefüllten Laufgräben zum Verbandsplatz gebracht. Als erstes erhielt ich hier die
Tetanusspritze und wurde dann neu verbunden, da der erste Verband durchgeblutet war.
Gegen Abend erwachte ich aus der Bewusstlosigkeit. Rasende Kopfschmerzen stellen sich
ein. In der Dämmerung fuhren dann die Krankenwagen ihre traurige Last zum
Hauptverbandsplatz. Ich war nicht marschfähig, aber transportfähig und durfte daher neben
dem Kutscher auf dem Bock sitzen.
In einem Zelt bei Karbidlicht wurden die Verwundeten verarztet.
Zwei Ärzte walteten hier auf dem Hauptverbandsplatz ihres Amtes.
Die Schwerverwundeten wurden vorgezogen. Endlich kam ich an
die Reihe. Die Kopfwunde wurde gereinigt und erneut verbunden.
Das ging nicht ohne Schmerzen ab. Nachdem ich neu verbunden
war, suchte ich mir einen verlassenen Unterstand als Nachtquartier
aus. An Schlaf war jedoch wegen der quälenden Kopfschmerzen
nicht zu denken.
Verwundeten-Abzeichen
von Johann Gräpel
Seite 22
Am folgenden Tag fuhren uns Krümperwagen13 zur zwei Stunden entfernten Stadt Kolno.
Hier übernachteten wir und wurde am Tag darauf per Bahn über Johannisburg ins
Feldlazarett
Arys,
einem
Truppenübungsplatz
in
Ostpreußen/Masuren,
befördert.
Wir wurden in den Baracken untergebracht. An die eintausendfünfhundert Verwundete
befanden sich hier und täglich kamen neue hinzu. Das Essen und die Betreuung ließ viel zu
wünschen übrig. Man musste schon selbst darauf bedacht sein, dass die Wunden gereinigt
und neu verbunden wurden.
Am 18. August 1915 war
ich
einigermaßen
und
eine
geheilt
wurde
an
Genesungskompanie
überwiesen. Hier mussten wir
Kasernendienst
Mein
Aufenthalt
Kompanie
machen.
in
dieser
dauerte
zwei
Wochen.
Besitzzeugnis über das Verwundeten-Abzeichen
13
Lange Kutschwagen, die zur Heuernte eingesetzt wurden
Seite 23
10. Weiter gen Osten
Am
02.
September
1915
wurde
ich
zusammen
mit
etwa
fünfzig
Mann
zur
1. Kompanie des II. Ersatz-Bataillons Füsilier-Regiment 33 abkommandiert. Nach einer
mehrstündigen Bahnfahrt über Lyck, Korschen und Bartenstein trafen wir in Ponarth, einem
Vorort von Königsberg ein. Ein Barackenlager diente uns wieder als Unterkunft. Wir mussten
auch schon wieder etwas Dienst machen, um uns beweglich zu halten.
Nach der Masurenschlacht im Februar 1915 mussten die Russen die grenznahen besetzten
Städte, wie unter anderen Insterburg, Tilsit und Gumbinnen, wieder räumen. Infolge dessen,
konnten diese Orte wieder mit deutschen Ersatz-Truppenteilen belegt werden. Daher wurde
unsere Kompanie nach Insterburg verladen. Wir kamen dort in einem großen Saal unter.
Die Verpflegung war miserabel. Wie gut, dass die Pakete von zu Hause die Kost ergänzten.
Ich hoffte immer auf einen Erholungsurlaub, aber daraus wurde nichts. Einen Heiratsurlaub
konnte man unter Umständen bekommen, doch das war bei mir nicht drin.
Am 15. September 1915 wurden wir, die aus der Landwirtschaft stammenden Soldaten, zu
einer Wirtschaftskompanie zusammengestellt. Es wurde gemunkelt, dass wir auf den Gütern
in Ostpreußen zur Kartoffelernte eingesetzt würden. Aber es kam anders. Wir wurden wieder
feldmarschmäßig ausgerüstet und eines Abends mit der Bahn verfrachtet. Am anderen
Morgen befanden wir uns an der Grenzstation Laugszargen in der Nähe von Tilsit.
Hier endeten die Normalspurgleise. Eine kleine Feldbahn ging noch siebzig Kilometer weiter
ins Landesinnere. Zwei Tage lagen wir hier in einem Dorf an der Grenze zu Litauen.
Die Bewohner hatten aus Furcht vor den Russen ihre Häuser geräumt und waren noch nicht
zurückgekehrt.
Nun wurde unsere Kompanie in Marsch gesetzt, immer der Grenze folgend in nördlicher
Richtung. Zwanzig Kilometer war die Tagesleistung. Mehr konnte man von uns auch nicht
erwarten, da wir noch nicht wieder felddienstfähig waren und uns erst an die Ausrüstung und
den Marsch gewöhnen mussten. Übernachtet wurde in Schulen und Bürgerquartieren.
Endstation schien nach sechzig Kilometer das Litauische Städtchen Schwekstnau zu sein.
Es hieß, hier sollen wir als Straßenbaukompanie eingesetzt werden. Doch dem war wohl
nicht so. Tags darauf machten wir uns wieder auf die Socken, um in drei Tagesmärschen die
sechzig Kilometer zurückzumarschieren. Kurz vor dem Städtchen Tauroggen nahmen wir in
einer Scheune Nachtquartier. Zum Abendessen rodeten wir uns auf einem Feld Kartoffeln,
die wir anschließend kochten.
Seite 24
Zum Glück kam auch noch die Feldpost an, die für mich auch ein Päckchen dabei hatte.
In dem Päckchen fand ich unter anderem eine Dose Aziagurken. Hierzu habe ich mehr sehr
gefreut, da ich seit langem kein besseres Essen wie Pellkartoffeln und Gurken kannte.
Spender dieses Paketes war Familie Ramke aus Steinborn.
Am nächsten Tag marschierten wir durch Tauroggen. Diese Stadt war mir aus dem
Geschichtsunterricht der Schule bekannt:
Napoleon griff 1812 Russland an. Sein Feldzug führte bis nach Moskau. Der linke
Flügel der französischen Armee hatte die russischen Ostseeprovinzen zu besetzen.
Ihm gehörte auch ein Hilfskorps des besiegten Preußen unter dem General York von
Wartenburg an. Am Heiligen Abend 1812 feierten russische Truppen den Geburtstag
ihres Zaren in Tilsit, während rings um Tilsit rund 8000 preußische Soldaten des
französischen Hilfsheeres lagerten.
General York von Wartenburg beschloss in dieser Situation auf eigene Faust und
ohne Rücksprache mit seinem König, sich von den Franzosen zu trennen. Er
verhandelte am 30. Dezember 1812 in der Mühle des Dorfes Poscherunen bei
Tauroggen mit dem russischen General Diebitsch und traf eine Vereinbarung, die das
preußische Korps für neutral erklärte und seinen weiteren Einsatz von der
Entscheidung des preußischen Königs abhängig machte. Diese Konvention leitete die
Befreiung Preußens und damit den Beginn der Befreiung von der napoleonischen
Besatzung und den Untergang Napoleons ein.
Seite 25
Die
Stadt
war
einziger
ein
Trümmerhaufen,
ausgenommen
von
einigen
Häusern
und
den
kahlstehenden
Schornsteinen.
Nach einem Halbtagesmarsch
erreichten
wir
den
Ort
Erslewilki. Als Quartier wurde
uns
die Schule zugewiesen.
Eine
wir
Tauroggen
Woche
mit
verbrachten
süßem
Nichtstun.
Es hieß, dass unsere Kompanie
ein hier befindliches Wirtschaftskommando ablösen sollte. Dazu kam es aber nicht. Es gab
Reibereien und Schlägereien mit den hier befindlichen Soldaten in den Lokalen und
Teestuben (Mädchen). Der hier residierende Wirtschaftsführer erwirkte bei seiner
vorgesetzten Dienststelle, dass unsere Kompanie wieder in Marsch gesetzt wurde. Es ging
der Stadt Rossienie entgegen. Fünf Kilometer vor der Stadt kamen wir in einem Dorf unter.
Es war schon empfindlich kalt.
Anderntags
marschierten
wir
in
die
Stadt
ein.
Ich
schätze,
die
Stadt
hatte
ca. acht- bis zehntausend Einwohner. Kriegsschäden waren kaum zu sehen. Eine Schule
war wieder unser Quartier. Soldaten der Etappentruppen beherrschten die Strassen.
Es war freier Samstag. In den Lokalen und Bordellen herrschte ausgelassene Stimmung.
Kein Wunder, denn die Löhnung für zehn Tage wurde ausbezahlt, insgesamt fünf Mark und
dreißig Pfennig.
Abends
Da
schlenderte
entdeckten
wir
ich
mit
einen
zwei
Kameraden
Schlachterladen,
durch
dessen
die
Straßen
Inhaber
der
Stadt.
Deutscher
war.
Als Zusatzverpflegung haben wir uns dort Leberwurst gekauft, gar nicht mal teuer.
Gut ausgeruht hieß es am anderen Morgen wieder antreten zu einem Marsch über vierzig
Kilometer. Das Flüsschen Dubissa wurde überquert und das nach ihm benannte
Schlachtfeld. Vor vier Monaten hatten hier noch die Kämpfe getobt. Draht und Astverhaue
sowie unaufgeräumtes Kriegsgerät lagen umher. Am Weg liegende Soldatengräber zeugten
davon, dass der Sieg auch seinen Tribut forderte. Völlig übermüdet gelangten wir nach
achtstündigem Marsch abends zur Ortschaft Grinkischki.
Seite 26
Es war mittlerweile Sonntag, der 24. Oktober 1915. In der Nacht zum Montag hatte es
geschneit. Der Marsch zum sieben Kilometer entfernten Dorf Beisagola war daher
beschwerlich, aber nicht lang. Als wir dort ankamen, standen wir vor einem Schloss.
Ein solches Gebäude hatten wir hier nicht erwartet. Es war das Herrenhaus zu einem Gut
von dreiundzwanzigtausend Morgen14. Der Aufenthalt des Besitzers Komar war unbekannt.
Wie viele andere war auch er wohl vor uns Deutschen ins russische Landesinnere geflohen.
Ein Leutnant als Wirtschaftsoffizier der Deutschen Verwaltung für Litauen residierte hier und
wurde unser neuer Vorgesetzter.
14
10 Morgen entsprechen ca. 2,62 ha. 23.000 Morgen entsprechen somit 6.028 ha
Seite 27
11. Gut Antomir
Am anderen Tag wurde unsere Kompanie aufgeteilt in
Posten von zwei und drei Mann. Ich erhielt mit meinem
Kameraden Ernst Wetzki ein Gut und ein großes Dorf zur
Aufsicht. Quartier konnten wir dort nehmen, wo es uns
am vorteilhaftesten erschien. Wir wählten das Gut
Antomir, siebzehn Kilometer von Beisagola entfernt.
Pächter des Gutes war ein Herr Stenzel. Am Tage
unserer Ankunft war gerade die Beerdigung desselben.
Eine große Anzahl Trauergäste nahm daran teil. Der
Sarg wurde auf einen mit Tannenbäumen geschmückten
Erntewagen
gehoben
und
zur
letzten
Ruhestätte
gefahren. Der Verbliebene hinterließ seine Ehefrau
sowie drei Kinder. Zwei Töchter Mitte zwanzig und einen
Sohn von neun Jahren. Die älteste Tochter mit Namen
Ratschkowski war Ärztin und sprach fließend deutsch,
Ernst Wetzki
da sie zwei Jahre in Berlin Medizin studiert hatte. Der Aufenthaltsort ihres Mannes war
unbekannt. Eigentümer dieses Pachtgutes war ein Graf Chrapowitzki, dem auch das vier
Kilometer entfernte Gut Terespol zur Größe von achttausend Morgen gehörte. Gut Antomir
hatte eine Größe von eintausend Morgen. An lebendem Inventar waren dort sechsundfünfzig
Milchkühe und vierundvierzig Pferde mit entsprechendem Nachwuchs sowie einige
Schweine vorhanden.
Die schriftlichen Arbeiten besorgte ein Gutsschreiber. Ihm oblagen die Milchkontrolle der
Kühe, die Ausgabe der Deputate15 und anderes mehr. Er hatte das Gymnasium erst ein paar
Jahre hinter sich und sprach gut deutsch. Ein Verwalter oder Hofmeier stand dem ganzen
vor. Acht bis zehn Wohnhäuser für Arbeiter umsäumten das Gut, bewohnt mit je zwei
Familien. Vier Frauen besorgten das Melken. In der eigenen kleinen Meierei16 wurde die
Milch zu Butter verarbeitet. Abnehmer derselben waren unter anderem die deutschen
Offizierskasinos. Mein Kamerad und ich erhielten Butter und Milch ohne Bezahlung.
Wir waren ja auch an der Quelle, da unser Quartier über der Meierei lag.
15
Sachbezüge von Arbeitern
16
Anderes Wort für Molkerei
Seite 28
Alle drei Tage pilgerten wir in das drei Kilometer entfernte Dorf Dewendonie, welches uns zur
Aufsicht übertragen war. Uns war aufgetragen worden, den illegalen Handel mit Getreide zu
unterbinden und die Bauern zu veranlassen, dasselbe an die eingerichteten Sammelstellen
zu liefern. Weiterhin hatten wir die Bevölkerungszahl festzustellen, unterteilt in Erwachsene
und Kinder. Zu diesem Zweck mussten wir jedem Haus und jedem Hof einen Besuch
abstatten. Das Dorf hatte ungefähr sechzig bis siebzig Häuser und Höfe. Schwierig war
jedoch die Verständigung mit den Dorfbewohnern. Vom Gutsschreiber hatte ich mir die
Frage: „Guten Tag, wieviele Personen befinden sich in Ihrer Familie?“ ins litauische
übersetzen lassen. Dort heißt es: „Labadene, keck jussu ischiwisso ihra Ipatu?“. Damit war
mein Latein dann am Ende. Alles andere erfolgte durch Gesten und Zeigen. Wir zählten
insgesamt etwa fünfhundert Einwohner. Bei dieser Gelegenheit bekamen wir auch einen
Eindruck von den Wohnverhältnissen der Bevölkerung. Die Fußböden waren meistens aus
Lehm, selten aus Brettern. Als Fenster dienten kleine Butzenscheiben, die nicht viel
Tageslicht hereinließen. In manchen Wohnzimmern entdeckte ich auch Schweine und
Hühner sowie bei Tischlern und Stellmachern17 auch die entsprechenden Werkstätten.
Gute Raumluft war selten, meistens immer ein übler Mief. Man war froh, wenn man wieder
draußen war.
Es war auch sehr viel an Unterwürfigkeit zu spüren. Beim Streifegehen im Dorf empfing man
uns oft mit Handkuss, was mir zuwider war. Auf der Dorfstraße versuchten wir einmal, uns
mit drei bis vier Bauern zu unterhalten. Ein mit dem Schlitten vorbeikommender Gutsbesitzer
erkundigte sich in fließendem Deutsch nach unserem Begehr und betätigte sich daraufhin als
Dolmetscher. Er hob seine Hand aus seinem vermummten Pelz, wobei die Bauern kniefällig
hinzutraten, um diese zu küssen.
Einer Hochzeit wohnten wir auch bei. Ein junges Paar aus Arbeiterkreisen hatte uns
eingeladen. Es wurde nur ein kleiner Kreis eingeladen, da der Raum in dem Arbeiterhaus
sehr beengt war. Das junge Paar war noch sehr jung und konnte sich eine große Feier wohl
nicht
leisten.
Das
Festmahl
bestand
aus
gekochtem
Streifenspeck
und
Schwarzbrotschnitten. Für meinen Kameraden und mich hatte man Messer und Gabel
besorgt. Die anderen Gäste langten mit den bloßen Fingern hin, nicht gerade sehr
appetitlich. Zum Tanzen war nicht viel Platz. Nur drei bis vier Paare konnten sich drehen.
Anstandshalber war auch für kurze Zeit die Herrschaftsfamilie Stenzel zugegen. Kamerad
Wetzki und ich blieben der stickigen Luft halber auch nicht lange.
17
Lange Zeit wurden Pferdefuhrwerke vor allem aus Holz gefertigt. Spezialisiert auf die Holzbearbeitung waren
Stellmacher, während die Metallarbeiten, Federn, Radreifen und Ketten vom Schmied ausgeführt wurden.
Seite 29
Wir kamen später noch durch Zufall auf eine Hochzeit, die von der vorher beschriebenen
sehr abstach. Man holte uns zu einem fünf Kilometer entfernten Gut, damit wir dort gegen
einen Pferdediebstahl einschritten. Dort angekommen, hatte sich die Sache jedoch schon
geklärt. Eine Hochzeitsfeier war bereits im vollen Gang. Es war eine Land-Adel-Hochzeit,
also in gehobenen Kreisen. Wir wurden in den Festsaal gebeten. An der Längsseite war ein
kaltes Büffet aufgebaut und man nötigte uns zuzulangen, was wir auch nicht abschlugen.
Vier Musikanten machten richtige deutsche Blasmusik. Die Gastgeber baten uns auch zu
tanzen. Wir machten daraufhin Bekanntschaft mit zwei Mädels (Gymnasiastinnen), die wir
zum Tanze aufforderten. Die Musik blies einen Walzer. Daraus wurde ein Ehrentanz und alle
Gäste klatschten in die Hände. Der Morgen graute, als die Heimfahrt angetreten wurde.
Gäste hatten sich angeboten uns mitzunehmen, da ihr Rückweg an Gut Antomir
vorbeiführte.
Zum Weihnachtsfest 1915 besorgten mein Kamerad und ich uns einen Tannenbaum. Da wir
keinen Behang hatten, schnitten wir Zeitungsschnitzel aus und behängten damit die Zweige.
Kerzen
haben
wir
aus
verflüssigtem
Schafstalg
geformt
und
hiervon
sechs bis sieben Stück am Baum angebracht. Von der Kompanie erhielten wir eine große
Dose gekochten Schinken, einen halben Liter Rum und ein Paket mit grobem Kanaster18.
Von Zuhause erhielt ich auch ein schönes Päckchen. Unsere Quartierwirtin Frau Stenzel
bedachte uns mit zwei großen Semmeln und drei Pfund Butter. So konnten wir einen
gemütlichen Weihnachtsabend feiern.
Den ersten Feiertag waren der Gutsschreiber, mein Kamerad und ich bei einer
wohlhabenden Familie eines Gutsarbeiters zum Abendessen eingeladen. Zwei erwachsene
Mädel trugen auf, was Küche und Keller hergab. Auch die Unterhaltung kam nicht zu kurz.
Beide waren über unsere Lebensverhältnisse und über das Deutschtum sehr wissbegierig.
Die Verständigung erfolgt durch den Gutsschreiber. Es war spät geworden, als wir wieder
unser Nachtlager aufsuchten.
18
Tabak
Seite 30
Am folgenden Tag, den 26. Dezember 1915 mussten wir wegen einer ärztlichen
Untersuchung ins siebzehn Kilometer entfernte Beisagola fahren. Um 09.00 Uhr sollten wir
dort sein. Wir hatten die Zeit verschlafen und es war schon 08.00 Uhr. Nun haben wir in aller
Eile die Pferde vor den Schlitten gespannt und sind losgefahren. In der Nacht hatte es
geschneit und die hohen Schneeverwehungen erschwerten das Vorwärtskommen.
Nun, wir waren auch nicht die einzigen, die zu spät kamen. Infolge unserer langen Anfahrt
hatte der Kompaniechef mit uns ein Einsehen, während die in der Nähe stationierten
Soldaten
wegen
Unpünktlichkeit
Strafexerzieren
mussten.
Bei
der
anstehenden
Untersuchung wurde mein Kamerad Ernst Wetzki für k.v. (kriegsverwendungsfähig)
befunden, während ich als a.v. (arbeitsverwendungsfähig) eingestuft wurde.
Kurz
nach
Neujahr
Zwei
Wochen
später
verließ
mich
musste
ich
mein
Kamerad
auch
vom
Gut
mit
Tränen
Antomir
in
den
Abschied
Augen.
nehmen.
Ich wurde nach Beisagola, dem Sitz des Wirtschaftsoffiziers, beordert. Hier hatte man für
mich Verwendung für Dienstreisen nach Ostpreußen in die Städte Gumbinnen, Tilsit und
Insterburg. In der Zwischenzeit musste ich auch als Postordonanz öfter in die Stadt Schaulen
fahren. Ein Vergnügen war die Reiserei in den überfüllten Urlaubszügen nicht.
Bis zur deutschen Grenze waren es ca. zweihundertdreißig Kilometer, dann musste ich
einmal umsteigen und wurde jeweils an der Grenze in Eydkuhnen entlaust. Außerdem
fehlten mir die hiesigen Ortskenntnisse.
In der Zwischenzeit war die Familie Stenzel aus dem Gut Antomir beim Wirtschaftsoffizier
vorstellig geworden und hatte um meine Anwesenheit auf Gut Antomir gebeten. Diese Bitte
wurde genehmigt und ich habe dort noch sechs Wochen eine glückliche Zeit verlebt, da für
mein leibliches Wohl immer bestens gesorgt wurde und ich mit den Gutsleuten ein gutes
Verhältnis hatte.
Seite 31
12. Gut Pokiertynie I
Nach dieser Zeit hatte man
anderen Orts wieder neue
Aufgaben für mich, denn
inzwischen
war
die
Wirtschaftsverwaltung
von
Beisagola ins drei Kilometer
entfernte Gut Pokiertynie I
verlegt worden. Ich erhielt
dort nun die Aufsicht über
den
Ansicht des Gutes
großen
Beerengarten
Obstund
und
musste
mich um die Parkpflege kümmern. Je nach Arbeitsanfall erhielt ich Frauen und größere
Kinder zugeteilt.
Das gesamte anfallende Obst von einhundertsechzig tragenden Bäumen sowie die Beeren
von einer größeren Anzahl an Sträuchern wurden an
die Marmeladenfabrik in Kowno geliefert. Für das im
Küchengarten gezogene Gemüse gab ein gelernter
Gärtner (Gefreiter Kanter), der einer Fuhrparkkolonne
angehörte, die nötige Anweisung.
Ende Juni 1916 bekam ich den Auftrag, einen
Waggon Leinsamen dem Lager der Deutschen
Verwaltung für Litauen in Insterburg zu überbringen.
Die
Annahmestelle
war
dort
kaum
bekannt.
Nach vielen Irrungen konnte ich dieselbe endlich
ausfindig machen und meine Begleitpapiere abgeben
und
die
Empfangsbestätigung
erhalten.
Für die Rückfahrt war mir aufgegeben worden, einen
Waggon Schmiedeeisen jeglicher Art sowie zehn
Zentner
Johann Gräpel vor dem Eingang von Gut
Pokiertynie I
Nägel
aller
Größen
einzukaufen
und
zurückzubringen.
Seite 32
Nach Erledigung dieses Auftrages musste ich Ende August 1916 zusammen mit zwei
Kameraden einen Viehtransport von zweihundert Rindern und Schafen zum zweihundert
Kilometer entfernten Schlachthof nach Libau begleiten. Im Ostseehafen Libau herrschte viel
Betrieb, da hier ein Marinestützpunkt war. Die Stadt zur Größe von sechzigtausend
Einwohnern hatte durch und durch deutschen Charakter. Alles sprach deutsch; Gebäude,
Straßen und Brücken und Parkanlagen machten einen deutschen Eindruck, obwohl die
Grenze noch siebzig Kilometer entfernt war. Auch fuhr hier eine elektrische Straßenbahn.
Da es für die Reise fünfzehn Mark Zehrgeld gab, brauchten wir mit unseren Ausgaben nicht
knickerig zu sein. Auf der Rückreise hatten wir an einer Station einen mehrstündigen
Aufenthalt. In einem Soldatenheim entdeckte ich folgenden Wandspruch: „Grüß Gott tritt ein,
ein Heim soll’s sein, und nicht bedenke, eine wüste Schenke, benimm Dich genau als ob
Deine Frau hier schalte und walte, Du kennst Deine Alte! Eine sanfte Ermahnung!“.
Auf unserem Gut Pokiertynie I waren
zwanzig
kriegsgefangene
untergebracht,
die
Arbeiten
Bezirk
im
für
Russen
anfallende
beschäftigt
wurden. Einer von ihnen war ein
Jude mit Namen Katz. Da er gut
deutsch sprach, fungierte er als
Dolmetscher.
Gefangene Russen in Gut Pokiertynie I
Johann Gräpel bei der Bewachung
der gefangenen Russen
Seite 33
Ende September wurde das jüdische Neujahresfest19 gefeiert. Auf Anordnung der Deutschen
Verwaltung sollten die Gefangenen jüdischen Glaubens nach Möglichkeit daran teilnehmen.
Ich wurde nun beauftragt, mit
unserem Juden Katz ins sechzig Kilometer entfernte
Städtchen Janow zu fahren und ihm die Teilnahme an dem Fest zu ermöglichen. Abends
fuhren wir mit dem Zug dorthin. Nach unserer Ankunft in Janow lieferte ich meinen Juden in
dem dort befindlichen Gefangenenlager ab und war meiner Pflicht enthoben. Ich hatte nun
zwei Tage frei. Am anderen Morgen wurden die jüdischen Gefangenen, etwa fünfzehn bis
zwanzig an der Zahl, in drei Gruppen eingeteilt und je einem Posten übergeben.
Dieser zog nun mit seinen Mannen in die vorhandenen drei Synagogen der Stadt.
Ich schloss mich einem Trupp an und war neugierig, was sich in dem Tempel zutrug.
Dort angekommen standen zwei Vorbeter auf einem Podest und rollten unter lautem Gesang
die Thorarolle20 auf und ab. Bärtige Juden mit langem Kaftan und dem Käppi auf dem Kopf
saßen in den Bänken und neigten während des Litaneigesanges21 im stetigen Rhythmus den
Kopf sowie den Oberkörper vornüber und wieder zurück. Die Kinder taten sich dabei
besonders hervor. Es war ein Radau, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. In
den anderen Synagogen war der gleiche Rummel. Nach zwei Tagen war die Fastenzeit
vorbei und es fing ein großes Feiern und Schmausen an. Ich wurde auch dazu eingeladen,
lehnte jedoch dankend ab. Spät abends traten wir dann wieder die Rückreise an. Ich war um
ein Erlebnis reicher und mein Jude Katz war auch zufrieden.
Da die Arbeit in den Gärten abnahm, übertrug man mir den Verkauf der Eisenwaren, Öl und
Schmierstoffe an die Einheimischen. Auch was auf unsere herrenlosen Gütern benötigt
wurde, gelangte durch mich zur Ausgabe. Während der Kartoffelernte stand ich eine Woche
auf dem Bahnhof, um die von den Bauern abgelieferten Kartoffeln abzunehmen.
19
Das jüdische Neujahrsfest „Rosch ha Schana“ dauert zwei Tage. Es zählt zu den höchsten jüdischen
Feiertagen. Der Gottesdienst wird durch umfangreiche Gebete erweitert. Symbol des Festes ist das Schofar,
das Widderhorn, das während des Gottesdienstes in der Synagoge mehrmals geblasen wird.
In dieser Zeit wird sehr wenig gegessen. Der Neujahrswunsch "Einen guten Rutsch" ist eine Abwandlung des
Wortes "Rosch" und hat mit Rutschen nichts zu tun.
20
Große Rolle aus Pergament, auf der die fünf Bücher Mose in hebräischen Buchstaben (ohne Vokale) von Hand
aufgeschrieben sind. In Gottesdiensten, vor allem am Sabbat, aber auch an Feiertagen wird aus dieser
Thorarolle "gelesen". Im allgemeinen wird der Text dabei nicht gesprochen, sondern gesungen.
21
Litaneien gehören zum Urbestand religiöser Ausdrucksformen. Dabei wird auf die Anrufungen eines Vorbeters
(zum Beispiel "Du Trösterin der Betrübten") von allen Anwesenden mit einem gleich bleibenden Antwortruf
(zum Beispiel "Bitte für uns") geantwortet.
Seite 34
Bei klarem Mondenschein überflog eines Abends ein Zeppelin-Luftschiff unsere Gegend.
Das erlebten wir hier zum ersten Mal. Gut sichtbar zog es in majestätischer Ruhe gen
Dünaburg zur einhundert Kilometer entfernten Front, um dort seine Bombenlast abzuwerfen.
Unsere Frontkameraden werden darüber wohl Genugtuung empfunden haben.
Ein Zwischenspiel ergab sich
noch
mit
Georg
dem
Klein,
unserer
Wehrmann
der
auch
Wirtschaftskompanie
angehörte und mit dem ich mir
ein
Zimmer
teilen
musste.
Georg Klein war verheiratet und
hatte zwei Kinder. In Berlin
betrieb er einen Seifen- und
Unterkunft im Gut Pokiertynie I
links Johann Gräpel, rechts Georg Klein
Parfümerie-Laden. Im Umgang
war er ein windiger Bursche
und
schmuste
gerne.
Die
meisten Vorgesetzten nahmen ihm dies jedoch übel und bedachten ihn daher nicht mit
Vertrauensposten.
Seite 35
13. Die Zeit in der Schreibstube
Zusammen mit zwei Kameraden erhielten wir im Oktober 1916 den Auftrag, unseren
Tagesablauf vom Wecken bis zum Schlafengehen als Niederschrift zu erläutern.
Jede Verrichtung sollte ausführlich beschrieben werden. Mir war klar, dass dies eine
besondere Bedeutung haben musste. Meine Vermutung bestätigte sich auch. Der auf dem
Bezirksbüro beschäftigte Feldwebel musste wegen Erreichung der Altersgrenze von
fünfundvierzig Jahren aus dem Heeresdienst entlassen werden. Man brauchte also eine
Ersatzkraft, daher der Test. Nach bestem Können fertigte ich meine Niederschrift und gab
sie ab. Nach ein paar Tagen wurde mir eröffnet, über meine Reise nach Janow zu berichten
und meine Eindrücke schriftlich darzulegen. Dies war wohl ein weiterer Test. Meine beiden
Kameraden waren nicht aufgefordert worden, eine weitere Niederschrift anzufertigen.
Nach bestem Wissen erledigte ich auch diese Aufgabe.
Kurz darauf beorderte man mich auf das Büro. Dort waren außer unserem Chef noch zwei
mir unbekannte Offiziere anwesend. Ich sah, dass beide meinen letzten Bericht in den
Händen hielten. Nun musste ich den beiden über mein Allgemeinwissen Rede und Antwort
stehen. All das musste wohl zu deren Zufriedenheit ausgefallen sein, denn nun eröffnete mir
unser Leutnant und Wirtschaftsoffizier Fähser, dass ich ab sofort auf das Büro käme.
Meine neue Unterkunft verlegte ich nun in ein Zimmer neben dem Büro, welches ich mir mit
dem anderen Schreiber, Kamerad Große, teilen musste. Er war von Beruf Landwirt und
stammte aus Thüringen, war Reservist und einige Jahre älter als ich. Hauptsächlich
bearbeitete er das Kassen- und Buchungswesen, während mir der Papierkram über die
Verladung und Veräußerung von Getreide, Stroh und Vieh an die Magazine und
Schlachthöfe an der Front und in den Städten übertragen wurde. Außerdem musste die
stattgefundene Verladung von der Wirtschaftsabteilung dem Kreisamt sowie den
Empfängern telegraphisch bzw. telefonisch gemeldet werden. Bei den mangelhaften
Verbindungen beanspruchte dies oft viel Zeit. Ich habe meine anderen Kameraden oft
beneidet, wenn sie ihre abendliche Ruhe genossen haben.
Nach sieben Wochen Zusammenarbeit erhielt mein Kamerad Große den Rückruf seines
Regiments. Schade, wir haben uns gut verstanden. Ich erhielt nun seinen Posten und wurde
von ihm in die Tätigkeit eingeweiht. Er fuhr erst einige Tage in Urlaub und kam dann an die
Front. An meinem neuen Arbeitsplatz gab es auch erst viele Probleme, mit denen ich mich
abfinden musste. Mein Chef sprang aber oft mit ein, so dass ich über die Runden kam.
Seite 36
Um die Weihnachtszeit 1916 erhielt auch er von seinem Regiment die Order, wieder
zurückzukehren. Leutnant Fähser ging auch erstmal einige Tage auf Urlaub. Er war Pächter
der Domäne Neugolmkau, Post Karschau, Bezirk Elbing / Westpreußen. Auf seiner Fahrt zur
Front schrieb er mir noch eine Karte mit folgendem Inhalt: „Lieber Johann, hier schneit es
wie toll, die Schlitten jagen, heute geht es in den Graben, beste Grüße Gerhard Fähser“.
Ob er wohl den Krieg überlebt hat?
Im Frühjahr 1917 erhielt ich vierzehn Tage Heimaturlaub. Ich wählte dann die Zeit zwischen
den monatlichen Kassenabschlüssen. Die verbleibende dringende Arbeit musste dann von
meinem auf dem Büro tätigen Mitarbeiter verrichtet werden. In der Heimat fand man nicht
mehr so recht Anschluss, da die Altersgenossen ja auch Kriegsdienst leisteten. Ich fühlte
mich daher vereinsamt. Abschiedswehmut empfand ich kaum, als der Urlaub zu Ende ging.
Ich war froh, als ich wieder in meinem Wirkungskreis im Osten war.
Der neue Wirtschaftsoffizier Leutnant Kröber war Pächter des Rittergutes Waltersdorf bei
Neumühle an der Elster, nähe Greiz im Voigtland. Er war vierzig Jahre alt und Junggeselle.
Wir waren erstmal skeptisch, wie der sich wohl zu uns stellte. Er musste ja auch erstmal mit
uns Fühlung nehmen und sich orientieren. Doch mit der Zeit spielte sich alles gut ein.
Um das Schriftliche kümmerte er sich weniger, nahm kaum einen Blick in die Bücher und war
froh, wenn
bei den von Zeit zu Zeit stattfindenden Revisionen die Kasse stimmte.
Leutnant Kröber war mehr praktischer Landwirt und hielt die Soldaten, die als Verwalter der
herrenlosen Güter unseres Bezirks fungierten, in Schwung.
Die
Arbeit
im
Büro
konnte
ich
allein
mittlerweile
nicht
mehr
schaffen.
Ich musste zehn Kassenbücher und das Viehdepotbuch führen. Neben der Routinearbeit
mussten noch zusätzlich statistische Erhebungen angefordert, erledigt und gemeldet
werden. Weiterhin wurde von uns die Rationierung der Bevölkerung vorgenommen.
Es wurden Listen erstellt, was jeder zu säen und später abzuliefern hatte. Mir wurde daher
Kamerad Kielmann als Helfer zugeteilt. Er kam aus Berlin und war von Beruf Portier.
Seite 37
Nach einiger Zeit musste sich mein
Helfer
Kielmann
Seine
Stelle
Steineke
von
nahm
ein,
mir
trennen.
nun
Kamerad
von
Beruf
Straßenbahnfahrer in Berlin. Doch der
bleib nicht lange, aufgrund seiner guten
Kochkenntnisse
unserer
wurde
er
Koch
Mannschaftsküche.
Nachfolger,
Hans
in
Dessen
Düssel,
kaufmännischer Angestellter aus dem
Rheinland, kam von einer EtappenFuhrpark-Kolonne und blieb ein viertel
Jahr
bis
seine
Einheit
ihn
wieder
anforderte.
Im
Frühjahr
1917
Gebietseinteilung.
kam
Das
eine
neue
Kreisamt
in
Beisagola zog in die vierzig Kilometer
entfernte Stadt Schaulen.
Auszug „Gesamt-Ablieferungen aus der
Ernte 1917“ vom 01. Juli 1917 bis 30. Juni 1918
Wir wurden
als 5. Wirtschaftsbezirk dem MilitärKreisamt
Kiejdany
eingegliedert.
Am 17. Februar 1917 verlegten wir nun unser Büro nach Schloss Beisagola und nahmen
Abschied vom Gut Pokiertynie I. Gut drei Monate später, am 24. Mai 1917, hatte der
Regimentsstab des 2. Badischen Dragoner Regiment 21 sich auch das Schloss Beisagola
als Standquartier erkoren. Zwei Drittel des Schlosses nebst Wirtschaftsgebäuden nahmen
die Dragoner unter Beschlag. Das Kommando gliederte sich in einen Oberst, einen
Rittmeister,
drei
Leutnants
sowie
den
Veterinär
und
den
Zahlmeister.
Dreißig
Mannschaftsdienstgrade kamen noch dazu. Heimatgarnision war Bruchsal in Baden. Das
Regiment rekrutierte sich meist mit Süddeutschen. Die Schwadronen22 lagen aufgeteilt in
den größeren Orten Litauens. Es kam nun Leben in unsere Idylle, ein immer anhaltendes
Kommen und Gehen. Des öfteren kam auch die Regimentskapelle und blies flotte und
besinnliche Weisen, für Musikfreunde ein Hochgenuss. Den Veterinär und unseren Leutnant
Kröber verband bald eine dicke Freundschaft. Beide waren einem guten Tropfen nicht
abgeneigt und daher kam der Schlaf oft zu kurz.
22
berittene Truppen mit relativ schwere Bewaffnung
Seite 38
Ende
Mai
Stabsarzt
1917
zur
sämtlicher
auf
Ich
k.v.
kam
ein
Untersuchung
Mannschaften
Felddienstfähigkeit.
wurde
wieder
für
(kriegsverwendungsfähig)
befunden.
Der
anwesende
Wirtschaftsbeirat,
Rittmeister
von Prittwitz, Rittergutsbesitzer
aus Schlesien, protestierte und
sagte: „Ja, wer soll denn hier die
Kasse führen!“. Dem pflichtete
mein Leutnant bei. Daraufhin
Schloss Beisagola
sagte der Stabsarzt: „Meine
Herren, sowas Gesundes finden Sie in Deutschland nicht mehr“. Er konnte mich somit nicht
zurückstufen.
Nach Beendigung der Untersuchung eröffnete unser Leutnant Kröber mir, dass man bei der
Kompanie für mich und noch zwei andere Kameraden einen Antrag auf u.k. (unabkömmlich)
stellen wollte. Dieser wurde dann auch bewilligt. Nach der Front hatte ich auch kein
Verlangen mehr, ich hatte die Nase noch voll.
Kreishauptmann unseres Kreises war ein Rittmeister Dryander, ein Neffe von Ernst Hermann
von Dryander23. Ich hörte, wie er mal so beiläufig erwähnte, dass er an des Kaisers
Hofjagden teilgenommen habe. Sein Onkel hatte dazu eine Einladungskarte erhalten, sie
aus Pietätsgründen jedoch nicht benutzt und selbige ihm geschenkt. Als Fachmann für die
Landwirtschaft war der zuvor erwähnte Wirtschaftsbeirat, Rittmeister von Prittwitz, dem
Kreishauptmann zur Seite gestellt. Ihm waren auch die fünf Wirtschaftsoffiziere des Kreises
unterstellt.
Unteroffizier
Werber
(Gerichtsassessor)
war
Leiter
seiner
Dienststelle.
Ihm unterstanden der Gefreite Naumann, Sachbearbeiter für Lieferung und Versand,
Gefreiter Thide, Geld und Finanzwesen, Unteroffizier Jakubeit, Molkereiangelegenheiten und
Unteroffizier Stein regelte die Bedürfnisse der im Kreis tätigen Wirtschaftssoldaten mit der
Kompanie, wie z. B. Löhnung, Bekleidung und Urlaub. Sitz der Wirtschaftskompanie war in
der vierzig Kilometer entfernten Stadt Ponewesch. Den Kompaniechef und den Spieß habe
ich nie kennengelernt, da diese für unseren Arbeitsbereich nicht zuständig waren.
23
Ernst Hermann von Dryander wird 1843 als Sohn eines Konsistorialrats und Oberpfarrers in Halle an der Saale
geboren. Der evangelische Pfarrer lebte ab 1882 ständig in Berlin und wurde 1898 (letzter) kaiserlicher
Oberhof- und Domprediger.
Seite 39
Nach der Eroberung von Estland musste der Wirtschaftsbeirat, Rittmeister von Prittwitz, uns
verlassen, um dort den Aufbau der Wirtschaftsverwaltung einzuleiten. Sein Nachfolger,
Hauptmann Bartenstein, war nicht so beliebt. Bevor Rittmeister von Prittwitz Abschied nahm,
gab er noch einen Bierabend mit Imbiss aus. Eingeladen waren der Kreishauptmann
Rittmeister Dryander, die fünf Wirtschaftsoffiziere mit ihren Schreibern, das Personal seiner
Wirtschaftsabteilung, sowie ca. achtzehn Verwalter der herrenlosen Güter im Kreis. In seiner
Tischrede hob er hervor, dass die Wirtschaftsbezirke gute Aufbauarbeit geleistet hätten.
Weiterhin sprach er jedem seine Anerkennung aus. Man sah ihm an, dass er schweren
Herzens von uns ging.
Jeden Donnerstag mussten die Verwalter der herrenlosen Güter auf dem Büro erscheinen.
Es wurde dann mit dem Chef alles besprochen, was Anbau, Saat, Ernte, Viehwirtschaft und
Ablieferung der Erzeugnisse betraf. Am Sonnabend jeder Woche waren die Bürgermeister
der Ortschaften unseres Bezirks geladen. Ihnen wurden dann die Verfügungen bekannt
gegeben, was sie an Abgaben und Lieferungen zu leisten hatten. Durch unerwartetes
Erscheinen auf den Gütern verschaffte der Chef sich Klarheit über die Einhaltung seiner
Anordnungen.
Mittwochs und sonnabends hatte ich Kassenstunden. Die Bauern konnten dann Ihr Geld für
die abgelieferten Erzeugnisse in Empfang nehmen. Somit hatte ich viel Kontakt zu der
Bevölkerung. Es kamen auch Härtefälle vor, bei denen die Einheimischen die geforderten
Leistungen nicht erbringen konnten. Oft kam dann der katholische Pfarrer und betätigte sich
als Fürsprecher. Pfarrer Bietis war ein jovialer24 Herr und betrieb mit einer Haushälterin und
einem Arbeiter Landwirtschaft. Er lud mich einmal zu einem Abendessen ein.
Ich
ließ
mir
das
nicht
zweimal
sagen
und
besuchte
ihn
eines
Abends.
Das aufgetragene Essen war nicht gerade fein, denn es gab reichlich Dickmilch und dazu
aßen wir Schwarzbrot. Das war alles. Den Abend verbrachten wir dann in angeregter
Unterhaltung. Pfarrer Bietis sprach fließend deutsch und war an allen Ereignissen in
Deutschland sehr interessiert. Er war auch von allen Abgaben befreit und konnte über seine
Erträge frei verfügen, wohl auch um kirchliche Bedürfnisse zu bestreiten.
24
betont wohlwollend
Seite 40
Leutnant Kröber war nicht nur Wirtschafts-Offizier, sondern auch noch Amtsvorsteher.
Die Grenzen des Amtsbezirkes deckten sich mit denen des Wirtschaftsbezirks. Die Arbeit
eines Amtsvorstehers bestand vorwiegend im Einzug von Steuern, Reisegenehmigungen,
schulischen und gesundheitlichen Belangen und anderer Sachen. In anderen Bezirken
waren damit vielfach Beamte betraut, die keinen Frontdienst mehr leisten konnten
beziehungsweise ehemalige Verwundete, Referendare etc. Bei uns versah diese Arbeit ein
Dr. Erich Singer. Er war achtundzwanzig Jahre alt und bei einer Berliner Firma als
Rechtsberater tätig gewesen. Kamerad Singer war alles andere, nur kein Soldat. Ich glaube,
er
konnte
kein
Gewehr
auseinandernehmen.
Nun,
er
kam
auch
von
einem
Armierungsbataillon, dem sogenannten „Schipp, Schipp, Hurra“. Außerdem war er Jude und
wurde von uns anderen Kameraden als feiner Pinkel bezeichnet. In seinem Arbeitsbereich
kannte er sich jedoch besser aus als Leutnant Kröber. Singer studierte in seiner Freizeit
eifrig russisch, um die Sprache zu beherrschen. Die Umgangssprache in der Bevölkerung
war jedoch polnisch bzw. litauisch. Ich konnte mich auf polnisch ganz gut verständigen,
litauisch lag mir nicht.
An zwei Tagen in der Woche kam auch Frau Salpeter, Ehefrau des Verwalters vom
herrenlosen Gut Syrotischki, zum Dolmetschen. Die Familie stammte aus Kurland und alle
Familienmitglieder sprachen fließend deutsch. Meistens wurde Frau Salpeter aber von
Dr. Singer beansprucht.
Im Juni 1917 war unser Leutnant Kröber des Junggesellenlebens satt. Er wollte heiraten und
nahm sich daher Urlaub zur Kriegstrauung. Zu diesem Anlass habe ich ein schönes
Glückwunschschreiben
aufgesetzt
und
ihm
zugesandt.
Alle
Kameraden
haben
unterschrieben. Wie er mir gestand, ist er darüber sichtlich erfreut gewesen und dankte auch
im Namen seiner Gattin. In der Folgezeit fuhr Leutnant Kröber dann jeden Monat nach
Königsberg, um sich dort mit seiner Frau zu treffen. Für ihn war es eine vierhundert
Kilometer lange Anreise, während seine Frau neunhundert Kilometer Anreiseweg hatte. Viele
Umstände, um zwei Nächte das junge Eheglück zu genießen.
Am 15. September 1917 wurde ich zum Gefreiten befördert. Nun war ich auf der ersten Stufe
der militärischen Rangleiter angekommen.
Nun wurde mir im Herbst 1917 Hans Urban zugeteilt, kaufmännischer Angestellter aus
Breslau. Er kam von unserer Kompanie. Mit Kamerad Urban, zwei Jahre älter als ich,
dauerte die Zusammenarbeit ein dreiviertel Jahr. Dann musste er zum Feldrekruten-Bataillon
einrücken.
Seite 41
Weihnachten 1917 waren Kamerad Singer und ich zur Familie Salpeter nach Gut Syrotischki
eingeladen. Wir sollten dort den ersten Weihnachtstag verleben. Um die zehn Kilometer
Entfernung zu überwinden, war uns ein Schlitten geschickt worden. Wir kamen dort gegen
Mittag an. Das Festmahl bestand unter anderem aus Gänsebraten. Man nötigte uns,
ordentlich zuzulangen, was wir uns nicht zweimal sagen ließen. Das war doch mal eine
Abwechslung im Gegensatz zur Militärkost. Außer Singer und mir waren noch zwei
Kameraden älteren Jahrgangs eingeladen. Sie kamen aus einer anderen Formation.
Dem Benehmen nach, schienen sie aus besseren Kreisen zu stammen. In der Wohndiele
stand ein großer geschmückter Tannenbaum. Nachdem die Lichter angezündet wurden,
stellten wir uns im Kreise der Familie rund um den Baum und sangen die schönen deutschen
Weihnachtslieder.
Auch
Singer,
obwohl
Jude,
machte
keine
Ausnahme.
In der Familie Salpeter waren alle evangelisch. Der Abend wurde mit allerlei Kurzweil
verbracht, Pfänderspielen25 und dergleichen. Die Nacht über verblieben wir dort.
Am Vormittag des zweiten Weihnachtstages traten wir wieder mit dem Schlitten die
Heimreise nach Beisagola an. Eine schöne Erinnerung, die man nie vergisst.
Anfang Juli 1918 mussten die felddienstfähigen Kameraden, außer uns u.k. gestellten zum
Feldrekruten-Regiment einrücken. Als Ersatz erhielten wir ältere Landsturmmänner26.
Da dieselben in ihren Aufgabenbereich erst eingewiesen werden mussten, erforderte dies
viel zusätzliche Arbeit. Auch der bei mir beschäftigte Kamerad Hans Urban wurde
angefordert. Ein Sohn der vorhin erwähnten Familie Salpeter wurde mir nun als Hilfe
zugeteilt. Er hieß auch Hans, war achtzehn Jahre alt und ging aufs Gymnasium. Er war mir
eine große Hilfe, da er fünf Sprachen, russisch, polnisch, litauisch, lettisch und deutsch
beherrschte. Seine Schwester Selma war Lehrerin und fünfundzwanzig Jahre alt. Außer den
vorgenannten Sprachen
war sie auch noch des französischen und englischen mächtig.
Sohn Karl, zweiundzwanzig Jahre alt, und Tochter Helene, siebzehn Jahre alt,
vervollständigten die Familie. Karl wurde als Verwalter des Vorwerkes Butschunie des Gutes
Beisagola beschäftigt.
25
Als Ausgangsbasis dieses Spiels mussten Verse oder Dialoge frei wiedergegeben, gesprochen oder
gesungen, werden. Machte ein Mitspieler einen Fehler, was häufig bzw. fast immer der Fall war, musste ein
Pfand gegeben werden.
26
Im Wehrgesetz des Kaiserreichs besteht eine Landsturmpflicht für alle männlichen Bürger vom 17. bis 45.
Lebensjahr. Nach dem Wehrdienst erfolgte die Überstellung in die Reserve, danach Landwehr, danach
Landsturm. Nach der Verfassung des Kaiserreichs sollte der Landsturm nur dann mobilisiert werden, wenn der
Feind im eigenen Land steht.
Seite 42
Von einem jungen Brautpaar auf unserem
Gut Beisagola wurde ich nebst meinen
Kameraden
Josef
Glotz
gebeten,
Trauzeuge bei ihrer Hochzeit zu sein.
Aus
Neugierde
habe
ich
zugesagt.
Die Trauung wurde in der katholischen
Kirche nach dem Gottesdienst vollzogen.
Uns beiden war je eine Partnerin zugeteilt.
Zwei hübsche Mädchen, die sich in Bezug
auf Aussehen und Kleidung gut mit den
deutschen messen konnten. Außer uns
fungierten noch zwei weitere Paare als
Trauzeugen. In einem Lokal unweit der
Kirche versammelten wir uns mit den
übrigen Hochzeitsgästen. Danach ging es
im geschlossenen Zug zum Gotteshaus,
wo uns ein junger Priester empfing.
Geschmückt waren wir Männer mit einer
Vordere Reihe v. l. n. r.
Leutnant Brassem, Sergeant Eichhorn
Seidenschleife
Hintere Reihe v. l. n. r.
Gefreiter Gräpel, Gefreiter Glotz
während
auf
unsere
der
linken
Brust,
Partnerinnen
eine
Schärpe trugen. Von der Traurede habe
ich nicht viel verstanden, da sie in litauisch
gehalten wurde. Die Ringe wurden genauso wie bei uns gewechselt. Nur wenn das
Brautpaar sich die Hand gab, schlang der Pfarrer seine Schärpe um die Handgelenke. Am
Schluss der Trauung empfingen wir kniend den Segen und mussten das Kruzifix küssen. Bei
mir zögerte der Priester, da er sich nicht sicher war, ob ich katholisch oder protestantisch sei.
Ich habe aber brav mitgeküsst. Nach der Trauung versammelten wir uns wieder im Lokal zur
üppigen Hochzeitstafel. Den Wein hatten mein Kamerad und ich gestiftet. Nach Beendigung
des Festmahls ging es zur Schule, wo die Musik zum Tanze aufspielte. Die Feier dauerte bis
tief in die Nacht. Man war wieder um ein Erlebnis reicher.
Seite 43
14. Revolution
Die Nachrichten von den Kriegsschauplätzen waren nicht rosig. Die Übermacht der
Amerikaner mit ihrem Kriegsgerät machte sich bemerkbar. Das deutsche Heer konnte dem
Ansturm
der
Feinde
im
Westen
nicht
standhalten.
In
Deutschland
herrschte
Lebensmittelknappheit, Sabotage und Munitionsstreik. Am 29. Oktober 1918 verweigerten
Matrosen der Hochseeflotte in Kiel und Wilhelmshaven den Gehorsam, um ihr Leben bei
einem letzten "ehrenvollen" Gefecht gegen britische Verbände nicht aufs Spiel zu setzen.
Wie ein Flächenbrand weitete sich der Matrosenaufstand innerhalb weniger Tage über
Deutschland aus, bis schließlich am 09. November 1918 der Kaiser abdankte und nach
Holland ins Exil ging.
In vielen Truppenteilen wurden nun die Offiziere abgesetzt und Soldatenräte gewählt.
Die Zügellosigkeit feierte Triumphe. Bei uns in der Verwaltung blieb alles beim alten,
während den Offizieren des Regiments-Stabes des 2. Badischen Dragoner Regiment 21 der
Befehl verweigert wurde. Am Abend vorher war ich noch mit mehreren Dragonern in der
Telefonzentrale und lauschte den neuesten Nachrichten. Dann kam durch, dass die
4. Eskadron des 2. Badischen Dragoner Regiment 21 in Kowno einen Soldatenrat gewählt
hatte. Selbige lagen zerstreut in den größeren Orten Litauens. Für alle Anwesenden war dies
völlig unverständlich. Diese Ansicht änderte sich am anderen Morgen schlagartig.
Einige Dragoner waren zu einem Maschinengewehr-Kursus in Wilna abkommandiert worden
und meldeten sich nun zurück. Die Kokarde27 an ihren Mützen waren entfernt worden,
stattdessen flatterten an deren Stellen rote Bänder. Von Disziplin war nun keine Spur mehr.
Die Dragoner wiegelten nun die Mannschaften beim Stabe auf und so war auch hier die
Revolution im vollen Gange. Die Offiziere mussten sich im Regimentsgeschäftszimmer
versammeln. Dort wurden ihnen ihre Sünden vorgehalten, die sie gegenüber ihren
Untergebenen begangen hatten. Sie wurden alle für abgesetzt erklärt, bis auf einen jungen
Leutnant. Selbiger übernahm nun das Regiments-Kommando. Ihm zur Seite stand als
Soldatenrat der Telefonist Gefreiter Glinzer. Der Regimentskommandeur, ein Oberstleutnant,
hatte Glinzer noch gebeten, man möchte ihm doch seine Ehre als Regimentskommandeur
lassen. Doch dem wurde nicht entsprochen.
27
Rundes Abzeichen
Seite 44
Mit der Zeit kamen aber wieder geregelte Verhältnisse. Dazu trug auch der Aufruf von
Feldmarschall Hindenburg bei, der besagte, jeder sollte auf seinem Posten bleiben, damit
eine geregelte Rückführung aller Truppen gewährleistet sei. Das 2. Badische Dragoner
Regiment 21 wurde nun zur Bewachung der Bahnlinien eingesetzt.
Seite 45
15. Der Rückzug
Die baltischen Provinzen Litauen, Lettland und Estland sagten sich von Russland los und
bildeten eigene Regierungen und Staatsgebilde. Auch bei uns in Litauen taten sich Kreisund Ortskomitees auf, die nach unserem Abzug die Verwaltung übernehmen wollten.
Mit der Zeit kehrten auch die Besitzer bzw. deren Bevollmächtigte der von uns verwalteten
Güter zurück. Es musste nun die Rückgabe eingeleitet werden. Zu diesem Zweck wurde auf
dem Militär-Kreisamt eine Konferenz anberaumt, an der der Kreishauptmann, der
Wirtschaftsbeirat, die fünf Wirtschaftsoffiziere mit ihren Schreibern, nunmehr Sekretäre
genannt, sowie einige Verwalter und Sachbearbeiter der Wirtschaftsabteilung zugegen
waren. Es wurde lang und breit debattiert, nach welchen Richtlinien die Rückgabe der Güter
erfolgen sollte. Es wurde sich darauf geeinigt, dass die Wirtschaftsoffiziere mit den
ehemaligen Eigentümern nach eigenem Ermessen verhandeln und ein Übereinkommen
erzielen sollten. Dazu musste erst nachgeforscht werden, was seitens der Verwaltung auf
den Gütern an Vieh und Vorräten vorhanden gewesen war und was in dieser Zeit neu
angeschafft wurde. Vieles musste in Bausch und Bogen geschätzt werden, da nur
lückenhafte Aufzeichnungen vorhanden waren. Alsdann wurde der Geldwert festgelegt.
Gleichfalls wurde mit den Besitzern verhandelt, was sie an Vieh und Ernteerzeugnisse
übernehmen wollten. Der Differenzbetrag fiel dann meistens zu ihren Gunsten aus, da sie an
den Naturalien nicht interessiert waren und deshalb lieber den Geldbetrag nahmen.
In anders gelagerten Fällen hatte die Deutsche Verwaltung auch Forderungen an die Güter,
wenn bei der Übernahme Vorräte nicht vorhanden waren oder wenn Maschinen,
Gerätschaften etc. durch uns angeschafft wurden. Leider waren diese Besitzer oft nicht
zahlungsfähig, so dass die Anschaffungen wieder zurückgenommen wurden und später zur
Versteigerung kamen.
An den Besitzer des Gutes Terespol, den Grafen Chrapowitzki, musste ich einen
Differenzbetrag von rund vierundvierzigtausend Reichsmark zahlen. Er war ein sehr nobler
Mann, sprach fließend deutsch und gab mir einen namhaften Betrag für meine Mühe.
An
den
Bevollmächtigten
des
Gutes
Beisagola
einen
solchen
von
rund
dreiundvierzigtausend Reichsmark. Bei den übrigen fünf Gütern hatte keine Seite
nennenswerte Forderungen.
Seite 46
Kurz vor Weihnachten setzten wir eine große Versteigerung an. Die Bauern unseres Bezirks
konnten das von ihnen angekaufte Vieh wieder zurückkaufen, da wir keine Lieferungen für
den Heeresbedarf mehr hatten. Mehrere hundert Kauflustige hatten sich hierzu eingefunden.
Außer dem Vieh kamen auch die aus Deutschland bezogenen Maschinen, soweit sie von
den
Gutsbesitzern
nicht
übernommen
wurden,
zum
Verkauf.
Die Versteigerung erbrachte einen Erlös von rund einhunderttausend Reichsmark.
In der Buchführung wurde nach Mark und Pfennig gerechnet, die Aus- und Einzahlungen
erfolgten durch Rubel und Kopeken28. Das Kursverhältnis war zwei Rubel gleich eine Mark.
Ende 1916 verschwand das russische Geld, stattdessen kam für die eroberten Ostgebiete
das von Posen aus in Umlauf gebrachte so genannte Oberostgeld, auch in der
Währungseinheit Rubel und Kopeken. Daneben lief auch noch die deutsche Währung,
jedoch nur geringfügig. Die Reichsmark war damals noch vollwertiges Zahlungsmittel im
Vergleich zum Währungsverfall in den kommenden Jahren. Als Vergleich mag dienen, dass
das von uns aufgekaufte Getreide je nach Reinigungsgrad der Zentner mit drei bis sieben
Mark bewertet wurde. Rinder und Kühe kosteten im Durchschnitt etwa einhundert bis
zweihundert Mark, waren von Natur aber auch nur klein.
28
Russische Währung, ein Rubel entspricht einhundert Kopeken.
Seite 47
Auszug aus einem Übergabeprotokoll
Seite 48
Weihnachten 1918 habe ich mit meinen Kameraden Glotz und Singer im Kreise der Familie
Salpeter gefeiert und zwar im Vorwerk Butschunie, welches von dem Sohn Karl verwaltet
wurde. Die Familie Salpeter musste schon vor Monaten das Gut Syrotischki räumen, da der
Eigentümer, Rechtsanwalt Sorotschin, das Gut in die eigene Verwaltung übernahm. In den
Tagen
vor
Neujahr
hatten
wir
dann
auch
wieder
eine
kleine
Hochzeitsfeier.
Unser Kamerad August Eichhorn wollte noch schnell seine Haushälterin Auguste ehelichen.
Eichhorn war Wirtschaftsverwalter des Gutes Pokiertynie II. Da beide evangelisch waren,
mussten sie sich in der vierzig Kilometer entfernten Stadt Ponewsch trauen lassen.
Ob die Ehe nun in Deutschland für gültig erklärt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Bei
unserem Abzug war seine Frau auch mit dabei. Beide waren nicht mehr jung, so Mitte
dreißig. Zur Hochzeitstafel im kleinen Kreise waren nur unser Chef, Leutnant Kröger,
Kamerad Glotz und ich eingeladen. Es wurde ein schmackhaftes Essen aufgetragen.
Da beide Neuvermählten von der langen Reise ermüdet waren, zog sich die Feier ohne
Musik und Tanz nicht lange hin.
Seite 49
16. Die letzen Tage
Am Donnerstag, den 02. Januar 1919, erhielten wir in der Frühe plötzlich den
Abmarschbefehl und hatten Beisagola zu räumen. Noch am selben Tag sollten wir auf dem
Militärkreisamt in Kieydany erscheinen. Nun hieß es schnell packen und sortieren. Alles was
an Papier und Akten nicht unbedingt nötig war, wurde verbrannt. Unsere verbliebenen
Utensilien
verluden
sowie
wir
auf
die
Verwaltungsakten
drei
Schlitten,
unter
anderem auch meinen großen eisernen
Geldkoffer
mit
den
einhunderttausend
Reichsmark
Auktionserlös. Zum Abschied schossen wir
noch
eine
Gewehrsalve
in
den
Winterhimmel. Mit etwas Wehmut verließen
wir Beisagola, da wir hier gut eindreiviertel
Jahr
gewirkt
hatten.
Nun
begann
die
Schlittenfahrt nach Kieydany. Es war schon
dunkel, als wir auf Schloss Kieydany, dem
Sitz des Kreisamtes ankamen. Hier trafen
wir auch die Kameraden aus den anderen
Bezirken.
Entlausungsschein
Wir wurden zunächst entlaust und konnten
dann im Schloss übernachten. Unsere drei Kutscher konnten am Abend mit ihren Schlitten
noch den Heimweg antreten. Aufgrund des Übergabeprotokolls habe ich hier noch die
dreiundvierzigtausend Reichsmark an den Bevollmächtigten des Gutes Beisagola gezahlt,
da der Eigentümer Komar noch nicht wieder zurückgekommen war.
Am anderen Morgen stand ein Transportzug bereit, um uns aufzunehmen. Das gesamte
Militärkreisamt sowie unsere Wirtschaftsabteilung kamen mit allem Drum und Dran im Zug
unter. Auch andere Formationen stiegen hinzu. Personenwagen schienen Mangelware zu
sein, denn wir mussten mit geschlossenen Güterwagen vorlieb nehmen. Gegen die Kälte
hatte man uns kleine Öfchen hineingestellt, doch die spendeten wenig Wärme.
Seite 50
Am 04. Januar 1919 begann dann unser Zug zu rollen. Bis zu unserem Demobilmachungsort
in Insterburg / Ostpreußen waren es zweihundertfünfzig Kilometer. Bei Eydkuhnen ging es
über die Grenze. Nun hatte uns Deutschland wieder. Noch am selben Tage trafen wir in
Insterburg ein und kamen in einem Hotel unter. Die ganze Stadt war voll von Militär, welches
hier abgerüstet wurde. Ich musste mit meinem Bürokram mit einer Dachkammer vorlieb
nehmen. Außer Singer und mir erhielten die anderen Kameraden unseres und der anderen
vier Bezirke ihre Entlassungspapiere sowie fünfzehn Mark Marschgeld, fünfzig Mark
Entlassungsgeld sowie die noch ausstehende Löhnung. Noch am selben Tag konnten sie in
die Heimat reisen. Wir Schreiber und die Sachbearbeiter der Wirtschaftsabteilung mussten
noch dableiben, um das noch zu erledigende Schreibpensum aufzuarbeiten. Es galt, die
Kassenabrechnung zu erstellen, die Gutsbücher abzuschließen und noch vieles mehr zu
erledigen. Da Kamerad Singer seine Arbeit schon eher abgeschlossen hatte, war er mir bei
meiner Arbeit noch behilflich, so dass ich baldigst damit fertig wurde. Am Montag, den
06. Januar 1919, hatte ich alles zur Übergabe bereit, um es bei der Abwicklungsstelle
(frühere Wirtschaftsabteilung) abzuliefern.
Gleichzeitig übergab ich auch die Kasse mit etwa siebenundfünfzigtausend Reichsmark.
Ich
hatte
nun
keine
Verantwortung
mehr.
Mein
Gewehr
sowie
die
anderen
Ausrüstungsgegenstände gab ich ab. Uniform und Mantel erhielt ich zum Eigentum.
Die restliche Löhnung, fünfzig Mark Entlassungsgeld, fünfzehn Mark Marschgeld sowie der
Heimat-Fahrschein wurden mir ausgehändigt. Nun war ich wieder ein freier Zivilist.
Am Abend des 06. Januar 1919 setzte ich mich abends in den Zug nach Berlin, desgleichen
mein ehemaliger Chef Leutnant Kröger und einige meiner Kameraden.
Im Laufe des nächsten Vormittages lief der Zug in den Schlesischen Bahnhof in Berlin ein.
Hier trennten sich unsere Wege. Kröber fuhr Richtung Leipzig, während Singer in Berlin
verblieb. Ich wartete nun auf eine Fahrgelegenheit nach Hannover, weil mich ein längerer
Aufenthalt in Berlin nicht reizte, da hier Spartakus den Aufstand probte. Junge Bengels in
Zivil mit umgehängten Gewehr und Lauf nach unten, patrouillierten auf dem Bahngelände
und bewachten die Brücken. Das Bahnpersonal nahm von alledem keine Notiz. Der Verkehr
rollte einigermaßen. Im Morgengrauen des 08. Januar 1919 stand ich auf dem Bahnhof in
Hannover und am Nachmittag des gleichen Tages kletterte ich mit meinem Koffer aus dem
Personenwagen der Kleinbahn in Asendorf. Insgesamt vier Jahre auf Tag und Datum hatte
mich der erste Weltkrieg festgehalten.
Seite 51
Anhang
Seite 52
A. Weitere Auszeichnungen von Johann Gräpel
1. Die Kriegsdenkmünze 1914/18 des Kyffhäuser-Bundes
Kriegsdenkmünze 1914/18 des Kyffhäuser-Bundes
mit Besitzzeugnis
Der Krieg war zu Ende. Millionen von Soldaten hatten für Volk und Vaterland gekämpft.
Sie alle wollten eine kleine Anerkennung, einen Dank für den persönlichen Einsatz.
Oft wurde die Bitte nach einem "Kriegserinnerungsorden" an die Reichsregierung gestellt,
doch in den politischen Wirren der Nachkriegszeit hatte dieses Ansinnen keinen Platz.
Da von Seiten der Regierung nichts geschah, mussten die Deutschen LandeskriegerVerbände, die sich im Kyffhäuser-Bund organisiert hatten, eigene Wege gehen.
Am 19. Juni 1921 wurde auf der Vertreter-Versammlung des Kyffhäuser-Bundes mit
Genehmigung des zuständigen Reichsministers die Stiftung einer Denkmünze für
Kriegsteilnehmer 1914/1918 beschlossen. Die Stiftungsurkunde unterzeichneten der
Generalfeldmarschall von Hindenburg und der Vorstand des Kyffhäuser-Bundes.
Seite 53
Der Preis der Denkmünze einschließlich Band und Besitzzeugnis sollte zehn Mark betragen.
Die Bezahlung musste mit der Antragstellung erfolgen. Die Nachfrage nach der Denkmünze
durch die Landesverbände war so groß, dass der Kyffhäuser-Bund mit der Beschaffung und
Lieferung
nicht
nachkam.
Sehr
schnell
steigende
Herstellungskosten
führten
im
Dezember 1922 dazu, dass der Kyffhäuser-Bund die Verleihung der Denkmünze vorläufig
einstellte. Die Denkmünze für Kriegsteilnehmer wurde bis Anfang 1934 verliehen und dann
eingestellt.
Seite 54
2. Ehrenkreuz für Frontkämpfer
Ehrenkreuz für Frontkämpfer mit Besitzzeugnis
Mit Verordnung vom 13. Juli 1934 stiftete der Reichspräsident Generalfeldmarschall
Paul von Hindenburg zur Erinnerung an die unvergänglichen Leistungen des deutschen
Volkes
im Weltkrieg 1914 - 1918 ein Ehrenkreuz für alle Kriegsteilnehmer und
Kriegshinterbliebenen. Das Ehrenkreuz wurde in drei Formen gestiftet:
•
für Frontkämpfer
•
für andere Kriegsteilnehmer und
•
für Witwen und Eltern gefallener, verschollener oder an den Folgen von Verwundung
oder in der Kriegsgefangenschaft gestorbener Kriegsteilnehmer.
Kriegsteilnehmer in diesem Sinne waren alle Reichsdeutschen, die in dem Zeitraum vom
01. August 1914 bis zum 31. Dezember 1918 auf deutscher Seite oder auf der Seite der
Verbündeten Kriegsdienst geleistet hatten. Als Frontkämpfer hingegen galt jeder
Reichsdeutsche, der innerhalb des vorgenannten Zeitraums bei der kämpfenden Truppe an
einem Gefecht, einem Stellungskampf, einer Schlacht oder an einer Belagerung
teilgenommen hatte. Hierfür waren die Einträge in die Kriegsstammrolle oder die
Kriegsrangliste ausschlaggebend.
Seite 55
Reichsdeutsche in diesem Sinne waren auch die Kriegsteilnehmer, die aufgrund der
Bestimmungen des Versailler Vertrages ihre Reichsangehörigkeit verloren hatten. Hitler und
die Nationalsozialisten versuchten zunächst zu verhindern, dass das Ehrenkreuz auch an
Juden ausgehändigt wurde. Hindenburg setzte sich jedoch durch und ließ keine Ausnahmen
zu.
Als
Witwen
wurden
die
Frauen
anerkannt,
deren
Ehen
vor
dem
31. Dezember 1918 geschlossen wurden, auch wenn sie bereits wiederverheiratet waren.
Zu den Eltern zählten auch Stief- und Adoptiveltern. Alle durch unmittelbare oder mittelbare
Einwirkung von Kampfmitteln entstandenen äußeren und inneren Verletzungen galten im
Sinne der Verordnung als Verwundung. Von den Eltern war zunächst der Vater
trageberechtigt. Im Falle seines Todes durfte das Ehrenkreuz von der Mutter getragen
werden.
Die Form des Ehrenkreuzes ist an die Rückseite der Kriegsdenkmünze 1870/71 angelehnt.
Das am 06. Juli 1934 vorgelegte Muster stammte von dem Ordens-Juwelier Eugene Godet
in Berlin. Das Ehrenkreuz für Frontkämpfer trägt einen Lorbeerkranz und zwei Schwerter.
Das Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer trägt stattdessen einen Eichenlaubkranz und verfügt
über keine Schwerter. Beide Kreuze sind bronzefarben und werden an einem schwarzen,
zweimal weißen und in der Mitte rot durchzogenen Band getragen. Das Ehrenkreuz für
Hinterbliebene gleicht dem für Kriegsteilnehmer, ist jedoch schwarz. Es wird an einem
weißen, zweimal schwarz und in der Mitte rot durchzogenem Band getragen. Auch konnte es
als Miniatur oder als Knopflochschleife getragen werden. Die allgemeinen Verleihungen
waren bis zum September 1943 abgeschlossen.
Das Ehrenkreuz wurde in seinen Formen millionenfach verliehen. Schätzungen gehen von
bis zu zehn Millionen produzierten Stücken aus, darunter auch Zweitstücke, Museums- und
Ausstellungsstücke. Dr. Heinrich Doehle29 gibt 1944 für das Frontkämpferehrenkreuz über
sechs Millionen Verleihungen an (bis zum 15. November 1936). Für das Ehrenkreuz für
Kriegsteilnehmer kommt Herr Dr. Doehle auf eine Zahl von über eine Million und für das
Ehrenkreuz für Hinterbliebene auf eine Zahl von über siebenhunderttausend Verleihungen.
Aufgrund der hohen Stückzahl war eine Vielzahl von Firmen mit der Herstellung beauftragt,
so dass es in Material und Abmessung zu Abweichungen kam.
29
Unterstaatssekretär Dr. Heinrich Doehle war der Leiter der Ordenskanzlei des Führers und Reichskanzlers
Adolf Hitler.
Seite 56
B. Weitere Unterlagen
1. Militärpass
Seite 57
2. Soldbuch
Seite 58
C. Die Geschichte Litauens
1. Die Anfänge
Der Fürst Mindaugas, der sich taufen und im Jahr 1253 zum
König krönen ließ, galt als Gründer des litauischen Staates.
Gediminas (1316-1341) verlegte 1323 die Hauptstadt von
Trakai nach Wilna (heutiges Vilnius), deswegen wurde
Gediminas
als
Gruender
der
Stadt
Vilnius
bezeichnet.
1385 kam es zum Vertrag von Kreva, in dem sich Großfürst
Jogaila (Enkel von Gediminas) verpflichtete, sein Land der
Wappen von Litauen
Krone Polens auf ewig anzugliedern und sein Volk taufen zu
lassen. Vytautas (1392-1420) ist der einzige litauische
Herrscher, der den Beinamen "der Große" erhielt. In seiner Regierungszeit erreichte das
Großfürstentum seine größte Ausdehnung von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.
Vytautas größte militärische Leistung war der Sieg über den Deutschen Orden in der
Schlacht bei Tannenberg im Jahre 1410. Damit war der jahrhundertelange Kampf der Litauer
gegen die Truppen der Deutschen Ritterorden aus Preußen und Livland30 zu Ende. Die
Grenzen nach Norden und Süden wurden nun endgültig befestigt. Die Grenze mit
Ostpreußen hatte bis 1918 unverändert Bestand.
In den sich an den Tod Vytautas und Jogailas (1434) anschließenden Nachfolgekämpfen
konnte der polnische Adel seinen Einfluss nach und nach vergrößern, so dass Litauen ab
dem 16. Jahrhundert praktisch zu einem Teil Polens wurde. Festgeschrieben wurde die
polnische Vorherrschaft in der Lubliner Union von 1569, die das polnisch-litauische
Staatswesen real integrierte. In den folgenden gut zweihundert Jahren verlor Litauen
kontinuierlich an Bedeutung und wurde eine der Provinzen Polens, alle relevanten
Entscheidungen fielen in Krakau und Warschau. Es war aber eines der Zentren jüdischer
Kultur in Osteuropa mit eigenen Schulen, einer großen Bibliothek und zahlreichen
Bibelschulen.
30
Livland war die regionale Bezeichnung eines Territoriums, das Teile des heutigen Lettland und einen
erheblichen Teil des Südens des heutigen Estland umfasst.
Seite 59
Im den Jahren 1772, 1793 und 1795 wurde die litauisch-polnische Nation drei Mal von
Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt. Mit der dritten und endgültigen Teilung Polens
1795 hörte Litauen zunächst auf zu existieren und das Gebiet wurde in mehrere russische
Verwaltungseinheiten aufgeteilt. Eine gesamtlitauische Verwaltungseinheit existierte nicht.
Litauen stand nun einhundertzwanzig Jahre lang unter der Herrschaft des russischen
Zarenreiches.
Im 19. Jahrhundert verstärkten sich - wie überall in Europa - auch in Litauen die nationalen
Bewegungen und es erschienen erstmals Bücher auf litauisch. Als Vater litauischer Literatur
gilt Kristijonas Donelaitis (1713-1780), der in den Jahren 1765-1775 sein Epos
"Jahreszeiten" (litauisch: Metai) schuf. Er lebte und wirkte in Kleinlitauen (Mažoji Lietuva,
nördliches Ostpreußen), wo die litauische Bevölkerungsmehrheit in gewissem Rahmen ihre
Kultur und Sprache pflegen konnte.
2. Der Erste Weltkrieg
Im Jahr 1915 nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs besetzten kaiserlich-deutsche
Truppen Litauen. Da die zurückweichenden Russen ihre gesamte Verwaltung abgezogen
hatten, waren die Deutschen gezwungen, eigene Behörden sowie ein Gerichts-, Schul-,
Gesundheits- und Verkehrswesen aufzubauen. Gleichzeitig wurde Litauen aus der Wirtschaft
des Zarenreiches ausgelöst und auf die Bedürfnisse der deutschen Kriegswirtschaft
ausgerichtet. Damit war eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung eines selbständigen
litauischen Staates geschaffen.
Von Beginn an war das Land Objekt der unterschiedlichen deutschen politischen
Zielsetzungen. Die Bevölkerung litt unter der Besatzungsmacht, die die Ressourcen des
Landes ausplünderte, Männer in Arbeitsbataillone zwang und obligatorisch bereits in der
Grundschule den Deutschunterricht einführte. Am 15. März 1915 wurde die Litauische
Militärverwaltung
gegründet,
die
in
die
Struktur
der
Verwaltung
Oberost
(von Deutschland besetztes Territorium im Osten) einging.
Am 30. Mai 1917 erteilte der Oberbefehlshaber Ost die Erlaubnis, einen Vertrauensrat im
Land zu bilden. Die Befugnisse dieses Vertrauensrates waren jedoch nie klar umrissen.
Er
war
als
Hilfsorgan
für
die
deutsche
Militärverwaltung
gedacht.
Vom 18. bis zum 22. September 1917 fand mit der Zustimmung der deutschen
Militärverwaltung die Vilniusser Konferenz statt, deren Teilnehmer Beschlüsse über die
Seite 60
Zukunft Litauens fassten und den Litauischen Rat wählten, in dem die Militärs allerdings
nicht mehr als einen Erfüllungsgehilfen der eigenen Pläne und ein williges Instrument sahen.
3. Die Unabhängigkeitserklärung - Die erste Republik
Am 11. Dezember 1917 wurde die Wiederherstellung eines unabhängigen litauischen
Staates mit der Hauptstadt Vilnius verkündet und am 16. Februar 1918 erfolgte die
eigentliche Unabhängigkeitserklärung, wobei die endgültigen Grenzen erst mit dem
Friedensvertrag mit Russland 1920 festgelegt wurden.
Die junge Republik konnte sich jedoch nicht gegen die Ansprüche Polens auf die Gebiete
rund um Wilna wehren, die von Truppen des polnischen Generals Pilsudski am
09. Oktober 1920 besetzt worden waren. Die polnische Annexion wurde vom Völkerbund de
facto anerkannt. So wurde Kaunas zur vorübergehenden Hauptstadt Litauens. Ihrerseits
annektierten die Litauer 1923 das Memelgebiet31, dass seit dem Ende des Ersten Weltkriegs
vom Völkerbund verwaltet worden war. 1924 wurde diese Annexion von den vorherigen
Schutzmächten anerkannt.
Am 12. Juli 1920 endete der Kriegszustand mit dem litauisch-sowjetrussischen
Friedensvertrag, in dem Sowjetrussland für alle Zeiten auf seine Souveränitätsrechte über
das litauische Volk und sein Land verzichtete, Litauens Unabhängigkeit anerkannte und
seinen Anspruch auf Vilnius bekräftigte.
Die Zeit der ersten Republik bedeutete einen großen Aufschwung in der litauischen Kultur
und Bildung. Zentrum war Kaunas, während die eigentliche Hauptstadt Vilinius unter
polnischer Herrschaft zu einer Provinzstadt herab sank. Trotz vieler Probleme war Litauen
bis zum Zweiten Weltkrieg ein aufstrebendes Agrarland, das Fleisch, Schinken, Butter,
Getreide, Flachs und Geflügel nach Westeuropa exportierte. Mit der Agrarreform vom
März 1922 war die Grundlage für die Entstehung mittlerer landwirtschaftlicher Betriebe
geschaffen worden, die sich allmählich von Getreideanbau auf Viehwirtschaft umstellten. Die
Industrieproduktion blieb unbedeutend. Der 1922 eingeführte Litas zählte zu den stabilsten
Währungen der Zwischenkriegszeit.
31
nördlichster Teil Ostpreußens, rund um die Stadt Memel, heute Klaipėda
Seite 61
In Litauen übernahm Antanas Smetona 1927 die Macht und löste das Parlament auf.
Mehrmals kam es zu gewaltsamen Revolten gegen seine Herrschaft. Als Bauernunruhen im
Sommer 1935 das Land erschütterten, verbot die Regierung die anderen Parteien. Seit 1936
waren die Minderheiten im Parlament nicht mehr vertreten, die Vereins- und Pressefreiheit
wurde zunehmend beschnitten. Die Verfassung von 1938 schrieb die Macht des Präsidenten
weiter fest und sicherte dem Staat eine Vormachtstellung in der Wirtschaft. Damit war
Litauen ein autoritärer Einparteienstaat geworden. Im Vergleich zu anderen Regimen dieser
Jahre war das litauische Präsidialregime verhältnismäßig mild.
Im Vorzeichen des Zweiten Weltkrieges musste sich Litauen am 22. März 1939 dem
deutschen Druck beugen und nach einem Ultimatum das Memelgebiet wieder an
Deutschland zurückgeben. Am 23. August 1939 hatten Hitler und Stalin sich in ihrem
Nichtangriffspakt
Zusatzprotokoll
über
die
wurden
vierte
Estland
Teilung
und
Polens
Lettland
geeinigt.
der
In
sowjetischen
seinem
geheimen
Interessensphäre
zugeschlagen. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Litauen erklärte
zusammen mit Estland und Lettland seine strikte Neutralität. Am 28. September 1939 erhielt
Stalin im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag auch noch Litauen.
4. Der Zweite Weltkrieg
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begann die Sowjetunion in Übereinstimmung mit
den Abmachungen des Hitler-Stalin-Paktes, in denen das Baltikum als sowjetisches
Interessengebiet festgelegt worden war, ihren Druck auf Litauen zu verstärken.
Am 15. Juni 1940 besetzte die Rote Armee32 unter einem Vorwand ganz Litauen. Das von
Polen besetzte Gebiet rund um Wilna hatte sie bereits 1939 besetzt. Gezielt wurden der
Sowjetunion gewogene Politiker in den höchsten Staatsämtern der Republik Litauen lanciert
(Präsident
Antanas
Smetona
war
im
Juni
1940
zurückgetreten),
die
Litauen
am 18. Juli 1940 zur Sozialistischen Republik erklärten und um Aufnahme in
die Sowjetunion ersuchten. Dem wurde am 03. August 1940 "stattgegeben". Diese
Annektierung Litauens wurde von den meisten westlichen Staaten nie anerkannt.
32
Bezeichnung für die Streitkräfte sozialistischer Republiken.
Seite 62
Die kommenden zwölf Monate bis zum Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion im
Juni 1941 brachten einen Vorgeschmack auf die kommunistische Nachkriegszeit: Ersatz der
Polizei durch Arbeitermiliz, Verbot aller bürgerlichen Parteien und Organisationen,
Eingliederung der litauischen Armee als 29. Territorialkorps in die 3. Rote Armee,
Enteignung und Verstaatlichung von Industrie, Handel und Banken, Abwertung und Ersatz
des Litas durch den Rubel, Beschlagnahme von Privathäusern, Abschaffung der
traditionellen Feiertage, Verstaatlichung aller Privatschulen, Gründung von Atheistischen
Brigaden zum Kampf gegen die Gläubigen, Entfernung von Priestern aus dem Schul- und
Armeedienst, Import von Funktionären aus der Sowjetunion Auch wurden insbesondere
Intellektuelle und "bürgerliche Elemente" interniert und nach Sibirien geschickt; viele von
ihnen kehrten nicht zurück. Als Folge dieser Maßnahmen ging der Lebensstandard
schlagartig zurück, Lebensmittel wurden knapp.
5. Die deutsche Besetzung
Mit dem deutschen Blitzkrieg im Osten wurde Litauen am 22. Juni 1941 innerhalb einer
Woche vollständig durch die Deutschen besetzt. Kaum ein Litauer empfand an diesem Tag
Angst. Die Deutschen wurden mit Blumen und Freudentränen von Litauern begrüßt.
Am 23. Juni
1941 wurde eine provisorische Regierung gebildet. Sechzehn- bis
zwanzigtausend Mann griffen spontan zu den Waffen und kämpften gegen die Russen.
Nun rückte die jüdische Bevölkerung ins Visier der Machthaber. Bereits zu Beginn der
deutschen Offensive waren bei Pogromen33 mehrere Hunderte, vielleicht auch Tausende
Juden getötet worden. Die Deutschen gingen organisierter vor und richteten in den großen
Städten Kaunas, Vilnius und Šiauliai Ghettos ein. Die nicht arbeitsfähigen Juden wurden bis
zum Herbst 1941 zu Tausenden erschossen.
Ende 1941 begann die Verschickung der ersten Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich.
Bis Anfang 1944 sollte die Zahl auf siebzigtausend steigen. Unzählige Litauer kamen in
Konzentrationslager, viele wurden erschossen.
Litauen unterstand während der deutschen Besetzung der neu eingerichteten Zivilverwaltung
des
Reichskommissariats
Ostland
mit
dem
Sitz
in
Riga.
Das Land bildete den Generalbezirk Litauen mit dem Sitz in Kauen, so die damals deutsche
Bezeichnung für Kaunas.
33
gewaltsame Massenausschreitung gegen Mitglieder religiöser, nationaler oder ethnischer Minderheiten,
verbunden mit Plünderung und Mord.
Seite 63
6. Die sowjetische Besetzung
Im Herbst des Jahres 1944 konnte die Rote Armee Litauen zurückerobern. Erneut wurde
eine
kommunistische
Regierung
eingesetzt
und
Litauen
wurde
wieder
Teil
der
Sowjetrepublik. Und erneut gab es Massenverhaftungen und Deportationen. Viele Litauer
flohen mit den Deutschen nach Westen und emigrierten später nach Nordamerika, wo sich
Chicago zu einem Zentrum litauischer Emigration entwickeln sollte.
Tausende gingen jedoch in den Widerstand und kämpften bis etwa 1953 als Partisanen aus
den Wäldern gegen die sowjetische Herrschaft. Insgesamt kosteten der Zweite Weltkrieg
und der anschließende Partisanenkampf knapp zweihunderttausend litauischen Juden und
über dreißigtausend weiteren Litauern das Leben.
Die sowjetische Zeit brachte einen starken Zuzug von Menschen aus der restlichen
Sowjetunion, insbesondere in die praktisch verwaiste Hafenstadt Klaipėda und in die
Hauptstadt Vilnius. Es folgte eine starke Industrialisierung Litauens, das noch bis zum
Zweiten Weltkrieg vorwiegend bäuerlich geprägt gewesen war. Ziel der sowjetischen
Herrscher war es, möglichst viele Russen anzusiedeln. Trotz der unbedingten Vorherrschaft
Moskaus konnte Litauen einige Unabhängigkeiten bewahren; so blieb das Litauische in
Schulen, Universitäten und Fernsehen präsent.
Seite 64
7. Die Unabhängigkeit seit 1991
Mit
Michail
der
beginnenden
Gorbatschow
zeigten
Lockerung
die
Litauer
der
als
sowjetischen
erste
Besatzung
Sowjetrepublik
den
unter
Mut
zu
Veränderungen. Bereits 1987 gründete sich die Unabhängigkeitsbewegung "Sajudis".
Im Dezember 1989 erklärte die Litauische Kommunistische Partei ihre Trennung von der
KPdSU34. Im Februar 1990 fanden erstmals freie Wahlen statt, die die "Sajudis" klar für sich
entscheiden konnte. Am 11. März 1990 erklärte der neu gewählte Oberste Sowjet35 Litauen
für unabhängig und setzte die Vorkriegsverfassung wieder in Kraft. Damit war der Anfang
vom Ende der Sowjetunion eingeläutet worden.
Am 13. Januar 1991 versuchten moskautreue Kräfte sich mit Unterstützung sowjetischer
Militärs an die Macht zu putschen. Dabei starben insgesamt sechzehn unbewaffnete
Zivilisten, die Parlament und Fernsehturm verteidigten. Der Putsch misslang. Nachdem im
August 1991 auch in Moskau der Putschversuch kommunistischer Hardliner fehlgeschlagen
war, proklamierte Litauen am 22. August 1991 die volle Unabhängigkeit, die am
06. September 1991 von der Sowjetunion und innerhalb kürzester Zeit von über neunzig
weiteren Staaten anerkannt wurde.
Nach anfänglicher Wirtschaftskrise und politischer Instabilität gewann die Reformpolitik
zunehmend an Dynamik, insbesondere nach der Überwindung der sog. Russlandkrise von
1998. Im Jahr darauf wurden Litauen und Lettland im "Nachrückverfahren" noch in die Reihe
der EU-Beitrittskandidaten aufgenommen. Im Jahr 2003 sorgte eine Affäre um den
litauischen Präsidenten Paksas für Wirbel, in der ihm Verwicklungen mit der organisierten
Kriminalität vorgeworfen wurden. Am 19. Februar 2004 stimmte das litauische Parlament
schließlich für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens. Am 06. April 2004 wurde
Staatspräsident Paksas entmachtet. Kurz zuvor, am 29. März 2004, wurde Litauen Mitglied
der NATO. Am 01. Mai 2004 folgte der EU-Beitritt
34
Kommunistische Partei der Sowjetunion
35
Bezeichnung des Parlaments in den einzelnen Sowjetrepubliken
Seite 65
D. Daten über Litauen
Territorium:
65.300 km2 (entspricht ca. dem eineinhalbfachen der Schweiz)
Anzahl der Bevölkerung:
3,50 Millionen
82 % Litauer, 8 % Russen, 7 % Polen, 3 % andere Nationalitäten
Hauptstadt
Vilnius (deutsch: Wilna) - 584.000 Einwohner
Klima:
Kältester Monat: Januar mit durchschnittlich -5,1° C
Wärmster Monat: Juli mit durchschnittlich +17,0° C
Jahresdurchschnittstemperatur: +6,2° C
Jährliche Regenmenge: 661 mm
Name in Landessprache:
Lietuvos Respublika
Staatssprache:
Litauisch
Währung:
1 Litas (LTL) = 100 Centas
Wechselkurs:
1 EUR = 3,4528 Litas; 1 Litas = 0,2896 EUR
Hauptreligion:
Römische Katholiken
Grenzländer:
Lettland, Belarus (Weißrussland), Polen, Russische Föderation (Kaliningrad)
Seite 66
In Litauen befinden sich:
758 Flüsse, die länger als 10 Kilometer sind und
2.830 Seen mit einer Fläche von jeweils über 0,5 ha
Der größte Fluss:
Nemunas (deutsch: Memel) mit einer Länge von 937 km, davon 475 km auf dem Territorium
Litauens
Der größe See:
Druksiai-See 4.480 ha
Das höchste Gelände:
Hügel Juozapine 293,6 m
Die größten Städte:
Vilnius - 577.000 Einwohner
Kaunas - 415.000 Einwohner
Klaipėda - 206.000 Einwohner
Nationalfeiertag:
16. Februar (Wiederherstellung des Staates 1918)
Nationalflagge:
Seite 67
E. Landkarten
1. Europakarte 2004
Seite 68
2. Litauen 1935
Seite 69
3. Ostpreußen 1914
Seite 70
4. Das heutige Litauen
Seite 71
Erkennungsmarke von Johann Gräpel
Seite 72

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