Neue Bücher - Instytut Książki

Transkrypt

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Neue Bücher
AUS POLEN
52.
N0
WIESŁAW MYŚLIWSKI
JERZY PILCH
IGNACY KARPOWICZ
JUSTYNA BARGIELSKA
PAWEŁ POTOROCZYN
HUBERT KLIMKO-DOBRZANIECKI
BEATA CHOMĄTOWSKA
JAN KRASNOWOLSKI
PIOTR PAZIŃSKI
ANDRZEJ STASIUK
ARTUR DOMOSŁAWSKI
KATARZYNA PAWLAK
WOJCIECH TOCHMAN
ANGELIKA KUŹNIAK
FILIP SPRINGER
MAŁGORZATA REJMER
WITOLD GOMBROWICZ
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AUSGEWÄHLTE
PROGRAMME
DES BUCHINSTITUTS
DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND
ÜBERSETZERKOLLEGIUM
Ziel des Programms ist es, Übersetzungen polnischer Literatur zu fördern und ihre Präsenz auf den ausländischen
Buchmärkten zu stärken. Das Programm umfasst insbesondere Belletristik und Essayistik, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbücher.
Das Programm wird vom Buchinstitut in Zusammenarbeit
mit dem Verein Villa Decius und der Jagiellonen-Universität durchgeführt. Es richtet sich an Übersetzer polnischer
Literatur, die Belletristik, Essayistik, Dokumentarliteratur
oder geisteswissenschaftliche Literatur im weitesten Sinne
übertragen und bietet ein- bis dreimonatige Stipendienaufenthalte in Krakau.
Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden,
die ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine
fremde Sprache übersetzen lassen und herausgeben
wollen.
Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten
finanziert werden:
TRANSATLANTIK
•bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs
•bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes
aus dem Polnischen.
Transatlantik ist der alljährlich von dem Buchinstitut vergebene Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Verbreitung der polnischen Literatur im Ausland einsetzen. Der
Preis, dotiert mit 10.000 Euro, kann u. A. an Übersetzer,
Verleger, Literaturkritiker, Polonisten verliehen werden.
SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND
KONTAKT:
Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer
polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische
Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen Verlegern zu präsentieren.
Bezahlt werden 20 Seiten einer Probeübersetzung.
Die Bewerbungsformulare beider Programme können
postalisch beim Buchinstitut in Krakau angefordert, oder
von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen
werden.
Das Polnische Buchinstitut
ul. Szczepańska 1
PL 31-011 Kraków
E-mail: [email protected]
Phone: +48 12 433 70 40
Fax: +48 12 429 38 29
www.bookinstitute.pl
Direktor des Polnischen Buchinstituts:
Grzegorz Gauden
WIESŁAW
MYŚLIWSKI
ENDSPIEL
Wiesław Myśliwski (geb. 1932), Schriftsteller, Essayist, Dramaturg. Er debütierte 1967 mit dem
Roman „Nagi sad”, drei Jahre später veröffentlichte er „Pałac”. Er ist der Autor eines der wichtigsten polnischen Nachkriegsromane „Kamień na
kamieniu“ (1984). Er veröffentlicht selten, meistens im Abstand von 10 Jahren. Er erhielt zweimal
den renommierten Nike-Preis – für die Romane
„Widnokrąg“ (1996) und „Traktat o łuskaniu fasoli“ (2006).
In seinem Roman „Endspiel” verwendet der Schriftsteller erneut seine bevorzugte narrative Form: den sich über den ganzen Text erstreckenden inneren Monolog eines namenlosen
Protagonisten, der am Ende seines Lebens mit seiner Biographie abzurechnen versucht. In diesen weitläufigen Monolog
schneiden sich Reminiszenzen hinein, Bilder und Szenen aus
der Vergangenheit, die ohne Rücksicht auf die Chronologie
eingebaut werden. Diese zerstreuten Stücke sind meist dramatisiert, in dialogischer Form.
Ein Novum ist das Auftauchen eines Liebesmotivs. Der
Monolog wird ergänzt durch Briefe, die die alte Jugendliebe
des Protagonisten, Maria, ihm durch die Jahrzehnte geschrieben hat. Eigentümlich ist, dass der Protagonist des „Endspiels“
auf keinen dieser Briefe geantwortet hat – obwohl sie alle voller Emotionen und Leidenschaft waren, obwohl ihm Maria
ewige Liebe geschworen hat.
Während der Lektüre entdeckt der Leser, dass diese Grausamkeit Maria gegenüber eine tiefere Motivation hat: Der
Protagonist hängt obsessiv an der Idee der Freiheit. Er hatte
mehrmals und absichtlich Berufe und Wohnorte gewechselt,
nie ein Haus oder Möbel besessen (aus freier Entscheidung
lebte er lediglich in möblierten, gemieteten Wohnungen) und
war niemals eine längere Beziehung eingegangen.
Er spricht davon, dass er „sich selbst freiwillig von allem
enterbt hatte”, und stellt sich die Frage: „Im Namen wessen?
Der Freiheit? Unsinn. Es sei denn, man begreift die Freiheit
als eine permanente Flucht vor sich selbst.” Die grausamste
seiner Fluchten war die vor Maria – die dümmste die Flucht
vor der Malerei und seinem Talent.
Er war ein vielversprechender Maler, doch er gab sein Studium an der Akademie der Schönen Künste auf und begann
eine Lehre als Schneider. Diese Wahl war, wie alles in seinem
Leben, zufällig und flüchtig. Aber liegt dem Leser hier eine
Erzählung über ein schlimmes Schicksal, ein verpfuschtes
Leben vor? Mitnichten.
Was bedeutet denn ein gelungenes oder nicht gelungenes
Leben? Was ist das Leben an sich? Solcher Art Fragen – elementare, endgültige, mit philosophischem Anspruch – findet
man in diesem Buch viele. Auch wenn es pathetisch klingt:
Myśliwski versucht, den Sinn des Lebens und das Geheimnis
der menschlichen Existenz zu durchdringen, ohne dabei jedoch endgültige Wahrheiten zu formulieren oder eindeutige
Antworten zu geben.
Es wäre wichtig, auf den Titel des Romans einzugehen.
Der Held des Buches ist leidenschaftlicher Kartenspieler; am
liebsten spielte er Poker mit dem Schuster Mateja; doch seine
wichtigste Partie spielt er auf dem Friedhof – man kann es gar
nicht anders verstehen – mit dem Geist Matejas.
Im gewissen Sinne hebt der Autor die bedrohliche Bedeutung des Wortes „Ende“ im Titel wieder auf, was seine völlige
Bestätigung im Finale des Werkes finden wird:
Der letzte Brief Marias, einer lebensmüden alten Dame,
informiert den Protagonisten über ihre Absicht, Selbstmord
zu begehen. Dieser Abschiedsbrief ist jedoch keinesfalls der
letzte – was sich nicht nur dadurch erklärt, dass Maria von
ihrem Plan zurückgetreten war. Woher sie ihn abschickte, ist
leicht zu erraten.
Es ist schwer, eine schönere Coda für ein ergreifendes Liebeslied zu finden, als sie Myśliwski im „Endspiel“ anstimmt:
Das Paar, das im Leben keine Erfüllung fand, findet sich im
Jenseits, unter ungleich angenehmeren Bedingungen; dort,
wo die vergehende Zeit keine Bedeutung hat, wo Jugend und
Schönheit keine Rolle spielen.
Dariusz Nowacki
WIESŁAW MYŚLIWSKI
„OSTATNIE ROZDANIE”
ZNAK, KRAKÓW 2013
140×205, 448 PAGES
ISBN: 978-83-240-2780-4
TRANSLATION RIGHTS:
ZNAK
ÜBER DEM SEE
ENDSPIEL
lag um diese frühe Zeit ein Nebel, der stellenweise so dicht
war, dass man – wenn man vom hohen Ufer hinunterschaute – mit dem Blick den unten liegenden Wasserspiegel nicht
erfassen konnte. Erst als die auf der anderen Seite, am gegenüberliegenden Ufer aufgehende Sonne begann, den
Nebel zu durchdringen, tauchte der See allmählich aus der
Tiefe auf. Es war etwas Einzigartiges in dieser Sonne, die
sich so hartnäckig durch den Nebel kämpfte – der sich dabei
zusammenzog, als würde er sich wehren. Vielleicht habe
ich aber mittlerweile vergessen, wie die Sonne aufgeht, und
ich entdeckte es in diesem Moment aufs Neue. Wann habe
ich wohl zum letzten Mal den Sonnenaufgang gesehen, versuchte ich mich zu erinnern. Es musste schon so lange her
sein, dass der Gedächtnisfaden abgerissen war.
Ich bedauerte, dass ich nicht mehr malte. Würde ich
malen, würde ich die Staffelei am Ufer aufstellen und versuchen, diese Sonne auf Leinwand zu übertragen. Ich hätte
sogar einen Titel: „Die Geburt der Sonne“. Sie war beinahe
lichtlos, der Strahlen und ihrer Wärme beraubt, verdünnt
durch den Nebel, der sie aus der Welt heraussaugte; so
dass nicht einmal die Erde stark genug war, ihr zu helfen.
Ich spürte den Schmerz der Sonne, ihre unglaubliche Anstrengung, wenn sie sich selbst auf diese Welt presste. Es
schien mir, als würde sie die ganze Erde mit sich reißen,
zusammen mit diesem bodenlosen, endlosen Nebel. Und
ich war geradezu erleichtert, als sie sich endlich freigekämpft hatte. Danach wanderte sie in einem breiten Band
über den Wald, der wie speziell für sie herausgeschlagen
worden war, damit sie nichts mehr auf ihrem Weg zum See
aufhalten konnte. Sie erreichte auf der anderen Seite das
Ufer und tauchte dort ein, wusch ihre Qualen ab. Und dann
wandelte sie über den Wasserspiegel, offenbar auf uns zu,
zerschnitt den Nebel mit ihren Strahlen, und ich spürte
eine sonderbare Anspannung, die wohl jeder Erwartung
inne wohnt. Ich wartete, bis sie an das hohe Ufer kam, wo
ich mit meinem Oskar wartete. Er spürte wohl dasselbe,
denn er ließ sich niemals fortziehen, bevor die Sonne so
nahe an uns herangekommen war, dass ich sagen konnte:
Ich danke dir, Sonne, dass du aufgegangen bist – und Oskar
fröhlich bellte. Nach einigen Tagen zog er mich schon von
alleine an dieses Ufer. Dort setzte er sich auf die Hinterpfoten und gab keinen Laut von sich, kein Winseln, Knurren
oder Bellen. Er hob nur den Kopf und schaute mich beunruhigt an. Und wir warteten, bis die Sonne aufging. Erst,
wenn sie an uns herangekommen war, ließ sich Oskar in
den Wald führen.
Auf der anderen Seite des Sees war ein Gebäude zu sehen, ein Ferienhaus oder eine Pension. Es schien viel größer
als das unsere, doch sogar in der vollen Sonne konnte man
nichts weiter erkennen, außer, dass es da stand. Unsere
Pension war nicht groß, man könnte sagen, bescheiden,
aber die Anzeige in der Zeitung hatte mich gelockt: „Wo,
wenn nicht hier, inmitten der Wälder, wollen Sie sich erholen?“ Ich habe gedacht, dass es bestimmt nicht voll sein
würde, denn wer sollte wegfahren zu einer Zeit, da die Blätter beinahe vollständig von den Bäumen gefallen sind und
die Nächte kalt werden.
Und tatsächlich: Außer mir wohnte dort nur der zuvor
erwähnte Herr Dionizy. Wären die Besitzerin und ihr Sohn
nicht gewesen (der zwei-drei Mal die Woche vorbeischaute, weil er woanders wohnte), hätte man meinen können,
die Pension sei ausgestorben. Ich wohnte alleine im ersten
Stock und Herr Dionizy im Erdgeschoss, weil er Schwierigkeiten mit dem Gehen hatte. Schwer stützte er sich auf
seinen Stock, als ob er jeden Schritt mit Schmerzen bezahlen würde. Wahrscheinlich ging er gar nicht spazieren, zumindest habe ich ihn nie draußen gesehen, weder morgens
noch nachmittags oder abends. Angeblich hatte er ein Auto
voll mit Büchern dabei. Der Sohn der Besitzerin (der die
Versorgung der Pension und diverse Reparaturen besorgte, und im Herbst, so wie jetzt, das Laubrechen), erzählte,
dass er zwei Mal gehen musste, um die Bücher ins Haus zu
bekommen. Außerdem musste er jetzt auch noch Samstag
Abend beinahe alle Zeitungen und Zeitschriften der ganzen Woche zusammensuchen und sie Herrn Dionizy vorbei
bringen.
Ich überlegte, wann er Zeit hatte zu schreiben, wenn er
das alles las. Er hatte mir immer mal eine Zeitung oder eine
Zeitschrift angeboten, in der, seiner Meinung nach, etwas
Interessantes stand. Ich bedankte mich, sagte, ich würde
es gerne lesen, aber dass ich ebenfalls zum Arbeiten her
gekommen sei und keine Zeit habe. Außerdem bekam ich
jedes Mal mit, wenn ich spazieren oder mit Oskar Gassi ging,
dass Herr Dionizy Radio hörte. Entweder war er schwerhörig oder mochte es sehr laut, um nichts zu verpassen. Es gibt
Menschen, die die Stille nicht vertragen, weil sie sich darin
verlieren, wie im Nebel. Vielleicht ist für sie Stille gleichbedeutend mit Einsamkeit.
Auch wenn ich schon ein gutes Stück von der Pension
weg war, hörte ich das Radio noch. Abends wiederum, wenn
die Nachrichten begannen, setzte sich Herr Dionizy regelmäßig in den Speiseraum vor den Fernseher. Er ließ keinen
Tag aus, und oft schaute er bis tief in die Nacht. Nicht nur
die Tagesschau, auch Talkshows, Pressekonferenzen, Kommentare, Interviews, er sprang zwischen den Sendern hin
und her und drehte die Lautstärke so weit hoch, dass ich es
noch hinter meiner Tür im ersten Stock hörte.
Zugegeben: Er hatte er sich gefreut, als ich angekommen
war. Er kam an seinem Gehstock herausgehumpelt und begrüßte mich herzlich, als hätten wir uns schon öfter in dieser Pension getroffen:
„Ah, endlich jemand, mit dem man ein Wort wechseln
kann. Ich heiße Sie hier hoffnungsvoll willkommen!“
Schon am nächsten Tag beim Mittagessen (er verspeiste gerade das Hauptgericht), griff er sich seinen Teller und
Besteck und setzte sich an meinen Tisch.
„Sie erlauben? Es isst sich so schlecht alleine. Für wie lange sind Sie hergekommen?“
Am nächsten Tag überreichte er mir seine Visitenkarte:
„Da steht auch die Mobilnummer. Ich gebe sie nur vertrauenswürdigen Menschen. Sollten Sie in meiner Stadt
sein, besuchen Sie mich bitte. Sie sind herzlich eingeladen.
Nur rufen Sie bitte vorher an.“
Ich warf einen Blick darauf. Dionizy Orzelewski. Die Adresse. Mehr nicht.
„Danke“, erwiderte ich. „Wenn ich dort sein sollte, werde ich es nicht versäumen, Ihrer Einladung zu folgen.“ Ich
stellte mich ebenfalls vor und schob seine Visitenkarte in
die Brusttasche meines Jacketts. Später, zu Hause, nach
meiner Rückkehr, steckte ich sie in mein Adressbuch, obwohl ich noch überlegte, warum ich es tue. Auch wenn
ich jemals in die Stadt kommen sollte, in der Herr Dionizy
wohnte, würde ich ihn eh nicht anrufen. Und ich hatte nicht
vor, nochmal in diese Pension zu kommen. Ich habe seine
Visitenkarte in meinem Notizbuch nie wieder gesehen;
womöglich klebte sie an einer anderen. Visitenkarten hängen manchmal so aneinander, wenn man nicht regelmäßig
reinschaut.
Ein paar Tage später fing er an, mir zu erzählen, was er
gerade in den Zeitungen gelesen hatte. Danach ging es darum, was im Radio kam und schließlich, was er am Abend
zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Ich tat so, als ob ich zuhören würde, doch mit den Gedanken war ich woanders. Ich
habe mir diese Fähigkeit erarbeitet, damit niemand merkte,
dass ich nicht zuhörte.
Er hatte den Mund voller Essen, so dass sich die Worte
da durch pressen mussten, undeutlich waren, wie vermengt
mit den Speisen, so dass nur wenige zu verstehen waren.
Und an einem weiteren Tag, seiner wohl sicher, dass er
mich mit seinem Vertrauen bedenken konnte, wurde er
hitzig – als ob er an einer der Fernsehdebatten teilnehmen
würde, die er abends zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Er
hob die Stimme, sie schwoll vor Wut und Spott, er lästerte,
lachte sarkastisch, warf mit Beleidigungen um sich, doch es
fiel mir schwer zu erkennen, wen er denn meinte.
„Was glauben die, wer sie sind, diese Idioten, dieses
Pack!“ Vor Wut knallte er mit seiner Gabel auf den Teller,
also verstand ich soviel, dass es um irgendwelche Idioten
und irgendwelches Pack gehen musste.
Ungefähr in der Mitte meines Urlaubs war ich so erschöpft von seiner Anwesenheit, dass ich überlegte, wie ich
ihn loswerden könnte. Ich kam auf die Idee, schon früher
zu den Mahlzeiten zu erscheinen, doch es half nichts. Dann
ging ich später als gewohnt essen, aber auch das brachte
nichts. Von irgendeinem Instinkt geführt, kam er ebenfalls
früher oder später zum Essen. Ich überlegte schon, ob ich
nicht abreisen sollte. Wenn ich mir seine Ausführungen bei
jeder Mahlzeit anhören müsste, bis zum Schluss, würde ich
mich nicht erholen. Und wegen der Erholung war ich doch
hergekommen.
Irgendwann setzte er sich beim Mittagessen wieder an
meinen Tisch, offenbar aufgebracht, denn kaum machte er
es sich auf dem Stuhl bequem (er hatte wegen seines kaputten Beins auch mit dem Sitzen Probleme) schon bombardierte er mich mit der Frage:
„Was halten Sie davon, was gerade los ist?“
Aus dem Polnischen von Paulina Schulz
JERZY
PILCH
DER DÄMONEN
VIELE
Jerzy Pilch (geb. 1952), einer der bekanntesten
und beliebtesten polnischen Schriftsteller der Gegenwart. Autor von neunzehn Büchern, übersetzt
in siebzehn Sprachen. Pilch wurde sieben Mal für
den Nike-Preis nominiert und erhielt ihn 2001 für
den Roman „Pod Mocnym Aniołem“. „Wiele demonów” ist sein erster Roman seit fünf Jahren.
Der von den Kritikern enthusiastisch aufgenommene neue
Roman von Jerzy Pilch nimmt zwei große Themen der Weltliteratur auf: Liebe und Tod, Begierde und Verlust, Ekstase
und das Nichts.
Ein düsterer Pessimismus wechselt sich hier ab mit dem
orgiastischen Rhythmus der Freude am Erzählen, Entzücken
alterniert mit Spott, Glauben mit Gottlosigkeit. Überaus realistisch wird hier das Leben der polnischen Lutheraner in
einem Ort namens Sigła dargestellt, in den sechziger Jahren
des zwanzigsten Jahrhunderts.
Das Lokale und das Private sind den Lesern von Jerzy Pilch
wohlbekannt – denn Sigła ist nichts Anderes als der Heimatort
des Schriftstellers Wisła; der Geburtsort nicht nur von Pilch,
sondern beinahe seiner gesamten literarischen Welt. Die Symbolik von „Der Dämonen viele“ rührt aus der protestantischen
Theologie, die Struktur ähnelt einem literarischen Mythos –
zwar einem Mythos, der von dem Nichts und der Erschöpfung
durchsetzt ist, der aber den Leser dennoch durch die Suggestivität der Bilder erstaunt und ihn mit dem Spannungsbogen
des Plots und dem Tempo der Erzählung begeistert.
Das Leben der Bewohner von Sigła ist scheinbar kalt und
düster – denn die Protestanten sparen am Heizmaterial und
sitzen in nicht ausreichend beleuchteten Räumen herum. Hier
pulsieren Leidenschaften und Süchte, und dennoch herrscht
hier Ordnung. Die Welt kann von schmerzhafter Schönheit
sein, wenn morgens das Gras in der Oktober-Sonne dampft
oder wenn „der Frost die Welt festhält wie ein kristallener
Schraubstock“. Ebenso kann sie von durchdringender Widerlichkeit sein:
„Der Mensch wird am Boden eines entsetzlichen Abgrundes geboren, lebt ohne jeglichen Sinn, und stirbt unter Qualen.“ Der Tod – mit verschiedenen Formen und Gesichtern
– sucht den Erzähler und die Romanfiguren heim, lockt und
entsetzt sie gleichermaßen.
Dabei ist der Erzähler eine durchsichtige Gestalt, die dem
Autor selbst sehr nahe verwandt ist.
Die kindlichen Ängste kennen den Tod besser als die Wirklichkeit. „Die Diele ist eine düstere, eiskalte Fieberphantasie.
Sie werden sterben, sterben, sterben. Unter dem vom bräunlichen Frost bezogenen Dachfirst glimmt eine schwache Funzel.
Jemand schleicht durch den Garten.“
Das Verschwinden und die Suche nach einer der schönen
Töchter des Pastors Mrak machen aus dem Roman eine Art
Krimi; doch es ist nur scheinbar ein Krimi, dessen Wesen das
Geheimnis, und nicht dessen Lösung ist.
Zugegeben: Nach „Jahren der Überlegung“ weist der hellsichtige Briefträger tatsächlich auf einen Ort, an dem der
„von niemals tauenden braungrünen Eisschollen zugewucherte, kirschrote, so dunkelkirschrote, dass er fast schwarz
war“ Schlafanzug des jungen Fräuleins Mrak liegt. Doch die
angebliche Leiche erscheint nur in gelegentlichem Aufblitzen,
außerhalb des Erzählstranges. Es ist ein Verschwinden wie
aus dem Film „Picknick on Hanging Rock“ von Peter Weir, wie
es der Autor selbst beschreibt.
Das Mädchen wird zu einem Geist dieses Romans, zu
einem jungfräulichen Engel, eingetaucht in einen dichten,
sinnlichen Nebel. Ola ist wie Ophelia, ein Symbol für die Unmöglichkeit der erotischen Erfüllung. Das Geheimnis um ihr
Schicksal ist ein Köder für den Leser; ihr Körper ein immer
weiter rückendes Versprechen, nicht nur für die Männer, sondern auch für ihre Mutter und ihre Schwestern.
Das wahre Entsetzen spielt sich in den Häusern ab, im Alltag, im Leben, das man fleißig in die Hölle verwandelt. Das
Dämonische, Teuflische der Existenz in einer religiösen Gemeinschaft ist ein Paradox der Pilch-Protestanten, die seine
autobiographischen Romane bevölkern.
Dennoch ist dieses Buch kein düsterer Horror. Es ist eine
dichte, narkotische Erzählung über die Dämonen der Literatur und die Unausweichlichkeit des Todes.
Kazimiera Szczuka
JERZY PILCH
„WIELE DEMONÓW”
WIELKA LITERA, WARSZAWA 2013
215×130, 480 PAGES
ISBN: 978-83-63387-91-4
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
In der Mitte
DER DÄMONEN
VIELE
des vergangenen Jahrhunderts arbeitete bei der Post in
Sigła der Briefträger Fryderyk Moitschek, der das Geheimnis des menschlichen Lebens kannte, der wusste, wohin
wir gehen und was nach dem Tode sein würde. Nur eine
Handvoll Menschen glaubte ihm – obwohl alles, was er vorhergesagt hatte, oder vielmehr alles, was er aus einer dicken
Kladde herauslas, auf Punkt und Komma stimmte.
Die Menschen starben, erkrankten und wurden gesund
nach seinen Prophezeiungen, das Wetter wurde so, wie er
es gesagt hatte, gezielt sagte er die Föhnwinde voraus, stickig wie Friedhofserde, die Hochwasser, die so schlimm waren, dass sie Brücken abrissen, die Hitzewellen, die sich wie
Öl über die Welt legten, sowie die unerwartet von allen Seiten herankommenden eiskalten und schneereichen Winter.
An Fußball hatte er lediglich mittelmäßiges Interesse,
nur hin und wieder; also konnte man ihn nur schwer überreden, die Ergebnisse vorauszusagen. Aber wenn er schon
tippte, dann fehlerfrei: Real Madrid, Ruch Chorzów, FC
Santos, Wisła Kraków, ja, sogar unsere Elf aus der A-Liga!
Überhaupt schossen und verloren alle Mannschaften, auf
die er seinen Blick richtete, immer genauso viele Tore, wie
es ihm beliebte.
Es geschah selten, denn er vermied Situationen, in denen seine Gabe nicht nur mit dem leichten Geldverdienen,
sondern überhaupt mit irgendwelchen unanständigen Manipulationen in Verbindung gebracht werden konnte. Ohne
den Schatten eines Zweifels – man spürte, dass Fryderyks
Heiligkeit nicht darin begründet liegt, das Wunder der wöchentlichen Fußballergebnisse zu vollbringen, die LottoZahlen vorherzusagen oder konsequent die Nieten bei einer
Tombola zu vermeiden; man spürte es, man spürte es ganz
eindeutig, und man drängte nicht, mit aller Diskretion.
Bringe mich nicht auf böse Gedanken, Antichrist! Weiche von mir, Satan! „Und da der Teufel alle Versuchung
vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeitlang.“ (Lukas 4, 13)
Fryc war kein Illusionist, der seinen Lebensunterhalt mit
atemberaubenden Tricks verdiente. Er war Prophet, mit
Leib und Seele. Mit dem Leib unseres Herrn und der Seele
des Heiligen Geistes. Sein Königreich war nicht von dieser
Welt. Geld hatte er ohne Ende, woher, wusste keiner, aber
es waren auf keinen Fall Honorare für prophetische Dienste
an der Menschheit.
Zuza Bujok hat er Koma und Aufwachen aus dem Koma
geweissagt, Józek Lumentiger Abstinenz und das Verwerfen
dieser Abstinenz, Polen den Kommunismus und das Ende
des Kommunismus. Alles selbstverständlich gratis, im letzten Falle nicht nur gratis, sondern auch mit einem enormen
patriotischen Enthusiasmus .
So war es mit allem und so war es immer: gratis, gratis
und nochmal gratis. Niemals hatte er für etwas Geld genommen, keinen Pfennig, obwohl er oft genug Auslagen hatte,
obwohl er Zeit ohne Ende opferte, obwohl er seine Gesundheit und somit sein Leben aufs Spiel setzte. Wohl nur Gott
der Herr, der Geist der literarischen Fiktion und einige wenige andere Transzendenzen wissen, welcher Anstrengung
Fryc seinen Körper unterwarf und welchen Raubbau er an
seiner irdischen und somit fragilen Existenz betrieb.
Seine Leute hat er immer ernst genommen, da kann
man nichts sagen, mit großer Hingabe half er, wo er konnte,
kümmerte sich überaus aufopferungsvoll, und unterstützte
die Seinen nicht nur in Krankheit. Leider verwendete er seine Kräfte, Fähigkeiten und die glühende Leidenschaft eines
begabten Heilers nicht nur an uns. Anderen diente er auch,
oft vollkommen Fremden, die nicht aus Sigła, sondern aus
aller Herren Länder kamen – er half ihnen mit derselben,
oder sogar mit noch glühenderer Hingabe (man konnte es
nur schwerlich erkennen); er löste ihre Probleme, kurierte
sie von diversen Phobien, fand unrettbar verlorene Dinge
wieder, warnte vor konkreten Gefahren, empfahl detaillierte Hauskuren.
Und er diente vor allem (was sollen wir die Wahrheit
verschleiern) überaus eifrig den Vertreterinnen des schönen Geschlechts: wenn er mit ihnen all die wichtigen und
unwichtigen Details der Therapie besprach, ihnen eine positive, endlich positive Veränderung ihres Schicksals versprach, gut, kleinere Hindernisse sah er immer noch, aber
er erklärte gleichzeitig, wie man sie mit links überwinden
konnte und erörterte die Situation eingehend. Alles tipptopp, aber zu welchem Preis? Wenn man sagen würde, dass
er Raubbau mit seiner Existenz, seiner körperlichen Form
und seiner Kondition betrieb, wäre dies mehr als untertrieben; es war räuberisch und leichtsinnig, in seiner aufopferungsvollen Haltung unverantwortlich – denn nie sah
jemand Fryc beispielsweise etwas essen.
Niemand. Nie. Versteht ihr das? Niemand, niemals, und
er musste doch etwas essen! Musste er nicht? Aß er gar
nichts? Lebte er von Luft? Die ganzen Fälle und Unfälle beschäftigten ihn demnach so stark, dass er nicht einmal für
ein belegtes Brot Zeit hatte? Nur ein Apfel zwischen Tür
und Angel? Aber auch einen Apfel hat ihn keiner je essen
sehen! Man sprach nur davon. Die Erzählungen und Legenden über Fryc' Apfel. Anekdoten? Dies und das. Hunderte
von Fragen, doch im Grunde nur eine Frage: Hat unser Heiler und Wohltäter heute schon etwas gegessen? Einen Apfel,
zum Mittagessen. Einen. Eher klein als groß. Fryc lebt von
einem Apfel am Tag? So sieht es aus.
Eines Tages wird er umfallen und alles wird vorbei sein.
Schluss mit den Prophezeiungen, Schluss mit den Wundern,
Schluss mit den Rezepten gegen Selbstmordgedanken. Nein,
Fryc wird nicht umfallen, er sieht nicht schwächlich aus.
Und das ist das Schlimmste! Es wäre tausend Mal besser,
wenn man ihm seine Anstrengungen, seine Qualen, sein
Hungern und seine Schwäche ansehen würde. Im Gesicht
sieht es zwar schlimm aus, aber es ist nicht gefährlich. Unsichtbar, verborgen in Herz und Hirn droht es mit einer
Explosion. Fryc explodierte, in der Tat – aber mit seinen
Wundern.
Aus dem Haus der Familie Kubatschke hatte er den Geist
des Ehemannes vertrieben, der zu Lebzeiten eifersüchtig,
und nach seinem Tode wahnsinnig eifersüchtig war. Dem
Doktor Nieobadany hatte er vier Töchter vorausgesagt,
und als er den Braten roch, korrigierte er auf sieben. Herrn
Ujma, Direktor der Mineralbrunnen-Anlage, heilte er von
seinen homosexuellen Neigungen. Emilka Morzolikówna
schlug er die Selbstmordgedanken aus dem Kopf. Und das
alles quasi fastend? Spürte er keinen Hunger, weil er keinen Appetit hatte? War sein sanfter Körper so von der Kraft
seines Geistes erschlagen, dass er nicht einmal die Mindestrationen an Essbarem verlangte? Um es weiter zu fassen:
die Verdauungsprozesse (von der Ausscheidung ganz zu
schweigen) ziemen sich offenbar nicht für den wahren
Propheten? Nein. Ehrlich gesagt sind für einen Propheten
sogar die subtilsten somatischen oder biologischen Aspekte
ungehörig. War Fryc ein Geist? Er hatte nie jemandem die
Hand gegeben, und unvermeidlich ergibt sich die Frage, ob
ihn jemals jemand berührt hatte? Wenigstens die zahlreichen Frauen, die ihn zu besuchen pflegten? Ihr würdet euch
wundern, und wie! Und ihr werdet euch wundern, zweifelsohne, nur etwas später.
Angeblich hatte Fryc bereits einige Jahre vor dem Krieg
und einige Jahrzehnte vor dem Fall der Berliner Mauer in
seinem Notizbuch neue Landkarten von Europa und Asien
mit Bleistift gezeichnet. Diejenigen, die sie gesehen haben,
behaupteten, dass mit Ausnahme von Ostpreußen und
Turkmenistan alles bis auf den Millimeter stimmte.
Ob er Tote ins Leben zurückgerufen hatte ist nicht gewiss. Doch mit absoluter Gewissheit hat er den praktisch
toten Liebling der Pastorenfrau, Juda Tadeusz, die klügste
der drei Pfarrkatzen, zurück ins Leben geholt. Greta und
Maryna, den beiden Kühen von Józef aus Ubocze, hatte er
die schmerzhafte Schwellung von den Eutern genommen
– auf den ersten Blick nichts Besonderes, doch Fryc hat es
aus der Entfernung getan. Den gelähmten Schäferhund,
den Rädelsführer vom Rudel der Frau Scherschenick, rief
er mit schrecklicher Stimme an: „Wirf deinen Stock von
dir! So sage ich dir, wirf deinen Stock von dir!“ Das vor
Angst beinahe wahnsinnig gewordene Tier hatte den Stock
zwar nicht von sich geworfen, denn es hatte, man wird es
beschwören, gar keinen benutzt, doch es erhob sich auf
alle Viere. Nicht nur, dass sich der Hund erhoben hätte! Er
schlich noch einige Jahre eher recht als schlecht durch die
Welt. Und wenn er Fryc erblickte oder schon von Weitem
seine Witterung aufnahm, so fuhren weitere heilenden
Energien in ihn ein, denn er floh mit äußerst gesundem
Heulen, wohin der Pfeffer wächst.
Und ob; auch wenn Fryc Moitschek kein hundertprozentiger Wunderheiler sein mochte – aber er hatte eine
Gabe. Er betrat ein Haus und bemerkte sofort und fehlerfrei eine sinnlose Bewegung in den elektrischen Leitungen.
„Da leuchtet wo was“, sagte er und schaute sich in aller
Ruhe um. „Irgendwo leuchtet was. Schon die ganze Zeit.
Helllichter Tag, noch lange bis zum Abend, und bei Euch,
guter Mann, brennt eine Glühbirne: seit gestern oder seit
sonstwann.“ Alle Familienmitglieder sprangen auf die Beine und überprüften sämtliche Räume, in denen elektrische
Leitungen vorhanden waren. Und immer, egal ob auf dem
Dachboden oder im Keller oder in einer seit ewigen Zeiten
verschlossenen und verriegelten Kammer, da fanden sie
eine umsonst glimmende gelbliche 40-Watt-Birne.
Aus dem Polnischen von Paulina Schulz
IGNACY
KARPOWICZ
HEITEN/KEITEN
Ignacy Karpowicz (geb. 1976), Prosaautor, Reisender, Übersetzer; einer der spannendsten Autoren der jüngeren Generation. Seit seinem Debüt
2006 sind vier weitere Romane erschienen; zwei
Nominierungen für den NIKE-Preis, ausgezeichnet
mit dem Paszport POLITYKI 2010.
Ignacy Karpowicz, ausgezeichnet mit dem Literaturpreis �����
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Polityki, meldet sich mit einem neuen, interessanten Roman zurück. heiten/keiten erzählt humorvoll vom Bedürfnis
nach Nähe und Liebe, vor allem aber vom Anderssein, das in
der Romanlandschaft zur Normalität wird. Wieder einmal
stellt der Autor unter Beweis, dass er in seiner Entwicklung
nicht stehen bleibt – jedes seiner Bücher unterscheidet sich
deutlich von den Vorgängern: Das enthusiastisch gefeierte Debüt Niehalo [Nicht der Hit] war eine groteske Tour durch die
polnische Wirklichkeit im Zeitalter des Kapitalismus, Gesty
[Gesten] analysierte eine schwierige Mutter-Sohn-Beziehung,
und das preisgekrönte Balladyny i romanse [Balladynen und
Romanzen] entpuppte sich als origineller Beitrag zur Präsenz
der Religion in der modernen Welt.
Diesmal setzt Karpowicz auf einen kollektiven Helden,
wenn er seinen neugierig-warmen Blick auf (nicht gar so
schreckliche) Vertreter des Bürgertums richtet, die in ihren
persönlichen Sorgen, zumeist in Liebesdingen, befangen sind.
Die Romanfiguren entstammen der polnischen Mittelschicht,
sie decken das gesamte Spektrum an Einstellungen und Haltungen ab. Da wäre zum Beispiel Norbert, der nicht eben viel
für Homosexuelle übrig hat, selbst aber mit dem Vietnamesen
Kuan anbändelt (der sich abends in die berühmte Dragqueen
Kim Lee verwandelt). Aber auch die Gesellschaft der brillanten Professorin Ninel ist ihm durchaus nicht unangenehm…
Diese wiederum pflegt eine sonderbare Beziehung zu Szymon,
dem Angetrauten der launischen Maja, ihrerseits Mutter eines
pubertierenden Sohnes und Schwester der fanatisch katholischen Faustyna. Und Freundin von Andrzej, der mit dem chaotischen Krzyś zusammenlebt… Und so geht es immer weiter –
eine Zusammenfassung des neuen Karpowicz läse sich wie das
Drehbuch eines Almodóvar-Films. Nur präsentiert der Autor
seine Truppe schillernder Figuren (die er übrigens stets wunderbar im Griff hat) ohne jeglichen Furor. Er erzählt eine stimmige, rundum vergnügliche Alltagsgeschichte, die etwas außer
Kontrolle gerät, aber darüber keine Dramen auslöst, sondern
im Gegenteil eine neue, zufriedenstellende (?) Ordnung stiftet.
Die Brosamen, nein, die Gräten, die uns im Alltag im Halse stecken bleiben, sind im Grunde halb so wild. Karpowicz
gelingt es nämlich, sie zu entschärfen, bevor sie ihre Sprengkraft entfalten können. Mit seinem engagierten Buch, seinem
Entwurf einer idealen Gesellschaft, die offen ist für das Andere, tolerant und vorurteilsfrei, erzählt er die Geschichte einer
Handvoll netter, leicht orientierungsloser Menschen, die geprägt ist von Normalität.
Wie könnte es auch anders sein, ist doch unser Leben – wie
der Autor zeigt – mag es uns noch so fundamental wichtig erscheinen, eingebunden in Millionen Strukturen und Systeme,
die bedeutend größer und wichtiger sind als wir. Daher gibt
gerade das Kleine den geeigneten Maßstab vor, diese Irrungen
und Wirrungen zu beschreiben.
Patrycja Pustkowiak
IGNACY KARPOWICZ
„OŚCI”
WYDAWNICTWO LITERACKIE
KRAKÓW 2013
145×205, 472 PAGES
ISBN: 978-83-08-05118-4
TRANSLATION RIGHTS:
WYDAWNICTWO LITERACKIE
– Maja,
HEITEN/KEITEN
du bist der tollste Mensch der Welt.
– Verzeihung, haben Sie etwas gesagt?
Erst jetzt wurde Maja bewusst, dass sie vom Modus ‚lautloses Mantra‘ in den Modus ‚gesprochenes Mantra‘ gefallen war. Sie wurde rot. Nicht, weil sie etwas gesagt hatte.
An den Irren, die in Bussen und Bahnen mit Gott und den
Musen plauderten, konnte sie nichts Schlechtes finden.
Die hatten wenigstens ein Anliegen, da sollten sich eher
die schweigenden Fahrgäste schämen. Aber der Inhalt des
Gesagten beschämte sie. Aus Sicherheitserwägungen heraus, und mit Rücksicht auf meine Würde, sollte ich wohl
ein weniger persönliches Mantra wählen. Sie schwankte
zwischen den in Sachen Ego neutralen ,,Drängeln Sie nicht
so“ und ,,Die Fahrscheine bitte“; sie würde es mit der ersten
Variante probieren, wenngleich sie bezweifelte, dass diese
ähnlich schnell die Laune heben würde wie „Maja, du bist
der tollste Mensch der Welt“.
Kaum hatte sie den neuen therapeutischen Satz zweimal
im Geiste gesprochen, war diese Stimme wieder da:
– Ich habe es doch gehört. Sie haben etwas gesagt.
Sie kapitulierte. Langsam hob sie den Blick, um die Quelle des nervenden Geredes ausfindig zu machen. Sie hatte
nichts Besonderes erwartet, einen Lautsprecher vielleicht,
am wenigsten aber das, was sie nun zu sehen bekam. Vor
ihr stand ein breitschultriger Mann um die Dreißig; sorgsam gegeltes Haar, Rechtsscheitel, ebenmäßige Züge, tadellose Haut, keine Warze, kein Pickelchen, glatt rasierte
Wangen, der Bartansatz so markant wie die Toleranzgrenze
des Vatikans zur Gleichstellung von Mann und Frau. Unter
dem offenen grauen Mantel blitzte ein schneeweißes Hemd
hervor. Seine Hose hatte sie nicht beachtet, und jetzt wollte
sie den Blick nicht mehr senken – das hätte sicher ausgesehen, als wollte sie seinen Schritt taxieren, als gehörte sie
zu den sexuell Unterversorgten; selbst wenn es komplett
anders ausgesehen hätte, nun hatte Maja einmal gedacht, es
hätte so ausgesehen und nicht anders, deshalb hielt sie jetzt
mit eisernem Willen den Nacken steif.
Sie wollte ihn Auge in Auge fragen, was er für Hosen
trug, da sie aus übergeordneten, quasi objektiven Gründen
außerstande war, dies selbständig und eigenen Auges in Erfahrung zu bringen. Glücklicherweise verkniff sie sich die
Frage. Der Mann präsentierte sich für Majas Geschmack
derart aufgeräumt, ordentlich und sauber, dass seine Akkuratesse übertrieben und irritierend wirkte. Vor ihr stand
der Bilderbuchsohn von Bilderbucheltern.
Ein nervöser Schauder lief ihr über den Rücken: Dieser
Mann war in einer kranken Familie aufgewachsen, allmorgendlich brachte seine sadistische Mutter ihm das Haar in
Form und zwängte ihn in die Kleider ihres modisch um ein
Jahrhundert hinterherhinkenden Albtraums vom perfekten
Kind, während Vater Rohrstock Morgen für Morgen wiederholte: „Denk dran, mein Sohn, sieh deinem Gegenüber
immer in die Augen, wenn du sprichst.“
Majas Fantasie kam allmählich auf Touren. Sie sah Meister Proper am Mittagstisch sitzen; auf seinem Teller, der so
blank war, als wäre er immer schon leer gewesen, lag die
letzte Erbse. Jeder normale Mensch hätte mit seiner Gabel
diese Erbse minutenlang gejagt, nicht so Herr Sauber-Ausgeführt. Mit einer einzigen, präzisen Bewegung spießte er
die Erbse auf und führte die Gabel zum Mund. Maja wurde
immer unruhiger. Kein Zweifel, sie sah sich einem lebensgefährlichen brünetten Barrakuda gegenüber. Um jeden
Preis musste jetzt ein positives Gegenbild her. Sie dachte an
ihren Sohn, seinen Irokesenschnitt, seinen hemdsärmeligen
Umgang mit Wasser und Seife, aber das Bild ihres Sohnes
machte die Situation auch nicht besser. Entsetzt malte sie
sich aus, wie ihr geliebter Bruno zufällig dieser Bestie im
blütenreinen Kragen begegnet, sich infiziert, den Iro abrasiert und sich einen Seitenscheitel zulegt. Gütiger Gott, bitte
nicht Bruno!
– Ich hätte ein Taxi nehmen sollen.
– Wie bitte?
– Im Bus begegnet man immer so widerlichen Typen.
– Typen wie mir, meinen Sie?
– Gleich kommt eine Bedarfshaltestelle – ihre Stimme
zitterte und wurde leiser. – Ich melde Bedarf an, dass Sie
aussteigen.
Er lächelte.
– Sie würden meiner Mutter gefallen.
– Ich bin schlecht in Müttern. Ich fürchte, ich könnte die
Gefühle Ihrer Mutter nicht erwidern.
Sie wollte noch anfügen: „schließlich hat sie ein Monstrum großgezogen“, konnte sich aber zurückhalten. Dieser
schöne Erfolg – Maja gelang es nicht immer, nicht zu sagen,
was sie nicht sagen wollte – gab ihr neuen Mut. Der Bus war
voll besetzt, sie hatte nichts zu befürchten, höchstens eine
Grippe oder einen Pilz von ihren Mitfahrern; Gewaltexzesse
standen aller Voraussicht nach nicht an. Die Situation gestaltete sich so ungemütlich wie folgt: Sie unterhielt sich
mit einem höflichen, erschreckend reinlichen, hochwertigen Mannsbild hyperrealistischer Machart.
– Sie brauchen nicht an der nächsten Haltestelle auszusteigen – lenkte sie nach einer ausgedehnten Pause begütigend ein. – Steigen Sie aus, wann Sie wollen.
Er neigte leicht den Kopf und räusperte sich verlegen.
– Ich würde Sie gern näher kennenlernen. Ich muss gestehen, Sie haben mich mächtig beeindruckt.
Jetzt sah sie ihn mit anderen Augen. Weil er sein Interesse bekundet hatte, konnte Maja ihre erste Einschätzung
noch einmal korrigieren und den Sympathiefaktor erhöhen
bzw. den Antipathiefaktor minimieren. Sie erkannte, dass
man ihn nur ein wenig beschmutzen, die Haare zausen
und zwei bis drei Pickel auf den Wangen platzieren müsste,
schon sähe er den anderen Chef-Gorillas gar nicht mehr so
unähnlich. Man könnte ihn sogar in den Club mitnehmen.
Wahrscheinlich war er gar kein Psychopath, sondern nur
geistig, kulturell oder hygienisch behindert.
– Haben Sie im Novemberaufstand, aus dem Sie offenbar
gerade kommen, erfolgreich fremde Bräute im ÖPNV abgeschleppt?
Während er sich seine Antwort zurechtlegte, stellte sie
sich vor, dass Meister Ich-pinkle-kohlensäurearmes-Mineralwasser mit jüngeren Geschwistern gesegnet war. Dass
die ganze Sippe bei Tisch auf Kommando Erbsen aufspießt.
Diese Szene geriet Maja so anrührend komisch, dass sie
nicht einmal versuchte, ihr Lächeln zu verbergen.
– Ich sehe mich – gestand er ernsthaft – zu einer intelligenten und geistreichen Antwort nicht in der Lage.
– Bei mir ist das umgekehrt. Intelligente Antworten habe
ich immer parat. Ist doch egal, dass ich die Fragen nicht abwarten kann!
– Gestatten Sie mir eine Einladung zum Abendessen.
Maja zeigte sich an dem Unbekannten und seinem untadeligen Äußeren zunehmend interessiert. Sie kam sich vor
wie eine Archäologin, eine Epidemologin, eine Biologin bei
der Erforschung einer extraterrestrischen Lebensform. Sie
kam sich vor, als hätte sie das Teflon erfunden, die reinste Substanz überhaupt; na ja, vielleicht ex aequo mit der
Hostie.
– Schwitzen Sie?
– Hmm. Ja, in diesem Moment habe ich beispielsweise
vor Aufregung schwitzige Hände. Handflächen.
– Haben Sie …
– Ich beantworte all Ihre Fragen unter der Bedingung,
dass wir uns treffen.
– Gut. An einem öffentlichen, gut ausgeleuchteten Ort.
Haben Sie manchmal Schnupfen? So richtig mit Rotz?
– Ich muss gleich aussteigen, das ist meine Haltestelle.
Bitte geben Sie mir Ihre Nummer.
Maja diktierte, und er zog aus seiner manierlichen ledernen Brieftasche eine Visitenkarte.
– Morgen rufe ich an. Die bekommen Sie für den Fall der
Fälle. Auf Wiedersehen.
Er stieg aus, und sie sah ihm nach. Sie wusste nicht, was
sie mehr schmerzen würde: Wenn er stehen bliebe und
schaute, oder wenn er sich abwandte und seiner Wege ging.
Maja schaute nicht gerne, wenn sie nicht wusste, was sie sehen wollte. Undefiniertes Schauen konnte sehr riskant sein,
und eine Bindehautentzündung wollte sie sich jetzt ganz bestimmt nicht einhandeln.
In ihrem Kopf war ein Rauschen, aber nicht das zarte Gesäusel von Champagnerbläschen, etwas Massiveres, eindeutig Sanitäres. In etwa das Freilegen eines verstopften Jacuzzi.
Bulb-bulb-bulb. Wie exakt ich den Klempner in meinem Kopf
wiedergeben kann, staunte sie.
Das Gespräch im Bus erschien ihr bald als völlig unglaubwürdiges Produkt ihrer Antidepressiva, bald als große Peinlichkeit, als hätte sie versucht, den Teenager zu spielen, der
sie seit Jahren nicht mehr war. Es klang in der Endlosschleife
mit dem ewigen verkorksten Prolog (Maja, du bist der tollste
Mensch der Welt) hoffnungslos selbstgefällig. Wirklich intelligente und wohlerzogene Menschen sollten ihre Intelligenz
und ihre gute Erziehung nicht so direkt herauskehren. Intelligente Menschen mit sozialen Umgangsformen hätten sich
ein ordentliches Thema gesucht. Das Wetter. Die Erhöhung
des Renteneintrittsalters. Ein Zugunglück. Opferzahlen.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
JUSTYNA
BARGIELSKA
KLEINE
FÜCHSE
Justyna Bargielska (geb. 1977), Lyrikerin und
Prosaistin. Ausgezeichnet u.a. mit dem Literaturpreis Gdynia. Małe lisy [Kleine Füchse; 2013] ist
ihr zweiter Prosaband.
In „Kleine Füchse” gibt die glasklare Stimme einer jungen
Frau Geschichten zum Besten, eigene Geschichten oder Geschichten geradewegs aus dem Leben. Der Gegenstand: die
Kinder, der Ehemann, der Hund, die Mutter, die Schwester
und die Nachbarinnen. Die Wohnsiedlung, daneben der Wald.
Der Haushalt, in der U-Bahn aufgeschnappte oder zu Hause
von der Tochter geträllerte Rhythmen, der Vorstadtbus. Im
Heimeligen lauert jedoch das Unheimliche, im Vertrauten das
Sündhafte. Der märchenhaft angehauchte Liebesroman, die
weltweit populärste frauenliterarische Gattung, erhält hier
eine komplexe, ironische Dimension. „Hattet ihr denn mal
was, Mädels, mit einem Gangster aus dem Wald? Denn genau
das, Mädels, hatte ich” – so beginnt „Kleine Füchse”.
Der Titel ist so vieldeutig wie einleuchtend. Sie sind es, die
biblischen kleinen Füchse, die kleinen Sünden – in diesem Fall
die Sünden der Hausfrauen – die die Weinberge verwüsten.
Wie ist es doch verlockend, ein kleiner Fuchs zu sein und einfach im Wald bei der Siedlung herumzustreifen! Die in einem
Grenzbereich von Traum, Erinnerung und Phantasie gesponnenen Märchen über den Messerstecher als Geliebten fordern
alles in allem doch ihren Preis. Das alltägliche Familienleben,
seine Materie selbst unterliegt einer gewissen Erosion, da das,
was die Welt zu einem verzauberten Ort macht – die Poesie,
und manchmal sogar die Religion – sich nun auf einen Bereich
außerhalb des Hauses verlagert, in den Wald. Der tiefe Blick
in die Dynamik dieses Prozesses ist jedoch nicht identisch mit
Schuldgefühl. „Das geht mir am A... vorbei” ist die Autorin imstande zu schreiben, die sonst fast nie zu Vulgarismen greift.
Der Sinn dieser Umschreibung ist einfach. Für die Frau sind
Freiheit und Schaffenskraft seltene und unschätzbare Werte,
die es mit dem eigenen Körper zu schützen gilt.
Bargielskas poetischer Redefluss spaltet sich in zwei Figuren auf, die alltägliche, aber dadurch nicht weniger dramatische existentielle Erfahrungen dokumentieren. Agnieszka, die
„Forschontärin”, eine der „Damen von der Stiftung”, ist eine
selbständige junge Singlefrau, die u.a. einen Schreibkurs im
Kulturzentrum der Siedlung leitet. Die Figur des literarischen
Schaffens erscheint hier als grenzenloses kollektives Projekt,
welches das eindeutige Verständnis der Autorschaft in Frage
stellt. Auf diese Weise deklariert Bargielska, die scheinbar
obenhin verschiedenste Frauennamen in den Text einfließen
lässt, „Kleine Füchse” zwar zu ihrem, aber nicht allein von ihr
stammenden Werk. In diesem weiblichen, von der Definition
her leicht obszönen Redeschreibfluss, in dessen Zuge Leiden
und Begehren auf die Bühne des Alltags vordringen, erweisen
sich Worte, Gedanken, Orte und Erfahrungen als gemeinsam.
Agnieszkas Geschichte verflicht sich erstaunlich eng mit der
Mikroperspektive einer anderen Figur, einer Hausfrau und
Mutter, die zum Glück oder Unglück für die Wirklichkeit
selbst eine empfindsame Intellektuelle ist. Beide Frauen schlafen ganz offensichtlich mit demselben betörenden Räuber aus
dem Wald.
In „Obsoletki” [Obsoletes], Bargielskas letztem Buch, war
es die Trauer, die dem Ganzen seinen Ton verlieh. Eine tiefe
und zugleich problematische Trauer, zeichnete die Autorin
doch die Erfahrung einer Fehlgeburt nach, den Verlust einer
Person, die es in der realen Welt noch gar nicht gegeben hatte.
Die medizinische Erfahrung fand einen religiösen Rhythmus
und eine religiöse Bebilderung, der dunkle Schein von Trauerritualen erfüllte die Welt. „Kleine Füchse” ist da ganz anders.
Die Rückkehr auf die Seite des Lebens bedeutet den Eintritt in
die Sphäre erhöhter Gefahr, illegaler erotischer Leidenschaften und der Phantasie, von zu Hause wegzulaufen, auch wenn
man dafür durch die Kanalisation abfließen müsste. Doch wie
zu erwarten bleibt die große Katastrophe hier aus. Die Kinder,
imaginär beim Versuch eines erweiterten Selbstmords mit
Schlaftabletten betäubt, wachen doch am Schluss wieder auf.
Und auch ihre Mutter kehrt ins Leben zurück. Die Aspekte des
schriftstellerischen Ichs fügen sich zusammen, gemeinsam gehen die beiden Geliebten des Messerstechers zum Wohnblock
zurück, gemeinsam tragen sie die Kinder. Die Handlung ist bei
dieser Erzählung zwar wichtig und fesselnd, aber dennoch in
gewissem Sinne konventionell. Das Wichtigste ist die Begabung der Autorin, alles zu Literatur zu verdichten, zu einer
bündigen, ironischen, manchmal etwas surrealen Literatur,
die aber immer von der Schönheit und der Bedrohung handelt,
die sich in der Unbestimmtheit der Existenz verbergen.
Kazimiera Szczuka
JUSTYNA BARGIELSKA
„MAŁE LISY”
CZARNE, WOŁOWIEC 2013
125×195, 112 PAGES
ISBN 978-83-7536-505-4
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
Hattet ihr
KLEINE
FÜCHSE
denn mal was, Mädels, mit einem Gangster aus dem Wald?
Denn genau das, Mädels, hatte ich.
Aber heute haben wir den Dienstag, bevor irgendetwas
begann, und ich bin immer noch Laborleiterin, Forscherin,
und auch freiwillige Mitarbeiterin der Stiftung, Volontärin.
Forschontärin. Aus dem Bus, der an einer roten Ampel steht,
beobachte ich zwei Jungen mit Rucksäcken, die Eis aus einer
Pfütze brechen. Sie halten große Stücke davon in den Händen. Die Ampel springt auf Grün, der Bus fährt an, ich überlege, wozu sie das Eis brauchen, die einzige Erklärung ist,
dass sie die vorbeifahrenden Autos damit bewerfen wollen.
Ich kehre zu meinem Buch zurück, aber ich sollte im Bus
nicht lesen, denn es nimmt mich immer alles sehr mit, was
ich lese. Am meisten nimmt mich Frauenliteratur mit, aber
auch einige wissenschaftliche Werke haben emotionalen
Einfluss auf mich.
Ich bin erleichtert, dass mein Bus losgefahren ist, bevor
die Jungen angefangen haben, die vorbeifahrenden Autos
mit Eis zu bewerfen. Nicht ausgeschlossen, dass ich irgendeinen Sport machen sollte. Mir ist aufgefallen, dass ich meinen Zustand – je nachdem, wie kontrovers das Gelesene war
– mit psychosomatischen Formulierungen beschreibe: dass
mir die Knie zittern, die Hände oder überhaupt meine ganze
kritische Person. Nach der Lektüre muss ich oft zu einem
bestimmten Regalbrett gehen und etwas anderes, Bekanntes, Offensichtliches lesen, zur Beruhigung. Am liebsten
Darwin. Ich glaube, mir fehlt Bewegung.
Eigentlich mag ich frische Luft. Sie hilft, brachliegende
Gehirnstrukturen zu nutzen. Einmal war ich in den Ferien
auf dem Land und eines Tages fiel mir unvermittelt eine
Entgegnung auf etwas ein, was eine Frau vom Ministerium beim Vorjahrestreffen gesagt hatte: dass sie uns über
den Termin des nächsten Treffens informieren werde, aber
verhandelt werde nicht, denn die Damen von der Stiftung
hätten ja viel Zeit.
Ich hätte ihr sagen sollen, dass die Damen von der Stiftung unbezahlt ihre Freizeit opfern, um das wieder geradezubiegen, was solche fetten Scheusale wie sie in ihren Amtsstunden für öffentliche Gelder kaputtmachen! Ich weiß nur
nicht, ob ich es mit Ausrufungszeichen oder ohne hätte
sagen sollen. Im Grunde ist es gut, dass mir diese scharfe
Entgegnung nicht gleich vor Ort eingefallen ist, denn ich
hätte dadurch, dass ich über das Ausrufungszeichen nachgegrübelt hätte, sowieso die ganze Wirkung verdorben.
Für diese Gehirnstrukturen habe ich mir neulich einen
Hund angeschafft. Einen Westie. Sein weißes Fell ruft keine Allergien hervor. Ich gehe zweimal am Tag mit ihm auf
den Rasen hinter der Siedlung, und einmal am Tag in den
Wald auf der anderen Straßenseite. Im Schnee sieht man
ihn schlecht.
Und eines Tages bin ich mit meinem Westie im Wald,
und es kommt aus einer Entfernung von ungefähr hundert
Metern ein Mann auf mich zu. Groß, graumelierte lockige
Haare, Anzughose, Flanellhemd und knielanger Mantel,
aufgeknöpft.
„Was für ein Arschloch muss man sein!“, ruft er.
Er kommt näher, grüßt und erklärt, dass er denjenigen
gemeint habe, der seinen Müll in den Wald geschmissen hat.
Den Müll sieht man im Schnee sehr gut.
„Da hinten liegen noch zwei Monitore“, sage ich. Der
Hund des Mannes kommt angerannt und der Mann fragt,
ob unsere Hunde miteinander spielen dürfen. Das dürfen
sie, auch wenn sein Hund etwas lustlos ist und meinen Westie höchstens ein bisschen um sich herumspringen lässt.
„Wir sind in Trauer“, erklärt der Mann. „Er hatte eine
Freundin, aber ich musste sie einschläfern lassen, weil sie
Krebs hatte. Es war dumm von mir, sie zu begraben, als er
zusah. Er hat nicht kapiert, dass das ein Begräbnis war, das
letzte Geleit, und so. Ist schließlich ein Hund, der muss das
nicht verstehen.“
An die hundert Meter tiefer im Wald habe ich einmal ein
Portraitfoto von einer Bulldogge im Schnee liegen sehen.
Die Glasscheibe hatte einen Sprung, wahrscheinlich vom
Frost. Ich male mir aus, dass das ein Tierfriedhof ist, vor
dem Winter habe ich hier manchmal Schnittblumen liegen
sehen. Mein Westie gibt auf, der Hund des Mannes im aufgeknöpften Mantel will alleine sein.
Die nächsten Tage führe ich meinen Westie auf der Wiese an der anderen Seite der Siedlung spazieren. Über der
Wiese hören die niedrig gespannten Hochspannungsleitungen nicht auf zu sirren. Ich mag ihr Sirren, denn dank ihm
habe ich eine Wiese nebenan und nicht die nächste Wohnsiedlung. Später kehre ich wieder zum Wald zurück.
Einmal beim Spazierengehen habe ich ein Foto von etwas gemacht, das ich nicht verstehen konnte. Ich habe es
auf meinen Computer geladen und vergrößert, aber ich
weiß immer noch nicht, wozu diese Installation dienen sollte. An vier Bäumen, die grob gesehen im Quadrat wuchsen,
hingen Beutel mit etwas, das gefroren war und sogar auf
den Fotos hart aussah. In der Mitte stand ein großer Stein,
aber kein Felsblock, sondern einfach ein Stein, der so groß
war, dass er wie extra hergebracht aussah, und nicht wie
zufällig im Wald gefunden. Neben dem Stein stand eine
Blechdose, die so aufgeschnitten war, dass ihr Boden einen
Greifer bildete und die Wände zwei schräge Schneiden.
Also, ich weiß nicht.
Ich habe den Mann in dem aufgeknöpften Mantel getroffen. Er hat mich wohl kaum an mir erkannt, denn ich hatte
mich fast bis unter die Brauen in meinen Schal eingewickelt,
so kalt war es. Wahrscheinlich hat er mich an meinem Westie erkannt.
„Soll ich Ihnen was zeigen?“, fragte er.
Wir gingen tief in den Wald, in die Tiefe zu dem Einfamilienhaus auf der anderen Seite hin. Er zeigte mir so etwas
wie die Reste einer Hütte.
„Hier hat Pajda gewohnt“, sagte er. „Mit seiner Geliebten.“
Irgendwas hatte ich gelesen.
„Ein Messerstecher, wissen Sie. Hat sich hier eine Hütte
hingestellt, eigentlich ein Zelt, und das Zelt mit Zweigen
überdeckt. Zur Tarnung. Den ganzen Sommer hat er hier
gewohnt, mit der Geliebten und zwei Kindern.“
„Und zwei Kindern?“
„Schwangeren Geliebten.“
Darüber hatte ich tatsächlich was gelesen. Unsere Siedlung bekommt keine Lokalzeitung, die Einfamilienhäuser
rundherum natürlich schon, da wird das „Echo“ an die
Gartentore gehängt, in speziellen Plastiktüten mit Henkel,
aber bei uns wird es nicht ausgeteilt, wer würde es auch in
die dreihundert Briefkästen stecken wollen, und vor allem
wozu, wo doch mindestens die Hälfte von uns Wochenende
für Wochenende in ihr richtiges Haus fährt, weit außerhalb
von Warschau, und erst dort Interesse hat, sich die Lokalnachrichten anzueignen. Und auch, Steuern zu zahlen. Und
so habe ich mir das „Echo“ eines Tages aus dem Laden geholt.
Wie dieser Pajda sein Unwesen getrieben hat! In einem
Vorstadtbus, mit dem er im Sommer vom Stausee zurückgekommen ist, an einem Juliabend, hat er den Fahrer überfallen. Der Bus stand an der Wendeschleife, und Pajda und sein
Kumpel wollten noch was trinken und ein bisschen herumfahren. Der Fahrer hat sie gebeten, auszusteigen, denn es
gibt ein Gesetz, das besagt, dass man an der Wendeschleife
aussteigen muss. Da hat Pajda sein Messer gezogen und den
Fahrer verletzt, der ins Krankenhaus musste, und so haben
Pajda und sein Kumpel es zu einem Steckbrief gebracht.
„Oh, hier“, sagte der Mann im aufgeknöpften Mantel.
„Hier hatte er sein Zelt.“
Vom Zelt war nur die organische Hülle geblieben: ein
paar kahle Zweige, die an einem Balken zwischen zwei nebeneinanderstehenden Bäumen befestigt waren.
„In diesem Zelt haben sie ihn geschnappt. Die Geliebte, ihre beiden Kinder, ein und drei Jahre alt, ja und diese
Schwangerschaft, ich weiß nicht, wie man das mitzählen
soll. Handys, Schmuck, DVDs.“
„DVDs?“
„Leider. Den ganzen Sommer haben sie hier gewohnt.“
Mir fiel ein, ich könnte den Mann im aufgeknöpften
Mantel beim nächsten Mal fragen, ob er der Mann aus der
Anzeige ist. In unserem Treppenhaus hängt eine Vermisstenanzeige aus, es wird jemand gesucht, der auch hier gewohnt hat und jetzt verschwunden ist, aber ich kann auf
dem Foto, oder eigentlich der Kopie von dem Foto, nicht
genau erkennen, wie dieser Mann aussehen soll. Übrigens
kann ich sowieso sehr schlecht Gesichter wiedererkennen,
ich frage viel lieber einfach, ob jemand jemand ist, oder
jemand anderer, oder überhaupt niemand.
An Pajda denke ich hauptsächlich unter der Dusche.
Meine Wohnsiedlung hat eine defekte Warmwasserinstallation, jedenfalls beurteile ich das so. Aber es ist auch
möglich, dass meine Nachbarn von unten sich einfach seltener waschen. Wenn ich dusche, muss ich zwei Minuten
warten, bis das Wasser so aus dem Hahn fließt, wie ich
es angefordert habe, nämlich warm. Zuerst kommt kaltes
Wasser, dann abwechselnd kaltes und heißes, schließlich stabilisiert sich die Temperatur und ich kann mich
waschen. Wie man es auch nimmt, das ist für mich sehr
lästig, und genau dann denke ich am häufigsten an Pajda
in seiner Hütte.
Ich denke auch an Pajdas Geliebte. Ich war noch nie
schwanger, aber ich kann mir vorstellen, dass Hygiene in
dieser Zeit entscheidend ist. Denn über Kinder wiederum
habe ich gelesen, dass sie dreckig glücklich sind. Wasser
laufen zu lassen, bis das mit der richtigen Temperatur
kommt, ist unökologisch, aber daran will ich gar nicht
denken. Eine Hütte aus Zweigen dagegen ist ökologisch,
und an sie denke ich die ganze Zeit.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
PAWEŁ
POTOROCZYN
IRREN IST
MENSCHLICH
Paweł Potoroczyn (geb. 1961), Diplomat, Verleger, Musik- und Filmproduzent. Er war Konsul in
Los Angeles und Direktor der Polnischen Kulturinstitute in New York und London. Seit 2008 ist
er Direktor des Adam-Mickiewicz-Instituts, einer
Institution, deren Auftrag die Verbreitung der polnischen Kultur im Ausland ist. Irren ist menschlich
ist sein literarisches Debüt.
Ein spätes, überraschendes Debüt. Irren ist menschlich ist der
Versuch, die Geschichte der polnischen Gesellschaft nicht mit
Blick auf „den Hof“, sondern auf das Dorf zu skizzieren – auf
Bauern, Juden, Pfarrer, Partisanen und natürlich volkstümliche Frauen. Das Dorf heißt Piórków. Seine Bewohner sind
die Piórkówer; eine düstere, rachsüchtige, von Instinkten
geschüttelte Gemeinschaft aufrechter Menschen, die übereinander wachen und sich über ganze Generationen hinweg
Leid antun, ganz menschlich, ganz normal. Irren ist menschlich
wurde von der Kritik gut aufgenommen, das Buch ist in einer
sorgfältig präparierten, stilisierten, geschmeidigen Sprache
geschrieben, die bäuerliche Wirklichkeit, Ironie des Autors
und eine Umwertung der heroisch-martyrologischen polnischen Matrize miteinander vereint. Ein Element der Erzählung ist die groteske Deutlichkeit, die spöttische Reduktion
nationaler Motive – beispielsweise des Widerstands gegen die
deutschen Okkupanten – auf das Konkrete, die Erde, den Körper. Alles beginnt mit einem Begräbnis, denn, wie wir lesen,
„die Begräbnisse in Piórków waren lebendiger als Hochzeiten,
der Kinematograph oder die Elektrizität“. Dieser ländliche
Brauch – denn auf eine Beerdigung geht jeder, es gibt weder
Eintrittskarten noch Einladungen, und wenn ein Feind bestattet wird, dann ist es „die reine Freude“ – scheint eine Figur für
die Existenzweise der gesamten polnischen Gemeinschaft zu
sein, die sich auf Trauerrituale konzentriert und den finsteren, ursprünglichen Jähzorn hinter lobpreisenden Bildnissen
des Erlösers und Marias verbirgt. Für den Autor von Irren ist
menschlich gehört das Brauchtum der bäuerlichen Kultur an
sich weder dem sacrum noch dem profanum an. Diese Sphären sind genauso von Zufall, Schicksal und Psychologie geprägt wie die Geschichte, die das Dorf überrollt. Gut und Böse
hausen und mischen sich immer und überall. Die Pendelbewegung von Leben und Tod, dargestellt von durch das Dorf
ziehenden Hochzeits- und Trauerzügen, ist weder in der Lage,
das ungleiche Ausmaß der Tugenden und Missetaten zu beurteilen, noch es zu erfassen oder zu bändigen. Das eine besteht
für sich und das andere besteht für sich.
Im Roman sind mehrere zentrale Handlungsstränge verflochten, der markanteste von ihnen schildert die Liebesbeziehung von Jaś Smyczek, einem Musiker und Weiberhelden,
und Wanda, der schönen Bäckerin. Das Leben in Sünde verzeihen weder der Pfarrer noch das Dorf, aber Smyczek stirbt in
der ersten Szene des Romans, getroffen von einer deutschen
Kugel, als Partisan. Wir dringen in die Vergangenheit vor,
ins Gewirr der Piórkówer Schicksalswege. Von vornehmen
Herren, Bauern und Juden, ja sogar von Deutschen. Es gibt
hier Kommunistinnen, Künstler und Weltenbummler. Potoroczyn schreibt eine neue Dorfprosa, befreit von Eindeutigkeit
und religiösem Patriarchalismus. Er wandelt die Traditionen
Reymonts, Kawalec’ und Myśliwskis ab, aber man erkennt in
dieser Prosa auch eine an Gombrowicz gemahnende Ironie
und die deutlichen Rhythmen der lokalen Erzählungen Jerzy
Pilchs. Die verborgene „Seite“ von Irren ist menschlich ist die
Kunst, die Frage danach, wer Künstler ist und wer diese Rolle
nur anstrebt, sich in ihr ausprobiert. Diese Fragen des frischgebackenen Autors sind reich an Selbstironie.
Kazimiera Szczuka
PAWEŁ POTOROCZYN
„LUDZKA RZECZ”
GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL
WARSZAWA 2013
123×195, 352 PAGES
ISBN 978-83-7747-833-2
TRANSLATION RIGHTS:
GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL
Das Briefchen
IRREN IST
MENSCHLICH
von Pfarrer Morga an Gutsherrn Radecki enthielt nur zwei
Sätze. Erstens: „Grzegorz, am Samstag kündige ich mich
zum Nachmittagskaffee und zur Préférence an.“ Und zweitens: „Was auch immer Du für den Unglückseligen tun wirst,
der Dir dieses Briefchen überreicht, tu es, als tätest Du es
für Deinen Bruder und mich selbst.“
Beide Sätze nahm sich der Gutsherr zu Herzen. Für den
Nachmittagskaffee legte er sich ins Zeug wie für ein Abendmahl: Steinpilzsuppe, Zander und Ente, Mohnkuchen, Honigwein, Liköre und Starka, für die Préférence war der
Abend zu kurz. Smyczek wies er an, auf dem Dachboden
Quartier zu beziehen, aber im Gutshof. Als die Britschka,
die Morga nach Hause brachte, in der Pappelallee verschwunden war, machte er sich daran, ein Empfehlungsschreiben an einen Freund der Familie aus alten Tagen
aufzusetzen.
Herr Radecki hatte keinen Grund, Smyczek zu mögen.
Er mochte ihn nicht, weil Wanda die Avancen des Gutsherrn zurückgewiesen hatte, obendrein zwei Mal. Einmal
nach dem Tod des Bäckers, als sie vor den Menschen Trauer trug und es unter dem Federbett, wie sich herausstellte,
mit Smyczek trieb. Und zum wiederholten Mal, als Jaś in
Tarnów im Gefängnis saß.
Er mochte ihn nicht, weil er zur Jagdzeit, wenn er den
Gästen Rebhuhn oder Hasen auftischen wollte, Smyczek holen lassen musste, er selbst hätte nicht mal aus fünf Schritt
Entfernung den Heuwagen getroffen.
Er mochte ihn nicht, weil er ihn, nachdem er den Halunken bei sich aufgenommen hatte, unwillkürlich, sogar
gegen seinen Willen, besser behandelte als den Rest der Dienerschaft, sogar besser als die Hausbewohner, damals war
der Gutshof in Olszany noch ein Haus gewesen. Er mochte
ihn nicht, weil er, nachdem er Smyczek den Flügel gezeigt
hatte, dem er noch nie reine Klänge hatte entlocken können,
das Instrument und den Rest seines Überlegenheitsgefühls
verloren hatte.
Nun, er mochte ihn ganz einfach nicht.
Der Gutsherr wäre bereit gewesen für Talent über Leichen zu gehen, für irgendein Talent, für einen Talentersatz,
für den Schatten eines Talents, in einer beliebigen Kunst,
in der zu betätigen es sich schickte. Er konnte Noten lesen, aber kein Instrument spielen, allerhöchstens konnte
er assistieren, die Seiten umblättern, sich beim Pianisten
mit einer vielsagenden Verbeugung revanchieren, die zu
verstehen gab, dass er mindestens ein ihm ebenbürtiger
Künstler war, der sich nur aufgrund seiner Schüchternheit
mit der Nebenrolle abfand, einer Verbeugung, welche die
Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass wahre Genies
bescheiden und nur Talentierte hochmütig sind. Die Ermattung in seiner Darbietung war so überzeugend, er ließ so
aufrichtig die Augenlieder sinken und legte seinen Kopf in
den Nacken, er warf die Schöße seines Gehrocks mit einer
solch vollkommenen Bewegung hinter sich, wenn er sich
auf das Stühlchen im Rücken des Pianisten setzte, dass es
schien, als sei der Maestro in den Gutshof gekommen, um
der Hausmusik die Ehre zu erweisen. Die Etüden des Gutsherrn waren so suggestiv, dass ohne Zweifel ein Teil des
Applauses, verdientermaßen und gerechterweise, ihm galt.
Von seiner frühen Jugend an bis ins reife Alter versuchte
sich der Gutsherr in der Poesie, von der Annahme ausgehend, dass diese keiner angeborenen Begabungen bedarf
wie die Musik oder die Malerei, dass die Worte genauso
Tauben und Blinden zugänglich sind und die Bedeutungen
gerecht verteilt sind zwischen allen, die die Schrift beherrschen. Die Annahme war ebenso falsch wie seine Poesie,
ohne Rücksicht darauf, ob er Oden auf Russisch schrieb,
englische Sonette oder ein Haiku. Die verheerende Neigung
zur Pointe, der Fallstrick der Lyrik, machte das zunichte,
was Herr Radecki selbst als Wesen der Poesie ansah – die
Freiheit von den der Literatur auferlegten Pflichten und die
Freiheit des eigenen Ausdrucks. Die Rhythmen, Melodien
und Farben, jenen vorbehalten, denen das Schreiben die
allergrößte Schwierigkeit bereitet, und irgendwie gegenwärtig in seinen Gedichten, erklangen in allen Sprachen mit
dem leichten blechernen Echo eines Emailleeimers.
Malen konnte er wohl, aber es verriet ihn eine künstliche Distanz, die bewirkte, dass nicht einmal die schlechtesten Bilder aussahen, als hätte sie ein Weitsichtiger gemalt,
der vier Schritte von der Leinwand entfernt stehen muss,
um zu erkennen, welche Formen und Farben sich darauf
ereignen, von Nahem hingegen sieht er nichts als Striche
und Farbpartikel. Vielleicht konnte er es auch, aber mochte
es nicht, es sei denn schüchterne Akte kleiner Jungen, deren zarte, in banalen Posen erstarrte Substanz die kognitive
Unsicherheit beweist und deren kleine Münder und große
Glieder den Zwiespalt des Künstlers erkennen lassen. Die in
größtem Maße unangenehmen Bemühungen um Modelle
trugen auch erheblich dazu bei, dass er selten und furchtsam malte.
Das Unglück des Gutsherrn und der Fluch seiner sorgfältigen Ausbildung und seines wahrhaft guten Geschmacks
war es, dass er sich dessen bewusst war. Was er leider nicht
wusste, war, dass man, um sich ausdrücken zu können, wissen muss, wer man ist.
Das Singen hatte er noch als Junge aufgegeben, als er
eine gewisse Verlegenheit in den Gesichtern der eigenen
Eltern bemerkte. „Du musst nicht singen, mein Sohn“, sagte
die Mutter, „erzähl uns das doch vielleicht lieber.“
Der Gutsherr hatte sich oft Gedanken darüber gemacht,
warum Morga, letztlich ein Zugezogener – und für die Radeckis und Gieskaners, deren Wurzeln in jener Gegend
vierhundert Jahre zurückreichten, ganz einfach ein Landstreicher –, warum Morga eine solche Geltung unter den
Bauern besaß, dass sie alles, was er befahl, sofort taten, und
das manchmal sogar ohne Murren und das übliche Meckern.
Er war weder besonders klug noch gelehrt, in seiner Überheblichkeit gnadenlos, wenn auch auf seine Art gerecht.
Wenn ihm wenigstens das Alter die Autorität verliehen
hätte, aber Morga war nicht einmal sehr alt. Vielleicht genoss er deshalb weniger Respekt bei den Frauen, für die ein
lebhafter Kerl, und sei es im Kleid, immer nur ein Kerl sein
wird, vor allem wenn er keusch ist, denn nichts steigert die
Neugier der Weiber so wie Lust- und Kraftlosigkeit, und
nichts schwächt den Respekt mehr als diese Neugier. Und
vielleicht wurde er aus demselben Grund von den Bauern
geachtet, weil er noch nicht alt war, aber freiwillig schon
so gut wie auf der anderen Seite.
Bei alledem hatte der Gutsherr, ohne den Gehorsam
Smyczeks zu verstehen, der auf Befehl Morgas die schönste Frau verlassen hatte, die er jemals gesehen hatte, seine
eigenen Gründe und Verpflichtungen dafür, auf den Pfarrer
zu hören. Er schrieb also einen Brief, der mit den Worten
begann: „Werter Onkel, vergib mir, dass ich mich direkt an
Ihn wende, aber ich habe keine Beziehungen im gunbatsu.
Seit unserem letzten Treffen in den Gärten des Kaiserpalastes habe ich gnädigen Onkel um nichts gebeten, und ich
würde niemals Seine Zeit in eigener Angelegenheit vergeuden oder Ihm Unannehmlichkeiten bereiten, doch die Zeit
ist gekommen, dem einfachen Menschen zu helfen, den
gnädiger Onkel damals erwähnte.“
Der Brief endete mit den Worten: „... sonst kommt er
wieder in den Knast, es ist eine Frage der Zeit.“
Die Rechnung des Gutsherrn war einfach wie ein
Stummfilm im Tschenstochauer Kinematographen. Im
ersten Akt begibt sich der schändliche Smyczek in die verdiente Verbannung. Im zweiten legt der Gutsherr Wanda
die Welt zu Füßen (berauschend schnelle Schlittenfahrt
auf glitzerndem Schnee, die Sonne in den Baumkronen). Im
dritten Akt erliegt Wanda dem Gutsherren (alles beginnt
im Kreis herumzuwirbeln), im vierten plagen sie Gewissensbisse (Untertitel: Ach, was habe ich nur getan), doch der
Gutsherr bittet um ihre Hand (der Verlobungsbrillant im
Kerzenschein).
Fünfter Akt: Der schändliche Smyczek erweist sich als
unschuldig und flieht, insgeheim unterstützt durch den
Gutsherrn, aus der Verbannung, aber er fügt sich in sein
Schicksal und der Gutsherr heiratet Wanda.
Oder:
Fünfter Akt: Der zu Unrecht verurteilte Smyczek kehrt
aus der Verbannung heim und vergibt Wanda, der Gutsherr
bietet den Neuvermählten in einem Anfall von Reue eine
großzügige Reise an.
Oder:
Fünfter Akt: Smyczek heiratet eine andere oder fällt im
Krieg, der unglückliche Gutsherr löst unter dem Druck der
Familie und Gesellschaft die Verlobung, Wanda schleudert
den Ring in den Teich von Piórków und schluchzt ob ihres
Schicksals (O was bin ich unglücklich!).
Eine Antwort des Marschalls ist nie eingetroffen, obwohl der Brief Wirkung gezeigt hat. Nach zwei Monaten
kam ein Militärkurier auf einem Motorrad zum Gutshof
und brachte den Einberufungsbescheid für Smyczek.
Das erste Mal unterschrieb Jaś einen Brief an Wanda
mit einem Violinenschlüssel. Ohne aus dem Beiwagen des
Motorrads zu steigen, gab er ihn Wawerek mit der Bitte,
ihn zu überreichen. Wawerek erklärte sich einverstanden, zog den Hut und ging in Richtung Zatylna. Smyczek
setzte vorschriftsmäßig die Brille auf, das Motorrad heulte,
qualmte, wendete auf der Stelle und verschwand dann auf
dem Weg nach Broniszewska in einer Staubwolke und dem
aufregenden violetten Gestank der Abgase.
Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel
HUBERT
KLIMKO-DOBRZANIECKI
GRIECHEN STERBEN
ZU HAUSE
Die Geschichte des Romans entwickelt sich auf zwei EbeHubert Klimko-Dobrzaniecki (geb. 1967),
Schriftsteller und Lyriker, lebt seit vielen Jahren nen, der Vergangenheit und der Gegenwart. Die erste Ebene
im Ausland (unter anderem auf Island, gegen- besteht aus zahlreichen, überwiegend humorvoll erzählten
wärtig in Österreich). Er schrieb mehrere Erzäh- Kleinstadt-Anekdoten, in deren Mittelpunkt Sakis' exzentlungen und Romane, bisher erschienen von ihm rischer Vater – ein unverbesserlicher Träumer und Fantast
neun Bände. In seinen Werken wimmelt es gera- – steht. Daneben finden sich ergreifende Familienszenen. Auf
dezu von Sonderlingen, Verrückten, Eigenbröt- der Gegenwartsebene geschieht hingegen nur wenig: Sakis
lern, entwurzelten und verkrachten Existenzen, geht Affären mit einer Bewohnerin und schließlich mit der
die entweder unfähig oder unwillig sind, einen Leiterin des Schriftstellerhauses ein, doch diese lassen sich
kaum als Beziehungen bezeichnen. Eris und Maria führen
festen Platz im Leben zu finden.
Nach dem Ende des griechischen Bürgerkriegs und der Niederlage der linken Volksfront kamen Ende der 40er- und Anfang der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehrere
Tausend politischer Flüchtlinge nach Polen. Die meisten von
ihnen siedelten sich in Niederschlesien an, z. B. in Bielawa, wo
auch Hubert Klimko-Dobrzaniecki seine Kindheit und frühe
Jugend verbrachte. Der Autor erzählt in seinem neuesten Roman von ebenjenen damaligen „Bielawa-Griechen“ und greift
damit erneut ein Thema auf, das ihm sehr am Herzen liegt:
die schmerzhafte Erfahrung eines Lebens in der Emigration.
Das zentrale Thema ist das Gefühl des Fremdseins und der
Wurzellosigkeit – übrigens in zweifacher Hinsicht. Der Held
des Romans, Sakis Sallas, gilt in Polen, obwohl er in diesem
Land geboren, zur Schule gegangen und vollständig assimiliert ist, sein Leben lang als ein Fremder. Als er 1980 in das
Land seiner Vorfahren zurückkehrt, macht er dieselbe Erfahrung: In den Augen der Griechen ist er ein „Polonos“. Doch
ist dies der Grund dafür, dass sein Privatleben eine einzige
Abfolge von Misserfolgen ist? Wir begegnen ihm als einem
verbitterten Fünfzigjährigen, ehemaligen Journalisten einer
Athener Tageszeitung und beginnenden Schriftsteller, wie
er gerade auf einer griechischen Insel ankommt, um im dortigen Schriftstellerhaus einen Roman über seine Eltern zu
schreiben. Es geht ihm jedoch nicht darum, das Andenken
seines über alles verehrten Vaters und seiner über alles geliebten Mutter zu wahren und einen nostalgischen Blick auf
seine glückliche und unbeschwerte Kindheit zu werfen – das
Buch soll vielmehr eine private Spurensuche werden. Sakis
leidet darunter, dass er nur wenig über die Vergangenheit
seiner Eltern weiß, die bis zu ihrem Tod nie über ihr Leben
vor der Emigration gesprochen haben. Er hegt zu Recht den
Verdacht, dass sie ein dunkles Geheimnis mit sich herumtrugen, dass sich hinter ihrer Ehe noch etwas anderes verbarg.
Das schreckliche Geheimnis kommt im Finale des Romans ans
Licht und stürzt den Helden endgültig in eine Krise.
dem Helden lediglich den Grad seiner emotionalen Verkrüppelung vor Augen.
Alles in allem muss man festhalten, dass es in Griechen sterben zu Hause in erster Linie um die Gefühlswelten der Figuren
geht und dass das „Griechentum“ – sowohl in geschichtlicher
als auch in kultureller Hinsicht – lediglich als Kulisse dient.
Im Vordergrund stehen familiäre Gefühle, vor allem die Beziehung zwischen Eltern und Kind, das Phänomen einer erfüllten
Vaterschaft einerseits und die nach dem Tode des Vaters entstandene Leere andererseits. Das Letztere erscheint besonders
wesentlich, weil Sakis' Vater gleich zweimal stirbt – zunächst
real und später symbolisch, als die schreckliche Wahrheit
über seine Vergangenheit in Griechenland zufällig ans Licht
kommt.
Dariusz Nowacki
HUBERT KLIMKO-DOBRZANIECKI
„GRECY UMIERAJĄ W DOMU”
ZNAK, KRAKÓW 2013
140×205, 244 PAGES
ISBN: 978-83-240-2073-7
TRANSLATION RIGHTS:
AGENCE LITTÉRAIRE PIERRE
ASTIER & ASSOCIÉS
MEIN VAT ER
GRIECHEN
STERBEN
ZU HAUSE
nahm verschiedene Arbeiten an. Er konnte einfach nicht so
wie Mama. Egal ob krank oder gesund. Auf den Gongschlag
oder sogar etwas früher. Immer dasselbe. Tagein, tagaus.
Rhythmus war nicht Papas Ding. Papa war ein König, Eigentümer eines grünen Throns, von dem er sich selbst nach
dem Umzug nicht trennte. Er liebte Veränderungen, Bewegung, den Strudel des Lebens. Es musste immer etwas los
sein. Irgendein kleines Chaos, eine Minirevolution, schließlich stellte sich Papa, Paps, Papschen, Papachen stets als Revolutionär, als Partisan aus den fernen Bergen vor. Da half
er lieber beim Ausladen. Wenn der Zug in den Bahnhof einfuhr, war er immer der Erste. Wenn etwas umfiel, zerbrach
oder nicht ankam, entwickelte er eine solche Kraft, dass er
alles ganz allein aufheben, reparieren, zusammensetzen, hineinlegen oder herausnehmen wollte. Und hinterher kehrte
er erschöpft, aber glücklich, mit Geld in der Tasche, nach
Hause zurück. Dann gab er mir eine Münze und sagte: „Junge, hier hast du Geld, gutes, ehrlich verdientes Geld. Geh in
die Konditorei und kauf dir etwas Süßes, und denk auch an
deine Mutter, denk an den Windbeutel. Für deine Mutter
einen Windbeutel, und für dich, was immer du willst.“ Und
ich machte mich auf den Weg, mit meiner goldenen Münze,
die der Herrscher der Meere und Ozeane mir dargereicht
hatte. Manchmal blieb sogar noch etwas übrig.
Später bekam er es mit dem Kreuz. Er wurde nun einmal älter. Man muss dazusagen, dass es noch mehr von uns
in der Stadt gab, aber Papa traf sich nicht gern mit ihnen.
Sie stammten von einem anderen Berg, aus einem anderen
Wald, und hatten einen anderen Blick auf die Dinge. Vielleicht einen pragmatischeren Blick, außerdem ziemte es
sich für einen König nicht, sich unter das gemeine Volk zu
mischen. Einige von ihnen bezeichnete er als Verräter, weil
sie zum Katholizismus übergetreten waren. Einige glaubten
sogar an Gott, und andere waren nicht aus seiner Einheit.
Jene hatten sich, aus was für Gründen auch immer, für die
Tschechoslowakei entschieden. Sie waren irgendwo auf dem
Weg zurückgeblieben und man hatte nie wieder etwas von
ihnen gehört. Auch Mama war zum Katholizismus übergetreten, ging in die Kirche und ließ mich sogar taufen. Angeblich hatte mein Vater daraufhin einen Monat lang nicht
mir ihr gesprochen. Aber sie war eben anders und durfte tun,
was sie wollte, denn mein Vater war ihr dankbar für ihren
Fleiß, vor allem jedoch für ihre Liebe. Als wir es sehr schwer
hatten, noch ganz am Anfang, sagte Mama immer: „Wir haben Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch, wir werden schon
nicht verhungern.“ Irgendwie schaffte sie es, meinem Vater
aus diesen wenigen Zutaten alles Mögliche auf den Teller zu
zaubern. „Was gibt es heute zu Mittag?“ „Heute, mein Liebs-
ter, gibt es gefüllte Weinblätter.“ Und Mama rieb Kartoffeln,
gab ein Ei hinzu, ein wenig Knoblauch, Salz und Pfeffer,
wickelte alles in dünne Zwiebelschichten ein und schob es
in den Ofen. Siehe da, Dolmadakia Yalantzi! Ich sehe, wie
Papa versucht, sich die Kartoffeln wegzudenken. Er genießt,
lässt sich die gefüllten Weinblätter auf der Zunge zergehen,
schluckt sie langsam hinunter. Jetzt ist er zu Hause, also dort.
Die Sonne scheint, ein leichter Wind weht. Nach einer Weile
hebt er die Augen zum Himmel und sagt, dass ein Wölkchen
aufzieht, aber sicher gleich wieder vorüberzieht, und er lädt
sich noch etwas von dem zauberischen Blendwerk auf seine Gabel. Und wieder kaut er langsam. Schluckt hinunter.
„Hervorragend, Schatz, hervorragend. Eine ausgezeichnete
Vorspeise. Und was gibt es als Hauptgang?“ „Na, was schon?
Dein Lieblingsessen!“ „Nein?! Du hast Rindfleisch mit Kastanien gemacht?!“ In der Pfanne schmoren bereits in Scheiben
geschnittene Kartoffeln. Mama lässt sie langsam goldbraun
werden, von beiden Seiten. Bestreut sie mit Pfeffer und Salz.
Legt sie auf einen Teller. Im Bratfett planschen bereits die
Zwiebeln, und Mama gibt noch einen Löffel Zucker hinzu,
sodass sie glänzend und goldbraun werden. Dann verteilt sie
alles auf die Kartoffeln und streut noch ein wenig gehackten Knoblauch darüber. Kreas me Kastana! Papa gehen die
Augen über. Jetzt lässt er sich nicht mehr so viel Zeit wie
mit der Vorspeise. Sein Bart gerät in Wallung, hängt in den
Teller. Das Rindfleisch mit Kastanien verschwindet im unermesslichen Magen meines Königs der Meere. „Und zum
Nachtisch? Gibt es etwas zum Nachtisch?“ „Ich kann dir
Revani machen, aber ohne Grieß, nur die Orangenzesten.“
„Gerne.“ Mama nimmt ein paar steinhart getrocknete Orangenzesten, die sie wer weiß wo herhat, wahrscheinlich noch
von den Deutschen. Sie legt sie in eine Pfanne, begießt sie
mit kochendem Wasser, gibt etwas Fett und einen Teelöffel
Zucker dazu. Fertig ist der Nachtisch. Der beste Nachtisch
der Welt. Papa dankt ihr. Bürstet Mamas abgearbeitete
Hände mit seinem roten Bart. Papas Bürstenbart auf Mamas
Handflächen ist der schönste Dank. Nach diesem königlichen Mahl, durch das sich meinem Poseidon neue Gehirnwindungen erschlossen haben, denn es war reichlich Zucker
darin gewesen, schön und festlich war es gewesen, sagt Papa
zu Mama: „Ausladen ist nichts mehr für mich. Ich werde alt.
In die Fabrik will ich auch nicht. Dort würde ich mich zu
Tode langweilen, feste Arbeitszeiten würde mich umbringen.“ „Und? Was willst du dann machen?“ Der König kratzt
sich den Bauch. Streicht über seinen Bart. Steckt sich eine
Zigarette in den Mund. Zündet ein Streichholz an. Blickt in
die Flamme. Versinkt in Gedanken, bis das Streichholz von
allein wieder verlischt. Die Rauchfahne legt sich über das
Rote Meer. Verfängt sich in den Wellen und verschwindet in
der Tiefe. „Ein Warszawa“, sagt er. „Einer aus Dół will seinen
Warszawa verkaufen.“
Als es meinen Eltern etwas besser ging, weil Vater ein
wenig beim Kartenspiel gewonnen und ein wenig beim
Ausladen verdient hatte, und weil Mama in der Spinnerei
ständig zweihundert Prozent der Norm schaffte, und weil
sie sich etwas zusammengespart, zusammengeliehen und
ich weiß bis heute nicht, was sie noch alles angestellt hatten,
auf jeden Fall kauften sie sich einen ausgemergelten Warszawa. Grau war er, wie ganz Polen es damals war. Wie die
gleichnamige Hauptstadt, in der Paps schon einmal gewesen war. In der griechischen Botschaft. Irgendetwas hatte er
dort gewollt, irgendetwas zu erklären versucht, aber er war
traurig und mit leeren Händen zurückgekehrt, und hinterher erzählte er. „Denen ihr Warszawa ist genau wie unser
Warszawa, grau und traurig, und hin und wieder knurrt
es wie ein herrenloser Hund. Voller Beton und Baustellen.
Viel größer als unser Warszawa. Oh, viel größer. Du guckst
auf den Rücksitz, durch die Heckscheibe, und die Stadt geht
einfach immer und immer weiter. Man sieht kein Ende, und
auch kein Ende ihrer Traurigkeit. Wenn sie wenigstens an
einem Berg oder am Meer läge. Aber alles ist flach und eben,
mein Junge, und keine Zikaden zirpen, nur die Milizionäre
regeln mit ihren Trillerpfeifen und Schlagstöcken den Verkehr. Aber was sollen sie da schon regeln, alle fahren sowieso, wie sie wollen. Bei uns ist es viel schöner. Viel schöner …“
Unser Warszawa wurde ein Taxi. Eines von nur vieren
in der Stadt. Und mein Vater einer von nur vier Taxifahrern,
dazu noch der einzige Ausländer. Er stand am Taxistand
am „Plac Wolności” und wartete auf einen Anruf, denn es
gab dort ein Telefon, so eine Art Telefonzelle, aber nur für
Taxifahrer. Papa wartete auf einen Anruf von den reichen
Leuten, denn die gab es auch bei uns. Manchmal kamen auch
arme Leute, die in Not waren. Die fuhr Papa dann umsonst
oder fast umsonst. Die, die kein Geld oder nur wenig Geld
hatten, brachten ihm hinterher zum Dank alle möglichen Sachen. Von Lebensmitteln bis hin zu Weidenkörben. Wegen
seiner Gutmütigkeit wurde mein Vater fast so etwas wie eine
rotbärtige Legende, und es kam so weit, dass die Leute, die
zum Taxistand kamen, nur noch mit dem Griechen fahren
wollten. „Der Grieche ist gut. Kennt alle Straßen und spricht
immer so komisch. Wenn du beim Griechen einsteigst, dann
kommst du auch ans Ziel. Und wenn du kein Geld hast, dann
wartet der Grieche, oder du gibst ihm irgendetwas anderes.“ Wenn sie zu viert, also alle zusammen, am Taxistand
warteten, und das Telefon klingelte, und mein Vater war
gerade der Zweite, Dritte oder Vierte, also der Letzte in der
Schlange, und der Erste nahm den Hörer ab, dann fragte die
Stimme am anderen Ende meistens, ob der Grieche da sei,
ob der Grieche kommen könne. Aber Paps war nicht dumm,
Könige sind im Allgemeinen klüger als Taxifahrer, und Papa
war ja nicht einfach ein Taxifahrer, sondern der König der
Taxifahrer, also musste er in solchen Situationen auch königliche Entscheidungen treffen. Er wollte keinen Ärger
mit den Jungs. Drei gegen einen. Da hatte er keine Chance,
wohl aber hatte er einen Kopf auf den Schultern. Wenn also
das Telefon klingelte, und Papa war nicht der Erste in der
Schlange, und jemand verlangte nach dem Griechen, dann
ließ er den Ersten sagen, der Grieche sei gerade unterwegs.
Und wenn die Leute an den Taxistand kamen und sich in
den grauen Warszawa drängten, dann tat er einfach so, als
würde er die Kiste nicht in Gang kriegen. Doch damit nicht
genug, mit der Zeit stieg der rotbärtige Poseidon zum Chef
der Taxi-Mafia auf und lange Zeit war in der Stadt kein Platz
für ein fünftes Taxi. Alle waren der Meinung, vier seien ausreichend. Ausreichend für die Stadt und ausreichend für sie.
Einmal versuchte es doch einer. Er kaufte sich einen Wagen,
meldete ihn an und erhielt eine Erlaubnis. Aber irgendwann
hatte er Sand im Tank, obwohl er gar nicht ans Meer gefahren war. Und schon waren es wieder nur vier Taxis. Für viele
Jahre. Und welchen Nutzen hatte Paps davon, dass ihn seine
Kumpel vom Taxistand zum Mafia-Chef ernannt hatten? Gar
keinen, der Posten brachte sogar eher Nachteile mit sich.
Nachdem Paps das Zepter am Taxistand übernommen hatte,
eröffnete er seinen Kollegen: „Ich machen Sonntag frei. Ihr
machen Touren. Gut?“ Worauf jene ihm voller Verwunderung und Begeisterung antworteten: „Ja, ja, ja!“ Fortan liebten sie ihn noch mehr, denn so waren sie an jenem Tag einer
weniger, und das mit Sonntagszuschlag.
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
BEATA
CHOMĄTOWSKA
HOLLAND
OHNE NOT
Beata Chomątowska (geb. 1976), Journalistin,
Autorin einer historischen Reportage namens
„Stacja Muranów” über einen auf den Ruinen des
Ghettos erbauten Warschauer Stadtbezirk. 1999
fuhr sie per Anhalter nach Holland, um im Rahmen eines „Tempus“-Stipendiums anderthalb
Jahre lang in Breda zu leben und zu arbeiten.
Von ihrem Aufenthalt brachte sie zahlreiche, in
ihrem aktuellen Buch verwertete, interkulturelle
Erkenntnisse mit. Zur Zeit arbeitet Chomątowska
bereits an einem neuen Buch.
Das holländische Breda klingt nicht so vertraut wie London,
wo man keine Straße entlanggehen kann ohne Polnisch zu hören, sondern scheint eigentlich sogar recht exotisch. Genauso
exotisch wie Chomątowskas irre Geschichten aus ihrem Buch
„Holland ohne Not”. Die Autorin der großartigen historischen
Reportage „Station Muranów”, in der es um einen auf den
Trümmern des Warschauer Ghettos erbauten Stadtbezirk
geht, kehrt dieses Mal zu ihren Erinnerungen an einen anderthalbjährigen Stipendienaufenthalt in Holland zurück.
Aber das Buch ist dieses Mal keine Reportage – sondern eine
so gewitzt gewobene Geschichte, dass sie sich jeglicher Gattung entzieht: Auch wenn die Autorin eingesteht, selbst fest
im Boden der Realität verwurzelt zu sein, lassen ihre künstlerische Verarbeitung und ihr Erzähltalent das Breda-Buch
Richtung Roman segeln.
Die Protagonistin ist eine Studentin, die gegen Ende der
1990er Jahre mit ihrem Freund nach Holland geht und sich
auf die Suche nach Abenteuern macht, die einer jungen Frau
aus gutem Hause – wie ihr –‑ normalerweise nicht gebühren.
Die Rede ist hier natürlich von verschiedensten Genussmitteln, aber auch von einer Freiheit der Sitten, die in diesem
liberalen Paradies das tägliche Brot ist. In Breda geht sie zwar
zunächst auf die Uni (wobei sie ohne besonderen Enthusiasmus Bekanntschaft mit den Kommilitonen schließt und nur
unter Schwierigkeiten zur Kenntnis nimmt, dass es so etwas
wie das „akademische Viertel“ in diesem Land der hundertprozentigen Pünktlichkeit nicht gibt), aber vor allem jobbt sie
in einer – wie sich bald herausstellt – Kultkneipe und schließt
Bekanntschaft mit einer Gruppe schräger, im Freiheitskult
aufgewachsener Freunde.
Äußerst amüsant und lebhaft beschreibt Chomątowska die
jugendlichen Irrungen und Wirrungen der beiden Hauptfiguren und deren stetige Verwunderung angesichts der krassen
Unterschiede zwischen dem Leben in Holland und dem Le-
ben in Polen. Dabei ruft sie manches Mal auch Erstaunen und
nicht allzu ferne Erinnerungen beim Leser hervor. Ja, denn
vor kaum länger als einem Jahrzehnt wunderten wir Polen
uns noch, dass es schöne, saubere öffentliche Toiletten mit
einem schwer auffindbaren, geheimnisvollen Spülknopf geben konnte, und eine Münze in Fremdwährung schien uns das
höchste Luxusgut überhaupt.
Das Buch ist ein ironisches, ehrliches und stellenweise
auch ziemlich freches Portrait der jungen polnischen Emigration zu Ende der 90er, die so ganz anders ist als die Emigration
vor der Wende – sie sucht im Ausland kein Asyl mehr und legt
nicht immer und ewig nur Geld für eine Wohnung in Polen
zurück, sondern versucht zunehmend forsch (wenn auch
unentwegt mit Herkunftskomplexen kämpfend) ihr eigenes
Leben zu leben und Teil des berühmten und mythenumwobenen Vereinten Europas zu werden, das ein paar Jahre später
bereits unwiderrufliche Tatsache für uns sein sollte.
Patrycja Pustkowiak
BEATA CHOMĄTOWSKA
„PRAWDZIWYCH PRZYJACIÓŁ
POZNAJE SIĘ W BREDZIE”
CZARNE, WOŁOWIEC 2013
125×205, 336 PAGES
ISBN: 978-83-75365-55-9
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
So berauscht
HOLLAND
OHNE NOT
war ich von meinen neuen Bekanntschaften, dass ich kaum
einen Gedanken an die bevorstehende Prüfung verschwendete. Trotzdem bestand ich sie, völlig unerwartet. Zwar lag
mein Notendurchschnitt im untersten Bereich, aber wen
kümmerte das, Hauptsache bestanden. Vor lauter Freude
stürzte ich mich mit Feuereifer in die Aufgabe, die uns Meneer Hors für das zweite Semester erteilt hatte: Wir sollten
einen Werbeplan für eine Firma entwerfen, die holländische Weine herstellte. Zuerst fuhren wir mit der ganzen
Gruppe hin, um uns den Hof anzusehen und mit dem Produzenten das Notwendige zu besprechen. Natürlich erwartete uns vor Ort, auf einem großen Weingut in der Nähe
von Tilburg, zunächst eine Weinprobe. Wir probierten
abwechselnd weiße und rote Weine und beteuerten dabei,
dass sie keinesfalls schlechter schmeckten als Weine aus
den traditionellen Anbauländern – auch wenn wir uns ums
Verrecken nicht erklären konnten, wie um alles in der Welt
es dem Weinbauer in diesem feuchtkalten Klima gelang,
auch nur diese Plempe herzustellen. Ehrlich gesagt war
der Katzenjammer nach diesen Weinen hier nicht weniger
heftig, als wenn man edlere Trünke wild gemixt hätte, und
somit war das nicht einmal ganz gelogen. Ich fuchste mich
in das Thema ein, dachte mir in freien Momenten Strategien aus, wie man wirklich Werbung für diesen holländischen Wein machen könnte, wo es ihn schon einmal gab,
und teilte meine Gedanken mit P. – weißt du, das ist tatsächlich interessant –, vor allem aber nahm ich voller Eifer
an der Gruppenarbeit teil. Dieses Mal war ich mit Viktor
und Katelin zusammen. Wir hatten massenweise Ideen, angefangen damit, den Wein als originelles Mitbringsel aus
Holland über die Touristeninformation VVV zu vertreiben,
bis hin zu den Schachteln für die Flaschen, die an traditionelle Embleme anknüpfen sollten: Hering, Holzschuh oder
Windmühle. Der beste Einfall sollte in die Tat umgesetzt
werden. Wir waren sicher, dass unsere Gruppe gewinnen
würde. Wir waren ganz einfach die Besten. Als schließlich
der Tag der Präsentation gekommen war, mussten wir Viktor, der unsere Weisheiten zum Besten geben sollte, nicht
einmal die Daumen drücken, denn wir wussten, dass er
das spielend meistern würde. Und so war es auch. Er trat
vor, verbeugte sich und legte eine Wahnsinns-Performance
hin, eine schmissige Freestyle-Rede, eine gerappte Story
über holländischen Wein, hielt bei den entscheidenden
Stellen inne und nahm Gesten zur Hilfe, und im Hintergrund leuchteten im Takt seiner Worte Dias auf. Das alles
dauerte mindestens eine Viertelstunde, fünfzehn Minuten
Knochenarbeit für den gemeinsamen Sieg. Bei der Vorbereitung hatten wir natürlich mitgemacht, aber auf Viktor
waren wir am stolzesten. Der Auftritt war zu Ende, Viktor
wischte sich den Schweiß von der Stirn und wartete auf
donnernden Applaus. Doch im Saal blieb es still. Die Studenten starrten ihn in stummer Verzückung an, man sah,
dass es ihnen gefallen hatte; die Juroren hatten undurchdringliche Mienen, als hätte der Wort- und Klangschwall
sie in Stein gemeißelt. Meneer Hors kam als Erster zu sich
und hob eine Nummerntafel. Null! Viktor kniff die Augen
zusammen, der alte Trottel musste sich vertan haben, gleich
würde er mit fahrigen Händen hinter sich greifen und sein
Fehlurteil korrigieren. Nun zog auch der Rest mit schneller
Bewegung die Tafeln hervor: Null, Null, fünf Mal die Null,
nur Janka Kapusta hatte uns mitleidig zwei Punkte gegeben
und erstarrte jetzt, erschrocken, dass sie sich so hatte erweichen lassen. – „Nein, nein, das ist doch nicht möglich!” –
Viktor ließ noch einmal den Blick durch den Saal schweifen
um sicherzugehen, dass er sich nicht täuschte. Katelin und
ich taten dasselbe. – „Ach, fickt euch doch! Lul!”, schrie er
wütend auf Holländisch ins Publikum und rannte aus dem
Saal, dass seine blonden Haare flatterten. Seine Schritte
hallten noch auf der Treppe, als Meneer Hors in beherrschtem Tonfall, als sei nichts geschehen, das Zeichen gab: „Die
Nächsten, bitte”, und sich zurück auf seinen Platz setzte,
bereit zum Urteil. Die restlichen Präsentationen waren
korrekt und fad wie Haferschleim. Stammelnde Mädchen
in Kostümen, Jungs in Anzügen mit 08/15-Powerpoint-Bildern. Alle bekamen anständige Noten. Irgendwas stimmte
hier nicht, aber was, das begriff ich erst später, als ich selbst
in der zweiten Prüfung bei Hors durchfiel, obwohl ich mich
wirklich ins Zeug legte und eine Million toller Ideen für die
Werbung von Branntwein made in Holland hatte. Er hörte
sich meine Ausführungen an, ohne mit der Wimper zu zucken, und sagte dann: „Hm, irgendwo anders könnten deine
unbestreitbaren Talente sicherlich gewinnbringend eingesetzt werden”, und als ich mich schon über dieses höchste
Lob freuen wollte, trug er mir ein „Ungenügend” ein. Sein
zweifelhaftes Kompliment hatte wie Honig die bittere Pille
umhüllen sollen, damit ich sie ohne Murren schlucken würde. Niemand hier erwartete Kreativität von uns, für die man
in Amerika belohnt worden wäre; es ging rein um die Einhaltung des Procedere. Viktor hatte gleich zu Anfang bewiesen, dass er nichts darauf gab, er hatte das beleid der Schule
gebrochen, denn was besagte sein ständiges Zuspätkommen
sonst? Er hatte die Idee unserer Gruppe übertrieben theatralisch vorgestellt und damit seine Ignoranz gezeigt: Nach
den unzähligen Konferenzproben hätte er schließlich wissen müssen, dass das nicht gern gesehen würde. In Holland
werden ernsthafte Zuhörer nicht mit rhetorischen Mitteln
betört, sondern anhand eines festgelegten Schemas mit Argumenten überzeugt. Und dann hatte er noch die so sorgfältig erarbeitete gute Stimmung verdorben. Zur Prüfung
erschien er gar nicht, also wurde festgesetzt, dass er nicht
bestanden habe; über seine Person und den von einem Mantel taktvollen Schweigens bedeckten Vorfall wurde kein
Wort verloren. Ich dagegen sollte einen Monat später zur
Nachprüfung erscheinen. Keiner der Lehrenden bot an, mir
zu helfen, ich musste selbst darum bitten. In Holland gilt
ein jeder als erwachsenes Individuum, das für seine eigenen
Taten verantwortlich ist und nicht an die Hand genommen
wird – es sie denn, er gibt diesen Wunsch ausdrücklich zu
verstehen, dann kommt die auf solche Eventualitäten vorbereitete Bürokratie ins Rollen und leitet die entsprechenden Verfahren ein. Von den Polen und Ungarn bot als einzige Katelin ihre Unterstützung an, selbst mein polnischer
Verehrer machte sich in diesem Moment der Prüfung aus
dem Staub, vielleicht hatte ich ihn erfolgreich verschreckt.
Vom Rest der Leute konnte ich sowieso nichts erwarten. Sie
waren zu der Zeit ohnehin mit einem ganz anderen Drama
beschäftigt, das sich vor unseren Augen abspielte: Krisztina
und Istvan hatten sich getrennt. Aber es war keine normale
Trennung. Istvan hatte sich als Loverboy entpuppt.
Mit dieser englischen Bezeichnung ist im holländischen
Slang nicht etwa ein feuriger junger Liebhaber gemeint,
sondern eine spezielle Art Zuhälter, die Jagd auf ausländische Mädchen macht. Dieser Zuhälter drückt sich bei Universitäten und Studentenkneipen herum und versucht, sich
eine oder am besten gleich mehrere Studentinnen herauszupicken, die einen traurigen Blick haben und leicht verloren wirken. Er weiß, dass in solchen Milieus nur scheinbar
alle zusammenhalten und es schwer ist, einen wirklichen
Vertrauten zu finden; zu Hause ist weit weg, die Mädchen
fangen an, sich nach jemandem vor Ort zu sehnen, der ihnen nah ist, dem sie alle ihre Kümmernisse anvertrauen
können. Bei manchen sieht man das sofort, andere, wie
Krisztina, verstellen sich und spielen die Selbstsichere,
aber das wachsame Auge des Loverboys hat schon viele solche Fälle gesehen und fischt sie alle ohne Probleme aus der
Menge heraus. Und weil er sein Terrain gut erkundet hat,
weiß er ganz genau, dass die jungen Frauen aus Osteuropa
in Westeuropa nur zu gern für immer ihre zweite Hälfte
finden würden. Am besten wäre ein Holländer, aber auch
wenn ein in Holland geborener Marokkaner oder Türke
sich als zivilisierter Mensch erweist, halten sie nicht gar
zu eisern an ihrem ursprünglichen Plan fest. Wenn der
Loverboy sich sein Zielobjekt ausgesucht hat, geht es ans
Werk, nun gilt es, das Mädchen anzugraben und von seinem
Interesse zu überzeugen. Das geht meistens schnell, nach
ein paar mittelmäßig schicken Abendessen ist das Objekt
weichgekocht, hat sich sogar verliebt. Als nächstes muss
die Leidenschaft mit Komplimenten und kleinen Geschenken zwei, drei Wochen, höchstens einen Monat lang aufrechterhalten werden, bis die Etappe erreicht ist, wo er ihr
vertraulich ernste Schwierigkeiten gestehen kann: Er hat
da ein paar Schulden bei einem Bekannten. Der Bekannte
arbeitet in einer schwierigen Branche, ist ein bisschen peinlich, davon zu reden, aber bei uns ist das, wie du ja sicher
gemerkt hast, ein Beruf wie jeder andere auch. Er hat uns
zusammen gesehen, du gefällst ihm. Wenn du nur einmal
mit ihm ausgehen würdest, wäre die Sache vom Tisch.
Wir erfahren nicht mehr, ob es Istvan gelungen ist,
Krisztina dazu zu überreden, oder ob sie den Kontakt gerade noch rechtzeitig abgebrochen hat; wir sehen sie nur
ein Mal, wie sie weint, die Wimperntusche verschmiert und
läuft ihr über die Wangen, sie macht sich nichts aus unserer
Anwesenheit. Wer sind auch wir schon, das Schlimmste ist,
dass sie zum Schluss den Lehrern davon berichten musste,
weil Istvan die Trennung nicht einsah und sie sich nicht
mehr sicher fühlte.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
JAN
KRASNOWOLSKI
AFRIKANISCHE
ELEKTRONIK
Jan Krasnowolski (geb. 1972), Schriftsteller, Autor der Erzählbände 9 leichte Stücke (2001) und
Käfig (2006). Nach dem Besuch eines Kunstgymnasiums arbeitete er in vielen unterschiedlichen
Berufen. 2006 zog er nach Großbritannien und
lebt seitdem in Bournemouth. Auch in seiner neuen Heimat versuchte er sich in unterschiedlichen
Berufen, gegenwärtig betreibt er eine Baufirma
und schreibt – wie sein neuer Band „Afrikanische
Elektronik“ belegt – Erzählungen.
„Afrikanische Elektronik” ist bereits das dritte Buch von Jan
Krasnowolski. Beim Lesen seiner neuesten Erzählungen
(„Dirty Heniek“, „Afrikanische Elektronik“, „Hasta siempre,
comandante“ und „Kindoki“) fühlt man sich unwillkürlich
an die Worte Stanisław Lems erinnert, der im Vorwort zu
Krasnowolskis Debütband schrieb: „Der Autor hat eine starke
Abneigung gegen die heutige Zeit, worin man ihm übrigens
Recht geben muss.” Bei Krasnowolski hält sich das Böse im
Verborgenen, es liegt auf der Lauer, verändert seine Erscheinung, maskiert sich, schlägt unter die Gürtellinie und greift
ohne Vorwarnung an. Dies ist alles andere als die beste aller
möglichen Welten: Es gibt in ihr keine guten, redlichen Polizisten, sondern lediglich eine systemübergreifende Verstrickung und allumfassende Unredlichkeit. Die Hüter der Ordnung erweisen sich als Hüter der Unordnung (Krasnowolski
erinnert auf witzige Weise daran, dass Gesetze nicht vom
Himmel fallen, sondern das Ergebnis von Festlegungen und
Kompromissen sind) und die Abrechnung mit der eigenen
Vergangenheit erscheint als eine nahezu unlösbare Aufgabe.
Der Autor von „Afrikanische Elektronik“ – ein erwachsen
gewordenes Kind der Popkultur – entlarvt in seinen ganz und
gar unglaublichen und gerade deshalb so wahrscheinlichen
Geschichten Mythen, die noch immer lebendig sind. Und
macht nebenbei sehr ernste Literatur: Seine Erzählungen sind
leichtfüßig, filigran, grotesk, fantastisch und gerade dadurch
äußerst realistisch. Krasnowolski äußert sich zu Themen der
Geschichte – von der lokalen bis zur Weltgeschichte. Es geht um
den Kriegszustand in Polen (alte Genossen in neuen, demokratischen Gewändern), um ideologischen Vampirismus (Ernesto
„Che“ Guevara, der durch eine barmherzige Geste Unsterblichkeit erlangt und sich fortan vom Blut junger Mädchen ernährt,
nicht nur jener, die T-Shirts mit seinem Konterfei tragen), um
ein vom Teufel besessenes Kind, um Rassismus, Faschismus,
und – was wohl am wichtigsten ist – das Wirken einer nichtinstitutionellen Gerichtsbarkeit. Aus dem Nebel auftauchende
Massaker-Opfer und brennende Kriegsverbrecher rücken den
Autor bisweilen in die Tradition unheimlicher (ein Porträt,
das Unheil anzieht) und unaufgeregter Erzählungen, die sich
von hinten an die Geschichte anschleichen, um Antworten auf
quälende Fragen zu erhalten: Woher kommt die Unvollkommenheit? Die Mittelmäßigkeit? Und schließlich: Woher kommt
das Böse?
Krasnowolski umschifft die Untiefen der Lächerlichkeit
vor allem mithilfe seines absurden Humors und seines Mutes zu ungewöhnlichen Auflösungen. Seine betrunkenen und
bekifften, verblendeten und verzweifelten, an den Rand der
Gesellschaft gedrängten Helden werfen Fragen nach den Grenzen und den Unterschieden zwischen Traum und Wirklichkeit,
Wahnsinn und Normalität, Gut und Böse auf. Doch Krasnowolskis Erzählungen bieten weder einfache Antworten noch
moralisierende Kommentare – ein weiterer Beleg für die frühe
Einschätzung Stanisław Lems, dass Jan Krasnowolski „in der
Tat bereits ein reifer Schriftsteller ist“.
Anna Marchewka
JAN KRASNOWOLSKI
„AFRYKAŃSKA ELEKTRONIKA”
KORPORACJA HA!ART
KRAKÓW 2013
140×200, 224 PAGES
ISBN: 978-83-64057-05-2
TRANSLATION RIGHTS:
HA!ART
Er führte
AFRIKANISCHE
ELEKTRONIK
den Jungen in das Restaurant am Ende des ersten Passagierdecks. Die meisten Plätze waren bereits belegt, hauptsächlich von einer Gruppe von Fußballfans, die von einem
Auswärtsspiel zurückkehrten. Mehrere Dutzend Männer
in den Farben ihres Vereins – alle machten reichlich betrübte Gesichter, was eindeutig darauf hindeutete, dass das
Spiel nicht zu ihren Gunsten ausgegangen war. Einige von
ihnen öffneten bereits die ersten Bierdosen und fluchten
lautstark auf die „beschissenen Franzosen“. Es gelang Rybka, sich einen Eckplatz zu erobern, direkt am Fenster und
gleichzeitig mit Sicht auf den von der Decke hängenden
Fernseher.
„Wenigstens kannst du Fernsehen gucken“, sagte er zu
dem Jungen. „Normalerweise würdest du jetzt das Meer sehen, andere Schiffe und Möwen, aber heute ist es neblig und
man sieht überhaupt nichts.“
Dann kam ihm der Gedanke, dass das Kind im Laufe seiner Überfahrt aus Afrika wahrscheinlich genug vom Meer
gesehen hatte. Oder vielleicht auch nicht, schließlich wusste
er nicht, unter welchen Bedingungen der Junge gereist war.
Als blinder Passagier konnte er die gesamte Überfahrt eingesperrt in irgendeiner stickigen Kabine verbracht haben, oder
sogar in einer Kiste im Laderaum. Wer wusste das schon, der
Weg in ein besseres Leben war nicht für alle gleichermaßen
bequem.
„Warte hier und rühr dich nicht von der Stelle!“, sagte er,
als das Vibrieren der Motoren stärker wurde und er spürte,
wie sie von der Küste ablegten.
Er stand auf, um etwas zu Essen zu bestellen. Während
er in der Schlange stand, ließ er das Kind nicht eine Sekunde
aus den Augen. Der Junge saß regungslos auf seinem Platz in
der Ecke und starrte durch das Fenster, als habe er in dem
dichten Nebel, der das Schiff einhüllte, irgendetwas Interessantes entdeckt.
Der dunkelhäutige Junge verschlang seine Bohnen mit
Speck, ohne dabei den Blick vom Cartoon Network abzuwenden, und Rybka kam der Gedanke, dass der Kleine keine Schwierigkeiten haben würde, sich einzugewöhnen. In
einigen Monaten würde ihn niemand mehr von anderen
Kindern, die auf den Britischen Inseln geboren und aufgewachsen waren, unterscheiden können. Er würde in der
bunten Menge aufgehen, die die Straßen Londons bevölkerte, er würde beginnen, wie ein echter Londoner zu sprechen,
er würde die Stadt kennenlernen und lernen in ihr zu leben.
Und in einigen Jahren würde er sich nicht einmal mehr an
Afrika erinnern, an das Dschungeldorf oder die Slums, in
denen er bis jetzt gelebt hatte.
„Hast du keine Sehnsucht nach Zuhause?“, fragte er.
„Mein Zuhause ist abgebrannt“, antwortete der Kleine,
während er die letzten Bohnen auf seine Gabel häufte. „Es
ist nichts davon übrig geblieben.“
„Das tut mir leid“, brummelte Rybka verlegen und bedauerte, dass er dieses für den Jungen heikle Thema angeschnitten hatte. „Hoffentlich ist niemandem etwas passiert?“
„Sie sind verbrannt. Alle. Mama, Papa, meine drei
Schwestern und mein Bruder“, murmelte das Kind, ohne
dabei den Blick vom Fernseher abzuwenden, auf dem SpongeBob Schwammkopf gerade über den Meeresboden hüpfte.
„Da standen Männer mit Macheten, die haben aufgepasst,
dass niemand dem Feuer entkam. Auf diese Weise ist mein
Bruder gestorben, weil er versuchte, zu fliehen. Nur ich
habe überlebt.“
„Oh Gott, das tut mir wirklich sehr leid.“ Der schockierte Rybka bedauerte es, dass er überhaupt angefangen hatte,
den Jungen auszufragen. „Du musst Schreckliches durchgemacht haben, Kleiner.“
„Hm. Die Bohnen waren super, ich würde gerne noch eine
Cola trinken“, sagte der Junge, schob den leeren Teller von
sich und lächelte einschmeichelnd. „Darf ich?“
Während er erneut in der Schlange vor der Kasse stand,
überlegte Rybka, welche traumatischen Erlebnisse der Junge
hinter sich haben musste. Man meinte zu wissen, was in diesen ganzen afrikanischen Ländern vor sich ging. Stammeskriege, Massaker, schmutzige Kriege, in denen verrückte
Anführer selbst so kleine Knirpse zu Soldaten machten – sie
mit Drogen vollstopften, ihnen Gewehre und Macheten in
die Hand drückten und sie in gnadenlose Tötungsmaschinen verwandelten. Aber es war eine Sache, wenn man das
alles durch den flachen Bildschirm des Fernsehers gefiltert
betrachtete, und eine andere, wenn man jemandem gegenüberstand, der so etwas tatsächlich erlebt hatte. Dieser Junge
hatte ganz offensichtlich das Pech gehabt, in einer von Konflikten geschüttelten Region geboren zu werden, und er hatte einen Albtraum erlebt, der sich sicherlich wie ein Schatten über sein gesamtes Leben legen würde. Ein Glück, dass
es gelungen war, ihn dort herauszuholen. Der kleine Eugene
verdiente es, in einer besseren Welt zu leben, in der Kinder
zur Schule gingen, keine schrecklichen Dinge um sich herum sahen und eine wirkliche Kindheit hatten, anstatt mit
einem Gewehr in der Hand durch die Gegend zu rennen und
Tod und Verwüstung zu säen, bis ihnen irgendein anderes
zugekifftes Kind eine Kugel verpasste.
Der Kleine hatte mit ansehen müssen, wie seine Familie
umgekommen war. Rybka konnte nur schwer begreifen, wie
er so ruhig darüber sprechen konnte. Es musste ein Trauma
sein, vielleicht stand er noch immer unter Schock. Das wäre
vermutlich eine Erklärung für seine Ruhe und Emotionslosigkeit.
Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hatte er das Gefühl,
genau das Richtige zu tun. Er half dabei, diesen Jungen zu
retten, ihn aus der Hölle zu befreien und ihm ein neues Leben zu ermöglichen. Der kleine Eugene hatte mehr erlebt,
als irgendein Mensch je erleben sollte, er hatte die Ermordung seiner Familie mit ansehen müssen und war selbst nur
knapp dem Tode entronnen. Rybka schwor sich, dass er den
Jungen nach London bringen würde, und wenn die Welt um
ihn herum unterginge. Nicht des Geldes wegen, sondern
weil es seine Pflicht war.
Rybka war schon seit Jahren im Geschäft, der Schmuggel mit Kokain, oder „Charlie“, wie die Engländer das weiße Pulver umgangssprachlich nannten, sicherte ihm ein
ständiges, nicht unerhebliches Einkommen. Und es ging so
einfach, dass moralische Dilemmata ihm nachts nicht den
Schlaf raubten. Es war einfach ein Job wie jeder andere. Der
eine saß acht Stunden im Büro und wühlte in Papieren, ein
anderer stand am Fließband. Rybka hatte sowohl das eine als
auch das andere ausprobiert, und jetzt schmuggelte er eben
Koks, einfach weil sich die Möglichkeit ergeben hatte, weil
er den entsprechenden Leuten begegnet war. Wenn er es
nicht täte, würde es ein anderer tun, nur ein ausgemachter
Trottel würde sich eine solche Möglichkeit entgehen lassen.
Großbritannien war wie ein riesiger Staubsauger: Tausende,
Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende, vom Sozialhilfeempfänger bis hin zum Manager eines Großkonzerns,
zogen sich tagtäglich Bahnen weißen Pulvers durch gerollte
Geldscheine in ihre Nasen. Zugedröhnte Politiker regierten
das Land, zugedröhnte Manager leiteten die Konzerne, zugedröhnte Polizisten machten Jagd auf zugedröhnte Verbrecher, und selbst der durchschnittliche Dave Smith von nebenan zog sich am Wochenende gerne eine Bahn. Das Land
funktionierte dank Kokain. Wenn man plötzlich sämtliche
Lieferungen stoppte, würde wahrscheinlich alles stillstehen,
wie eine Maschine, der der Treibstoff ausgegangen war. Die
Wirtschaft bräche zusammen, die gesamte Produktion käme
zum Erliegen und das Land versänke in Chaos und Aufruhr.
Ganz Großbritannien würde in den Abgrund stürzen. So in
etwa stellte Rybka sich das vor, wenn er sein Gewissen beruhigen wollte.
Er betrachtete sich selbst gar nicht als Schmuggler, sondern eher als eine Art Ein-Mann-Kurierdienst für besondere Aufträge. Schmuggler waren Volltrottel, die sich nach
Kolumbien schicken und mit kokaingefüllten Kondomen
vollstopfen ließen, Idioten, die ihr Leben für ein paar miese
Tausender riskierten, mit denen sie es auch auf keinen grünen Zweig bringen würden. Oder Schlauberger, die ihren
Kombi mit Zigarettenstangen und Schnaps vollpackten und
vierundzwanzig Stunden durch Europa gurkten, nur um in
Dover vom erstbesten Zollbeamten angehalten zu werden,
der einen Blick auf ihr Auto warf.
Dieser Auftrag war anders als die anderen. Als er hörte,
dass es darum ging, einen siebenjährigen Jungen von Marseille nach London zu bringen, hatte er zunächst abgelehnt.
Ein diskretes Päckchen, das er in einem Geheimfach seines
Kofferraums verstecken konnte, war eine Sache, ein lebender Mensch eine andere. Das Risiko war wesentlich größer,
außerdem hatte die britische Polizei zuletzt ein besonderes
Auge auf die Schleusung illegaler Einwanderer geworfen,
vor allem weil es plötzlich zu viele von den legalen gegeben
hatte. Aus all diesen Erwägungen heraus sagte Rybka seinem
Auftraggeber, er möge sich jemand anderen suchen. Doch
jener Gentleman war es offensichtlich nicht gewohnt, dass
man ihm eine Abfuhr erteilte.
„Du wirst mir den Jungen bringen“, sagte er und zog ein
Geldbündel aus der Innentasche seines teueren Mantels.
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
PIOTR
PAZIŃSKI
DIE
VOGELSTRASSEN
Piotr Paziński (geb. 1973), Journalist, Essayist,
Literaturkritiker und Übersetzer, Chefredakteur
der zweimonatlich erscheinenden jüdischen Zeitschrift Midrasz, Autor eines Buches über James
Joyce. Für seinen Debütroman Die Pension (2009)
wurde er mit dem Europäischen Literaturpreis
ausgezeichnet, der vom Europäischen Parlament
verliehen wird.
„Wir sind nie über diese Straßen geschlendert. Niemand ist
überhaupt auf die Idee gekommen; als ob wir uns selbst den
Zutritt verwehrt hätten“, schreibt Piotr Paziński in „Das Manuskript Izaak Feldwurms“, einer von vier langen Erzählungen aus dem Band Die Vogelstraßen. Auf den Seiten des Buches
wird das Verbot gebrochen, wir betreten einen Raum, der
ungewöhnlich reich ist an Bedeutungen. Es ist das Gebiet des
nördlichen Warschauer Vorkriegs-Stadtteils, aus dem später
das größte jüdische Ghetto Europas gemacht wurde – denn
genau dafür stehen „jene“ Straßen bzw. die „Vogelstraßen“;
dazu verurteilt, „nie von den Toten aufzuerstehen“, sind sie
doch voller Leben, sie nehmen uns mit ihrer seltsamen „Zwischenwelt“ gefangen, die Zeit und Raum des gesamten Erzählbandes prägt. Bei Paziński verströmt dieser unsichtbare Ort,
überlagert von der Nachkriegstopografie, getilgt auf Karten
und in Gedächtnissen, ein so intensives posthumes Leben,
dass die Realität der Gegenwart schwindet und verblasst,
während die Phantome wieder zum Leben erweckt werden.
„Das aktuelle Straßennetz wurde wahllos ausgeworfen, als
hätte es dort zuvor keins gegeben, als hätte es sich nicht an
den Boden geschmiegt, hätte im luftleeren Raum gehangen,
unbeholfen das Nichts verdeckend.“ Die „Adler-, Gänse-,
Krähen- und Entenstraße“ (im Grunde genommen alles Vogelnamen), „brachten die Luft zum Klingen, und es schien,
als würde jede ihre eigene Melodie singen.“ Die wichtigen
und die nur erwähnten Helden der Erzählungen sind alte Bekannte, ein familiärer Kreis von Überlebenden der polnischjüdischen Welt. Herr Sztajn, Frau Tecia, Dr. Kamińska, Herr
Abram, Herr Rubin, die Oma, die Onkel, schließlich zwischen
alledem der Erzähler, der der Generation der Enkel angehört,
der ersten Generation nach dem Holocaust. Sie alle sind in
Anspruch genommen vom phantastischen Leben, von der Tätigkeit, Erinnerung zu schaffen. Manche Figuren sind gänzlich phantasmagorisch wie der titelgebende Feldwurm oder
der Zaddik aus der Erzählung „Trauerzug“. Andere – wie der
von unkonzentrierten Trauergästen getragene Verstorbene
oder Dr. Kamińska – erscheinen vorübergehend in Gestalt von
wirklichen Leichen. Sie alle gehören jedoch jener Zwischenwelt an, der Welt von Menschen und Geistern, deren Domäne
nicht das klassische Unheimliche, sondern die Literatur selbst
ist, die erlahmende Magie der Fiktion, die ständig vom Leser
wiederbelebt werden muss und in der die Vergessenen fortbestehen.
So ähnlich wie in dem Debüt Die Pension, wenn auch tiefgründiger, beruht die Struktur der Prosa auf der Idee eines
Ausflugs an einen Ort, an dem die Vergangenheit lauert, sich
verbirgt, aber auch darauf wartet, dass sie jemand beim Namen nennt. Man kann sie wittern, sie sich vorstellen, sie erblicken. Kann man, muss es aber nicht. Die elegische Erinnerung
geht zum Teil, unsicher, unbeständig in Erfüllung. Der Autor
führt uns durch einen halb realen, halb geträumten und geisterhaften Raum, findet eine Form für die Abwesenheit, einen
Begriff für die Nicht-Existenz, eine Darstellung für das Unsichtbare. Paziński erweist sich als ungewöhnlicher, ironischer Forscher und Chronist der jüdischen Welt. Der Stil, den
er dabei geschaffen hat, ist zugleich ausdrucksstark und ruhig, virtuos, aber sich der eigenen Hilflosigkeit bewusst. Sein
Schreiben ist die reiche, tief verinnerlichte Erkenntnis, dass
sich das, was einst als Literatur der Erschöpfung bezeichnet
wurde, infolge des Holocaust endgültig erfüllt hat: Die Notwendigkeit, in der Literatur über die Nicht-Existenz von Helden und sogar den Tod von Gegenständen zu schreiben, wie
es in der meisterhaften Erzählung „Die Wohnung“ der Fall
ist. Der gelehrte Stil, reich an Paraphrasen von Bruno Schulz,
biblischer Travestie und Anspielungen auf den Talmud, ist
eine besondere Form, die Philosophie des Verlustes zu praktizieren, die der schriftstellerischen Mission von Paziński
zugrunde liegt.
Kazimiera Szczuka
PIOTR PAZIŃSKI „PTASIE ULICE”
NISZA, WARSZAWA 2013
135×210, 192 PAGES
ISBN: 978-83-627-9521-5
TRANSLATION RIGHTS: PIOTR
PAZIŃSKI
CONTACT: NISZA
Jakob
DIE
VOGELSTRASSEN
antwortete nicht. Seit einer geraumen Weile hörte er nicht
mehr zu, er beobachtete ein paar Eichhörnchen, die sich
auf einem Ast nachjagten. Der Mann, der sich als Lejzer
vorgestellt hatte, bemerkte es und verstummte. Auch die
Stimmen vom Trauerzug waren nicht mehr zu hören. Jakob
begann, sich Gedanken darüber zu machen, ob es wirklich
gut gewesen war, mit jenem Menschen hier zu bleiben, der,
wie man meinen musste, nicht viel mit den anderen Trauergästen gemeinsam hatte und der keinen Hehl aus seiner
Abneigung gegenüber dem ganzen Zeremoniell machte.
„Wir holen sie ein, sie werden noch mehr als einmal hier
vorüberkommen“, beruhigte ihn jener. „Ich erzähle Ihnen
lieber, wie das richtige Schreiben aussah. Ich erinnere mich
an meinen Großvater, Schmuel den Sofer, wie er über den
heiligen Rollen brütete. Er saß in aller Ruhe an einem Bogen bester Kalbshaut, und wir hatten Angst uns zu rühren.
Wir waren kleine Kinder, Sie wissen schon. Normalerweise
rennen kleine Kinder im Raum herum, aber nicht bei uns.
Bei uns herrschte nicht so ein Trubel wie bei normalen Menschen. Das Haus war recht klein, und es waren viele Kinder,
aber niemand lärmte, ha, niemand sagte ein Wort, manchmal hat uns nur Großmutter leise etwas zugeflüstert. Bei uns
war es mucksmäuschenstill! Niemand wagte, sich am Kopf
zu kratzen. Was sage ich da, wenn wir die Luft hätten anhalten können, hätten wir bestimmt nicht geatmet, genau wie
Leichen, die auch nicht atmen. Hauptsache den Großvater
nicht stören, der vom frühen Morgen bis spät in die Nacht
die Thora abgeschrieben hat. Später, wenn alle schliefen,
meditierte er über jedem geschriebenen Abschnitt und formte aus den heiligen Versen seine eigene Erzählung. Tagsüber
waren alle Enkel vollzählig, aber es war nichts zu hören als
das Schaben seiner Feder! Die Großmutter sorgte sich. Was
geschieht, wenn der Großvater einen Fehler macht? Wenn
ihm die Feder bricht? Aber der Großvater machte keinen
Fehler, und manchmal erlaubte er mir, dem ältesten Enkel,
und natürlich unter der Bedingung, dass ich schweige, hinter
ihm zu stehen und zuzusehen ...“
Jakob hielt Ausschau nach dem Trauerzug. Auf dem Weg
kam niemand, aber Jakob hätte schwören können, dass er
wiederholt Menschen hatte laufen hören, mal näher, mal
weiter weg. Der Mann achtete nicht darauf. Er weilte irgendwo in weiter Höhe, für Jakob unsichtbar, und sprach
immer erregter, als hätte er seit langem keine Gelegenheit
dazu gehabt.
„Ich sah also dem Großvater über die Schulter und las die
Thora! Und sogar zwei auf einmal! Eine, die ganze Thora, lag
auf Rollen gewickelt auf dem Tisch, genau wie in der Bima
in der Synagoge. Aus ihr kopierte Großvater Vers um Vers,
in der Reihenfolge, wie sie einst sein Vorgänger geschrieben
hatte, und davor noch ein anderer Sofer, bis hin zu Mojsche
Rabejnu selbst. Jeder Buchstabe war gleich wichtig, genau wie jedes Krönchen über sieben von zweiundzwanzig
Buchstaben, die gemeinsam einen Körper ergaben. Und die
ganze Rolle war wie ein Name, den der Großvater geschickt
in einzelne Ausdrücke teilte. Ich las sie, wenn sie auf dem
Pergament erschienen, das auf eine für mich unverständliche Weise genau an den Stellen schwarz wurde, wo es sollte.
Großvater berührte es nicht mit der Feder, sondern sprach
in Gedanken zu ihm und erzeugte auf diese Weise Buchstaben und ganze Sätze. Und wenn es keine Gotteslästerung
gewesen wäre, hätte ich gerufen: Wezot haTora aszef sam
Mojsze lifnej bnej Isroel! Das ist das Gesetz, das Moses den
Söhnen Israels gegeben hat! Aber damals fürchtete ich, Gott
zu lästern, oder, um ehrlich zu sein, ich fürchtete mich eher
vor Großvater und dessen Zorn. Denn wenn, Gott bewahre,
ein Tropfen Tinte auf das Pergament gefallen wäre und einen
Fleck gemacht hätte, wäre es aus gewesen ...“
Jakob spürte, dass er nicht die Kraft hatte, den Mann allein zu lassen. Im Grunde genommen saß er trotz gewisser
Beschwerden ganz angenehm, und auch die Erzählung des
anderen war recht unterhaltsam. Er machte sich Vorwürfe,
dass er nicht den Mut hatte, das Notizbuch hervorzuholen.
Die Worte verloren sich so schnell in der Dunkelheit, dass es
einen Moment später schwierig war, sie noch auszumachen.
Trotzdem hörte Eliezer nicht zu sprechen auf.
„Der schönste Moment kam, wenn Großvater die Namen
ergänzte. Der ganze Bogen war scheinbar fertig, drei gleichmäßige Spalten, eine neben der anderen, jedes Wort und jeder Buchstabe erstrahlten, ich dachte, wir wären im Paradies,
aber das Herrlichste hatte ich noch vor mir. Beim Schreiben
hatte Großvater im Text Stellen frei gelassen für den unaussprechlichen Namen des Heiligen, gepriesen soll er sein.
Dan ging er sich in der Mikwe reinigen und begab sich in
feierlicher Stimmung wieder an die Arbeit. Nun leuchtete
das Weiß des Pergaments, die Buchstaben waren nicht zu
sehen, nur ihre weißen Konturen. Ich wartete gespannt darauf, dass er die Feder nehmen würde und dann die Namen
des Allerhöchsten von selbst aufleuchten und alles in den
Schatten stellen, was Großvater bislang geschrieben hatte.
Und so geschah es auch. Ich sah sprachlos zu, denn wenn ich
bisher Großvaters Schrift gefolgt war und in meinem Kopf
ganze Sätze daraus geformt hatte, so war ich jetzt, wo mich
die unaussprechlichen Namen mit ihrer Kraft blendeten,
nicht dazu in der Lage. Der Großvater kam irgendwie damit
zurecht. Ob er die Augen schloss und die fehlenden Buchstaben aus dem Gedächtnis kalligrafierte, weiß ich nicht.
Vielleicht ließ er auch zu, dass sie ihm die Sicht nahmen? Ich
wollte ihn danach fragen, aber einmal kam er aus der Mikwe
zurück und erblindete. Er setzte sich an den Tisch, breitete
den Bogen aus, prüfte das Tintenfass, sprach einen Segen ...
Und das war alles! Er konnte nichts mehr schreiben. Und
es war der Parschas Ki Tissa, außerdem eine Stelle, an der
der Name zweimal hintereinander vorkommt. Er hat den
Glanz nicht ertragen! Es wurde still, aber anders als bisher,
schrecklich still. Alle Buchstaben flohen von der Rolle, und
es blieb nichts als die reine Haut! Ich stand hinter Großvater
wie behext. Ich wollte ihm helfen, aber ich wusste, dass es
mir nicht erlaubt war. Schließlich war er der Sofer. Es dauerte lange, länger wohl als das Schreiben selbst. Ich blickte
Großvater an, der sich zusammenkrümmte und den Kopf mit
den Händen bedeckte, als wäre er erstarrt. Wir hörten, dass
er weinte. Sehr laut. Das ist das einzige Geräusch, an das ich
mich erinnere.“
Hinter den Bäumen quietschte ein Karren. (...)
„Ich suche nicht nach Großvaters Grab. Ich denke ich
weiß, wo er liegt.“
Sztajn nickte.
„In unserem Garten, so stelle ich es mir vor. Denn wir
hatten einen Garten, herrlich, der allerschönste auf der Welt,
ganz sonnig, und es wuchsen dort wunderbare Bäume, die
Vögel sangen, aber ich durfte nicht hinausgehen, ich wusste,
dass ich im Zimmer bei Großvater bleiben und zusehen muss,
wie er die heiligen Pentateuchrollen abschrieb, Bogen für
Bogen. Und dort, hinter dem Fenster, wie es dort schimmerte, das Licht verfing sich in den Blütenkelchen der Blumen,
die sich, noch bevor es sich der Sommer so richtig bequem
gemacht hatte, unter seiner Last bogen. Es sah so aus, als
würden sie gleich bersten, prall und randvoll gefüllt. Dieser
Glanz lockte auch dann, wenn die Furchtbaren Tage näher
rückten und die goldenen Reste, verfangen in den Netzen
des Altweibersommers, direkt über dem verbrannten Gras
verloschen. Ich schlich mich manchmal am Samstag nach
dem Mittagessen dort hinaus, wenn Großvater ein Nickerchen machte und uns für einen Moment nicht beaufsichtigte.
Wenn die Pforte verschlossen war, zwängte ich mich zwischen den Latten hindurch, dort gab es so einen schmalen
Durchlass, nichts weiter als ein Spalt, aber groß genug für
mich. Großvater wusste nichts davon, er hätte sich sehr geärgert, dass ich, anstatt den Raschi-Kommentar zu lesen, die
Zeit mit Dummheiten vergeudete. Um Gottes Willen! Die
Sünde hat sich in meinem Haus eingenistet. Die Sünde ist
durch ein Loch im Zaun hereingeschlüpft, der verräterische
Samen, da lässt man dich einmal aus den Augen, Distel und
Kornrade! Er hätte den ganzen Abend lang geschimpft, ohne
daran zu denken, dass man sich vom Samstag des Herrn
würdig verabschieden soll, dabei heißt es doch, wer leicht
zürnt, der leistet einen Götzendienst. Dabei war doch ich der
Götzenanbeter, ich, der Apikojres, Elisza, der ins Paradies gelangte ...“
„... erblickte dort den schwarzen Engel auf Gottes Thron
und verlor den Glauben“, unterbrach ihn Sztajn barsch.
„Deshalb sind wir Rabbi Akiba Gehorsam schuldig, der lehrte,
dass die Tradition ein Zaun für die Thora ist.“
„... und der Zaun der Weisheit ist das Schweigen. Ich erinnere mich, wir haben das jeden Freitag bei Tisch gesagt. Nur
auf welcher Seite ist die Weisheit? Ich habe mich dort auf
die Erde gelegt wie ein Ungläubiger, vielleicht auch wie ein
gewöhnlicher Junge, der nach Sonne dürstet, ich habe stundenlang gelegen, so kam es mir vor, obwohl es nur kurze Momente waren. Ich habe den Duft wilder Kräuter eingesaugt
und die Äste des Apfelbaums angeschaut, wo erste Früchte
wuchsen. Etwas ist damals in mir erwacht, eine Sehnsucht,
Hitze legte sich auf meinen Kopf, der Körper drängte zum
Leben ...“
„Sünder!“ spottete Sztajn. Beide begannen zu lachen.
Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel
ANDRZEJ
STASIUK
AN GELBEN
STRASSEN GIBT’S
KEINEN KAFFEE
Andrzej Stasiuk (geb. 1960), Prosaschriftsteller,
Dramaturg und Publizist sowie Verleger; Autor
zahlreicher Prosabände. In den letzten Jahren
publizierte er den Roman Taksim (2009, dt. „Hinter der Blechwand“, 2011), eine Sammlung von
Erzählungen unter dem Titel Grochów (2012, dt.
„Kurzes Buch über das Sterben“, 2013) sowie
den Band mit essayistischer Reiseprosa Dziennik pisany później (2010, dt. „Tagebuch, danach
geschrieben“, 2012). Er erhielt zahlreiche renommierte Preise, darunter 2005 den wichtigsten polnischen Literaturpreis Nike für Jadąc do Babadag
(dt. „Unterwegs nach Babadag“).
Die zahlreichen Texte, die in Andrzej Stasiuks neuem Buch
unter dem Titel An gelben Straßen gibt’s keinen Kaffee versammelt sind, könnte man als Reisenotizen bezeichnen, und es
sind – wie sich herausstellt – immer weiter von Europa entfernte Länder, die der Autor bereist. So bekommen wir hier
Aufzeichnungen zu lesen, die unter dem Einfluss von Reisen
in die Mongolei, nach China, nach Kirgisien und in den fernen
Osten Russlands entstanden sind.
Stasiuk sucht an diesen Orten eigentlich das, was er immer gesucht hat (ich denke an seine früheren Fahrten in das
„schlechtere“ Europa, hauptsächlich in den Balkan), das heißt,
er sucht eine nicht offensichtliche, im übrigen von ihm selbst
geschaffene Mystik, die Epiphanie, die Bezauberung, bisweilen auch das effektvolle Paradoxon. So wundert es uns auch
nicht – der Autor hat uns inzwischen daran gewöhnt – , dass
er sich in der Einöde am wohlsten fühlt, in der mongolischen
Steppe oder in der Wüste Gobi. Und wenn er von seiner Heimat (den Niederen Beskiden, wo er seit Jahren wohnt) oder
von den Nachbarländern erzählt, dann konzentriert er sich
auf die „slawische Wehmut“, auf die Zerbrechlichkeit und
Merkwürdigkeit der Existenz, die an solchen Orten zu spüren
sind. In einem der Feuilletons schreibt er (und meint damit
seine nähere Umgebung): „Ich wohne in einem Reich der Geister“, und er erklärt genau, wie er zu dieser Diagnose kommt.
Die Erklärungen sind zum Teil sehr präzise, weil einige der
Texte aus dieser Sammlung ursprünglich für ausländische
Leser bestimmt waren, denen man – beispielsweise – erläutern sollte, was früher die Kultur der Lemken war und unter
welchen Umständen sie verschwunden ist.
Den treuen Lesern der künstlerischen und diskursiven
Prosa von Andrzej Stasiuk wird dieses Buch sehr gefallen.
Obwohl wir schon zur Genüge wissen, was der Autor nicht
ausstehen kann (z.B. alle Praktiken der Imitation, den „postmodernistischen Müll“) und was ihn fasziniert (z.B. jegliche
postsowjetischen Spuren – sowohl in der Architektur als auch
in der Mentalität – als Zeichen des Bankrotts einer gefährlichen Utopie), so verdirbt uns dieses erkenntnistechnische
Unbehagen (wir erkennen das schon Bekannte) doch nicht
die positiven Leseeindrücke. Stasiuks Pinselstrich ist sparsam und treffsicher zugleich, und seine kleinen Skizzen sind
raffinierte literarische Miniaturen von hoher Qualität.
Wie man sich unschwer denken kann, verweigert dieser
Schriftsteller geradezu programmatisch eine Reaktion auf
die Dinge, über die sich die Medien täglich echauffieren. Er
bleibt sich absolut treu – seinen Faszinationen, seinen peripheren Räumen und seinen ganz persönlichen Geschichten.
Was Letztere betrifft, so sind die wichtigsten diejenigen, die
seine Kindheit und frühe Jugend betreffen. Das ist ein neuer
Ton in Stasiuks Prosa – der Autor denkt immer lieber über
seine plebejischen Vorfahren nach, taucht immer tiefer in
die bäuerlich-proletarische Genealogie seiner Familie ein und
wird unweigerlich zu einem unverbesserlichen Nostalgiker.
Dariusz Nowacki
ANDRZEJ STASIUK
„NIE MA EKSPRESÓW PRZY
ŻÓŁTYCH DROGACH”
CZARNE, WOŁOWIEC 2013
125×205, 176 PAGES
ISBN: 978-83-7536-628-0
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
Ich sitze
AN GELBEN
STRASSEN GIBT’S
KEINEN KAFFEE
in meinem Zimmer und stelle mir Süditalien vor. Ich schaue
auf das grüne Tal, auf die schattigen Fichten- und Buchenwälder, das wogende Gras, die Holzhäuser in meinem Dorf
und stelle mir Süditalien vor, Kalabrien und Basilikata. Dort
war ich nie. In zwei Wochen werde ich mich in Warschau
ins Flugzeug setzen und über Rom nach Brindisi fliegen.
Von Brindisi fahre ich mit der Fähre nach Durrës in Albanien, um eine Woche im Norden dieses Landes zu verbringen,
in der Nähe der Grenze zum Kosovo. Aber auf dem Rückweg
werde ich auch eine Woche in Kalabrien verbringen.
Immer wenn ich nach Italien fahren wollte, dachte ich an
den entferntesten Teil der Halbinsel. Nie an Rom, Venedig,
Florenz oder Mailand. Selbst Neapel lag mir zu nahe. Immer
stellte ich mir den Süden vor, weil dort der Kontinent, weil
dort Europa endet. Ich stellte mir vor, wie das Meerwasser
und die Sonnenglut die Erde anfressen und sie den Menschen wegnehmen. Die Appeninenhalbinsel sieht auf der
Karte wie ein archaischer Knochen aus, wie das Skelettfragment eines Urtiers. Wahrscheinlich habe ich mir deshalb
den Süden immer als etwas sehr Altes, Archaisches und
vom Vergehen der Zeit Gequältes vorgestellt. Weiße Steine,
gnadenloses Licht und Schatten, schwarz wie Ruß – so sehe
ich es. Und der reglose Blick der alten Frauen, die vor ihren
Häusern sitzen. Sie machen den Eindruck, als hätten sie die
ganze Vergangenheit gesehen und kennten die Zukunft. Die
Männer unterscheiden sich vielleicht, aber die alten Frauen
sind überall gleich. Hier in Polen, in der Slowakei, in Ungarn,
auf dem Balkan. Sie sitzen da, in ihren schwarzen Witwenkleidern und Kopftüchern und blicken durch die Zeit hindurch. Genauso muss es auch in der Gegend von – sagen wir
– Savelli oder Longobucco sein. Da bin ich mir sicher, aber
ich werde hinfahren, um es mit eigenen Augen zu sehen. Ich
werde hinfahren, um zu überprüfen, ob die kalabrischen
Omas den Omas aus dem Dorf gleichen, in dem ich wohne.
Ich werde mit wenig Gepäck fahren und die Ferienorte
am Meer meiden wie der Teufel das Weihwasser. Die Strände erinnern im Sommer an die mittelalterliche Vision der
Hölle. Ich werde fünfzig italienische Wörter lernen und
schauen, wie es sich in dieser Gegend per Anhalter fährt.
Mit einem leichten Schlafsack werde ich hier und da unter
freiem Himmel schlafen und mir das Geld für die Hotels sparen. Natürlich werde ich mich vor der Vogelspinne fürchten, aber der Wein wird diese Angst lindern. In Städten und
Dörfern werde ich Schatten suchen. Ich weiß, dass man auf
dem Marktplatz eines gottverlassenen Städtchens den ganzen Tag verbringen kann, indem man sich mit der Sonne
bewegt, und das ist manchmal großartiger und wichtiger
als alle Museen von Rom und Florenz. Nach einer oder zwei
Stunden gewöhnen die Leute sich an die Anwesenheit eines
Fremden, und du kannst behutsam in ihr Leben eintreten,
fast als wärst du unsichtbar. Ein bisschen sehen sie dich,
aber sie sind bemüht, sich zu verhalten wie immer, weil der
Stolz es ihnen nicht erlaubt, wegen eines Dahergelaufenen
irgend etwas anders zu machen. Ja, auf dem Marktplatz eines unbekannten Städtchens oder Dorfs in einem fremden
Land zu sitzen, ist wie das Lesen eines schönen Buchs. Ein
wenig verstehst du, aber den Rest musst du dir vorstellen.
Die Leute führen die gleichen Gesten aus wie bei dir zu Hause, aber ihre Bedeutung ist nicht restlos klar. Nur die Tiere,
Katzen und Hunde, verhalten sich wie überall; sie reagieren
eher auf den Körpergeruch oder die Wärme der Stimme als
auf Aussehen und Worte.
So ist mein naiver Plan. Ich betrachte die Karte von Europa und sehe lediglich seine Grenzen, die Orte, von denen
aus man nur umkehren kann. Ja, ich sollte „Paris“ denken,
aber ich denke „Lissabon“. Ich sollte „Venedig“ denken, aber
ich denke „Donaudelta“. Eben dort spürte ich eines Sommers,
wie der Kontinent im Meer versinkt und sich geschlagen
gibt, dort in Sulina, dem letzten Städtchen Europas, spürte
ich die mit Freude gemischte Trauer, dass ich am Ende angelangt bin, am Rande dieser historisch-geographisch-ideologischen Abstraktion, die dort äußerst real ist: rostende Barken und Schiffe, in sandigen Dünen verscharrt, ein Friedhof
mit Matrosennamen aus der ganzen Welt von vor hundert
Jahren, die tristen Militäranlagen und die schwarzen Gitter
der Radargeräte, die nach einer Invasion Ausschau halten,
herrenlose Hunde und Sümpfe, die sich über Zehntausende
von Hektar erstrecken. Stellt euch eine europäische Stadt
vor, zu der man nur übers Wasser gelangen kann. Eine Stadt
an der Mündung eines der größten unserer Flüsse. Achtzig
Kilometer mit dem Boot, der Fähre, dem Tragflügelboot, weil
es anders nicht geht.
Ich habe nichts gegen das Zentrum, aber die Peripherie
zieht mich mehr an. Schon jetzt wird die Mitte des Kontinents immer stärker vereinheitlicht. Die Metropolen unterscheiden sich kaum mehr. Bald wird man sie nur noch an ihren hoch geschätzten, toten Sehenswürdigkeiten erkennen
können. Wenn man diese Sehenswürdigkeiten überhaupt
noch wird wahrnehmen können unter der grellen Schicht
der Gegenwart: die gleichen Namen der Hotelketten, die
gleiche Werbung, die gleichen Bankautomaten, Biersorten,
Parkuhren, die gleiche Anordnung der Regale in den Supermärkten, das gleiche Repertoire in den Kinos.
Ich denke, bald werden wir eher in die Peripherien reisen, an die Grenzen des Kontinents, in die Gegenden, wo alte
Frauen mit Kopftüchern sitzen. Natürlich, und zum Glück,
werden nicht alle das tun. Nur diejenigen, die die Vergangenheit nicht als Anachronismus und Aberglaube interessiert, sondern als Ort der eigenen Herkunft.
Mai
Neulich machte mir im Gespräch jemand bewusst, dass wir
in einem Land leben, das keine Langeweile in der Natur
kennt. Du müsstest mal in den Tropen leben, sagte er. Ein
halbes Jahr lang ergießt sich Wasser aus dem Himmel. In
der anderen Hälfte eintönige, gleichgültige Hitze. Ich stellte
mir dieses Gefängnis des Wetters vor, und jetzt lobe ich mir
mein Land um so mehr für seine Wechselhaftigkeit, Unvorhersehbarkeit und die Folge der Jahreszeiten, die immer zu
langsam kommen oder zu lange dauern, im Vergleich zu
den Tropen aber eine große Vielfalt bieten.
Ich lobe also mein Land, und umso mehr, umso stärker
lobe ich die Ankunft des Mais: dieses plötzlichen Wunders,
das nach der Leichenstarre des Winters die Nacktheit der
Erde bedeckt, das dieses Skelett aus Schlamm, Gestrüpp
und Resten des letzten Jahres bekleidet. Wie eine hochheilige Gnade fließt vom Himmel goldener Staub, ein grünlicher
Schleier, der sich Stunde um Stunde, Tag um Tag im Laub
verfestigt, in grünender Flur kondensiert und kristallisiert,
tief in die Erde eindringt und wie ein übernatürlicher Katalysator warme Gerüche freisetzt. Ich könnte stundenlang
vor dem Haus sitzen und schauen, schnuppern und lauschen,
wie die schönste Jahreszeit an Kraft gewinnt. Doch das gelingt mir fast nie, immer muss ich irgendwo hinfahren, aufbrechen, den Raum durchqueren. Schicksal. Aber ich beklage mich nicht. Denn unterwegs, mit Ortswechseln, aus einer
vorübergehenden Perspektive sieht es noch schöner aus. Als
flösse ich mit dem Strom des grünen Blutes im Körper des
Landes. Als durchquerte ich dieses auf dem Rücken liegende,
heiße Polen in seinen Adern, Arterien und Venen, die vor
Überfluss, vor Bereitschaft, vor Potenzialität pulsieren. Wir
leben im Innern, in der Mitte, aber wir brauchen den Mai,
um uns die Reize dieser Eingeweide vor Augen zu führen.
Ein Samstagabend bricht an. Grüne Schatten legen sich
quer über die Straße. Du hältst am Geschäft „Delikatessen
Zentrum“ in Ciężkowice an, um dir Cola und Red Bull für
unterwegs zu kaufen. Junge Burschen kommen angefahren,
mit Musik. Sie tragen enge weiße Unterhemden, silberne
Kettchen und fernöstliche Tätowierungen. Die Bässe dröhnen. Die Mädels sind wie durch ein Wunder schon gebräunt.
Der Innenraum des Geschäfts ist groß, hell und bunt wie im
Film oder im Traum. Und der Samstag und der Mai mischen
sich zu einem feierlichen, ekstatischen Cocktail. Von den
Jungs und Mädchen her weht ein Duft von Parfüm. Sie sehen aus wie glückliche, verschüchterte Ehepaare, wenn sie
Bier, Wurst, Senf, Brot, Holzkohle und Anzünder in die Einkaufswagen laden. Die Jungs tragen Shorts und Sportschuhe. Die Mädchen haben einen schwarzen Strich unter den
Augen. Die etwas älteren Frauen nehmen hundertfünfzig
Gramm von dem, hundert Gramm von dem und wieder hundertfünfzig von noch etwas. Alles in Scheiben geschnitten.
Diese Trägheit und herrschaftliche Laune des „geschnitten
bitte“ nervt mich immer, als hätten sie allesamt zu Hause
kein Messer. Aber heute nicht, heute sieht es aus wie die
Vorbereitung auf eine Hochzeit, auf einen Empfang, ein
Festmahl, etwas Üppiges. Drei Sorten Schinken, Presskopf
für zwanzig Zloty das Kilo, Radieschen, Salat, zum Trinken
etwas Orangerotes mit Kohlensäure in Zweiliterflaschen
und obendrauf die gebauschten Kissen von Chips in vier
Geschmacksrichtungen. Vor einem Regal mit Wein steht ein
älteres Ehepaar in meinem Alter. Seine Erinnerung reicht
in die Zeit, als Wein einfach Wein war. Einheimischer und
bulgarischer. Lieblicher und trockener. Weißwein, Rotwein,
Wermut. Und hier ein Regal bis zur Decke. Die beiden stehen
da und flüstern einander ins Ohr. Diskret weisen sie mit dem
Finger hierhin und dorthin. Verloren wie Kinder in diesem
Delikatessen-Geschäft, umgeben von der samstäglichen
Maiaura, die etwas von Dispens hat, etwas von einer Lizenz
zu gemäßigter Spinnerei mit alten Freunden bei einer Flasche Tokajer Furmint.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
ARTUR
DOMOSŁAWSKI
TOD
IN AMAZONIEN
Artur Domosławski (geb. 1967), Journalist und
Publizist. Ihn interessieren vor allem Lateinamerika, gesellschaftliche Konflikte und Antiglobalisierungsbewegungen. Der Autor war ein
Schüler von Ryszard Kapuściński, dem er das
Buch Kapuściński. Non fiction gewidmet hat. Es
erschien 2010 in Polen, ist kurz darauf in mehrere
Sprachen übersetzt worden und wurde zu einem
internationalen Bestseller.
Brasilien, Bundesstaat Pará. Es ist der 24. Mai 2011. Unbekannte Täter schießen auf zwei Umweltschützer. José Claudio da
Silva und seine Frau Maria sterben auf der Stelle. Die Mörder
schneiden José ein Ohr ab – als Beweis für die Auftraggeber.
Es stellt sich heraus, dass das kein Einzelfall ist. Die Anführer
der Bauern und die Umweltschützer, die im Amazonas-Gebiet
wohnen, bekommen Drohungen und leben in ständiger Angst.
„Im Bundesstaat Pará wurden in den letzten fünfzehn Jahren
205 Landaktivisten ermordet, in den letzten vier Jahrzehnten – über 800. In den Gefängnissen sitzen nicht einmal fünf
der Auftraggeber dieser Verbrechen“, sagt einer der Protagonisten der Reportage. Die Polizei und die örtlichen Behörden
schauen diesen Machenschaften untätig zu, vielleicht sind sie
sogar daran beteiligt. Worum geht es hier?
Wenn wir mit der Lektüre von „Tod in Amazonien“ beginnen, haben wir die Erwartung, den Autor bei seinen journalistischen Recherchen, die zur Lösung des Rätsels führen,
begleiten zu können. Wir denken, dass wir die Namen der
Schuldigen erfahren und etwas über ein gerechtes Urteil lesen werden, oder – im schlimmsten Fall – anfangen, über die
Gleichgültigkeit der Gerichte in Lateinamerika nachzusinnen.
Wir vermuten jedoch nicht, dass die Fäden der Verflechtungen, die bei den im Buch beschriebenen Ereignissen ihren
Anfang nehmen, bis zu unseren Häusern reichen. Und dass
wir am Ende der Lektüre die Welt anders betrachten werden
– auch die, die uns am nächsten ist.
Die drei hervorragenden Reportagen, die sich zu dem
Band „Tod in Amazonien“ zusammenfügen, verbindet ein
Thema: Die groß angelegte Zerstörung der natürlichen Umwelt (die Rodung der Amazonas-Regenwälder in Brasilien,
der Goldabbau in Peru und die Ölförderung in Ecuador) und
die damit einhergehende Vernichtung lokaler Gemeinschaften. Die Helden in Domosławskis Buch sind gewöhnliche und
gleichzeitig ungewöhnliche Menschen, die für die Rettung
der Umwelt und für ein Leben in Würde alles riskieren. Ihr
Kampf – so scheint es – ist von vornherein zum Scheitern ver-
urteilt, obwohl der letzte Text einen Funken Hoffnung lässt.
Der Reporter spricht mit Bauern und den Aktivisten vor Ort,
mit investigativen Journalisten, Juristen und Geschäftsleuten. Faden für Faden entwirrt er geduldig die komplizierte
Vernetzung zwischen den Mördern, der lokalen Wirtschaft,
der Politik und den transnationalen Konzernen. Er zeigt die
Rücksichtslosigkeit der Geschäftsleute und Politiker auf, ihre
Betrügereien, Manipulationen und Propagandatricks.
Ausgehend von Details und konkreten Situationen eröffnet der Autor eine breite Perspektive. Und das ist einer der
Momente, in denen die Lektüre besonders eindringlich wird.
Wenn wir bis jetzt glaubten, wir hätten mit der Vernichtung
der Amazonas-Regenwälder nichts zu tun, so ist es an der Zeit,
sich in der eigenen Wohnung umzuschauen... Nach der Lektüre der zwei anderen Reportagen werden wir uns auch nicht
besser fühlen.
„Wir verurteilen ein Verbrechen – dieses und jedes nächste.
Aber können wir schwören, dass wir an der Verteilung der
Beute nicht beteiligt sind?“, fragt der Autor und bezieht sich
dabei auf Sven Lindqvist, einen anderen hervorragenden Reporter. Das Buch von Artur Domosławski – verhalten, konkret,
voller Fakten und Namen – hat die Kraft einer Sprengladung.
Nach der Lektüre möchte man auf die Straße gehen und die
Welt verändern. Es ist wohl an der Zeit.
Małgorzata Szczurek
ARTUR DOMOSŁAWSKI
„ŚMIERĆ W AMAZONII”
WIELKA LITERA, WARSZAWA 2013
205×135, 328 PAGES
ISBN: 978-83-64142-13-0
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
Sein Körper
TOD
IN AMAZONIEN
war von siebzehn Kugeln durchlöchert.
Vier Kugeln hatten die Bauchhöhle durchbohrt, sechs –
den rechten Lungenflügel, eine – den äußeren Hals auf der
linken Seite, noch eine andere blieb im Hinterkopf stecken
und der Rest zerfetzte die übrigen Körperteile.
Edmundo Bercerra – alle nennen ihn Esmundo – dreiundvierzig Jahre alt, tränkte gerade sein Vieh an einer Wasserstelle, die Pampa del Ahijadero genannt wird. Nicht weit
von dem Dorf Yanacanchilla entfernt, wo er mit seiner Frau
und dem vierjährigen Sohn wohnte.
Die Schwester des Getöteten, Jovita, sah die Mörder aus
einiger Entfernung: Zwei Männer – in einem roten und in
einem blauen Poncho. Einer trug eine Mütze, der andere einen Hut. Später hat sich herausgestellt, dass auch noch ein
dritter dort war. Vor der Hinrichtung soll einer der Mörder
gesagt haben, die nächsten, solche wie Esmundo, würden
auch so enden. Kurz danach fielen Schüsse. Siebzehn Stück.
Die Mörder flüchteten in Richtung der Straße, die nach
Bamabamarca führt. Sie hatten nichts gestohlen, ein Raubmotiv war also von vornherein ausgeschlossen.
Ich schaue Zeitungsausschnitte der lokalen Presse durch,
aus den direkt davor liegenden Tagen.
Eine der Zeitungen berichtete, dass sich Esmundo
auf eine Reise nach Lima vorbereitete; zum Treffen einer Kommission, die sich aus Gegnern des Konzerns und
seiner Praktiken und aus Vertretern des Ministeriums
zusammensetzte. Es ging um den Abbau der Lagerstätten
des Hügels San Cirilo. Esmundo und die Dorfbewohner widersetzten sich diesem Plan. Ivan Salas, einer der örtlichen
Aktivisten, hatte zuvor Alarm geschlagen; der Konzern
Yanacocha-Newmont würde Gebirgsbauern bewaffnen, die
sich auf seine Seite geschlagen hatten. Sie sollten auf ihre
Nachbarn schießen, weil diese es ablehnten, dem Konzern
ihr Land zu verkaufen und weil sie sich dem Abbau der Lagerstätten widersetzten. „Wir haben es mit einer Bande zu
tun, die mit dem für den Konzern tätigen Büro für Landerwerb zusammenarbeitet. Vor ein paar Wochen, als ein Ingenieur gekommen ist, um topografische Untersuchungen
durchzuführen, hat die gleiche Bande auf ihn geschossen
und ihn an der Arbeit gehindert.“
Die Konzernvertreter sagten, das seien Lügen.
Die konzernnahen Zeitungen berichteten, bei Esmundos
Ermordung sei es um einen „Landkonflikt“ und um die „Begleichung von Rechnungen“ gegangen.
Jemand erinnerte daran, dass ein paar Monate zuvor,
nach dem Mordanschlag auf den Aktivisten und Konzernkritiker Isidro Llanos, der Vertreter von Yanacoch-Newmont
öffentlich erklärte, der Aktivist sei an einem Herzinfarkt
gestorben. In Wirklichkeit ist Isidro Llanos bei einem Zusammenstoß von protestierenden Arbeitern mit Sicherheitsleuten des Konzerns und der Polizei erschossen worden.
Es ist Marco, der mir am meisten über Esmondo und die
Umstände seiner Ermordung erzählt.
Er war kein typischer, armer Bergbauer aus der Region
von Cajamarca, sagt Marco. Esmondo war gebildet, Tierarzt
von Beruf. Er besaß ein ziemlich großes Stück Land, eine
kleine Viehherde und war Milchproduzent.
Als der Konzern damit begann, etwas oberhalb des Dorfes Yanacachilla neue Lagerstätten abzubauen, gründete
Esmundo eine Front für Umweltschutz. No pasaran! Als
Antwort holte der Konzern Leute, die nicht aus der Region
stammten und wie die Ureinwohner der Anden aussahen.
Sie fingen an, sich in dem Gebiet oberhalb des Dorfes anzusiedeln. Dann gründeten sie eine „Konkurrenz-Front“ für
Umweltschutz und Entwicklung – eine typische Strategie
des Konzerns, der später sagen konnte: schaut wie viele
Ortsansässige uns unterstützen. Die „Importierten“ hatten
Waffen und Walkie-Talkies, und agierten wie eine organisierte Gruppe.
Der Konflikt eskalierte, als Esmundo sein Vieh an den
Lagunen tränken wollte, die sich auf dem von den Ankömmlingen besetzen Boden befanden. Das Eigentumsrecht erstreckt sich nicht auf die Lagunen; die Landbesitzer,
auf deren Gebiet sie sich befinden, sind verpflichtet, zum
Beispiel Bauern, die ihr Vieh tränken wollen, den Zugang
dorthin zu ermöglichen. Doch die „neuen Siedler“ scherte
das nicht.
Esmundo bekam Drohungen: Misch dich nicht in die
Angelegenheiten der Mine ein. Er wurde aufs gröbste beschimpft.
Eines Tages wurde er von bewaffneten Männern verprügelt. Er fuhr zum Polizeirevier in Chanta Alta, zwei
Stunden vom Dorf entfernt, um Anzeige zu erstatten. Fahr
zum Richter, sagten die Polizisten, nach Cajamarca, und sie
lachten.
Andere eingeschüchterte Bauern hörten, wie die Männer
aus der bewaffneten Gruppe prahlten, sie seien unantastbar,
weil sie unter dem Schutz von Yanacocha-Newmont stünden.
Kurz danach wurde Esmundo erschossen.
Der Mordanschlag, sagt Marco, erinnert an die typisch
kolumbianische oder brasilianische Art, sich eines unbequemen Anführers einer Gemeinschaft zu entledigen. Das
Projekt der Ausbeutung neuer Lagerstätten wurde gestoppt.
Die „importierten“ Bergbauern sowie die von ihnen gegründete Front für Entwicklung verschwanden im Nichts.
Esmundos Dorf, eine kleine Gemeinschaft von damals
fünfundvierzig Familien, war traumatisiert. Angst griff
um sich, Misstrauen und Argwohn. Das Verbrechen hat
diese Menschen gebrochen, sagt Marco. Esmundos engster
Kampfgefährte, Genaro López, ist nach Cajamarca umgesiedelt. Er hält sich von allen öffentlichen Aktivitäten fern und
will über den Tod des Freundes nicht sprechen.
Esmundos Frau ist mit dem Kind weggezogen. Man weiß
nicht wohin.
Laut den Erzählungen der Leute war Esmundo ein außergewöhnlicher Mensch; der „zweite Anführer der lokalen
Dorfgemeinschaft“ (nach Marco Arana). Hilfsbereit, charismatisch, intelligent. Deshalb war er politisch unbequem.
Geradezu gefährlich.
Die Presse und die Bulletins der Protestbewegungen erinnern daran, dass er in den letzten Jahren der sechste Anführer aus der Region Cajamarca war, der ermordet wurde.
2003: José Llajahuanca aus San Ignacio.
2004: Juan Montenegro aus Santa Cruz.
2005: Reinberto Herrera und Melanio Garcia aus San
Ignacio.
2006: Isidro Llanos aus Combayo.
Jeder von ihnen starb unter anderen Umständen, doch
fast immer waren die Täter unbekannt. Isidro Llanos hatte
im Konzern einen Streik wegen sklavenähnlicher Arbeitsbedingungen organisiert. Er wurde während einer Schlägerei der Streikenden mit den Sicherheitsleuten des Konzerns
und der Polizei erschossen.
Esmundo wurde das Opfer einer geplanten, kaltblütigen
Hinrichtung.
Man könnte über die Motive spekulieren. Ein Motiv
drängt sich aber wie von selbst auf, auch wenn man es zu
verdrängen versucht. Kann man einen Zufall ausschließen?
Zumindest nicht ganz. Doch wer sollte Esmundo umbringen
wollen? Und warum?
Und hier glaubt niemand an Zufälle oder das Begleichen
von Rechnungen.
Düstere Orte und tragische Ereignisse rufen manchmal
merkwürdige und unerwartete Assoziationen hervor. Es
ist einige Jahre her, da hatte ein Dichter in einem anderen
Teil der Welt ein Gedicht über ein Ungeheuer geschrieben.
Jetzt, da ich versuche, die Atmosphäre in Cajamarca wiederzugeben, erscheint es mir, als ob das Gedicht diesen Ort
beschreiben würde: Unbekannte Täter. Opfer. Anschuldigungen, die an Paranoia grenzen. Keine Beweise. Unsicherheit. Angst.
[...]
Dank der Aussagen von Esmondos Schwester konnte die
Polizei die Namen der Mörder schnell ermitteln: die Brüder
Aguinaldo und Fortunato Rodriguez. Am Tatort war noch
ein dritter Mann gewesen, doch man ließ die Anschuldigungen gegen ihn fallen.
Als die Polizisten den Hauptmörder festnehmen wollten,
kam es zu einer Schießerei. Aguinaldo starb auf der Stelle.
Die Umstände lassen den Verdacht aufkommen, man wollte
den Täter erst gar nicht verhaften. Sollte er sterben, damit
er vor Gericht nicht aussagt?
Mirtha ist an Informationen gekommen, die uns vermuten lassen, dass es so sein könnte. Der Täter war ein in der
Gegend bekannter Auftragskiller, der Hinrichtungen ausführte. Ein Tag vor seinem Tod rief er den Congressman
Werner Cabrery an und sprach mit seinem Assistenten
Ivan Salas. Aguinaldo kündigte an, er werde sich der Polizei stellen und sagen, wer der Auftraggeber für den Mord
an Esmondo gewesen sei. Als man ihn am nächsten Tag zu
fassen versucht, kommt er ums Leben.
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
KATARZYNA
PAWLAK
EINMAL CHINA UND ZURÜCK
ALLTAGSNOTIZEN AUS
DEM REICH DER MITTE
Katarzyna Pawlak ist Soziologin, Übersetzerin
und Koautorin eines Lehrbuches für Chinesisch.
Sie ist Reisende und Bloggerin – aus ihrem Blog
www.zachinyludowe.net, den sie während ihres
Studienaufenthalts in China geführt hat, entstand ihr vorliegendes Buch. Sie hat in Taipeh,
Peking und Shanghai gelebt. Am liebsten reist
sie ohne Eile durch China.
Im Wörterbuch wird das Wort „Ausländer“ ins Chinesische
mit wàiguórén übersetzt, sprich: „ein Mensch aus einem äußeren Land“. Das klingt neutral. Aber die Chinesen benutzen
meist lieber den Ausdruck lăowài, was so viel heißt wie „alter
Äußerer“. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Lăowài
klingt wie: „du bist nicht von hier, und du wirst es nie sein“.
„,Mama, schau mal, da kommt ein lăowài. Der Knirps zeigt
auf mich und seine Mutter lacht, so klein und schon so schlagfertig“, schreibt Pawlak. „,Aah, ein lăowài‘ – die Arbeiter und
eine Gruppe jugendliche Sprösslinge zeigen mit dem Finger
auf mich. Nach diesem Ausruf folgt zumeist im Falsett: ,Helloooo! Okeey?’ Dann Gekicher. Und dann laufen sie weg.“
Der Autorin, die mit diesem Begriff versehen wird, fällt
auf, dass ihr nach zwei Monaten aus dem Spiegel jemand
entgegenschaut, den sie vorher nicht kannte. „Das ist nicht
mehr Kasia, die Polin, die (im Grunde noch junge) Frau, die
Doktorandin, sondern ein großer, blasser ‚alter Äußerer‘ mit
‚strohfarbenem Haar und einem riesigen Zinken‘.“ Dieses Gefühl der Fremdheit erfährt jeder Ausländer in China. Wenn
er zum tausendsten Mal gefragt wird, ob er China mag und
ob ihm das Essen schmeckt, selbst wenn er seit Jahren hier
wohnt, wird er versuchen, die Chinesen davon zu überzeugen, dass er kein „alter Äußerer“ sondern ein Mensch ist.
Die Autorin versucht es auch. Doch nach einem spannenden
Referat, das sie fließend auf Chinesisch an der Universität in
Shanghai hält, vernimmt sie verwunderte Fragen, ob sie wisse, wer Konfuzius war und – natürlich – ob sie chinesisches
Essen mag.
In ihrer Beschreibung des Reiches der Mitte nimmt die Autorin chinesische Wörter zu Hilfe, wie beispielsweise benben
zu. Das ist ein sich herumtreibender Stamm, sprich, Arbeitsmigranten, die nirgendwo sesshaft werden. Oder yi zu – das
Ameisenvolk: arme Chinesen aus der Provinz, die an den Peripherien Pekings und Shanghais leben.
„Einmal China und zurück“ ist eine überaus amüsante und
ungeheuer intelligente Beschreibung des zeitgenössischen
China. Die Autorin ist studierte Soziologin und Sinologin, sie
hat einen ausgezeichneten Schreibstil und die Gabe des passenden Ausdrucks sowie der treffsicheren Pointe.
Pawlak hat zwei Jahre in Shanghai und Peking verbracht,
sie hat den Chinesen im Zug und auf der Straße sowie in den
Bergen und während des chinesischen Neujahrsfestes Gesellschaft geleistet. Sie hat mit ihnen ferngesehen und chinesische Zeitungen gelesen. Sie hat zugesehen, wie sie Sonnenblumenkerne essen, wie sie ganze Litaneien englischer
Wörter pauken und im Zug spucken, dass man kein trockenes
Plätzchen für seinen Rucksack findet.
Lassen Sie sich von der leichten Form nicht beirren. „Einmal China und zurück“ ist ein gutes Stück solider soziologischer Arbeit. Es besteht aus kleinen Traktaten über das
chinesische Fernsehen und das Internet, über das konfuse
Hùkŏu-System (Wohnsitzkontrolle), das Gesundheitssystem,
soziale Ungleichheiten, die Mitgift, die in China von den Männern eingebracht wird, die Rolle der Frau und viele andere
Themen.
Maria Kruczkowska
KATARZYNA PAWLAK
„ZA CHINY LUDOWE”
DOM WYDAWNICZY PWN
WARSZAWA 2013
127×200, 248 PAGES
ISBN: 978-83-7705-322-5
TRANSLATION RIGHTS:
DOM WYDAWNICZY PWN
ALS ICH
EINMAL CHINA
UND ZURÜCK
ALLTAGSNOTIZEN AUS
DEM REICH DER MITTE
eine Wohnung zur Miete suchte und in den Agenturen meinen finanziellen Rahmen nannte, bot man mir Wohnungen
in „alten Plattenbauten“ an: „Das heißt, wie alt?“ „Etwa
fünfundzwanzig Jahre“. Ich hatte in Warschau in einem der
ersten Exemplare der realsozialistischen Bauweise gewohnt,
einem soliden Koloss in Muranów mit so dicken Wänden,
dass Titanbohrer versagten, und ich dachte bei mir, dass es
lächerlich sei, ein dreißigjähriges Gebäude „alt“ zu nennen,
und verstand das Problem gar nicht (oder wollte es nicht
verstehen; jeder, der einmal sehr weit weg gelandet ist und
länger bleiben will, weiß, unter welchen Bedingungen man
sein Domizil wählt). Die Leute sagten vorsichtig, die Qualität sei nicht die beste. Ich dachte, dass es vielleicht keinen Fahrstuhl gibt oder dass andere Attraktionen auf mich
warten, die für die polnischen Plattenbauten typisch sind
– schlechte akustische Isolierung, alte Fenster oder schiefe Wände. Und wie das so ist, habe ich mir gedacht, dass
diese ganzen Dinge, mit denen man konfrontiert sein kann,
wenn man in einem Gebäude mit nicht allzu hoher Qualität wohnt, mir natürlich erspart bleiben werden. Entweder
nehmen sie die Gestalt kleiner, nicht genauer präzisierter
Reparaturen an, eines lächelnden Handwerkers, kleiner
Nägelchen oder Dichtungen, die für jemanden, der sich mit
einem Koffer in einer Fünfundzwanzig-Millionen-Stadt
befindet und vollkommen allein und ohne ein Zuhause ist,
absolut inhaltslos sind. Im Übrigen: ein Dach über dem Kopf,
Strom, Gas (beinahe mit Entzücken habe ich die Nachricht
aufgenommen, dass hier überall Gas installiert ist, dass
man keine Gasflaschen schleppen muss, wie einst in meiner
Wohnung in Taiwan) und Wasser. Was braucht man mehr?
Zumal ich eine Wohnung fand (in der ich jetzt sitze und
schreibe; vielleicht geht sie heute doch nicht in die Luft?),
die schön, sauber, hell und sympathisch ist. Im Treppenhaus sieht es natürlich anders aus: alte Eimer, kaputte Möbel, ein Kanarienvogelkäfig ohne Kanarienvogel und Momo,
der Bobtail des Nachbarn – ich habe fast gar nicht erkannt,
dass das ein Bobtail ist, er ist rasiert, damit ihm nicht so
heiß wird. Er schläft im Treppenhaus, weil es in der Einzimmerwohnung zu eng ist.
Noch mehr hat mir die Wohnsiedlung selbst gefallen, die
sich ungefähr folgendermaßen zusammensetzt:
a) ein Dutzend abgeblätterter Wohnblöcke mit einer
Million Anbauten + Bewohnern (im Umkreis der
Siedlung laufen sie in ordentlichen Pyjamas mit lustigen Mustern herum, passend – wovon ich mich bald
überzeugen sollte – zur Jahreszeit: im Frühling und
im Sommer aus Baumwolle, im Herbst und im Winter
aus dickerem Steppmaterial).
b) ein Markt, wo man außer Gemüse, Gewürze und Tofu
auch lebendige Hühner und Tauben kaufen kann.
Man kann sie sofort schlachten lassen.
c) d er bereits erwähnte Herr, der lebendige Frösche
in einem Nylonnetz verkauft. SSL, die Taiwanesin
(mit rotem Haar und einem Lächeln über das ganze
Gesicht), die ich im Unterricht kennenlerne und sofort sympathisch finde, stiftet mich dazu an, einen
zu kaufen, als Haustier. Als ich den Froschmann fürs
Erste nach dem Preis für einen Frosch frage, fragt der
zurück: „Du meinst einen jīn, 300 Gramm? Gleich ausnehmen?“
d) der ebenfalls bereits erwähnte Herr, der alles Mögliche verkauft und alle möglichen Dienstleistungen anbietet (bis zum Ende meines Aufenthalts in Shanghai
sehe ich nur den leeren Behälter, die Straße ist blutüberflutet, und der Mann hält eine unheilvolle blutige
Klinge in der Hand).
e) das Revolutionäre Straßenkomitee (so nenne ich es,
zu Ehren der Sensationslüsternen und der Denunzianten der Komitees aus den Zeiten der Kulturrevolution; Ersatzbezeichnung: Alten-Rat). Seine Mitglieder
sitzen auf kleinen Hockern an den Hauptkreuzungen
von Alleen und passen auf. Graues Haar, Pyjamas,
Spielkarten, neben ihnen schnauft ein alter Hund.
„Der ist morgens aus ihrem Haus gekommen, obwohl
sie nicht verheiratet sind.“ „Die hat einen fast noch
guten Fernseher weggeworfen, ist wohl reich geworden, bestimmt durch krumme Dinger.“
f) kleine Geschäfte und kleine Kneipen, darunter Kneipen, die von vier Generationen der Hui geführt werden. Die Hui-Frauen tragen schwarze Spitzentücher
auf dem Kopf und schreien ihre schmutzigen Kinder
an, die zwischen den Hockern herumkrabbeln. Sie bereiten das köstlichste Hammelfleisch mit Kümmel zu,
und die Männer (Bärtchen, ein rundes weißes Mützchen auf dem Kopf) machen mithilfe einer Serie malerischer Box- und Armbewegungen die besten Nudeln
der Welt. Zum Opferfest schlachten sie einen Hammel
und färben dabei den Fußweg rot.
g) eine Katzenhorde, darunter eine gestreifte Katze (angeblich hatte einst ein Nachbar sie eingelassen, vor
dessen Tür sie zwei Tage lang miaut hatte, und sie
hatte sofort sechs Kätzchen geworfen).
Also scheinbar ist alles in Ordnung. Doch was ist hier
besonders? All das sind Relikte aus einer Welt, die nach
und nach verschwindet, die niemand mehr retten will,
schließlich steht sie dem unerbittlichen Recht der fāzhăn
– der Entwicklung – im Weg. „Ältere Bauweise“ bedeutet in
diesem Falle, zu einer älteren Epoche zu gehören, die nach
anderen Regeln und einer anderen Logik als die heutige
funktioniert. Das war es, was meine Gesprächspartner mir
vermitteln wollten. Meine Wohnung ist ein Überbleibsel
einer Welt, in der einem eine Wohnung zustand. Sie war
sowohl eine Verpflichtung gegenüber dem Bürger, als auch
der Ausdruck des guten Willens des Staates und dessen mit
dem Bürger am engsten verbundenen Nervenendes, der
danwei (die kleinste Einheit, die Dienststelle). Diese Wohnungen unterlagen nicht den Kriterien und den Prinzipien
des Marktes, weil es diese noch nicht gab. Dafür musste es
viele Wohnungen geben und zwar jetzt, gleich, sofort. Wer
würde bei einer so großen Mission nach ihrer Qualität fragen, umso mehr als sie umsonst sind? Eine Wohnung von
danwei, ein Fahrrad der Marke yongjiu – Ewigkeit –, für das
man auf einer langen Liste gestanden hatte, eine Nähmaschine und ein kleines Plastikradio waren der Gipfel der
Träume, ein Zeichen des Schicksals, dass sich alles fügen
würde, dass alles in eine gute Richtung geht. Die kleine Stabilisierung, die kleine heile Welt.
Heute atmen diese Siedlungen noch, noch sind sie lebendig, aber das ist ein Leben in einer Sackgasse der allgegenwärtigen und übermächtigen fāzhăn. Zunächst zerfällt
eine Anlage nach der anderen, eine Treppe nach der anderen, ein Treppenhaus nach dem anderen. Und dann genügen ein paar Tage, eine Woche, und die Wäsche, der Basar,
die Hühner und die Hui sind fort und die Fenster sind leer.
Dann wird ein Wohnblock nach dem anderen von seinem
Skelett abgetrennt, die Skelette zerfallen zu Staub, und an
ihrer statt wachsen die Wohnungen der neuen Welt empor:
shāngpĭnfáng – marktgerecht. Ohne Pyjama, ohne den Mann
mit der Klinge, ohne die gestreifte Katze, aber dafür mit monitoring, einem kleinen Springbrunnen und einem unterirdischen Parkhaus. Vielleicht sogar mit einem Schwimmbad?
Bevor jedoch dieser Prozess in meinem Wohngebiet
einsetzt, verschimmelt zunächst in einer der kleinen
Wohnungen in dem Gebäude mit dem kahlgeschorenen
Bobtail innerhalb von zwei Tagen buchstäblich die ganze
Wand – gleichmäßig grün, wie Gras, nur senkrecht („Die
Dachrinne ist in der Wand, wie soll das also anders sein?!“,
klärt mich der ansässige Meister auf, einer der vielen, die
ein Jahr lang durch meine vier Wände ziehen). Und jetzt?
Jetzt strömt Gas aus, scheußlich. Es hat sich buchstäblich
innerhalb von Minuten etwas gelöst. Der Zufluss lässt sich
nicht zudrehen, weil der Gasstrang nicht durch das Treppenhaus verläuft, sondern durch meine Wohnung, mitten
durch meine Küche; so hat man früher gebaut, um Kosten
für die Installationen und Zeit zu sparen. Die entfernte
Stimme vom Gas-Notdienst (er sitzt weit weg in Sicherheit, bestimmt in einem neuen Wolkenkratzer oder einem
marktgerechten Gebäude, der Schlaumeier!), den ich voller
Panik anrufe, weist an, alle Fenster zu öffnen, die Tür zum
Zimmer zu schließen, in dem ich schlafe, und bis morgen
früh abzuwarten, bis sie mit einem neuen Rohr oder einem
neuen Zähler kommen.
Ich habe überhaupt keine Lust, aber ich werde wohl tanzen gehen, die ganze Nacht.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska
WOJCIECH
TOCHMAN
ELI, ELI
Wojciech Tochman (geb. 1969). Journalist und
Schriftsteller sowie einer der bekanntesten
übersetzten polnischen jungen Reporter. Seine Reportagen sind ins Englische, Französische,
Schwedische, Finnische, Russische, Dänische und
Bosnische übersetzt. Mit Zum Beispiel einen Stein
essen war er im Finale für den polnischen Literaturpreis Nike und für den Prix Témoin du Monde,
ausgezeichnet wurde er von Radio France International. Gemeinsam mit Paweł Goźliński und
Mariusz Szczygieł leitet er das Polnische Reportageinstitut in Warschau.
Das neue Buch von Wojciech Tochman – oder genauer gesagt
von Wojciech Tochman und Grzegorz Wełnicki, denn die
Fotografien des letzteren spielen nicht nur eine illustrative
Rolle, sondern sind in gewisser Weise treibende Kraft für die
Handlung und unverzichtbarer Teil der Erzählweise dieser
Reportage – ist trotz seines geringen Textumfanges ein vielschichtiges und überaus anspruchsvolles Werk.
Im Vordergrund steht die Geschichte über die erschreckenden Slums im philippinischen Manila mit einigen markanten Protagonisten, die sich über ihr Leben im klaren sind,
und mit dem unglücklichen, von unbekannter Krankheit geplagten Baummädchen – eine Begegnung, mit der das Buch
beginnt. Mit diesen Mikroerzählungen schafft Tochman ein
breiteres Bild, das Bild der von der Gesellschaft ausgeschlossenen Armen, die von ihrem eigenen Staat und den wohlhabenderen Nächsten betrogen werden, wobei – wovon der Autor
überzeugen will – zur Not und Kriminalität auch die Amerikaner, die auf den Philippinen einen Militärstützpunkt haben,
entscheidend beitragen, ebenso die dominante katholische
Kirche mit ihrem wahrhaft pharisäerhaften Antlitz.
Genauso wichtig ist aber auch das Niveau der von den philippinischen Erfahrungen des Reporters und des Fotografen
stimulierten doppelten Meta-Narration. Sie beruht zum einen
auf dem Nachsinnen über Möglichkeiten, von außen in diese oder ähnliche Welten der permanenten Not einzugreifen
– eher durch Einzelpersonen denn durch Institutionen. Was
kann ich eigentlich für diese Menschen tun?, scheint sich
Tochman zu fragen. Er antwortet mit einer Beschreibung dessen, was passiert ist, als er und Wełnicki es im Rahmen ihrer
bescheidenen Möglichkeiten versuchen.
Das zweite Problem ist die Frage des quasipornografischen
Status’ des Bildes und der Berichte über Menschen in Not,
sprich eine recht fundamentale ethische Frage all derer, die
von dieser Not erzählen und sie zeigen. Dies betrifft selbst die
einfachsten und offensichtlichsten Dinge: „Wenn ein Buch erfolgreich ist“, so Tochmann, „macht der Autor eine Lesereise
im Inland, und wenn es sehr gut läuft, auch im Ausland, denn
er wird von Bibliotheken, Kulturhäusern, Hochschulen, Buchmessen und Literaturfestivals eingeladen. Er sitzt vor einem
vollen oder fast vollen Saal. Er spricht über menschliche Not,
über Demütigung, Angst und Verachtung. Über Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Ausbeutung. Er ist weise, aber das ist
nicht seine eigene Weisheit. Oft sind es Gedanken derer, mit
denen er gesprochen hat, während er an dem Thema gearbeitet hat. Ein Reporter existiert ohne Menschen nicht.“
Das Buch Eli, Eli, dessen Titel sich aus den Worten Christi
am Kreuz zusammensetzt, ist voller Schmerz, Zorn und Verzweiflung. Es stellt Fragen, die man vielleicht nicht unbedingt
so beantwortet muss, wie der Autor es tut, von denen man
sich aber nicht frei machen kann.
Marcin Sendecki
WOJCIECH TOCHMAN
„ELI, ELI”
CZARNE, WOŁOWIEC 2013
190×240, 152 PAGES
ISBN: 978-83-7536-519-1
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
Es sind
ELI, ELI
keine glücklichen Kinderaugen, die uns anschauen. Ein Gesicht hinter einem Gitter, einem weißen Gitter aus einem alten Kühlschrank, das aus einem Junk-Shop hierhergebracht
wurde. Feuchte, misstrauische, unbewegliche Augen. Das
ist Pia. Drei Jahre alt, Hautgeschwüre, sie spricht nicht, sie
kann sich kaum bewegen und lächelt selten. Sie sitzt in einem schwarzen Loch, das ihr Zuhause ist. Ein übelriechender Schrank, kleiner als zwei Meter, zurechtgezimmert aus
Sperrholz und Lumpen. Ihr jüngerer Bruder, auf dem Foto
rechts, lächelt nie. Das ist Buboy. Er verzieht das Gesicht
und kratzt sich. Er hustet. In der Nähe wacht die Hand der
Großmutter. Oder eher der Urgroßmutter. Sie ist fast achtzig, die Mutter der Kinder ist zwanzig. Über mindestens
eine Generation gibt es keine Informationen. Aber keiner
von uns fragt nach solchen Einzelheiten, keiner will seinen
Kopf damit belasten. Das sind verlassene Kinder, sagt unser
Fremdenführer. Die Mutter ist drogensüchtig, keiner weiß,
ob sie lebt und wo. Der Vater sitzt im Gefängnis. Es ist nur
die Großmutter da, die nichts hat und kaum spricht. Wahrscheinlich wird sie nicht mehr lange leben. Eine traurige
Geschichte, ein trauriger Anblick.
Wir sind in einer recht zahlreichen Gruppe gekommen,
um die Armut zu fotografieren. Wir sind aus Madrid, Paris,
Frankfurt, Warschau, London, Moskau, Tel Aviv, Sydney,
Toronto und New York eingeflogen. Vereinfacht ließe sich
sagen: aus dem Fernen Westen. Wir sind in der Adriatico-Straße abgestiegen, hier sind lauter Weiße, im Hostel
Frendly’s haben wir unser Gepäck abgeworfen, in der Rezeption haben wir den Aushang für Entdecker gefunden,
der unter dem Zeichen von Lonely Planet steht: True Manila!
Das wahre Gesicht von Manila! Entdecke eine für Touristen
unzugängliche Stadt! Free of charge! Fünf Uhr nachmittags
im Where2Next, das Hostel nebenan.
Veranstalter des Ausfluges ist Edwin N., ein Mann, der
auf die vierzig zugeht.
°
Edwin N.s Geschichte:
„… ich war neun Jahre alt und hatte einen festen Tagesplan. Gegen Mittag sammelte ich eine Stunde lang Müll,
Plastik und Gerümpel, um ein Uhr ging ich in die Schule,
dann nahm ich um fünf Uhr vom Lieferanten die Abendzeitung Red Light District entgegen, ich schlief ein bisschen auf
dem Asphalt, mit dem Kopf auf den Zeitungen, aber dann
musste ich los und bis fünf Uhr morgens über den versmogten highway laufen und Zeitungen verkaufen, um sechs
Uhr kam die Morgenzeitung, highway bis neun Uhr, dann
endlich zwei Stunden schlafen, aufwachen, Müll, Plastik,
Schrott, Schule …
… in unsere Straße kommen keine white people, die trauen sich nicht. Eines Tages sehe ich zwei, einen Mann und
eine Frau, hatten sich verlaufen, sie sahen wirklich interesting aus, ich konnte meine Augen von ihrer weißen Haut
nicht losreißen, ich rief ihnen zu „Hey Joe!“, das war das
einzige, was ich auf Englisch konnte, sie fotografierten
mich, lächelten und gingen weiter. Ich lass mich nicht einfach so fotografieren, dachte ich mir, so für umsonst, und
lief ihnen nach, sie wohnten weit weg, das waren christliche Missionare, ich weiß nicht mehr, hier bei uns gibt es
massenweise Leute mit Jesus auf den Lippen, sie schenken
jedem Kind einen Lutscher und wollen gleich seine Seele,
die hier wollten nicht, deshalb freundete ich mich mit ihnen an, sie nahmen mich mit ins Wendy’s auf einen Hamburger, zeigten mir das Kino, einen amerikanischen Film,
dafür zeigte ich ihnen das wahre Manila, dann reisten sie
ab, vorher gaben sie mir Briefpapier und stamps, sie sagten,
ich sollte ihnen schreiben, auf Englisch, dann kamen sie
zurück, schenkten mir eine Gitarre und brachten mir bei,
sie zu spielen, sie hatten hier ein schönes Haus, voller Bücher, sie fotografierten mich wieder, das sind die einzigen
Fotos, die ich aus meiner Kindheit habe, dann reisten sie
wieder aus, ich ging zur Schule, Vater schlug mich jeden
Tag, heftig und ins Gesicht, ich beschloss, mich selbst zu
retten, da war ich schon etwa dreizehn, ich lief weg von
Zuhause, erhielt meine Briefe nicht, der Kontakt mit den
Missionaren brach ab …
… als ich neunzehn war, schloss ich die Mittelschule ab,
von irgendetwas musste ich leben, ich verkaufte auf dem
highway Zigaretten, Mutter verkaufte gebrauchte Kleidung
und half mir, und ich half ihr, es hing vom Tag ab, wer mehr
verdiente, ich studierte an der Universität Kriminologie,
ich wollte Polizist werden, ich habe sieben Schwestern,
die mussten beschützt werden, aber ich eigne mich dazu
nicht, ich bin zu nervös, und ein policeman hätte hier auch
kein Leben gehabt, ich hatte noch immer Angst vor meinem
Vater, deshalb brach ich das Studium nicht ab, ich arbeitete in einem Videoshop, putzte in einem Kino nach den
Vorführungen, eine fürchterliche Tätigkeit, ich schrubbte
Klos und Fußböden im Robinson, hard job, drei Leute auf ein
riesiges Handelshaus, wir wurden nicht bezahlt, der Arbeitgeber verschwand, was sollte ich machen, ich verkaufte
im Wendy’s Burger, von vier Uhr morgens bis zehn Uhr in
the evening, Arbeit und Studium am laufenden Band einige
Jahre lang, ich lernte auch klassische Gitarre an der Musikschule, wir hatten an der Universität eine Band, doch woher
dafür Zeit und Kraft nehmen, ich war sechsundzwanzig geworden, ich beendete mein Studium, ich heiratete, wir haben zwei Kinder, meine Tochter heißt Jessica, zu Ehren der
amerikanischen Missionarin, und mein Sohn heißt Timmi,
wie ein hier bekannter Schauspieler aus einer soap opera …
… endlich eröffnete ich meinen eigenen Titanic Video
Shop, wo sich mein betrunkener Vater jeden Tag auf dem
Fußboden erbrach, deshalb ging Titanic nach einem Jahr
unter, ich hatte verschiedene Geschäfte, sie gingen alle
nacheinander ein, uns hat hier niemand beigebracht, wie
man Unternehmen führt, in der Onyx-Straße gelingt nichts,
no success, du verschuldest dich und fällst in einen Abgrund,
I was happy, ich spielte in einem Film, das war nicht einfach,
ich spielte den Anführer einer Gang und wurde umgebracht,
dann lächelte ich in einer Kaffeewerbung, man rief mich
hier Double Espresso, endlich landete ich im Frendly’s in der
Adriatico-Straße, da sind viele Ausländer, sie reisten ein,
reisten aus, ließen offene Kühlschränke mit Marmelade
und Käse zurück, man ging dorthin, um sich zu ernähren,
jemand fragte mich, wo ich wohne, ich dachte mir, dass mir
einst weiße Menschen geholfen hatten, und dass ich ihnen
heute helfen werde …
… ich zeige ihnen free of charge meine wahre city, es wäre
nicht fair, cash dafür zu nehmen, dass man Armut zeigt …
… bevor wir losgehen, bereiten wir immer Plastiktüten
mit Nahrungsmitteln vor, ein bisschen Reis und eine Büchse Sardinen, keiner der white people zahlt dafür, wir ziehen
durch die Slums und verteilen das, jeder hat mehrere Tüten,
jeder muss sich über den Notleidenden beugen, ihm in die
Augen schauen und ihm das geben, so bringen wir den Ausländern bei, dass die Philippinen nicht nur eine grüne Insel
und der türkisfarbene Ocean sind, dass wir hier auch eine
andere Welt haben, eine dunkle und stinkende Welt, manche sind steif vor Verlegenheit, zum ersten Mal in ihrem
Leben geben sie einem Armen etwas zu essen, ohne Worte,
obwohl wir usually hier Englisch sprechen, haben manche
keine gemeinsame Sprache mit den Armen, andere weinen,
noch andere geben mit ihren photos an, und manche sagen
über uns solche Dinge, dass man sich schämen müsste, das
zu wiederholen …
… wenn wir fertig sind, nehme ich meine Mütze und
bitte um eine Spende, dafür essen wir dann in the evening
gemeinsam im Hostel, und das, was übrig bleibt, teilen wir
durch zwei, der eine Teil wird für die Bildung der Kinder
in der Onyx bestimmt, den zweiten Teil geben wir für die
Nahrungsmittel für die nächste Gruppe aus, wir kaufen Reis
und Sardinen, vielleicht noch etwas anderes, erst kam eine
Gruppe, dann die zweite, die zehnte, ein Fotograf aus Polen,
er hieß Gregory, er sagte, nenn diese Führungen True Manila, das tat ich, dann kam die zwanzigste, dreißigste, die
sechzigste, wir haben ein Facebook-Profil, ich mache das
gern, ich zeige gern den Weißen unsere Armut, ich mag
die großen weißen Frauen, white people vertrauen mir, sie
gehen mit mir sogar bis hierher, zu Unrecht, schließlich
könnte ich ein Bandit sein, ich wohne in der Onyx, oder ein
Messerstecher, Geld her und fuck off, aber zu eurem Glück
bin ich OK, ich bin ein Kind der Onyx, kein Mörder, kein
Dieb, kein Terrorist, wir sind normale Penner, wir werden
hier zahlreich geboren, wir sammeln Schrott, damit wir
uns Reis kaufen können, wir sterben jung, schaut her und
fotografiert unser Leben ohne Furcht, ohne Gewissensbisse,
unsere Onyx gehört euch!
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska
ANGELIKA
KUŹNIAK
PAPUSZA
Angelika Kuźniak Angelika Kuźniak (geb. 1974),
Journalistin und Reporterin, drei Mal mit dem
Grand Press-Preis ausgezeichnet. Ihr 2009 erschienener Reportagenband Marlena, der Marlene Dietrichs letzten Jahren gewidmet ist, wurde
vom Publikum sehr positiv aufgenommen.
Die Geschichte von Bronisława Wajs, genannt Papusza, ist
fremdartig und exotisch. Die am Anfang des 20. Jahrhunderts
geborene Zigeunerin und Dichterin wurde als ein folkloristisches Schmuckstück gesehen – ein wenig wie „eine Frau
mit Bart“. Die Gestalt aus dem Raritätenkabinett faszinierte,
doch wurde sie ernst genommen? War sie eine „Zigeunerdichterin“ oder einfach nur „Dichterin“? Aus Angelika Kuźniaks
Buch geht klar hervor, was Papuszas Persönlichkeit geformt
hat; die Welt des Zigeunerlagers war der Stoff, aus dem sie
gemacht war, aber auch die Populärliteratur! Eine geborene
„Perle“, ein Zigeunerkind, das neugierig auf die Welt war und
das – gegen seine eigentliche Bestimmung – zuerst lesen und
dann schreiben lernte, um schließlich alle Romane und Erzählungen zu verschlingen, die es in die Finger bekam.
Papusza bedeutet Puppe – dieser inoffizielle Name ist auf das
Aussehen des Mädchens zurückzuführen (Angelika Kuźniak
benutzt Papusza statt Bronka und gibt damit ihrer Heldin nicht
nur eine Stimme, sondern taucht sie in die Welt ihrer „eigenen“
Tradition). Aber in Kuźniaks Erzählung hat der Name Papusza auch eine ernste Bedeutung – das Geschlecht, die soziale
Herkunft, die familiären Beziehungen hatten zur Folge, dass
Bronka Wajs in einem wörtlichen und damit dramatischen
Sinne zur Puppe wurde: sie wurde von Hand zu Hand gereicht
und reagierte wie ein Automat auf Anweisungen. Ihr zweiter
Mann, der viel ältere Dionizy, hatte sie entführt und zur Heirat
gezwungen. Papuszas Rettung war die Liebe zu dem jungen Witold, doch als er verschwand, trieb es sie in den Wahnsinn. Solche Geschichten machen sich recht gut in einem literarischen
Text. Kuźniak zeigt, was passiert, wenn so eine Anziehung der
Herzen – eine so große, wahrhaft „romantische“ Liebe gegen
den Rest der Welt – zur Wirklichkeit wird.
Die Autorin analysiert – taktvoll und behutsam, wie aus
dem Hintergrund – Papuszas Geschichte und stellt Fragen,
ohne Antworten zu suggerieren. Sie beschreibt die Beziehung zur Mutter, die für das Mädchen eine Autorität ist, die
aber Papuszas Entscheidung, Dionizy – der sie misshandelt
und vergewaltigt – zu verlassen, nicht unterstützt. Es ist eine
Mutter, deren Rücken voller Narben von Peitschenhieben ist
und die selbst an der Überzeugung festhalten, und ihr Kind
glauben lassen muss, ein anderes Leben sei unmöglich (�����
Papusza erzählt, dass der Mann einer Zigeunerin alles machen darf,
ohne dass jemand protestiert, weil das der Brauch ist; sie erinnert sich, wie sie mit anderen Kindern „Zuhause“ spielte und
das Wichtigste dabei das Schlagen der „Ehefrau“ war). Wie in
einem klassischen Gewaltmuster gibt das Opfer dem Handeln
des Peinigers einen Sinn. Die Mutter hilft der Tochter nicht, als
diese der Macht des misshandelnden Ehemanns entkommen
will, weil sie den Sinn des eigenen Schicksals und die Weltordnung, in der sie lebt, nicht in Frage stellen kann. Papusza lernt
mit der Zeit, dass sie als Person nichts bedeutet: Sie ist nur die
Funktion fremden Seins. Dionizy Wajs, der den Grundsätzen
der Zigeunergemeinschaft treu bleibt, hat das Recht auf seiner
Seite und Papusza ist eine Marionette in seinen Händen. Wajs
hat aus einer Perspektive außerhalb dieser Gemeinschaft viele
Verbrechen begangen, doch niemand war daran interessiert,
Papusza zu retten; das Lesen war ihre Rettung. Papusza hat in
ihren Liedern sowohl die zerstörte mündliche Kultur der zur
Sesshaftigkeit gezwungenen Zigeuner als auch die Erinnerung
an die Vernichtung dieses Volks bewahrt.
Angelika Kuźniak zeichnet in Papusza ein vielschichtiges
Porträt: das einer Dichterin, Leserin, Tochter, Mutter, Ehefrau, Künstlerin und Geliebten. Papuszas Gestalt schillert, hört
nicht auf, zu verblüffen. „Dumm“ in den Augen des gierigen
und grausamen Ehemanns; „eine Verräterin“ in den Augen der
Zigeunergemeinschaft; „ein großes, wildes Naturtalent“ in den
Augen der polnischen Dichter; machtlos, schwach, verzweifelt
und wütend – so sieht sie sich selbst. Die Erzählung von der
„verfluchten Dichterin“, die sowohl Ruhm einbrachte als auch
große Scham hervorrief, dieses Buch über einen unfassbar
starken Menschen könnte eine Diskussion entfachen. Vor allem aber könnte es Papuszas Lieder bekannt machen – nicht
als exotische „Schmuckstücke“, sondern als Lyrik, die von einer
Ära und ihren Erfahrungen Zeugnis ablegt.
Anna Marchewka
ANGELIKA KUŹNIAK
„PAPUSZA”
CZARNE, WOŁOWIEC 2013
133×215, 200 PAGES
ISBN: 978-83-7536-501-6
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
Den Tag,
PAPUSZA
an dem sie anfing schreiben zu lernen, wird Papusza nie
vergessen. So sagt sie es und lächelt (auf der Tonaufnahme
hört man dieses Lächeln ganz deutlich).
Die Mutter weckte sie „genau mit der Sonne“. Die kleine Papusza stand auf, ging aus dem Zelt nach draußen und
glättete ihren zerknitterten Rock.
Sie kann sich nicht erinnern, ob es an diesem Tag die
Mutter war, die ihr die Zöpfe geflochten hat. Und ob sie
ihr über den Kopf streichelte. (Obwohl es eigentlich keine
Zärtlichkeiten gab. „Sie hatte es zu schwer, um mich, die
Älteste, an sich zu drücken.“) Papusza erinnert sich, dass
sich die Mutter vor sie stellte und zwei Mal sagte: „Du darfst
dir eine Gelegenheit nicht entgehen lassen. Eine Zigeunerin
darf nicht mit leeren Händen zum Lager zurückkehren.“ Sie
spürte, dass das hieß: sei gerissen und falsch.
Papusza bindet eine Schürze über den Rock. Sie hat sie
selbst genäht, mit Kreuzstich. Unter ihr baumeln die noch
leeren „Diebestaschen“. Alles, um sich zu schützen; man
muss die Beute von der Schürze trennen. Von der Taille abwärts ist eine Frau unrein. Unrein wird auch alles, was sie
berührt, und sei es nur mit ihrem Rockzipfel. Die Macht, die
Papusza in den Schmutz ziehen könnte, wirkt noch nicht
(sie ist erst zehn, vielleicht zwölf Jahre alt), doch es ist besser, sich abzusichern.
Im Lager bleiben die Alten und Kinder zurück. Und die
Männer. Man sagt, dass Gott sie an einem Sonntag schuf.
Und auch noch mit Armen, die verschieden lang sind. Es
reicht, beide zur linken Seite auszustrecken, und es stellt
sich heraus, dass der rechte gerade bis zum Ellbogen des
linken reicht. Ist doch klar: mit solchen Armen kann man
nicht arbeiten.
Es hängt von der Schläue der Zigeunerinnen ab, ob man
etwas für den Kochtopf haben wird.
Grodno. Ein paar Kilometer zu Fuß vom Lager entfernt.
In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts war
es ein recht großer Ort. Fast sechzigtausend Einwohner
(sechzig Prozent Polen, siebenunddreißig Prozent Juden,
drei Prozent Weißrussen). Hier gibt es Telefone, Elektrizität (seit 1912) und eine Eisenbrücke (1909), ein paar Schulen,
ein Theater, eine russisch-orthodoxe Kirche aus dem zwölften Jahrhundert, eine Pfarrkirche, zwei Festungen und eine
Synagoge.
Auf dem Markt war fruchtbares Gedränge. Rufe, Schreie.
Es wurde mit allem möglichen gehandelt. Mit Gottesmüttern und mit Jesus unter den Aposteln. Mit Sonnenblumenkernen, Hühneraugensalben, Kienspan, Schuhwichse, Töpfen, Schleifsteinen und Talgkerzen. Man konnte Bastschuhe,
Kartoffelkörbe und sogar Stühle kaufen. Man konnte sich
an Ort und Stelle einen Zahn ziehen lassen (davon gibt es
Fotos in den Archiven). Jemand erzählte auf dem Markt Geschichten; von Räubern, Drachen und bösen Kindern, die
ihre Mutter verjagten. Zigeunerinnen lasen aus den Karten
oder aus der Hand, was am nächsten Tag passieren würde,
in zehn Jahren, in hundert. Sie sahen die Vergangenheit, die
guten und die bösen Taten. Sie zeichneten auf den Händen
ihrer Klientinnen das Kreuzzeichen mit der Münze, die sie
von ihnen bekommen hatten und sagten: „Die ganze Wahrheit kennt Gott allein, und die Zigeunerin so viel, wie in den
Karten steht.“
Papusza war geschickt, schnell füllte sie ihre Taschen.
Äpfel, Kartoffeln, ein bisschen Tabak. Nichts Großes, aber
– was ihr erst nach der Rückkehr ins Lager klar wurde – es
reichte, um vom Stiefvater nicht verdroschen zu werden.
Sie trieb sich an den Ständen herum. Sprach mit jedem
Straßenköter, den sie auf dem Weg traf.
Mitten auf dem Marktplatz tanzte ein Bär auf den Hinterpfoten. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als
man den Bärenführern verboten hatte, die Stadt zu betreten,
war das ein seltener Anblick. Die Akademie in Smorgon, wo
sie früher dressiert wurden, war auch schon geschlossen.
(Statt des Bodens gab es in einem Raum einen Kachelofen,
der so aufgeheizt war, dass er rot glühte. Der Zigeuner führte den Bären hinein und fing an, Geige zu spielen. Der Bär,
der sich an den Vorderpfoten verbrühte, stellte sich auf die
Hinterpfoten, die mit Lappen umwickelt waren.)
Dass man die Buchstaben in der Schule lernen kann, davon hatte Papusza schon früher gehört. Aber erst an diesem
Tag sah sie Kinder mit Büchern und rannte ihnen hinterher.
„Verjagt ham sie mich. Sagtn ich bin Diebin. Die Pest.
Nicht alle Leut sind edelmütig. Und vor dem, was man hört,
kann man nicht weglaufen. Und auch nicht vor dem, was
man sieht. Das geht von selbst in die Ohren und Augen rein.
Was sollt ich machn? Hab in Demut ertragn und gelittn.“
Einen halben Tag stand sie vor den Fenstern der Schule.
„Und als die Kinder herauskamen, hab ich mein Mut zusammengenommen und sie gebetn, dass sie mir zeign ein
paar Buchstaben.“
Sie waren einverstanden, aber nicht ohne Bezahlung.
Papusza hatte das Stehlen ganz normal gelernt. Bei der
Mutter.
Eine einfache Sache. „Man wirft mit der linken Hand
Korn oder Brotkrümel neben die eigenen Füße und ruft
gleichzeitig die Hühner herbei. Wenn der Schwarm herankommt und mit dem Fressen beschäftigt ist, greift die
Zigeunerin mit einer entschiedenen, blitzschnellen Bewegung der rechten Hand nach dem Tier, das ihr am nächsten
ist. Der Griff erfolgt von oben, an den Hals, in der Nähe des
Kopfes, wobei das Huhn gleichzeitig zur Erde gedrückt wird.
Der an der Gurgel gepackte Vogel wandert in ein vorher
vorbereitetes Versteck und wenn der Täter will, greift er
nach dem nächsten Stück, da der mit Fressen beschäftigte
Schwarm die drohende Gefahr nicht bemerkt. Auch das bereits gefangene Tier schlägt keinen Alarm.“ (So wurde das
1964 in den Akten der Staatsanwaltschaft beschrieben.)
Papusza war vier Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein
Huhn tötete. „Ich hab mir ein Bündel geschnürt, der Mutter die Karten gestohln, bin vier Kilometer gelaufn und hab
mich verirrt. Irgendein Bauer hat mich gefundn, nahm mich
auf dem Wagen bis zum Dorf mit. Ich schau; auf seinem Hof
laufn Hühner herum. Da schnappte ich eins, wickelte es eng
in ein großen Lappen ein und es erstickte.“
„Denn die Ordnung der Welt ist einfach“, erklärt Papusza. „Was auf dem Feld wächst, das hat der Herrgott gesät,
und was scharrt und schnattert, gedeiht nach dem Willn
Gottes für alle Menschn. Der Herrgott hat viele Hühnchen
geschaffn und für die Zigeuner reicht es auch.“
Ein Hühnchen – eine Lektion.
Papusza wartete jeden Tag vor der Schule auf die Kinder. Danach schrieb sie mit einem Stock im Sand oder mit
einem verrußten Holzstückchen auf Zeitungen: A, b, c und
den Rest der Buchstaben. Wie in einer Fibel.
So ging es ein paar Tage lang, bis es den Kindern langweilig wurde.
Und da erinnerte sie sich an einen Laden nicht weit vom
Markt, wo sie manchmal Süßigkeiten kaufte. Ein dunkler,
langer Korridor, kaum Licht, wie an der Eingangstür. Hinter dem Tresen die Ladenbesitzerin, eine Jüdin.
„Ich ging mit der Zeitung zu ihr und bat sie: ‚Zeig mir,
Frau, wie man liest.‘
Sie sagte, ich soll ein fettes Huhn für den Schabbat mitbringn und eine Fibel kaufn.“
Der Unterricht war kurz, immer nach Ladenschluss.
Papusza‘s Mutter gefiel das nicht. Sie sagte immer wieder: „Diese Bücher sind nichts wert, mit ihnen wird das Gehirn vergiftet. Davon kommt die Dummheit.“
Der Stiefvater schlug Papusza.
„Die Zigeuner im Lager spucktn mich an, zeigtn mit den
Fingern auf mich, lachtn über mich: ‚Na? Jetzt wirst du
wohl eine Frau Lehrerin sein! Für was brauchst du denn
dieses Lernen?‘ Sie zerrissn die Zeitungen, Seite für Seite,
und warfn sie ins Feuer. Sie verstandn nicht, dass man das
für sich selbst tun muss, für ein Stück Brot. Ich kann heute nämlich mit meinem Namen unterschreibn und mache
keine Kreuzchen. Und ich bin stolz darauf, dass ich, eine
ungebildete Zigeunerin, lesn kann. Ich hab mich damals im
Wald leise ausgeweint und dann machte ich einfach weiter.“
Sie lernte schnell.
„Nach ein paar Wochen konnte ich es schon. Die Jüdin
küsste mich, weil ich so gelehrig war.“ (Papusza lächelt
wieder.) „Ich konnte gut lesn, aber nicht schreibn, weil ich
wenig geschriebn hab und nicht wusste, dass mir das in Zukunft nützlich sein wird. Und dann, als ich vierzehn war,
nahm mich der Stiefvater auf den Niemen mit. Er spielte im
Orchester von Dyźko Geige und Kontrabass. Mit dem Schiff
sind wir herumgefahrn. Erst hab ich aus der Hand und den
Karten gelesn und dann las ich ein Buch, ich weiß nicht
mehr was für eins. Da kam eine elegante Dame und sagte:
‚Ein Zigeunermädchen kann lesen? Sehr schön!‘
Ich hab laut gelacht, wie ein Kind, bis mir die Tränen in
die Augen kamen. Sie hat mich nacheinander nach allem
gefragt, und ich hab geantwortet. Am Ende küsste sie mich
und ging. Und ich war stolz und hab danach noch mehr
gelesn, bis mir die Augen schmerztn. Gute und schlechte
Sachen, weil ich keine Ahnung hatte, was ich lesn sollte.“
Papusza schrieb sich in einer Bibliothek ein.
„In Mikulinice bei Przeworsk. Die habn mir ein Buch ausgeliehn, aber kein schönes, so Kinderkram, Märchen, und
ich wollt da sogar nicht mehr hingehn. Aber die Wirtin, bei
der wir eine Kammer hattn, sagte, ich soll Die Gräfin Cosel,
Herr Thaddäus und Die Brotausträgerin nehmen.
Ich hab viele Bücher von Leuten gelesn, denen ich wahrgesagt hab: Tarzan bei den Affen, Der rothaarige Jason, Die
schöne Schwester. Und am meisten mochte ich Geschichten
über Ritter und die große Liebe.“
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
FILIP
SPRINGER
TRIEBMITTEL
Filip Springer (geb. 1982), Journalist, Reporter
und Fotograf, gilt als einer der bemerkenswertesten polnischen Reportageautoren. Er studierte
Anthropologie und Ethnologie und arbeitet seit
2006 als Reporter. Zaczyn [Triebmittel] ist sein
drittes Buch; noch in diesem Jahr erscheint ein
weiterer Reportageband zum Thema Architektur
aus seiner Feder. Dieses neueste Buch soll den Titel Wanna z kolumnadą [Badewanne mit Kolonnade] tragen.
Wer waren Zofia und Oskar Hansen? „Die Hansens waren die
Antwort auf das Ende der Welt“, so lauten in Triebmittel die
Worte Joanna Mytkowskas, der Direktorin des Museums für
Moderne Kunst in Warschau. Aber welche Bedeutung hatte,
und wer war dieses Ehepaar, das nach seinen Raumrevolutionen verschwand wie vorsätzlich vergessen? Filip Springer
weiß, dass die spannendsten Geschichten im Schatten zu
finden sind, am Rand von allem anderen, und dass leere Orte
wahre Sensationen hervorbringen können. In Triebmittel potraitiert Springer vor allem den Don Quijote des Linearsystems LSC und der Offenen Form.
Obgleich Oskar Hansen immer betonte, dass er alles, was er
tat, zusammen mit seiner Frau getan habe, erscheint Springer
dennoch Ersterer (als weitaus offenere, deutlicher umrissene
Gestalt) als der wichtigere von beiden. Oskar Hansens Lebenslauf und der seiner Vorfahren könnten als Vorlage für einen
Abenteuerfilm dienen. Millionärsenkel, feiner Pinkel – pflegte
Zofia Hansen lachend zu sagen, wenn sie nach der linken Gesinnung ihres Mannes gefragt wurde. Die geradezu wundersame Lebensreise des Oskar Hansen (Kriege, Bankrott, Bravour,
wunderbare Errettungen, Weltbürgertum), der fähig war, sich
auf das Unmögliche zu stürzen, scheint ihren Hintergrund im
Lebenslauf des cholerischen Großvaters, der sich einen riesigen
finanziellen Erfolg erarbeitete, der reiselustigen, zum Bruch
mit gesellschaftlichen Konventionen bereiten Eltern, des Bruders Erik und eben der Ehefrau zu haben, die dem Architekten
nicht nur sozialistische Ideen einpflanzte und diese zum Wachsen brachte, sondern ihn auch aus Notlagen rettete, indem sie
wie ein Handbuch der Vernunft auf ihn einsprach.
Das Projekt der dezentralen „Neumöblierung“ Polens war
nicht zur Gänze durchführbar – gewisse Bestandteile des Linearsystems werden aber heute verwirklicht, wie Springer
findet, aus einer Notwendigkeit heraus, aber auch chaotisch.
Das Projekt LSC sollte, um die Worte zu verwenden, mit denen
Hansen 1976 in Zachęta auf die Vorwürfe Marek Budzyńskis
antwortete, eben ein Triebmittel für künftige Veränderungen
sein. Und solche Menschen portraitiert Springer – Menschen,
die verstehen, dass nur der Griff nach etwas Größerem als den
gefahrlosen Gewohnheiten die Chance auf Entwicklung bietet.
Undurchführbares anzugehen ist die grundlegende Aufgabe
ernsthafter Menschen, die ihr eigenes Leben (und das Leben
anderer) ernstnehmen. In den Bauprojekten der Hansens (besonders den unverwirklichten) ist der Plan zum Aufbau einer
Bürgergesellschaft erkennbar, einer Gemeinschaft von Individuen, die so handeln, dass sie bei ihrer eigenen Entwicklung
ihren Mitbürgern nicht schaden. Hansens waren überzeugt davon, dass es kein Standardhaus gebe, dass jeder Bauplan auf die
Bedürfnisse, den Beruf, die Interessen des konkreten Menschen
zugeschnitten sein sollte.
Triebmittel greift auch das Problem der Unverstandenheit und
Ablehnung auf, denen die Hansens in polnischen Kreisen begegneten, während ihre Arbeiten zugleich in Westeuropa große Anerkennung fanden. Es sind Stimmen zu hören, die meinen, Hansen habe einen Fehler begangen, als er nach Polen
zurückgekehrt sei, da ihn hier das Scheitern erwartete, dort
aber Ruhm, Ehre und das große Geld. Joanna Mytkowska fegt
diese Spekulationen lachend beiseite: Hansens antikommerzielle, antimarktwirtschaftliche Einstellung hätte ihm gar keine
Zusammenarbeit mit Investoren erlaubt, die ihn bezahlt und
Vorgaben gemacht hätte; für Hansen, einen waschechten Idealisten, waren selbst die kleinsten Änderungen in seinen Bauplänen nicht hinnehmbar. Seine berühmt-berüchtigten Abgänge unter Türenknallen waren wenig erfolgversprechend...
Und die Hansen-Schülerin merkt noch etwas Wichtiges an:
dass Dezentralisierungspläne nur in einer zentral verwalteten
Gesellschaft die Chance hatten, wenigstens teilweise realisiert
zu werden.
Anna Marchewka
FILIP SPRINGER
„ZACZYN”
KARAKTER, KRAKÓW 2013
150×205, 264 PAGES
ISBN: 978-83-62376-24-7
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
BERGAMO
TRIEBMITTEL
„Es fällt mir schwer zu glauben, dass der Schöpfer der neuen Architektur, einer der Schöpfer des Purismus, diese
mithilfe von Stoffen – Verkaufsgegenständen – zu humanisieren versucht. Diese ganze sogenannte Renaissance des
französischen Stoffes halte ich für eine Bewegung, die zu
kommerziellen Zwecken ins Leben gerufen wurde, und um
Kapital aus ihr zu schlagen. Eine Bewegung, in die die großen Künstler mit hineingezogen, und in deren Namen sie
ausgenutzt werden sollen. […] Die Architekten des CIAM
sollten dem entgegenwirken und die Humanisierung der
modernen Architektur auf den ihr entsprechenden Wegen suchen“, wettert Oskar vom Rednerpult herab und
richtet seine Worte an den, der ihn wenige Monate zuvor
unter seinem Dach beherbergt, mit einem Abendessen bewirtet und ihm seine Bilder gezeigt hat. Als Oskar endet,
bricht der ganze Raum in Beifall aus. Corbu, der bis dahin
schweigend zugehört hat, applaudiert gemeinsam mit den
anderen.
Pierre Jeanneret hat Oskar hergeholt. Nicht eigentlich
hergeholt, sondern Oskar vielmehr nahegelegt, er müsse
unbedingt nach Bergamo zum CIAM VII kommen, dem 7.
Internationalen Kongess der Modernen Architektur, und
sich anhören, was dort Neues über die Architektur der
Gegenwart gesagt werde. Und Oskar hat die Aufforderung
angenommen, obwohl er sich die Reise gar nicht leisten
kann. Als er in Italien ankommt, hat er nicht einen Groschen in der Tasche. Er schläft im Park, wäscht sich an einem Springbrunnen, isst nur Brot und Weintrauben. Als
Jeanneret sich in der ersten Pause zwischen den Debatten
über sein Hotel beschwert und ihn fragt, wie er wohne, antwortet Oskar: „Ich habe mich billig und bequem einrichten
können.“
Mit seinem Auftritt hat er sich allerdings etwas weit
vorgewagt; er wollte schließlich gar nicht sprechen. Er
hat es nur nicht ausgehalten, Le Corbusier über Gobelins
und deren Nützlichkeit in der Architektur reden zu hören.
Deshalb hat er um Gehör gebeten, sich an das Redenerpult
gestellt und ausgesprochen, was er dachte. Nun geht er ganz
benommen zu seinem Platz zurück und ist sich nicht recht
bewusst, was gerade geschehen ist. Er, Oskar Hansen, ein
Niemand in leicht zerknautschtem Jacket, der sich nach dieser Besprechung auf einer Parkbank in der Nähe schlafen
legen wird, hört den Applaus gar nicht. Ein paar Minuten
später lädt Jacqueline Tyrwhitt ihn ein, an der CIAM-Sommerakademie in London teilzunehmen. Oskar sagt zu, auch
wenn er keine Ahnung hat, wie er von der polnischen Regierung eine Reiseerlaubnis nach London bekommen will.
London
Ob er Englisch könne – er verneint. Wie alt er sei – siebenundzwanzig. Wann er sein Architekturstudium abgeschlossen habe – er sei erst im dritten Studienjahr. An ihren Mienen sieht er, dass sie ihm nicht glauben. Sie sagen, er sei ein
kommunistischer Propagandist. Oskar weiß nicht, was er
ihnen antworten soll.
Sie – das sind die britischen Journalisten. Sie sind gekommen, um das Urteil der Jury über die Arbeiten der CIAM-Sommerakademie zu erfahren. Es ist der Juli 1949, und
Oskar hat schon fast die Lust an England verloren.
Er ist mit beinahe zweiwöchiger Verspätung hier eingetroffen, weil die britische Botschaft in Paris ihm kein Visum
ausstellen wollte. An der Grenze haben sie ihn beim Anblick
seines Papp-Reisenecessaires gleich kontrolliert, seinen
Pass durch die Lupe beäugt. Wohin und warum er fahre,
wollten sie wissen. Dabei stand in dem Brief, den er aus
London bekommen hat, alles schwarz auf weiß geschrieben.
Schließlich haben sie ihn durchgelassen.
Mit Verspätung meldet er sich in der Schule an und
bekommt einen Projektauftrag. Er darf zwischen einer
Wohnsiedlung, einem Bürogebäude, einem Verkehrsknotenpunkt oder einem Theater wählen. Seine Wahl fällt auf
die Siedlung. Die anderen haben sich zu Gruppen zusammengetan, doch er arbeitet allein. Er zeichnet neun weiße
Gebäude rund um einen „sozialen Raum“. Dort platziert er
zwei Kindergärten und einen Park für die Allgemeinheit.
Schulen, Handels- und Dienstleistungspavillons verlegt er
nach außerhalb, ähnlich verfährt er mit dem Autoverkehr.
Er schafft es, seine Arbeit noch vor dem Termin abzugeben.
An seinem letzten freien Tag besichtigt er London, hauptsächlich Galerien und Museen.
Als er die Entscheidung der Jury hört, kann er seinen Ohren nicht trauen. Er bekommt eine Auszeichnung für die
– wie er von den Juroren erfährt – Verdopplung der Bevölkerungsdichte in der Siedlung bei gleichzeitiger Bewahrung
von deren „hohem Nutzwert“. Seine Arbeit macht großen
Eindruck auf Ernesto Nathan Rogers, der ihm kurzerhand
eine Assistenzstelle im Royal Institute of British Architects
in London anbietet. Die Türen zur großen Architektur (und
zum großen Geld) stehen für Oskar Hansen weit offen. Er
jedoch entscheidet sich zur Rückkehr nach Polen.
Rogers ist erstaunt, fragt: „Weißt du, was dort ist?“
Oskar weiß es. Er erklärt dem Engländer in so einfachen
Worten, wie er kann:
„Dort sind Ruinen, dort warten sie auf mich“, und Rogers
tippt sich an die Stirn:
„Das, was du hier präsentiert hast, lässt sich dort nicht
machen.“
Aber das weiß Oskar eben noch nicht.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
MAŁGORZATA
REJMER
BUKAREST,
STAUB UND BLUT
Małgorzata Rejmer (geb. 1985), Doktorandin
der Warschauer Universität am Instytut Kultury
Polskiej (Institut für Polnische Kultur). Ihr literarisches Debüt Toksymia im Jahr 2009 wurde für
Nagroda Literacka Gdynia(Literarischer Preis
Gdynia) nominiert. Der Reportagenband Bukarest. Staub und Blut wird von den Rezensenten
sehr gut bewertet.
Die Reise in die rumänische Hauptstadt, nach der das Buch
Bukarest, Staub und Blut entstanden ist, war kein Abstecher für
ein paar Tage und auch kein kurzes Abenteuer. Małgorzata
Rejmer verbrachte dort (mit Pausen) zwei Jahre, und sie sagt,
dass sie wieder hinfahren würde. Aus ihren Texten geht hervor, dass sie solide Feldforschung betrieben hat; sie mietete
heruntergekommene Wohnungen, um diesen Ort auf eine
möglichst intensive Art zu erfahren, machte Besichtigungen, sprach mit Menschen, las viel. Doch ihr Buch ist nicht
nur eine Sammlung von Reisebildern. Rejmer präsentiert
uns eine Zusammenstellung von kulturhistorischen Texten,
die Antworten auf Fragen ermöglicht – Fragen, auf die man
(wahrscheinlich) nicht antworten kann oder sogar nicht antworten darf. Mutig stellt die Autorin eine Diagnose auf – die
Rumänen nähmen demütig ihr Schicksal hin (oft sei es der
Tod), sie begehrten nicht auf, fänden sich ab, kämpften und
diskutierten nicht. Die Volksballade Das Schäflein (laut Nichita
Stănescu – die rumänische Illias und Odyssee, für Herta Müller
dagegen ist es das rumänische Nibelungenlied), und der Ausspruch „Asta e, cesăfaci?“ („So ist es nun mal, was willst du
machen?“) lassen die Autorin verstehen, wie die Herrschaft
von Nicolae Ceauşecu überhaupt möglich war.
Rejmer erkundet in Bukarest die Kultur der Anderen, eine
östliche Kultur – die vor allem wegen ihrer Grausamkeit fasziniert, wegen ihrer Wildheit und der Schönheit des Hässlichen. Sie schreibt: „... das Neue gefällt mir nicht besonders.
Ich mag lieber die alten Schichten.“ Und weiter: „Ich spüre die
Macht der Stadt, unter der der Wahnsinn lauert.“ Sie greift
in die „Eingeweide“ des Ortes, denn die interessieren sie am
meisten. Extreme Verhältnisse (Chaos, gigantische Ausmaße)
erscheinen ihr für die Texte am nützlichsten. Für Rejmer ist
das Merkwürdige, das von der Norm abweichende, das Eigentümliche und Totale besonders interessant. Die Autorin ist berauscht von diesem Land ohne Eigenschaften – einem Land,
das wie Knetmasse geformt und von Hand zu Hand weitergereicht wird. Das niedergebrannt, wieder aufgebaut und in
Blut gebadet wurde, sich aber immer noch hält. Sie versucht,
diese östliche Wildheit zu verstehen, zu erklären und zu erzählen, sie muss also für sich einen Standort wählen und eine
Haltung gegenüber der „anderen“ Seite einnehmen. Rejmer
wählt die Form des Essays, der diesen strategischen Standort „rechtfertigt“, doch man könnte auch fragen, ob dieser
menschliche Faktor im Text eine Schwäche oder eine Stärke
ist. Bezeichnend ist auch, dass Rejmer ihrem Buch den Titel
Bukarest gab, anstatt zum Beispiel Mein Bukarest. Das ist ein
mutiger Versuch, „das Ganze“ auszusprechen, und zwar auf
die einzig „wahre“ Art und Weise...
Man kann Bukarest, Staub und Blut den Erkenntniswert nicht
absprechen – es ist ein wichtiges Buch, das an den nicht weit
zurückliegenden Alptraum erinnert. Rejmer schreibt über
Dinge, die man nicht vergessen darf; über Umerziehung durch
Folter, über ein totalitäres System, über ein Dekret, das die
Empfängnisverhütung verbietet und über die damit verbundenen Tragödien. In den Körpern der Frauen, die dazu gezwungen wurden zu gebären, oder die nach illegalen Abtreibungen ausbluteten, sieht Rejmer das Wesen des totalitären
Rumäniens von Nicolae Ceauşescu; als sie über den Film 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage von Cristian Mungiu schreibt, unterstreicht sie das quälende Verlangen des Regisseurs, von dem
Leid, dem Elend und der Unterdrückung Zeugnis abzulegen.
Das Buch von Małgorzata Rejmer lässt die Erinnerung wieder
aufleben und es ermöglicht, weite Bereiche der neuesten Geschichte zu entdecken – einer Geschichte, von der wir nichts
wissen wollen, weil das bequemer und leichter ist. Rejmers
literarisches Debüt Toksymia von 2010 hat viel Wirbel verursacht und die Hoffnung geweckt, dass wir eine neue, interessante Schriftstellerin haben. Das zweite Buch ist bestimmt
kein leichter Test. Doch Rejmer bestätigt mit Bukarest, Staub
und Blut, dass der Trubel um Toksymia berechtigt war. Die Autorin wechselte den Verleger und veränderte die Form, doch
es beschäftigt sie immer noch dasselbe: die exotische, nicht
offensichtliche Schönheit der ungezähmten Welt.
Anna Marchewka
MAŁGORZATA REJMER
„BUKARESZT”
CZARNE, WOŁOWIEC 2013
125×195, 272 PAGES
ISBN: 978-83-7536-539-9
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
Nicht
BUKAREST,
STAUB UND BLUT
weit von Râmnicu Vâlcea liegt die Stadt Piteşti. Dort stand
ein Gebäude, in dem sich die Hölle befand. Ungefähr zur
gleichen Zeit als Petre Radio hörte und die Hände seiner
Frau küsste, wurde im Gefängnis von Piteşti ein Experiment durchgeführt, über das Alexander Solschenizyn im
Archipel Gulag schreiben wird: „die grauenvollste Barbarei
der heutigen Welt.“
In Piteşti löst sich das Leiden vom Körper und von der
Menschlichkeit ab. Sterbende Menschen heulen wie sterbende Tiere. Die Wände der Folterkammer sind schalldicht,
die Gefängniswärter taub von den Schreien. Die Gefangenen werden so lange geschlagen, bis sie nichts mehr sehen
und hören. Das, was von ihnen übrig bleibt, sind Urin-und
Blutlachen, zerkrümelte Zähne, Haarbüschel, blutiger Auswurf. In der Pfütze bleibt noch etwas Mensch. Was daraus
kriecht, diese sich auflösende Gestalt, das ist auch noch ein
Rest Mensch.
Nach Piteşti gelangen hauptsächlich junge Studenten,
die in den dreißiger Jahren an die faschistische Eiserne
Garde glaubten. Und Geistliche, die sind immer verdächtig.
Manchmal verirrt sich ein Intellektueller in den Transport,
ein Arzt oder Ingenieur, der zu viel weiß, oder zu wenig.
Sein Pech. Der Kommunismus will diesen Menschen eine
Chance geben. Sie fahren nach Piteşti zu Lektionen über
den neuen Glauben, und das nennt man: „Umerziehung
durch Folter.“
Man kann auf viele Arten leiden, der körperliche
Schmerz ist nur eine davon. Im Gefängnis fragen sie, wer
deine Mutter war. Sie war eine gute, fleißige Frau, die ihr
Haar zu einem Zopf flocht und sich um mich kümmerte. Die
Wärter schlagen mit einem Metallknüppel solange zu, bis
der Gefangene sagt: ich habe meine Mutter vergewaltigt.
Meine Mutter hat mich vergewaltigt. Sie war eine Hure, der
Hund fickte sie. Ich habe keine Mutter.
Dann wird unter den anderen Gefangenen einer gesucht,
der dem Geschlagenen nahe steht; ein Freund aus Studienzeiten, aus der Kindheit, ein Arbeitskollege. Oder einer, der
ihm bis dahin geholfen hat, in Piteşti durchzuhalten. Zwei
Gefangene stehen sich gegenüber. Beide haben einen Knüppel in der Hand. Sie müssen sich gegenseitig blutig schlagen,
oder die Wärter fangen damit an – sie haben Übung und die
richtige Überzeugung.
Wenn der Gefangene um Gnade fleht, schlagen ihm die
Wärter die Zähne aus. Wenn er keinen Knüppel in die Hand
nehmen will, dann schlägt ihm der Freund die Zähne aus
und die Wärter reißen ihm die Fingernägel aus. Alle Grundsätze unserer Welt gelten in der Hölle nicht. Entweder bist
du der Folterer oder du wirst gefoltert. Zehn Wärter schla-
gen zehn Gefangene und töten dabei einen oder zwei, damit
der Rest darüber nachdenkt, was ihr Leben bedeutet.
Diejenigen, die an göttliche Barmherzigkeit glaubten,
dürfen nicht einmal die Spur von Barmherzigkeit zeigen.
Diejenigen, die glaubten, der Mensch sei gut, müssen zusehen, wie das Böse ausartet. Diejenigen, die ihr Leben Gott
gewidmet haben, müssen ihn verfluchen und die eigenen
Exkremente wie eine Hostie in den Mund nehmen.
Ihre Seele muss erlöschen, so wie ein vertrockneter
Baum eingeht. Sie werden gebrochen und dann vernichtet,
in ihnen bleibt nichts außer Leid. In dieser Sinnlosigkeit
wird die Saat des Marxismus gesät. Es kommt vor, dass diese Wracks, die durch nichts mehr an Menschen erinnern,
immer noch Widerstand leisten. Wenn sie nicht nachgeben,
werden sie getötet.
Petre hatte zu viel Glück gehabt, und die Beamten der
Staatsgewalt kamen, um die Rechnung zu begleichen. Manchen im Dorf gefiel der Bus nicht, mit dem Petre die Leute herumfuhr. Da hat mal der Nachbar im Kommissariat vorbeigeschaut und sagte dort, er habe so ein Gefühl, dass der mit dem
Fahrzeug Radio Freies Europa hören würde. Die Beamten gingen hin. Prüften nach. Ein Radioempfänger war da – das hieß,
Petre hörte den Sender. Ein Landbesitzer, der Eigentümer
eines Kraftfahrzeugs und eines Hauses mit drei Zimmern.
Als 1949 die Kollektivierung begann, klopften sie an jede
Tür; zusammen mit der Miliz gingen die von den Kommissionen herum. 1962 - als es nichts mehr gab, das sie den Menschen noch hätten wegnehmen können - hörten sie auf, an
die Türen zu hämmern, weil jetzt alles dem Staat gehörte.
Diejenigen, die am meisten besaßen, landeten hinter Gittern oder in der Zwangsarbeit. Im Gefängnis halfen ihnen
die Wärter, dem Schmerz zu entkommen, das heißt, wahnsinnig zu werden. Nach ein paar Jahren kamen die Leute
nur noch als menschliche Fetzen wieder raus. Sie hatten Aggressionsausbrüche und Panikattacken. Sie sprachen nicht
mehr und erlaubten nicht, dass man sie anfasste. Ein Bett
war kein Bett mehr, das Essen kein Essen mehr, nur das
Schreien war Schreien. Als sie starben, bekreuzigten sich
ihre Ehefrauen mit Erleichterung und die Nachbarn sagten:
„Seine Qualen sind zu Ende, soll er in Frieden ruhen.“
Petre Raduca bekam zehn Jahre. Die Staatsbeamten
kamen zu ihm nach Hause und schauten sich die Zimmer,
die Teppiche und den Eichentisch mit der Spitzendecke
an. Damit es nicht hieß, der Staat sei böswillig, erlaubten
sie Petres Frau, ein kleines Zimmer und eine Außenküche
in ihrem eigenen Haus zu bewohnen. In den übrigen zwei
Räumen machte sich – wie eine Henne auf ihren Eiern - die
Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft breit, die
den Menschen ihr Eigentum wegnehmen und daraus Allgemeinbesitz machen sollte, das heißt Staatsbesitz, den sie
überwachte. Das größte Zimmer wurde zu einem Lebensmittelladen umgebaut. Elena Raduca öffnete manchmal die
Haustür, ging entlang des Hauses und blieb vor dem Fenster
stehen, aus dem sie so oft auf den Garten und die Straße geschaut hatte. Sie kaufte Öl und Brot, ging zurück auf die andere Seite des Hauses und legte die Einkäufe auf den Tisch
ihrer winzigen Küche. Zuerst gewöhnte sie sich das Weinen
ab, dann gewöhnte sie sich ab, über alles nachzudenken.
Als Elena eines Tages die Haustür öffnete, hatte sie den
Eindruck, dass der Tod in Gestalt von zwei greisen, ausgetrockneten Figuren mit glänzenden Augen zu ihr gekommen war; als ob eine Urkraft, die nie erlischt, sie gelenkt
hätte, obwohl das Alter ihre Körper bereits in Besitz genommen und angefressen hatte. Ihre Hände waren mit blauen
Flecken bedeckt, die kreidebleichen Augenlider faltig und
die zahnlosen Unterkiefer nach hinten verschoben.
Die zierlichen Gestalten verschwanden fast unter den
schwarzen, mit einer Kordel zusammengeschnürten Kutten,
aber ihre Augen waren hellblau, wie ein zartes verblasstes
Gewebe, und in ihnen war kein Tod.
Elena verbeugte sich vor den Mönchen und machte das
Kreuzzeichen.
Darauf verbeugten sie sich noch tiefer.
Sie schaute auf diese gebrochenen Menschen mit ihren
verrotteten, vom Hunger verwüsteten Körpern.
Obwohl seit dem Experiment in Piteşti zehn Jahre vergangen waren, wurde den Verurteilten in rumänischen
Gefängnissen immer noch befohlen, ihre Mitgefangenen
zu foltern. Alle wurden geschlagen, ohne Ausnahme. Die
Wärter kannten keine Gnade, und beim Anblick von Blut
gerieten sie noch mehr in Rage.
Die Mönche schoben in ihren zahnlosen Mündern die
Worte langsam hin und her:
„Das müssen Sie wissen.“
Sie waren zu dritt in einer Zelle gewesen – Petre und die
beiden. Er war bereits seit vier Jahren im Gefängnis. Vier
Jahre hatte er in einer feuchten Leere gelebt, auf Holzbrettern, mit einer Wunde, die nicht heilen wollte. Petre war
stur, er wollte überleben, jammerte nicht. Ihm fehlte nur
die Musik, dieses Radio, dessentwegen er ins Gefängnis gekommen war.
Petre war schon fast fünfzig, aber die Mönche waren viel
älter. Eines Tages saß Petre auf den Brettern und passte auf,
dass die Mönche ohne Pause kerzengerade dastanden – von
morgens bis in die Nacht. Am zweiten Tag saß einer der
Mönche und die anderen standen. Am dritten Tag saß der
zweite Mönch und bewachte die beiden anderen Gefangenen. Ein Mal in drei Tagen warst du der Folterknecht, zwei
Mal das Opfer.
Das ist der grauenvollste Moment – wenn man sich mit
seiner eigenen Bestialität konfrontieren muss. Wenn man
sich selbst hassen oder gleichgültig werden muss. Während
des Experiments in Piteşti kehren diejenigen, die sich auflehnen, an den Punkt zurück, an dem die „Maske heruntergerissen“ und die Persönlichkeit zerstört wird. Sie verbringen Monate in Einzelzellen, versuchen Selbstmord zu
begehen. Schließlich werden alle gebrochen.
Constantin Barbu, einer von denen, die überlebt haben,
sagt in dem Buch Memorialul Durerii (Mahnmal des Leidens):
„Ich denke, sogar in der Hölle gibt es nicht solche Methoden,
wie sie in Piteşti angewandt wurden. Selbst dort nicht. Es
gibt Dinge, die sich der menschliche Verstand nicht vorstellen kann.“
Eines Tages, als er an der Reihe war, der Folterknecht
zu sein, hielt es Petre nicht mehr aus. Vor ihm standen die
bärtigen und abgemagerten Mönche mit herunterhängenden Köpfen. Ihre Knie zitterten.
„Ich flehe euch an“, sagte er, „setzt euch. Ich nehme die
Schuld auf mich, aber setzt euch.“
Alle drei setzten sich. Sie weinten. Der Wärter kam in
die Zelle und schlug Petre einfach mit der Faust ins Gesicht.
Er zerrte ihn nach draußen. Ein paar Tage lang haben die
Mönche ihren Mitgefangenen nicht gesehen.
Als Petre zurückkam, hatte er kein Alter mehr. Seine
Haare und sein Schnurrbart waren weiß wie die Bärte der
Mönche. Die Wärter hatten ihm die Zähne ausgeschlagen.
Alles an ihm hatte sich verändert; sein Gang, sein Blick. Er
sprach nicht mehr.
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
GOMBROWICZ
MIŁOSZ
SZYMBORSKA
MROŻEK
WITOLD
GOMBROWICZ
Witold Gombrowicz (1904-1969), einer der herausragenden polnischen Schriftsteller des
20. Jahrhunderts, Verfasser von in mehr als
35 Sprachen übersetzten Erzählungen, Romanen
und Dramen, sowie eines dreibändigen Tagebuchs, das weltweit als Juwel der Tagebuchliteratur gilt. Seit Jahren kursierten Legenden und
Gerüchte um Kronos, aber nur wenige kannten
das Manuskript tatsächlich; kurz nach Erscheinen
avancierte das private Tagebuch zum Bestseller.
Kronos, das sind bislang unbekannte, privat-intime Aufzeichnungen von Witold Gombrowicz. An sich schon faszinierend, unterscheiden sie sich radikal von den hochsophistischen Prosawerken – auch denen in Tagebuchform – die
Gombrowicz selbst zum Druck freigegeben hat.
Kronos hätte wohl auf ein paar Dutzend Druckseiten Platz
gefunden, der vorliegende Band umfasst jedoch fast fünfhundert. Der editorisch problematische Text – davon wird
sich jeder überzeugen, der ihn zur Hand nimmt – wurde mit
unerlässlichen Fußnoten, Reproduktionen und Kommentaren versehen. Und mit einem so instruktiven wie anrührenden Vorwort von Rita Gombrowicz. Ihr ist es zu verdanken,
dass Kronos in dieser umfassenden Form erscheinen konnte, wenngleich es Teile enthält, die für sie sehr schmerzhaft
sein müssen. So erklärt sich auch die Emphase, mit der sie
beispielsweise schreibt: „Witold, der in den Kriegsjahren
in extremer Armut lebt, erinnert mich bisweilen an Hiob.”
Anders verhält es sich mit einem weiteren Schlüsselsatz der
Autorenwitwe. Wenn sie schreibt: „Kronos ist die beharrliche Suche nach den Fundamenten der eigenen Existenz”,
wird man hellhörig, rührt sie hier doch an das Wesentliche,
wie erstaunlich, enttäuschend, empörend, beängstigend
oder desillusionierend dies auch empfunden werden mag.
Gombrowicz begann höchstwahrscheinlich um den Jahreswechsel von 1952 zu 1953 mit der Arbeit an Kronos und setzte
sie fast bis zu seinem Tod fort, wenn er (vermutlich in der
Retrospektive) die wichtigsten (oder erwähnenswerten) Ereignisse jedes Monats notierte und jeweils zum Jahresende
eine kurze „Bilanz” zog. Am Anfang steht jedoch der Versuch einer mit dem Jahr 1922 beginnenden Rekonstruktion,
die zumeist noch stärker im Telegrammstil der Jahre vor
Kronos gehalten ist.
Diese Rekonstruktion ist wahrhaftig eindrucksvoll. Auffällig ist, dass sich Gombrowicz in Kronos auf wenige Themen
beschränkt (eben jene „Fundamente der eigenen Existenz”).
Dabei handelt es sich vor allem um Rechnungen und anstehende Haushaltsdinge, etwas lakonisch dargestellte
Beziehungen zum persönlichen Umfeld, detaillierte Ausführungen über gesundheitliche Probleme, Erfolge und
Niederlagen weniger künstlerischer als kommerzieller Na-
KRONOS
tur, Übersetzungen, „Prestigegewinn” und nicht zuletzt um
das erotische Leben, dargeboten in (bei guter Gesundheit
und günstigen Umständen hohen) Zahlen zum Geschlechtsverkehr mit den verschiedensten Partnern. Die Erotik muss
Gombrowicz ungeheuer wichtig gewesen sein, dabei aber
reine Physiologie ohne romantische Verbrämung. So ist in
der Bilanz des Jahres 1955 zu lesen: „Erot: ordentlich, eher
gemäßigt, 15.” Bezeichnend ist, dass Gombrowicz gerade der
Erotik in seiner Rekonstruktion der Vorkriegsjahre so viel
Raum gibt und dass er diese Form dafür wählt. In einer von
mehreren Versionen seiner Notizen ist beispielsweise zu
lesen: „1939. 5, 6. 2 Nutten aus der Mokotowska, C. aus dem
Zodiak. 9 Nutten. 7. Tänzerin aus Wilno (Sommer). Freundin der Brezas und Boys (Sommer). 8. (J. Wilerówna). Nutte
mit Tripper. 9. Jungfrau. Außerdem: J. aus Praga, Franek, M.
im Kino, vielleicht die Narbuttówna. Und die mit den Füßen
in Gummigaloschen”.
Dieselbe „Sachlichkeit” spricht auch aus den weiteren oben
genannten Gombrowicz-Themen in seinen Notizen für den
Eigenbedarf. Hat er sich nun, ist man geneigt zu fragen, sich
selbst so vorgestellt, hat er sich so (nur so?) seiner erinnert,
nur dies als das für ihn Wesentliche festgehalten? Darin ist
Kronos eben so faszinierend – auch wenn man nicht gerade
Sympathie für den Autor entwickelt sondern eher das Bedürfnis nach Distanz.
Und noch ein letztes: Dieses Tagebuch, das keines ist,
enthält nicht eine einzige Einlassung über „das Seelische”,
die Eschatologie oder Metaphysik jeglicher Couleur. In zwei
Einträgen zwingt einem die brutale Sachlichkeit jedoch den
Gedanken an das Ende auf: Im Schlusssatz der Bilanz des
Jahres 1961 („Gesundheit: ordentlich, Atmung schlecht, Tod
immer näher.”) und an entsprechender Stelle 1966: „Ich
kämpfe mit zahllosen Krankheiten, ich krepiere, mit Rita
geht es insgesamt besser, aber nicht immer … Mein Gott,
mein Gott, wie lange?”
Irgendwo zwischen Kronos und dem restlichen Œuvre ist
Witold Gombrowicz zu finden, wie er wirklich war. Vielleicht aber auch ganz woanders.
Marcin Sendecki
WITOLD GOMBROWICZ „KRONOS”
WYDAWNICTWO LITERACKIE
KRAKÓW 2013
145×205, 460 PAGES
ISBN: 978-83-08-05106-1
TRANSLATION RIGHTS:
THE WYLIE AGENCY
RIGHTS SOLD TO: CHINA (SHANGHAI
99) AND CZECH REPUBLIC (TORST)
WISŁAWA
SZYMBORSKA
Wisława Szymborska (1923-2012), Lyrikerin, Essayistin und Feuilletonistin; erhielt 1996 den Literaturnobelpreis, wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt; veröffentlichte 13 Gedichtbände,
die fast ausnahmslos als Meisterwerke angesehen
werden.
Revolverglanz zeichnet ein detailliertes Bild der inoffiziellen Wisława Szymborska, die nicht jene „Gedichte für die
Welt” schreibt, die ihr den Nobelpreis eingebracht haben,
sondern literarischen Schabernack für Freunde und den
Eigenbedarf.
Die Früchte dieser vergnüglichen Arbeit wurden zwar
schon früher öffentlich, etwa in Reimereien für große Kinder (Rymowanki dla dużych dzieci, Kraków 2002), noch nie
jedoch so erschöpfend wie im vorliegenden Band. Revolverglanz sei, so schreibt der Dichter, Philologe, Freund
Szymborskas und ihrer schriftstellerischen Vergnügungen Bronisław Maj in seinem schalkhaften, zum wissenschaftlichen Kommentar stilisierten Vorwort „eine riesige, von ausgesprochenem Formenreichtum geprägte und
aus sämtlichen Epochen ihres Schaffens – im Wortsinne:
von den ersten bis zur letzten! – sich speisende Sammlung
unbekannter Werke Wisława Szymborskas”. Tatsächlich
eröffnet der Band mit Juvenilia – Kinderreimen, Bildchen
und kurzen Briefen der kleinen Wisława, um schließlich zu
enden mit dem (so die Herausgeber) „letzten Kurzgedicht
Wisława Szymborskas, das sie im Krankenhaus nach ihrer
Operation im Dezember 2011 schrieb, wenige Wochen vor
ihrem Tod”. Das Gedicht lautet folgendermaßen: „Die Niederlande haben sich weise gezeigt, / sie wissen, was zu tun
ist, / wenn die natürliche Beatmung streikt!” Damit hat die
Verfasserin der Rufe an Yeti ein unverkennbar dramatisches,
dabei aber typisch distanziert-humorvolles, poetisches
„letztes Wort” gesprochen.
Zwischen den ersten literarischen Gehversuchen und
der letzten Krankenhausnotiz entfaltet sich vor dem Leser der gesamte Mikrokosmos Szymborskas literarischer
Scherze, die neben der chronologischen Ordnung auch
nach Genres (zumeist Erfindungen der Autorin) und Themen gruppiert sind. (Die Suche nach Äquivalenten für Erzeugnisse aus dem Hause Szymborska wie moskaliki, lepieje, adoralia etc. in anderen Sprachen dürfte für Übersetzer
eine echte Herausforderung sein – und ein großer Spaß
obendrein). Dabei handelt es sich nicht allein um Gedichte,
erwähnt seien nur die zauberhaften „Briefe eines Parkplatzwächters”, die „Märchen aus dem Leben toter Dinge”
von 1949 oder der titelgebende Text, ein Auszug aus einer
Krimiromanze, der wohl aus dem Jahr 1935 datiert!
Erwähnt sei noch, dass nicht allein der Text den Band
so reizvoll macht. Im Grunde handelt es sich um ein Al-
REVOLVERGLANZ
bum, reich illustriert mit Fotografien, Reproduktionen von
Zeichnungen und Faksimiles zahlreicher Manuskripte und
Typoskripte der Dichterin.
Marcin Sendecki
WISŁAWA SZYMBORSKA
“BŁYSK REWOLWRU”
AGORA
WARSZAWA 2013
190×245, 142 PAGES
ISBN: 978-83-2681-248-4
TRANSLATION RIGHTS: FUNDACJA
WISŁAWY SZYMBORSKIEJ
CZESŁAW
MIŁOSZ
Czesław Miłosz (1911-2004), Dichter, Prosaautor, Essayist und Übersetzer. Literaturnobelpreis
1980, in 42 Sprachen übersetzt. Ehrendoktorwürde zahlreicher Universitäten in den USA und in
Polen, Ehrenbürger Litauens und Krakaus.
Die Berge des Parnass ist nach den Romanen Das Gesicht der
Zeit und Tal der Issa aus den 1950er Jahren Czesław Miłosz'
dritter und letzter Versuch in der erzählenden Prosa. Die
Anfänge liegen wohl im Jahr 1967, besonders intensiv arbeitete er in den Jahren 1970 und 1971 an diesem Text, um
ihn, ebenfalls 1971, schließlich doch zu verwerfen. Auszüge
aus dem unvollendeten Werk bot Miłosz 1972 der Pariser
„Kultura” an, aber Jerzy Giedroyć zeigte sich skeptisch und
druckte sie nicht ab. Erst jetzt wurde das mehrere Dutzend
Seiten starke Typoskript – fünf ausgewählte Kapitel aus
einer längeren Manuskriptfassung, ergänzt um die Einleitung – veröffentlicht.
In mindestens dreierlei Hinsicht ist dieser Text bemerkenswert: Zum ersten haben wir es laut Untertitel mit Science-Fiction zu tun, was Anreiz genug sein sollte, sich mit
Miłosz' Unternehmen zu befassen, schließlich ist eine solche
„Suche nach der geräumigeren Form“ ein verheißungsvolles
Unterfangen. Zum zweiten, und das hängt mit dem ersten
Punkt zusammen, liefert Miłosz als Prosaiker und Kommentator seiner Prosa zahlreiche Ergänzungen zum bereits
Bekannten. Und drittens lohnen bislang unbekannte Zeilen
eines Nobelpreisträgers die aufmerksame Lektüre, selbst
wenn sie Fragment geblieben sind, und, wie er selbst einräumt, ein Dokument seines künstlerisches Scheiterns.
Czesław Miłosz hatte bekanntlich von der modernen
Prosa, zumal aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
keine besonders hohe Meinung. Er fand, sie habe sich „von
der Welt der Dinge und der menschlichen Beziehungen losgelöst“, und „der zeitgenössische Roman ist, geschult an Bewusstseinsströmen, inneren Monologen etc. und gepeinigt
von strukturalistischen Theorien so weit gegangen, dass
er kaum noch an das erinnert, was einmal unter Roman
verstanden wurde“, heißt es in der Einleitung zu Die Berge
des Parnass. Die neue Prosa hat also Miłosz zufolge verloren, was sie einst belebte und aufblühen ließ: die Fähigkeit,
zu Herz und Gewissen weiter Leserkreise durchzudringen,
Wahrheiten zu verkünden und allgemeinverständliche
Debatten anzustoßen. In der wissenschaftlichen Fantastik
erkannte Miłosz jedoch das Genre, in dem die Tugenden der
ursprünglichen, „altmodischen“ Prosa noch lebendig sind,
und das, zumindest in seiner klassischen Ausprägung, besser als die elitäre Poesie dazu angetan ist, das traditionelle
Gespräch mit dem Publikum aufzunehmen. Das gilt beispielsweise für Stanisław Lems Solaris, das Miłosz in dem
Maße schätzte, wie er die späteren Genreexperimente Lems
DIE BERGE
DES PARNASS
und – Ironie der Geschichte! – dessen Suche nach einer geräumigeren Form für die Science-Fiction kritisierte.
Miłosz stürzte sich in die Science-Fiction, um seiner
Sorge um die zivilisatorische Entwicklung der Menschheit
Ausdruck zu verleihen. Er skizzierte ein Bild der Welt am
Ende des 21. Jahrhunderts, in der technischer Fortschritt
zwanghaften, sinnlosen Konsum generiert und die Bindungen innerhalb der Gesellschaft auflöst, die von einer elitären
Technokratenkaste regiert wird. In dieser Welt, die der Verstand um den Sinn und an ihre Grenze gebracht hat, entsteht
jedoch die Keimzelle einer quasireligiösen Renaissance, ein
Häuflein Andersdenkender, das, angeführt von einem gewissen Efraim, nach Hoffnung und nach einem Ausweg aus
der allgemeinen Gleichgültigkeit und Ohnmacht sucht.
Wie das Ganze ausgeht, wissen wir nicht. Miłosz hat
lediglich eine erste, zuweilen sehr plastische Skizze seiner
Welt entworfen, eine erste, zuweilen sehr reizvolle Einführung ausgewählter Figuren – eine Handlung (was sonst hätte die Emotionen der Leser galvanisieren sollen?) konnte er
nicht in Gang setzen. Vermutlich verlor er auch deshalb das
Interesse an diesem Stoff. Der Autor selbst findet in der unbedingt lesenswerten Einleitung, die zeigt, wie altmodisch
und wie erzmodern das Scheitern plausibel gemacht wird,
eine raffinierte Erklärung für seinen Rückzug. Sämtliche
Abenteuer, Kontexte, Bezüge und die erstaunlichen Fortsetzungen der Berge des Parnass spricht Agnieszka Kosińska in
ihrem aufschlussreichen Nachwort an. Und damit niemand
auf die Idee kommt, Die Berge des Parnass könnten ein reiner
Prosatext sein, ist die 1968 in der „Kultura“ veröffentlichte
Liturgie Efraims beigefügt. Versehen mit einem „Kommentar
zur Erklärung, wer Efraim war“, zeigen die mit biblischen
Gleichnissen durchsetzten rituellen Inkantationen Miłosz
ganz in seinem Element.
Die Berge des Parnass sind wahrlich ein faszinierendes
Stück Literatur.
Marcin Sendecki
CZESŁAW MIŁOSZ
„GÓRY PARNASU”
WYDAWNICTWO KRYTYKI
POLITYCZNEJ
WARSZAWA 2012
145×205, 128 PAGES
ISBN: 978-83-63855-01-7
TRANSLATION RIGHTS:
THE WYLIE AGENCY
MAŁGORZATA I.
NIEMCZYŃSKA
Małgorzata I. Niemczyńska (geb. 1982), Rezensentin und Journalistin der „Gazeta Wyborcza“
und des Magazins „Książki. Magazyn do czytania“, in dem sie zu literarischen Themen publiziert und Interviews mit Schriftstellern, Musikern
und Filmschaffenden veröffentlicht.
Die erste Biografie zu Sławomir Mrożek nach dessen Tod
ist keine Biografie im engeren Sinne. Mrożek. Striptease eines Neurotikers von Małgorzata I. Niemczyńska ist eher ein
glänzend geschriebener und hervorragend dokumentierter Atlas der Konstellationen um den Autor von Polizei, Der
Schneider oder Schlachthof, um den auf näheren oder weiter entfernten Umlaufbahnen zahlreiche weitere Planeten,
Monde und Sterne ihre Kreise ziehen und durch ihr Kraftfeld die Position des Planeten Mrożek auf der Himmelskarte
ständig neu bestimmen.
Die Objekte der Mrożek-Konstellation sind Menschen
und Orte, angefangen mit Borzęcin bei Krakau, wo der
Autor geboren wurde und den Krieg erlebte. Von Mrożek
selbst nur beiläufig erwähnt, hat diese Genesis, wie Striptease eines Neurotikers darlegt, den Autor maßgeblich beeinflusst. Dabei war dieser Einfluss, wie so vieles in seinem
Leben, paradoxer Natur. Denn Mrożek hat nicht versucht,
sich wie andere Autoren seiner Generation literarisch oder
auf der Bühne mit seinen Kriegserinnerungen auseinanderzusetzen. Er hat dazu geschwiegen und ihnen erst 1980
in Zu Fuß Gestalt gegeben. Doch war ihm wohl eher an einem verspäteten Dialog mit dem Vater gelegen als an der
Geschichte selbst.
Zu den charakteristischen Vorgehensweisen von Striptease eines Neurotikers zählt, dass es über das Leben Mrożeks
erzählt, biografische Spuren aber auch in seinen Werken
und in den Biografien Dritter sucht, die ihn mit ihrer Persönlichkeit, ihren Gefühlen und ihrer Intelligenz geprägt
haben und vice versa. Daher treten in Niemczyńskas Buch
bisweilen andere Figuren in den Vordergrund, etwa Witold
Gombrowicz, aus dessen geistigem Schatten Mrożek sich
lange Zeit zu befreien suchte, was eigentlich nicht gelingen
konnte, war doch der Kampf um das außergewöhnliche Ich
beider „Lebenswerk“. Nicht zu vergessen auch Stanisław
Lem (man lese Striptease eines Neurotikers parallel zur Korrespondenz der beiden Schriftsteller), der mit Mrożek bei
allen Unterschieden ihrer literarischen Universen in seiner
Haltung zu Mensch und Welt erstaunlich viel gemein hatte – diese Haltung hat fast etwas Misanthropisches, abgesehen vielleicht von der Liebe zur Motorisierung. Małgorzata
I. Niemczyńska ist es wohl zuallererst um ein emotionales
Bildnis des Autors zu tun, das besonders eindringlich wird,
wenn sie von seinen Frauen erzählt: der nahezu vergessenen, aber offenbar höchst interessanten Malerin Maria
MROŻEK. STRIPTEASE
EINES NEUROTIKERS
Obremba (deren Zwillingsschwester die erste Frau Andrzej
Wajdas war, damit waren Wajda und Mrożek eine Zeit lang
verschwägert) und der Mexikanerin Susana Osorio Rosas.
Das emotionale Porträt markiert den finstersten Teil in
Niemczyńskas Buch, der freilich allen bekannt war, die
Mrożeks Tagebuch in Gänze bewältigt haben.
Es gibt aber noch eine weitere Frau, die im Leben
Mrożeks eine entscheidende Rolle gespielt hat und ihn
vielleicht besser kannte als viele seiner Freunde. Striptease
eines Neurotikers beginnt nämlich mit einer eigenwilligen
Rekonstruktion von Sławomir Mrożeks Rückkehr aus der
Aphasie bzw. mit der mühevollen Arbeit, ihn neu zu modellieren. Die Protagonistin dieses Teils ist Mrożeks Therapeutin Beata Mikołajko, die bei Niemczyńska zur stillen Heldin
avanciert. Das Buch schließt mit einem Interview, einem
der letzten, die Mrożek gab, nachdem er Polen endgültig
in Richtung Nizza verlassen hatte. Damit ist ein starker
Schlusspunkt unter den Abgang eines Autors gesetzt, der
offenbar die Auseinandersetzungen, die er jahrzehntelang
mit sich selbst ausgefochten hat, wenn nicht in Wohlgefallen auflösen, so doch ad acta legen konnte.
Neben Erzählungen über den Autor, sein näheres Umfeld (auch das nahe, praktisch nie das allernächste) und
seine fast durchweg vorübergehenden Aufenthaltsorte
(empfohlen sei das fantastische Kapitel über das Krakauer
Schriftstellerhaus, in dem seinerzeit u.a. Szymborska, Kisielewski, Słomczyński, Gałczyński oder Różewicz lebten)
wartet Małgorzata I. Niemczyńskas Buch mit zahlreichen
spannenden Entdeckungen und Erinnerungen zum Frühwerk Mrożeks auf. Genannt seien hier nur sein Superheldencomic oder der gemeinsam mit Bruno Miecugow verfasste (und in der Werkausgabe nicht enthaltene) Roman
über Senator McCarthy. Die Autorin erwähnt auch den
Filmschaffenden Mrożek, eine heute völlig vergessene Seite
des Autors von Liebe auf der Krim (nicht einmal in umfassenden Datenbanken wie filmweb oder imdb wird er geführt).
Wir werden noch mit zahlreichen biografischen Werken
von Mrożek-Forschern und -Freunden zu tun bekommen –
Striptease eines Neurotikers hat die Messlatte hoch gelegt.
Paweł Goźliński
MAŁGORZATA I. NIEMCZYŃSKA
„MROŻEK. STRIPTIZ NEUROTYKA”
AGORA
WARSZAWA 2013
170×220, 250 PAGES
ISBN: 978-83-268-1276-7
TRANSLATION RIGHTS: AGORA
NEUE BÜCHER AUS POLEN
HERBST 2013
©Das Polnische Buchinstitut, Krakau 2013
Redaktion: Izabella Kaluta, Andre Rudolph
Texte von: Paweł Goźliński, Maria Kruczkowska,
Anna Marchewka, Dariusz Nowacki, Patrycja
Pustkowiak, Marcin Sendecki, Kazimiera
Szczuka, Małgorzata Szczurek
Übersetzung: Joanna Manc, Lisa Palmes,
Antje Ritter-Jasińska, Heinz Rosenau,
Renate Schmidgall, Paulina Schulz,
Benjamin Voelkel, Thomas Weile
Weitere Informationen über die Polnische
Literatur auf www.bookinstitute.pl
Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter
dem Titel New Book From Poland Fall 2013
kann über das Buchinstitut bezogen werden.
Graphik und Satz:
Studio Otwarte, www.otwarte.com.pl
www.bookinstitute.pl

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