Untitled - Instytut Książki
Transkrypt
Untitled - Instytut Książki
DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT ist eine staatliche Kultureinrichtung, deren Hauptziele darin liegen, die Lesebereitschaft zu fördern, das Buch als Medium und die Leselust in Polen zu verbreiten sowie weltweit für die polnische Literatur zu werben. Diese Ziele werden umgesetzt durch: Das Buchinstitut stellt die Literaturprogramme bei polnischen Auftritten auf ausländischen Buchmessen, bereitet Lesungen polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals, gibt regelmäßig den Katalog „NEUE BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in dem literarische Neuerscheinungen präsentiert werden, organisiert Studienreisen und Seminare für Übersetzer polnischer Literatur, zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und verleiht auch den Preis „TRANSATLANTYK“ für den besten Vermittler polnischer Literatur im Ausland. Das Programm „HIER WIRD GELESEN!“ besteht aus einer Reihe von Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und NGOs richten. Dazu gehören u.a.: das Projekt Buchdiskussionsklubs und der jährliche Literaturfestival-Zyklus DIE VIER JAHRESZEITEN DES BUCHES. www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland, präsentiert Neuerscheinungen und Verlagsprogramme, betreibt auch ein regelmäßiges Rezensions-Service. Man findet dort außerdem über 100 Biogramme zeitgenössischer polnischer Autoren, die Vorstellung von über 500 Publikationen, Fragmente, Essays, Anschriften der Verleger und Literaturagenten. Alles über polnische Bücher – auf Polnisch, Englisch, Deutsch und Hebräisch. DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT • Vorstellung und Werbung für die besten polnischen Bücher und ihre Autoren • Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten Umgang mit dem Buch verdeutlichen • Programm zur Leseförderung HIER WIRD GELESEN! • Jährlicher Literaturfestival-Zyklus DIE VIER JAHRESZEITEN DES BUCHES • Präsentation der polnischen Literatur im Ausland • Übersetzerkolleg • Seminare für Verleger • Übersetzungsprogramm © POLAND • Sample Translations © POLAND • Informationszentrum für Kinderbücher • Informationsportal zur polnischen Literatur www.bookinstitute.pl DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND Ziel des Programms ist es, Übersetzungen der polnischen Literatur zu fördern sowie deren Präsenz auf den ausländischen Buchmärkten zu stärken. Das Programm umfasst insbesondere: • Belletristik und Essayistik • Kinder- und Jugendliteratur • Sachbücher Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen. Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert werden: bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus dem Polnischen. Anträge auf die Förderung von Übersetzungen polnischer Literatur können von Verlegern bei dem Buchinstitut in Krakau gestellt werden (spätestens 4 Monate vor der geplanten Publikation). SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen Verlegern zu präsentieren. Die Programm-Voraussetzungen sind folgende: • Es werden 20 Seiten einer Übersetzung bezahlt (1800 Zeichen pro Seite) • Der/die Übersetzer/-in reicht eine Bewerbung ein • Der/die Übersetzer/-in muss mindestens eine Buch-Übersetzung gemacht haben bevor er/sie sich bewirbt. • Es muss die erste Übersetzung des Buches in die jeweilige Sprache sein und der Beispieltext darf nirgendwo zuvor veröffentlicht worden sein. Die Angebotsformulare der Programme können bei dem Buchinstitut angefordert werden, oder von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden. TITEL 4 Andrzej Stasiuk Europa im Zustand der Auflösung 6 Jerzy Sosnowski Idzis Installation 8 Zbigniew Kruszyński Der letzte Bericht 10 Michał Witkowski Margot 12 Michał Komar Einweihungen 14 Jacek Bocheński Tiberius Caesar 16 Andrzej Bart Die Kehrseite der Medaille 18 Marta Syrwid Hinterland 20 Janusz Rudnicki Der Tod des tschechischen Hundes 22 Jacek Dehnel Fotoplastikon 24 Hanna Krall Rosa Straußenfedern 26 Ewa Kuryluk Frascati 28 Marek Edelman Und es war auch Liebe im Ghetto 30 Małgorzata Szejnert Die Insel – ein Schlüssel 32 Wojciech Jagielski Nachtwanderer 34 Włodzimierz Nowak Das Herz der Nation an der Haltestelle 36 Leszek Kołakowski Ob der Herrgott wohl glücklich ist und andere Fragen 37 Przemysław Czapliński Polen ausgetauscht 38 Tomasz Lem Schwerkraftbedingte Misshelligkeiten 40 Maria Poprzęcka Die anderen Bilder 42 Wojciech Zajączkowski Russland und die Völker 44 Neue Lyrik aus Polen 47 Adressen der Verlage und Agenten INHALT AUTOR SEITE Photo: Piotr Janowski / AG EUROPA IM ZUSTAND DER AUFLÖSUNG ANDRZEJ STASIUK Andrzej Stasiuk (geb. 1960), Prosaist, Dichter, Essayist, Literaturkritiker. 4 Seine Bücher wurden in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Stasiuk ignoriert die offiziellen Geschichtsversionen seit Jahren. An der Debatte, ob der Kommunismus von der Solidarność bezwungen wurde oder ob er unterging, weil er den ökonomischen Wettlauf mit dem Westen verlor, nimmt er daher nicht teil. Stasiuk interessieren diese Fragen nicht, weil der Wertmaßstab einer historischen Erzählung über Europa für ihn Europas Provinz ist. Zu dieser Provinz zählt der Autor das große Gebiet im Südosten Europas, das Polen, die Ukraine, die Slowakei, Ungarn, Tschechien und Rumänien umfasst. Wer auf dieses Gebiet die erhabene Geschichte von der Geburt eines vereinten Europas anwenden wollte, würde vorgehen wie ein blinder Schmied, der an ein Bauernfuhrwerk einen Dieselmotor zu montieren versucht. Eben auf diese Art hat man – so Stasiuk – nach 1989 versucht, die zivilisatorischen Errungenschaften des Westens mit der Armut all der Käffer im Südosten zu verbinden. Doch vom Westen kam dort nur Billigkram an. Die riesigen Konsumbedürfnisse setzten eine Second-Hand-Zivilisation in Gang: die von jahrhundertelanger Armut gedemütigten Massen wollten das Beste haben, aber das Beste ist nicht für die Massen. In dem Roman Taksim erzählt Stasiuk die Geschichte von der nächsten Etappe des globalisierten Kapitalismus. Wir sehen, wie die beiden Helden Paweł und Władek – Händler, die durch die Basare der europäischen Provinz fahren – in der Auseinandersetzung mit einer neuen Kraft real und symbolisch scheitern. Bisher ging es immer noch. Sie beluden ihre schrottreifen Autos bis zum Dach mit Waren vierter Wahl, die sie in die Vororte von Bukarest, Budapest oder Prag brachten. Die Gesellschaft glich damals einem hungrigen Staubsauger, zurück zum Inhaltsverzeichnis der alles einsaugte: Socken, Jacken, Schuhe, Taschen, Kosmetik, Autoteile... Und alles mit dem Aufkleber: Paris – London – New York. Doch jetzt ist die nächste Phase gekommen – die Phase der Waren aus China, die fast nichts mehr kosten. Statt des bisherigen Krams, der ein, zwei Jahre hielt, kommt für jeden Geldbeutel erschwinglicher Ramsch für den einmaligen Gebrauch auf den Markt. Die gestrige Kultur der Kurzzeitbenutzung weicht der Wegwerfkultur. Asien überschwemmt Europa mit Imitaten von Imitaten, das heißt mit Waren, die die Chinesen von mitteleuropäischen Produkten kopiert haben, die wiederum Kopien westlicher Produkte sind. Hat der Westen das Niveau materieller Vollkommenheit erreicht, so nimmt die Nachahmung in Europas Provinz zunächst die Form der Parodie und danach die Form der Abhängigkeit an. Stasiuk interessiert hier weniger der „Sieg der gelben Rasse über die weiße“ als vielmehr das Bild der Verlierer, das heißt, der Bewohner der ärmsten, der „schlechteren“ Regionen Europas, die durch den Ort, an dem sie leben zu einem schlechteren Leben verurteilt sind. Diese Menschen kaufen schlechtere Ware und werden selbst – vor allem die Frauen – in Ware verwandelt. Westeuropa exportiert nach Osteuropa gebrauchte Dinge, Schrott, Müll – und importiert von dort männliche Körper für schlechtere Arbeiten und weibliche Körper für das Vergnügen. So führen die Macht des Geldes und die Schwäche der Provinz zu einer Auflösung der Idee Europas. Und da die von Geld angetriebene Geschichte keine Hemmschwelle kennt, ist es eine nicht aufzuhaltende Auflösung. Przemysław Czapliński POLISH RIGHTS CONTACT ANDRZEJ STASIUK TRANSLATION RIGHTS 978-83-7536-116-2 ISBN Vergangenen Abend saß ich neben einem Tisch, den ein Vater mit seinem Sohn einnahm. Es waren Zugereiste. Man erkennt sie leicht, weil sie sich unsicher fühlen. Sie schauen sich ständig um. Selbst wenn alles ruhig ist, können sie nicht umhin, zur Seite zu schielen, als erwarteten sie einen Hieb oder irgendeine Belästigung. Der Vater war groß, dick und hatte einen Schnurrbart. Er saß lässig ausgestreckt da, aber er schielte immer wieder. Der Sohn sah ihm ähnlich, war schon auseinandergegangen von dem üppigen, billigen Fraß. Ich wartete auf jemanden und hörte ihnen eine halbe Stunde zu. Eigentlich redete hauptsächlich der Alte. Von einem Auto, genauer gesagt, von den Türen des Autos: Ob es sich lohne, sie zu lackieren und die Bespannung auszutauschen. Der Sohn war im Prinzip mit allem einverstanden und nickte. Das Wort „Bespannung“ fiel wohl zehn, fünfzehn Mal und bestimmte den Rhythmus des farblosen Vortrags. Der Alte verlieh dem Gelaber ein Gewicht, Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall 125 × 205, 328 PAGES, HARDCOVER Die Bullen versammeln sich ebenfalls dort. Auch sie sind meistens glatzköpfig. Vielleicht sind sie nur ein bisher besser genährt, größer, dicker und selbstsicher. Aber es ist eine Selbstsicherheit, die sie aus amerikanischen Filmen gelernt haben. Außer der Tankstelle sind nachts in der Stadt nur die Videotheken offen. Die Leute nehmen zwei, drei oder vier Filme mit und gehen nach Hause. Die Bullen unterscheiden sich nicht von den anderen Leuten. Vielleicht kommen sie sich nur besser vor als die. Aber sie sind es nicht. Sie sind genauso wie die Glatzköpfe mit den abstehenden Ohren. Sie schauen sich die gleichen Filme an und essen in der Tankstellenkneipe das gleiche Zeug. Und warten ebenso auf eine Revolution, die alles verändert. Das ist es, was ich in dieser Stadt spüre – Warten. Alle beschäftigen sich nur zeitweilig mit dem Leben. Sie warten es ab in der Hoffnung, dass alles auf den Kopf gestellt wird, dass es ganz anders werden wird, als es ist, dass die letzten endlich die ersten sein werden. Ich konnte nicht warten, ich musste gehen. Ich sah sie noch durch die Fensterscheibe. Der Alte schluckte langsam und redete zwischen einem Bissen und dem anderen. Der Junge hatte den Blick auf den Teller geheftet und aß. Sie waren nicht von hier, aber sie waren zu einem ähnlichen Ort unterwegs. Sagen wir, nach Żłobisko oder noch weiter, direkt an die Grenze. Dort gab es höchstens weniger Laternen und Autos, aber der Rest sah genauso aus. Doch jetzt saßen sie auf Kunstleder an einem Tisch, der Holz imitierte, unter einer Plastikpflanze, in diesem vernickelten und aufgeräumten Raum, und hatten es nicht eilig nach Hause. So ist diese Stadt entstanden. Die Leute sind hierher gezogen, weil sie es bei sich nicht aushielten. Jetzt gehen sie weg von hier und machen Platz für solche wie die an dem Tisch. Ein Geschäft muss in Bewegung sein. Später geht alles ein, und die Bewegung zieht zusammen mit dem Geschäft woandershin. Übrig bleiben diejenigen, die keine Kraft mehr haben. Sie bleiben überall übrig und befassen sich mit den Resten. Wie ich. CZARNE, WOŁOWIEC 2009 Abends um zehn ist alles tot. Nur die Tankstelle lebt. Niemand tankt. Alle kaufen Alkohol oder sitzen in der Kneipe. Sie haben immer größere, immer billigere und immer ältere Autos. Die kaufen sie bei den Schlitzohren, die mit ausländischem Schrott handeln. Ja, alle gehen weg oder führen etwas ein. Hier gibt es nichts. Diese Autos fliegen jeden Moment auseinander, die Böden fallen ab, und die Karosserien landen in den Wäldern hinter der Stadt. So etwas kauft kein Mensch mehr. Da werden Füchse oder Rebhühner einziehen. Füchse sind klug. Ich sehe sie immer näher an der Stadt. Die Leute werfen Essen weg. Sie kaufen es und können es nicht essen. Es ist billig und eklig. Genau richtig für die Füchse. Manchmal überqueren sie die Straße wie Katzen oder Hunde. Sie fressen die Wurst der Menschen und wohnen in verrosteten Limousinen. Schließlich räumt den Kram keiner weg. Alteisen, kaum noch zu was gut. Aber die von der Tankstelle stört das nicht. Meistens sind sie glatzköpfig, hager und haben abstehende Ohren. Als seien sie unterernährt. Manchmal tanke ich nachts und betrachte sie durch die Scheibe. Sie machen insektenhafte, nervöse Bewegungen. Sicher hat man sie als Kinder geschlagen. Umsonst. Sie sind dumm und fluchen ohne Ende. Aber später, wenn sie sich getrennt haben, wenn sie allein sind, huschen sie verstohlen an den Schatten der Mauern entlang und schauen nicht auf. wie es väterlichen Belehrungen über Sinn und Tücken des Lebens eigen ist. Sie aßen Bohnensuppe. In der Küche brutzelten Koteletts für sie. Plötzlich war der Monolog unmerklich auf ein Handy zum günstigem „Aktionspreis mit Servicepaket“ übergegangen. Wieder nickte der Sohn und warf ein paar Silben ein. Dann stand er auf und ging zur Theke, um die Teller mit dem Hauptgericht abzuholen. Er trug einen dunkelblauen Trainingsanzug aus Polyester. Der Vater eine Lederjacke. PUBLISHER IM Herbst sieht man, dass die Stadt verrottet. Diejenigen, die fliehen wollten, sind schon lange geflohen. In der Abenddämmerung stinken brennende Blätter. Der Rauch mischt sich mit Nebel und verhüllt die Außenbezirke. Die Lichter werden gelblich und fahl. Man muß auf die Fußgänger achten, sie sind schwarz wie der Asphalt. Manchmal fahre ich kreuz und quer durch die Stadt und sehe, dass es keine Stelle gibt, wo man aussteigen möchte – und keinen Grund. Vier Kreuzungen, ein Kreisel, die Ampeln blinken gelb, schon um zehn Uhr abends. Wenn Nordwind ist, riecht man den Gestank der sterbenden Fabrik. Alle sind schon weg. Nur die, die es nicht schaffen, sind noch hier. Sie wachen morgens auf, schauen aus dem Fenster und gehen nicht raus. Es sei denn, sie haben einen Hund. Dann gehen sie auf den Marktplatz und gucken sich die Todesanzeigen an, um zu sehen, wer gestorben ist, und sich zu freuen, dass es sie noch nicht erwischt hat. 5 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Elżbieta Lempp IDZIS INSTALLATION JERZY SOSNOWSKI 6 Jerzy Sosnowski (geb. 1962), Schriftsteller, Publizist, Journalist für Funk und Fernsehen, Autor von fünf Prosa-Bänden und zwei essayistischen Büchern. Idzis Installation ist ein psychologischer Gegenwartsroman mit einer großen Bandbreite an Problematiken. Dieses Buch verfügt über die Vorzüge eines Ideen-Romans, man könnte es ebenfalls einen katholischen Roman nennen – in dem Sinne, dass er die Nöte der heutigen Katholiken vorstellt und eine Beurteilung der Kondition des polnischen Katholizismus vom Anfang des 21. Jahrhunderts enthält. Die Handlung spielt in Warschau der Gegenwart, vor allem im Journalisten-Milieu. Die Intrige, um die herum der Plot aufgebaut wurde, ist schlicht: der Protagonist, ein erfahrener Journalist mittleren Alters, erfährt unerwartet, dass er einen erwachsenen Sohn habe – den titelgebenden Idzi. Idzis Mutter bittet ihn um eine Intervention, denn ihr Sohn ist in absonderliche Schwierigkeiten gekommen. Er verfiel in eine religiöse Manie und wurde zu einer Art selbsternannten Propheten. Was ist Idzi zugestoßen, und warum? Ist er überhaupt der Sohn des Protagonisten? Jedoch nicht die Suche nach Antworten auf diese und sich daraus ergebende Fragen scheint hier wesentlich: im erkenntnistheoretischen und ideellen Sinne wichtiger ist dies, was sich im Hintergrund des Romans abspielt. Denn gerade im Hintergrund läuft ein multidimensionaler, lebhafter und enorm spannender „Kampf der Ideale“ ab. Es kommt zu Konfrontationen verschiedener ethischer Einstellungen, zu Gewissenskonflikten. Die zentrale Frage ist dabei, um es so zu formulieren, die Mühe, ein Katholik zu sein – vor allem, wenn man eine gebildete Person aus der Mittelschicht ist, die in der postmodernen Welt funktioniert. zurück zum Inhaltsverzeichnis Die Dilemmas und Antinomien des heutigen katholischen Selbstverständnisses wurden von Sosnowski auf eine durchdringende Weise erfasst, man ist geneigt zu sagen: mit großer Kenntnis des Problems. Die Konfliktfelder erstrecken sich sehr weit: die inneren Konflikte wegen der katholischen Sexualethik, die Frage nach dem Platz für „gläubige Freidenker“, die Spannungen auf der Linie Konservatismus – Liberalismus in der Kirche. Idzis Installation ist ein intellektuell wertvoller Roman, inspirierend und mit großem Gespür verfasst. Dariusz Nowacki WYDAWNICTWO LITERACKIE TRANSLATION RIGHTS ISBN 978-83-08-04391-2 WYDAWNICTWO LITERACKIE, CRACOW 2009 Aus dem Polnischen von Paulina Schulz 123 × 197, 402 PAGES, PAPERBACK ste, warum er in einem Zwei-Personen-Zimmer, das sie zufällig bei einem Ausflug des studentischen Touristik-Verbandes zusammen zugeteilt bekamen, auf seinem Bett lag wie ein Brett, anstatt sich zu ihr auf das Nachbarbett zu legen. Nie wieder hörte er, dass jemand so lachte: gesund und dennoch verhöhnend (wie es ihm vorkam). Bald darauf begann er, die Grenzen dessen, was ihm erlaubt war, zu verschieben, zwar unter Druck, aber dennoch gerne; und er verrannte sich in mehrstöckige Labyrinthe aus Rechtfertigungen und Begründungen. Diese perfektionierte er immer mehr, dennoch waren sie in dem Moment nutzlos, wenn er sonntags in die Kirche ging und sich dessen nicht würdig fühlte, die Heilige Kommunion zu empfangen. Das Sonderbarste daran war für ihn, dass Jola sich als Katholikin deklarierte (wie übrigens die meisten seiner Bekannten in der Zeit der Solidarność und des Kriegsrechts). Schließlich, als er das immer schnellere Hin und Her zwischen Himmel und Hölle nicht mehr aushielt, zwischen Erlaubnis und Verdammung, entschied er – unter dem Einfluss der Lektüre des Heiligen Augustinus – alles hinzuschmeißen und Priester zu werden. Jola und er weilten damals im Riesengebirge. Waldeks Eltern machten ihm mittlerweile keine Szenen mehr wegen dieser Ausflüge zu zweit, sie sandten ihm nur einen langen Blick, wenn er sich eilig den Rucksack überwarf und die Wohnung verließ. Jola merkte, dass mit ihm etwas los war, einmal brach er vor ihr sogar in Tränen aus, wie ein Kind; schließlich vertraute er ihr an, dass er etwas Anderes wollte, dass er über sich selbst nachdenken müsse – das Wort „Priesterseminar“ kam ihm nicht über die Lippen. Sie kam von alleine darauf und beschimpfte ihn als einen „verrotzten kleinen Scheißer“, wünschte ihm „viel Spaß im Kreise der Eunuchen“ (an den Wortlaut erinnerte er sich bis heute), packte noch am selben Tag ihre Sachen und ging zur Bushaltestelle. Als er ihr vorschlug, sie dahin zu bringen, meinte sie nur knapp, er solle sich verpissen. Er hat sie nie wieder gesehen. Er hörte mal, dass sie an der Uni ein Freisemester genommen hatte, dann, dass sie irgendwohin in die Nähe von Warschau gezogen war. Und so erschien es ihm ziemlich verdächtig, im Kontext dieser Erinnerungen, dass sie ihn in ihrem Brief als einen „großartigen Kerl“ etikettierte. PUBLISHER DAS ganze Lokal erinnerte Waldek an ein Aquarium, in das man Monster gesteckt hatte: Tore mit Glupschaugen, dümmlich grinsende Spötter, Heuchler mit angeklatschten Haaren, chronische Fremdgeherinnen in Masken aus Foundation und Lippenstift. Und hinter seinem Rücken, in den Autos im Kanal der Łazienkowska-Strecke, fuhren hin und her inmitten ihrer obskuren Machenschaften Schufte, die unrühmlich zu Geld gekommen waren, Verleumder, die einander verfolgten, Spekulanten, die sich miese Intrigen ausdachten. Sowie Perverse, massenweise Perverse, die von dem Gedanken besessen waren, mit Leichen, Tieren, Kindern zu verkehren. Und mittendrin unter ihnen: er – aus der Perspektive der Absoluten Gerechtigkeit, an die er hin und wieder glaubte, machte er auch keinen besseren Eindruck – der auf ein Treffen mit seiner jahrelang verschollenen Jugendliebe wartete. Waldek checkte seinen email-Briefkasten zwei Mal am Tag, nach dem Frühstück und abends, vor allem zu dem Zweck, den Spam zu löschen, der ihn regelmäßig überflutete, und außerdem um zu überprüfen, welche Probleme es der Herausgeberin von „Sztuka-teria“ diesmal unmöglich machten, die geplanten Gäste in die Sendung einzuladen (Wie viele von ihnen stahlen? Wie viele belästigten Kinder?). Jene email hätte er vorgestern beinahe gelöscht, nur verklickte er sich und landete mit dem Cursor am Icon mit dem Papierkorb vorbei. Und da er bei der Arbeit ein paar abergläubische Ideen aufgeschnappt hatte, nahm er es als Omen und öffnete gehorsam die Nachricht: „Waldek, ich erlaube mir, Dich zu duzen, da ich darauf hoffe, dass Du Dich an mich erinnerst. Die nette Dame in der Redaktion wollte Deine Telefonnummer nicht heraus geben, weswegen ich natürlich keine Vorwürfe erhebe, vor allem, da Du angeblich meine email ohnehin innerhalb von 24 Stunden lesen wirst. Vor 20 Jahren standen wir einander nahe, verzeih, dass ich es erwähne – aber ich erinnere mich an Dich als an einen großartigen Kerl, und ich hoffe, dass Du meine Bitte nicht abwehren wirst. Denn diese Bitte hat damit zu tun, was damals passiert war. ich brauche deine hilfe! Ich habe Dich die ganzen Jahre nicht belästigt, aber jetzt sehe ich wirklich keinen Ausweg. Bitte, rufe mich an, so bald wie möglich. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie wichtig es ist. Ich werde warten … Meine Handy-Nummer: 0 699 996 999. Enttäusche mich nicht, ich flehe Dich an. Jola Janik.“ Jola Janik. Ha, Jola Janik! Sie haben sich ganz am Anfang des Studiums kennen gelernt, in der Hitze nach dem August, bei der Versammlung des Studentenrates. Die ein Jahr ältere Vertreterin der Fakultät Ökonomie und Management entzückte ihn mit der Anmut, mit der sie allen um sie herum ihre Meinung aufdrängte. Sie machte den Eindruck eines Mädchens, das sehr wohl wusste, was es wollte. Bald waren sie unzertrennlich. Doch gleichzeig gab es in ihrer Beziehung von Anfang an einen toxischen Aspekt. Wenn sie in Gesellschaft brillierte, empfand er Stolz und gleichzeitig Eifersucht, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass sie eines Tages nicht mit einem Anderen die Veranstaltung verlassen würde. Es beruhigte ihn nicht einmal, als er die Tatsache entdeckte, dass Jola unter den Kommilitonen eher als guter Kumpel angesehen wurde, mitnichten als eine Schönheit, auf die alle scharf waren. Wenn er ihr bei unterschiedlichen Gelegenheiten nachgab (und so war es meistens), ärgerte es ihn, dass er von der Macht der Eltern direkt unter die Fuchtel von jemandem geraten war, der alles permanent besser wusste. In jener lange zurück liegenden Zeit war das eine Jahr Altersunterschied bedeutend und machte Jola in seinen Augen wesentlich älter und viel erfahrener. Und da war noch seine katholische Erziehung, die Ursache nicht enden wollender Probleme. Jola konnte Waldeks Verstrickungen nicht begreifen; seine Meinung, dass man doch, wenn man wirklich liebte, bis zur Ehe warten sollte, dass man den anderen Menschen nicht zu diesen Zwecken instrumentalisieren sollte, und dass ein Kuss nur dann keine Sünde ist, wenn man seine Gedanken unter Kontrolle hat. Waldek diente seit der achten Klasse als Messdiener beim Gottesdienst, und er hatte öfters gehört, wie die Jungs von ihren Freundinnen die „Liebesbeweise“ erzwangen – und nichts hat ihn auf die umgekehrte Situation vorbereitet, da er erklären mus- 7 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Elżbieta Lempp DER LETZTE BERICHT ZBIGNIEW KRUSZYŃSKI 8 Zbigniew Kruszyński (geb. 1957), mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichneter Schriftsteller, der sowohl bei seinen Lesern als auch bei seinen Kritikern hoch im Kurs steht. Er lehrt an den schwedischen Universitäten in Uppsala und Stockholm. Der Protagonist des letzten Romans von Zbigniew Kruszyński ist ein Virtuose der Sprache und der Beschreibung der Welt. Zum Ende der kommunistischen Herrschaft in Polen bietet er sich dem polnischen Staatssicherheitsdienst an, dem er – gegen einen Reisepass und gewisse Erleichterungen – über sein Leben und seine Treffen mit Anderen berichtet. Der Einstieg in diese Zusammenarbeit geschieht recht zynisch seitens des Protagonisten, mit der Zeit engagiert er sich jedoch immer mehr bei der Opposition und wird zum ‚Doppelagenten’ mit unklarer Identität. Während des Kriegszustands reist er in die Schweiz, wo er Gelder für die sich jetzt im Untergrund befindende Solidarność organisiert. Als oppositioneller Held kehrt er nach Polen zurück und versteckt sich. Von der sich in die Länge ziehenden Konspiration müde, denunziert er bei der Staatssicherheit einen anderen Oppositionellen im Untergrund, wird jedoch selbst das Opfer einer Denunziation. Man verhaftet ihn und er sitzt eine mehrjährige Strafe ab. Nach den Veränderungen von 1989 bemüht er sich nicht um einen höheren Posten, sondern geht lediglich als Diplomat nach Stockholm. Abgesehen davon bleibt er ein Outsider. Die demaskierende Spitze des Romans trifft im Grunde den Protagonisten nicht, trotz seines Zynismus und seiner moralischen Laxheit. Denn es lässt sich nicht klar sagen, wer er ist: ein Verräter oder ein Kämpfer für die gerechte Sache. Er ist nämlich weder der Typ eines Feiglings noch der eines Verräters – eher ein Narziss und Hedonist. Wenn er mit etwas abschreckt, dann ist es die arrogante Selbstzufriedenheit oder zurück zum Inhaltsverzeichnis die Neigung, Frauen auszunutzen, mit denen er Liebesaffären hat. Bei den Affären favorisiert er das Model des ‚Dreiecks’, ähnlich dem Dreieck in seinen Beziehungen zur Staatssicherheit und zur Opposition. Somit sucht sich bei Kruszyński jedes Engagement gleich eine Antithese. Der Protagonist, das ist vor allem der Autor, also derjenige, der die Geschehnisse festhält. Das spezifische dandyhafte Ritual begleitet bei ihm den Prozess des Schreibens selbst. Mehr noch; Kruszyński unterstreicht, dass Stil gleich Mensch ist, d.h. dass sich sein Held hauptsächlich in der Sprache und in seiner Fähigkeit, die Welt zu beschreiben, verwirklicht. Und in seinem Stil ist es unmöglich, Kruszyński selbst nicht zu erkennen. Sagt also der Autor einfach: „Auch ich hätte so sein können, wenn meine Lebensgeschichte anders verlaufen wäre“? Oder anders: „Es existiert eine besondere Grausamkeit und moralische Doppeldeutigkeit allein in dem Prozess des Niederschreibens des Lebens“? Oder einfacher: „Die Aufzeichnung der Geschehnisse ist immer Literatur, in der man umsonst nach der objektiven Wahrheit sucht“? Jerzy Jarzębski WYDAWNICTWO LITERACKIE TRANSLATION RIGHTS 123 × 197, 246 PAGES, PAPERBACK ISBN 978-83-08-04386-8 Aus dem Polnischen von Joanna Manc WYDAWNICTWO LITERACKIE, CRACOW 2009 terdicke Schwellung, das Gas im Haus stank, der Müllsack platzte gleich im Zwischengeschoss, und der Briefträger, der mir die Ladung zum Polizeipräsidium daließ, musterte mich mitleidig; interessant, interessant, scannten mich die Pupillen unter dem Schirm seiner Mütze hervor – die ein Chaos der zu erledigenden Dinge war: die wieder einmal zu stark gestärkte Wäsche von der Reinigung abholen, als ob man auf einer Tischdecke schlafen würde; in der Apotheke Kalzium mit Vitaminen kaufen, wenn welches da ist; beim Schuster, der „Butapren“ schnüffelt, Schuhe vorbeibringen; im Lebensmittelladen am Kreisel die Liste der Einkäufe abarbeiten, möglichst passend zum vorher in der Bäckerei gekauften Brot; im Hotel, in dem man nicht wohnen muss um sich betrinken zu können, für Gutscheine Alkohol mit Orangensaft kaufen; in der Buchhandlung fragen, ob der Roman des Autors von „Ausläufer“ weiterhin nicht da sei, weil wir zu zweifeln begännen, ob er ihn je geschrieben hat; an der Unibibliothek den Leihzettel für ein verbotenes Buch – mit einem Vermerk der entsprechenden Abteilung, dass es ausgeliehen werden darf – abgeben und dann das Buch Seite für Seite unter der Aufsicht der Bibliothekarin – einer Wasserstoffblondine mit wie Lettern bleiernem Blick – lesen und mir den Kopf darüber zerbrechen, was erlaubt sei, denn Beschreibungen des Sonnenaufgangs in Radom dürften wohl kaum verboten sein; Mutter anrufen, aus einer Telefonzelle unter den Arkaden, deren Zähler klemmt und nicht zur Eile mahnt, sie beruhigen, alles sei gut, in Ordnung, man ernährt sich und verdaut, bitte, keine Päckchen, es fehlt an nichts, außer vielleicht an Sinn, doch den nehmen sie bei der Post nicht entgegen, am Schalter mit Blick auf die Stahlwaage. All das, das noch vor ein paar Stunden auseinander zu fallen schien, sich im Kosmos zu zerstreuen und trotz höherer Dosen an Stärke und „Butapren“ unmöglich miteinander zu verbinden war, gewann plötzlich, beim Hinaustreten vors Präsidium auf die sonnendurchflutete Granittreppe über dem geschlossenen Ring des Festungsgrabens – was soll’s, dass das Wasser darin faulte und mit feiner Wasserlinse bedeckt war – an Einheit und Glanz. Ich wollte durch die Straßen rennen, ich wollte mich vereinigen. Von überall her umzingelten mich Beobachtungen, schon nach ein paar Metern habe ich mir den Pass und so manches Dokument verdient. In einem von der Welt abgetrennten Winkel der Schleuse entdeckte ich ein junges Liebespaar; fester, fester forderten ihre roten Fingernägel, umsonst, weil er schon längst gekommen war und der Wasserspiegel unverändert blieb, die Wasserlinse zuckte nicht. Etwas weiter, auf dem Weg zwischen Parkplatz und dem hinteren Teil der Oper stieß ich auf einen Kollegen aus meiner Gruppe – alle auf ‚K’, der Fluch der übervölkerten Richtungen – wie er Bier unter Beimischung anderer Flüssigkeiten aus sich herauspisste. Kaum hatte er in der Blase ein wenig Platz gemacht, schlug er ein nächstes vor. Ich lehnte nicht ab, wir gingen zum Zelt auf dem Theaterplatz, von dort aus hatte ich das ganze Panorama, und drum herum die Kakophonie der Stimmen. PUBLISHER „SIE haben die Gabe des Beobachtens“. Mit diesem Satz fing alles an. Ich habe die Gabe des Beobachtens, also beschreiben wir den Sonnenuntergang, mit Einzelheiten: Wenn sich die Sonne hinter dem mit Bieberschwanz-Ziegeln gedeckten Dach bei den Jesuiten versteckt, nimmt das Leuchten auf dem Spitzdach des früheren Piaristenkollegiums kein Ende. „Sie haben die Gabe des Beobachtens, also beobachten Sie.“ Der Offizier legte den Pass hin, ein dunkelblaues Büchlein, gültig für alle Länder; der Stempel war etwas verfrüht, denn du kannst nirgendwohin fahren ohne die grüne Karte zur Grenzüberschreitung, ein Stückchen Karton, das der Offizier immer noch in seinen Händen hielt und mit dem er wie mit einem As oder König spielte. „Wir wollen nicht viel“, sagte er. Ich solle nur die Augen offen halten. Es würde sowieso schwer sein, sie zu schließen und einzuschlafen. Eine Reise in den Westen – man kann es nicht leugnen – bringt einen visuellen Schock mit sich. Wir werden von allem hingerissen sein, von den Geschäften, vom Müll. Man kann alles anfassen und an allem riechen. Unsere Verwunderung, dass in Bierdosen das auf ihnen beschriebene Bier ist und keine Luft. Die Shampooflaschen sind voller Shampoo, die Weinflaschen voller Wein. Der Wodka – genauso stark und fünf Mal teurer. Wir werden die geschmuggelten Flaschen herumtragen und versuchen, sie den geizigen Gastwirten unterzujubeln. In den Parfümerien werden wir uns den Gerüchen der Parfümproben hingeben und neue Kombinationen mit slawischem Schweiß kreieren. Wir werden hungrig und durstig sein. Tütensuppen im kalten Leitungswasser auflösen, weil man irgendwo kochen können muss, um kochendes Wasser zu haben. Wir werden zum subventionierten Baguette die bereits ranzige Krakauer kauen, ein Leckerbissen, der eine bessere Behandlung verdient. Wir bekämen Pässe mit dem grünen Karton. Der Offizier warf ihn schließlich auf den Schreibtisch. „Wir?“, wunderte ich mich und schielte zur Seite. Ja, oder habe ich etwa vor, auf meine Freundin zu verzichten? Hatte ich nicht. Wir bekämen auch Devisen zugeteilt, hundertdreißig Dollar – wir würden sehen, wie lange es reiche, was der Markt und dieser wahnsinnige, entfesselte Preiswettlauf bedeuteten. Es sei nicht schwer, in einem höllischen Tempo Ware zu produzieren und sie dann mit einem ungerechtfertigten Gewinn zu verkaufen. Innerhalb von mehreren Stunden für ein Durchschnittseinkommen. Um wie viel schwieriger ist es, Maß zu halten, das Warenangebot zu gestalten, den Appetit zu planen. Sie erwarten nicht viel, lose Beobachtungen. Wer im Louvre aufmerksam die Meisterwerke studiere. Wer den dritten Monat Pfannkuchen verkaufe und am Ende des Arbeitstages sich ein paar Gläschen Grand Marnier genehmige. Mit wem die Stipendiatin schlafe, deren Stipendium schon längst abgelaufen sei. Warum ein alter Professor, der seine Verpflegung im Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie in der rue Lauriston sicher habe, ständig zwischen den Studenten in der Mensa in Maubillon, in Dunstschwaden schlechten Weins auftauche und das plebejische Recht auf das kostenlose supplement pommes frittes missbrauche. Ob das schwere, billige Öl die zwar ‚eingeschlafenen’, aber immer noch beweglichen Gallensteine nicht zum neuen Leben erwecke? Denn worauf warten die, auf eine Losung? Und ob man tatsächlich auf einem der Bögen über der trüben Seine eine strategische Position einnehmen könne, um zu sehen, wie sich in der Abenddämmerung ein orangefarbener Ballon auf den Eiffelturm aufspießt, aber nicht platzt. Ich rannte aus dem Polizeipräsidium und spürte wie mir der Pass ein Viereck in die Brust brannte. Es war später Frühling und im Park über dem Festungsgraben veränderte sich zusehends das Leben; es umhüllte sich mit einer Art Schleppe oder Schleier. Aus langem Winterschlaf herausgerissene Typen soffen Fusel noch vom Herbst. Omas nahmen ihre Kopftücher ab und die erdfarbene, runzlige Haut beneidete die glatte und gebräunte. Ein Paar Stare kreuzte sich mit einem Paar Stockenten auf einem wackeligen Rauten-Schachbrett über dem Wasser. Ein Paar schläfrige Polizisten ruhten sich auf einer kaputten Bank aus und ihre auf beiden Seiten liegenden Mützen sahen aus wie die Huldigung der im Dienst Umgekommenen, es fehlten nur Sarg und Leichentuch. Die Welt, die am Morgen noch unerträglich durcheinander geraten schien – eine stumpfe Rasierklinge hinterließ eine zentime- 9 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Kasia Kobel MARGOT MICHAŁ WITKOWSKI 10 Michał Witkowski (geb. 1975), Schriftsteller, Journ alist, Feuilletonist. Sein Buch Lubiewo ist in 11 Sprachen übersetzt worden. Michał Witkowskis literarische tour de force war Lubiewo, ein Roman über den homosexuellen Untergrund im kommunistischen Polen und die Anfänge einer Schwulenkultur im heutigen Polen. In diesem und in seinem folgenden Buch zeigte sich Witkowski als glänzender Beobachter der Alltagssitten, begabt mit Humor und einem ausgezeichneten Gespür für die Sprache. Er besang die Epoche der großen Transformation als Chronist eines Zeitalters, in dem die Paradigmen und stabilen Identitäten ihre Gültigkeit verlieren und nichts mehr selbstverständlich ist. Die durch ihre abweichende sexuelle Orientierung bedingten Peripetien seiner Helden lassen sich auch als Metapher für Veränderungen interpretieren, die unterminieren, was früher für alle verlässlich und – sollte man meinen – universal schien. Nicht zufällig ist seinem neuesten Roman ein Motto aus Ovids Metamorphosen vorangestellt: „In neue Gestalt verwandelt will ich die Leiber besingen.“ Er erzählt von Polen, zugleich aber von einem Teil Europas, der in stürmischem Wandel begriffen ist: Glaube, Gewohnheiten, Urteilskriterien, Bedürfnisse und Vorlieben – alles verändert sich. Die Titelheldin Margot, eine unberechenbare Frau mit großem erotischem Appetit, übt einen sehr männlichen Beruf aus: Sie fährt einen großen Kühltransporter im internationalen Verkehr. Der zweite Held ist Waldek Mandarynka, ein Junge vom Land, der Karriere bei Big Brother macht und bald zum Fernseh- und Bühnenstar avanciert. Die beiden begegnen sich unerwartet im Pfarrhaus bei einem Priester, der als Businessmann ein Unterhaltungs- und Medien-Imperium aufgebaut hat. Dort- zurück zum Inhaltsverzeichnis hin hat sie zum Zwecke des Computer-Exorzismus Margots Bekannter aus dem Geldwäsche-Hotel eines großen Mafiosi geführt. Diese beiden und eine ganze Galerie von Nebenfiguren, Asia – die neue polnische Heilige und Radio-Moderatorin, Greta, der Lenker eines deutschen Lastwagens und Verkörperung des machismo, Träger eines weiblichen Vornamens, und Waldis Geliebte, sprich der Stilvoll Alternde Star, ein buntes Völkchen aus Fernsehen und Showbusiness, das für die neuen Eliten steht, füllen die Seiten dieses vorzüglichen Buches von Witkowski. Marek Zaleski Aus dem Polnischen von Olaf Kühl ŚWIAT KSIĄŻKI TRANSLATION RIGHTS Frisch gemacht, gehe ich zu McDonalds. Ich futtere am „besseren Russentisch“, denn ich bin Kühlwagen, das heißt Aristokratie. Beim Aquarium. Im „Nevada“ gilt nämlich eine strenge Hierarchie. Es gibt drei Kneipen, davon steht McDonalds ganz oben, und dort wiederum steht ein Aquarium, an dem nur die großen Fische sitzen dürfen, das heißt die Kühlwagen: Greta, Zbyszek, Ilaj usw., sowie die Russen in Pelzmützen, die sich die ganze Zeit streiten, wer in welcher Zeit von Amsterdam bis Moskau gefahren ist. Sie zählen sogar die Minuten. Das ist so ein Spiel. (Ja, du kommst nach Hause, rauf das Auto auf den Wagenheber, und die Räder drehen sich weiter !). Vor dem McDonalds hat der Parkplatz-Chef sogar einen kleinen Zwinger angelegt, dort stolzieren Pfauen umher, und Karnickel sitzen im Käfig. 978-83-2471-745-3 Denn manchmal packt es mich so richtig, dann muss ich meiner lyrischen Ader auf dem Männerklo freien Lauf lassen. Ich ziehe meinen eleganten goldenen Taschenspiegel und schminke mich. Ein bisschen Pariser Eleganz, nur verdorben durch den höllischen Gestank und die Geräusche aus der Nachbarkabine. Die fressen all diese Würste und Eisbeine, Bratlinge und fetttriefenden Hacksteaks, was hier verkauft wird, und am Ende kommt dann so was dabei raus. Noch eine satirische Zeichnung von Greta, gezeichnet „Herman-Transport“, das sollte auf sie wirken. Daneben hat schon jemand vor mir mit rosa Marker eine schöne Prinzessin mit Sternlein in den Augen gemalt, mit Zauberrute, Riesenballons und einem CB-Funkgerät am Ohr, Unterschrift: Die Heilige Asia der Fernfahrer. Was kratzt mich das! Ich fabrizierte auf der Stelle ein Selbstporträt neben das Gedicht, spitzte meine Silhouette eindrucksvoll ästhetisch mit einer dürren Haxe zu und hübschte meine Frisur auf, denn heute bin ich um fünf auf dem Parkplatz aufgestanden und seit zwei Tagen auf Tour. ISBN [...] „Was? Hören Sie, wofür? Was? Kein Fahrtenschreiber... Aber ich habe eine Pause eingelegt. Zitzie kann das bezeugen. Ich fahre erst seit einer Stunde. Die Scheiben sind mir ausgegangen, und ich muss das Fleisch anliefern, sondern wird’s sauer.“ Fragen Sie meine Chefin. Das ist sowieso eine Schrottkiste. Solche MANs werden heute gar nicht mehr gebaut. Aber ich mag ihn. Er ist so... na... so... so groß! Ich rede ihn an wie eine Frau, oder genauer ein Tier: „Kotzbrumme“. Kotzbrumme, so wie Wuchtbrumme – hässlich, faul, ungelenk, aber wenn richtig mit ihr umgeht, kann man ihr ganz schön was abmelken. Fünfzehntausend Geldstrafe? Ich bitte die Obrigkeit! Großes Auto, große Geldstrafe? Ha ha ha, alter Witz, schade nur, dass er nicht lustig ist. Na, toll, hier haben Sie die Firmenadresse, Spanier Mariola – Mariola Spedition GmbH, schicken Sie das meiner Chefin, Warschau, Radarstraße, fragen Sie dort nach, dort wird man Ihnen alles sagen. Und hier haben Sie ein Messer, geben Sie mir den Rest. Meine Chefin wird der Schlag treffen. Was jetzt noch? Zu wenig Druck? Habe ich nachgefüllt. Wie viel? Scheiß Bullen! Ein Typ und eine Alte, heutzutage sind die Ich war hier ich stand hier wie ein Schluck Bier vergeht mein Leben 125 × 200, 208 PAGES, PAPERBACK „He, Margot!“ – Soviel kann er noch. „He, Margot, fahr mal auf den Standstreifen, bisschen reden. Bye, bye. Kommen.“ „Träum davon auf Era. Hast du dir gedacht. Hols dir runter, Arsch. Nicht kommen. Ich wünsche dir niedrige Viadukte.“ „Gleichfalls.“ „Gleichfalls?! Mann, pass auf! Siehst du nicht, dass ich ein Kühlwagen bin? Und du bist ein PeKaEs, oder? Du solltest wissen, wo du hingehörst, du Rüpel. Und was sollen diese Lichtzeichen, willst du, dass die Bullen dich beißen? Hier lauern die Teddies mit dem Föhn! – Er hat „Kazek“ an der Frontscheibe stehen. So ein Pupser mit Schnauzer und Baseball-Mütze mit der Aufschrift „HBO“. – „Hau ab, Kazek, Freundchen, gleich kommt Nuttental, da nimmst du dir was bei der Schwarzen Grete. Eine Lahme nimmst du dir, ha ha! Und ich muss auf meine Mittellinie achten. Bye, bye, gute Fahrt!“ „Gut Haftung“. „Gute Fahrt“. „Gut Haftung.“ „Fahrt, sage ich, verdammt, ich weiß, dass Bodenhaftung wichtig ist. Aber es ist eine heilige Sitte, dass man gute Fahrt sagt, du kannst hier nicht plötzlich die Fernfahrerkultur ändern. Haftung okay, aber im Winter“. „Wo geht’s denn hier zu diesem Hotel da? Wo die Metzen sind? Kommen.“ „Nach links, nach links und noch mal nach links,“ schreie ich und biege dann schnell nach rechts ab, nach rechts und noch mal nach rechts. Verloren, Mist, versenkt!“ Ich erreiche in aller Seelenruhe „Nevada Center“, trotz des angeblich zu niedrigen Reifendrucks. Amerika, nur ein bisschen sehr allein auf weiter Flur. Erst einmal pumpe ich diese verfluchten Reifen auf. So. Bin ganz außer Puste gekommen. Dann gieße ich Schmiere nach und bekomme zur Belohnung einen Essensbon im Wert von fünfzehn Zloty. Ich ziehe die Handschuhe aus, werfe sie auf den Sitz, schalte den Webasto ein, nehme meine Handtasche und ziehe mir die Lippen im tellergroßen Seitenspiegel nach, schließe das Führerhäuschen ab und gehe aufs Klo. Aufs Männerklo, ein anderes gibt es hier nicht. Hier ist kein Platz für Weiber. Ich ziehe meinen Filzer und schreibe an die Wand: ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009 Ich strecke sogar den Kopf aus dem halb geöffneten Fenster, damit meine Geste seine leere Birne besser erreicht. Da hupt der auch noch und fährt auf den Randstreifen. Zieht unanständige Gesichter, deutet an, was er mit mir machen würde. Wenn du nur könntest, Alter! Verpiss dich, Opa. Schönen Tag auch. Dein Vergaser ist eine Nummer zu klein für mich, he, he! Der denkt sich, wenn da eine Alte fährt, muss er sich sofort einfädeln. Seine Ehre erlaubt es ihm nicht, hinter einer Frau herzufahren. Er überholt. Sogar vor einer Kreuzung. Dabei rase ich sowieso schon halsbrecherisch schnell, weil es mir zer... doch still. Und sofort kommt er auf schmutzige Gedanken. Weil er eine Frau sieht. Fernstraße ist Frauennot. Null Weiber auf hundert Kilometer. Und er sagt in sein CB: Weiber die Bullen. Ich soll auf den nächsten Parkplatz fahren? Bin schon weg! Auf Nimmerwiedersehen, Obrigkeit. Affenarsch, Krokodil, was für ein undankbarer Beruf, Bulle sein, die Polizei wird immer und überall gefickt sein usw. PUBLISHER WIE fährst du, Mensch, du ungewaschener Schwanz?! Drängel nicht, du Ochse! Siehst du nicht, dass ich Gefahrgut transportiere? Gefahr für dein Leben! Ist dir die leibliche Mutter nicht lieb?! Willst du es krachen lassen? Ist ein Wetter, oder nicht? Na klar. Sind die Verkehrsverhältnisse so, und nicht anders?! Es suppt seit einer Woche. Bodenhaftung eher schmierig! Mit einem Wort, Mistwetter, Schmadderadatsch. Tief, heißt es im Radio, ein Tief über Skandinavien! Der Jahrhundert-Juli. Fahr mir am besten noch auf den Kopf! Mann o Mann! Hast du ein Rad ab? Leck mich mal, hier! Fuck you, motherfucker! Nicht kommen. 11 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Elżbieta Lempp EINWEIHUNGEN Michał Komar (geb. 1946), Doktor humanistischer Wissenschaften, Schriftsteller, Essayist, Autor zahlreicher Filmdrehbücher, Theaterstücke und MICHAŁ KOMAR Fernsehsendungen. 12 Tatsächlich ist es sehr schwer, Komars Buch auf der Landkarte der Schriftkunst exakt zu verorten, denn es handelt sich um ein Werk am Kreuzweg zwischen Roman, Essay, einem philosophischen Traktat und einem Kochbuch. Der Autor schafft hier flüssige Übergänge von den Beschreibungen verwickelter polnischer Schicksale der letzten Jahrhunderte bis zu detailierten Analysen von beispielsweise Antigone des Sophokles oder Die Handschriften von Saragossa von Jan Graf Potocki; von subtilen Betrachtungen über philosophische Begriffe bis hin zu Beschreibungen raffinierter Speisen und ihrer Zusammensetzungen. Die Hauptfiguren der Einweihungen sind Frau E. und ihr Diener – gleichsam der Erzähler der Geschichte. Die betagte Frau E., die aus einem ehrbaren Geschlecht mit jahrhundertealter Tradition stammt, ist eine belesene, intelligente Frau mit enormer Lebensweisheit, die ihren zahlreichen Erfahrungen entspringt. Der Diener kümmert sich im Hause (oder vielmehr: in den Häusern) der Frau E. praktisch um alles, obwohl er sich in erster Linie als Koch verwirklicht, Spezialist für Speisen, die man umsonst in den Menüs auch der besten Restaurants suchen würde, und Kenner der berühmtesten Spirituosen. Er ist außerdem das Objekt pädagogischer Leidenschaft seiner Arbeitgeberin, die der Meinung ist, dass es zu ihren Pflichten gehöre, die „niederen Schichten“ zu bilden. Der Erzähler der Einweihungen stellt die letzten Monate im Leben der Frau E. vor, konzentriert sich dabei vor allem auf Beschreibungen der Einladungen zu Frühstücken, Mittag- und zurück zum Inhaltsverzeichnis Abendessen, während derer sie mit ihren Gästen (unter anderem einem beliebten Schauspieler und einem kaum gelesenen, aber sehr interessanten Schriftsteller) abschweifende, hin und her gehende Gespräche am reich gedeckten Tisch führt. Um es kurz zu sagen, sind es regelrechte Orgien des Intellektes und des Geschmacks. Komar entschied sich in seinem neuen Buch für eine originelle Verbindung eines soliden intellektuellen Diskurses mit einer gewissen Kurzweil, die man unter anderem in den von Komik und Ironie geprägten Relationen zwischen Frau E. und ihrem Diener spürt. Dies führt dazu, dass die Einweihungen den Leser zum einen zur Reflexion zwingen, zum anderen niemals ermüden. Komars Buch wurde komponiert wie ein perfektes Mahl (und hier ist der kulinarische Vergleich absolut passend): das durch den Reichtum an Geschmäckern verführt, das gleichzeitig satt macht und leichtverdaulich ist. Robert Ostaszewski ŚWIAT KSIĄŻKI TRANSLATION RIGHTS 978-83-247-1319-6 ISBN ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009 Aus dem Polnischen von Paulina Schulz 138 × 220, 272 PAGES, HARDCOVER Und dass überstürzte Handlungen zum Unglück führen. Das Alter wiederum kleidet sich in die Gewänder der Vernunft, um zu verbergen, dass ihm die Dummheit gut steht; was auch nicht gut ausgeht, denn: ist jemand glücklich, der sich mit seiner Dummheit wohl fühlt?“ An dieser Stelle öffnete der Schriftsteller K. das linke Auge und schloss das rechte. „Ja, ja, Dummheit! Man sollte sich nichts vormachen!“, rief Frau E., „Erinnern Sie sich an den Augenblick, in dem der Wärter seinem Herrn Kreon die Nachricht überbringt, dass die Leiche von Polyneikes von einem Unbekannten vergraben wurde? Was macht der Chorführer an dieser Stelle? Mein lieber Herr K., der Chorführer beginnt zu kombinieren! Warum? Weil er sieht, dass – obwohl einem für die Zuwiderhandlung die Todesstrafe droht – sich jemand gefunden hat, der dieses tödliche Risiko auf sich genommen hat. Wer, um Gottes Willen? Wer kann so dumm sein? Oder im Gegenteil: gar nicht dumm. Vielleicht tut er nur dumm. Das erste Gebot des Alters, das, was sie am Leben hält, ist das krampfhafte Festhalten an der irdischen Existenz. Um jeden Preis, und für die Bequemlichkeit. Die Altersvernunft, der es an jeder Erkenntnis mangelt, verleitet zu der Annahme, dass, wenn nun ein Mutiger aufgetaucht ist, der sich den Befehlen Kreons widersetzt, wohl eine Macht hinter ihm stehen müsse. Welche Macht? Machtvoll genug, um Kreon den Gehorsam zu verweigern. Also eine bedeutende Macht. Dass sie unbenannt ist? Die Menschen aus Theben haben schon andere Wunder gesehen! Wäre es denn nicht vernünftig, diese Macht, die von oben kommt, milde zu stimmen, ohne Kreon dabei zu erzürnen? Und daher beginnt der Chorführer, Kreon gegenüber irgendetwas zu schwafeln: über den Verstand, der ihm eingibt, dass bei dem Begräbnis Polyneikes` die Götter ihre Finger im Spiel gehabt haben müssen. Der Verstand? Es ist doch das Letzte, was man vom Chor erwarten würde. Kreon weiß das sehr wohl, denn er quittiert die Worte des Führers wie folgt: Hör auf, Unsinn zu reden, bevor erkennbar wird, dass du alt und dumm bist. PUBLISHER FRAU E. erzählte mir einst, dass ihre jüngere Schwester, die bereits erwähnte Belle de Jour, während ihrer Pubertät Schnecken gegenüber einen Ekel, Hass geradezu, empfand. Sie soll auf sie uriniert, sie zertreten, mit Petroleum begossen und angezündet haben. Alles aus moralischen Gründen. Sie assoziierte Schnecken nämlich mit sündigen Mysterien des geschlechtlichen Lebens, vor dem sie der Priester Wincenty zu gerne warnte. Die Obsession hörte in dem Moment auf, als Belle de Jour zu begreifen begann, dass wenn es um das Durchdringen des Wesens der Sünde geht, der Ekel nicht der einzige Berater sein sollte. Ein wenig praktische Neugierde sei da schon von Vorteil. Was mich angeht, so finde ich, dass Drosseln eine bemerkenswerte Speise sind, auch wenn es lästig ist, sie zu rupfen. Am einfachsten ist es, sie auf dünn geschnittenen Streifen Speck zu schmoren, mit Butter, Salz und Pfeffer, anschließend sollte man sie für einige Minuten in den Ofen tun, damit sie Farbe bekommen. Man kann es auch anders machen: das Brustfleisch zusammen mit dem Brustknochen abtrennen, den Rest des Fleisches zusammen mit Magen, Leber (man kann da auch zwei-drei Hühnerlebern hinzufügen) sowie mit Schalotten und Speck dünsten; dann sorgfältig kleinhacken, mit Butter, Salz, Pfeffer und zwei Eigelben verreiben, (auch mit Kräutern, nach Belieben, wenn auch ich von Wacholder abraten würde). Danach bestreicht man zwei runde Böden aus Blätterteig mit dieser Füllung, legt die Drosselbrüste drauf, bedeckt sie dicht mit Speckscheiben und schiebt das alles in den Ofen. Sobald der Speck braun wird, sollte man ihn wegwerfen, und die Brüstchen mit Butter bestreichen. Mir würde es gefallen – aus reinem Respekt vor der Ordnung der Natur – wenn der Vogel von panierten Schnecken, die in Butter gebraten wurden, umgeben wäre. Ich notiere dies, während mir bewusst ist, dass Drosseln unter Naturschutz stehen, mit Ausnahme der Wacholderdrossel und der Misteldrossel, die nur zeitweise in der Schonzeit sind; sie sind saftig, wenn man es richtig anpackt. Ganz verträumt würde ich zu den Vögelchen Hermitage oder St. Joseph reichen, die beide außer der dominierenden SyrahRebe auch ein wenig Marsanne und Roussanne aufweisen. Ein Barolo von Silvio Frasso würde auch gehen. An dieser Stelle muss ich gestehen, dass die Tatsache, dass sich der Schriftsteller K. in Schweigen hüllte, keine Ausnahme war. Ich würde eher von einer Serie an Ereignissen sprechen. Zunächst fiel unser Gast in den am Kamin stehenden Sessel, und dann nahm sein Gesicht tief purpurrote Farbe an. „Fehlt Ihnen etwas?“, fragte Frau E. „Ich habe die Stimme des Herrn vernommen.“, erwiderte K. und schloss das linke Auge, während das rechte unbewegt Frau E. anstarrte, boshaft und herausfordernd, denn solchen Eindruck machen starre Blicke. Daraufhin wandte Frau E. den Blick vom Auge des Herrn K. ab und sagte, das Gespräch über Sophokles fortsetzend: „Wir erinnern uns, dass der Befehl, Polyneikes` Leiche den Hunden und den Geiern zum Fraß vorzuwerfen, zuallererst keinen eindeutigen Protest unter der thebanischen Öffentlichkeit hervorgerufen hat, die ja durch die alten Männer des Chors repräsentiert wurde. Reden wir eher von Akzeptanz. Von Akzeptanz, die frei von Verlegenheit ist. Denn der Befehl war anscheinend rechtmäßig, anscheinend gerecht, von einem Mann strenger Prinzipien ausgesprochen. Dieser Befehl bezog sich auf die Leiche eines Verräters, zur Ermahnung der Anderen, somit pädagogisch wertvoll, andererseits aber irgendwie übertrieben. Außerdem könnte Widerstand Kreon erzürnen, was bedeutende Konsequenzen für den Chor hätte, einschließlich der Todesstrafe. Wäre es das Risiko wert? Wer wäre so dumm, seinen Kopf zu riskieren. Man muss besonnen handeln. Somit gibt der Chorführer dem Herrscher zu verstehen, obwohl er ihm gleichzeitig das Recht gewährt, über das Vorgehen mit dem Kadaver des Verräters zu entscheiden, dass es ihm lieber wäre, sich von der ganzen Angelegenheit fern zu halten. Es ist ja nicht ausgeschlossen, meint er, dass Kreon sein Recht auf Lebende wie auf Tote anwenden darf, so dass die Leichen den Tieren zum Fraß vorgeworfen werden können; doch unter der Bedingung, dass der Chor aus der Sache herausgehalten wird. Die Jüngeren sollen sich darum kümmern! Sophokles war ein aufmerksamer Mensch, so dass ihm aufgefallen war, dass die reine, naive Jugend dazu neigt, überstürzt zu handeln. 13 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Włodzimierz Wasyluk TIBERIUS CAESAR JACEK BOCHEŃSKI Jacek Bocheński (geb. 1926), Romanschriftsteller, Essayist und Publizist sowie 14 Übersetzer deutscher und lateinischer Literatur. 1997-99 war er Vorsitzender des polnischen P.E.N. Clubs. Der Tiberius-Roman bildet den Abschluss von Jacek Bocheńskis römischer Trilogie. Ihre beiden ersten Teile Göttlicher Julius. Aufzeichnungen eines Antiquars (1961) und Der Täter heißt Ovid (1967) wurden als Beispiele einer „äsopischen Prosa” interpretiert, die sich einer anspielungsreichen Sprache und der Metapher des historischen Kostüms bedient, um heikle Inhalte vor der Zensur zu verschleiern. In der Figur des Julius Caesar erkannte man Josef Stalin, der Ovid-Roman schien vom Schicksal des zu Zwangsarbeit verurteilten Schriftstellers Joseph Brodsky zu erzählen. Der Roman Tiberius Caesar zwingt zu einer erneuten Auseinandersetzung mit den ersten beiden Teilen der Trilogie. Bocheński schildert die Geschichte eines großen Herrschers, eines Menschen, der die Welt verändern wollte, und der das Pech hatte, die Chronisten gegen sich zu haben. Er erzählt von den ewigen menschlichen Leidenschaften, Ängsten und Sehnsüchten, von Feigheit und Mut, vom Wesen der Macht sowie von der Rolle des Unvermeidlichen und des Zufalls in unserem Leben. Er stellt die Frage nach der historischen Wahrheit, nach dem Wesen von Grausamkeit und Erotik, und er versucht zu verstehen, was es heißt, man selbst zu sein. Dieser Roman vermittelt (wie bereits seine Vorläufer) die Einsicht, dass die menschliche Natur unveränderlich ist. Doch aus diesem Gedanken folgt, dass der 1970 begonnene und lange Jahre zur Seite gelegte Tiberius-Roman (sogar Freunde des Autors hielten die Schilderungen der römischen Dekadenz für zu drastisch und gewagt) auch von unserer Gegenwart handelt. Bocheński erzählt die Geschichte Tiberius’ zurück zum Inhaltsverzeichnis aus der Sicht eines Reiseleiters (in Göttlicher Julius war es ein Antiquar, in Der Täter heißt Ovid ein Conférencier und Ermittler). Gegenwart und Vergangenheit gehen ineinander über, die Stimmen der antiken Chronisten überlagern sich mit denen der Romanfiguren und schließlich mit denen der Reisegesellschaft. Der Erzähler polemisiert gegen die alten und neuen italienischen Marxisten, die als geistige Lehrer der Roten Brigaden endeten (Bocheński schrieb auch ein ausgezeichnetes Buch über den italienischen Terrorismus mit dem Titel Blutige Spezialitäten). Die Reise in das antike Rom und seine Provinzen ist auch eine Reise in die Seele eines heute lebenden Erben und Altersgenossen Tiberius’. Marek Zaleski ŚWIAT KSIĄŻKI TRANSLATION RIGHTS 978-83-247-1556-5 ISBN 132 × 210, 320 PAGES, PAPERBACK Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009 Der beschleunigte Rhythmus der Welt. Die neue Komödie des Lebens. Aber sicher doch, Applaus ist unentbehrlich. Schon jetzt, gleich zu Anfang. Sie wohnen nun einer Senatssitzung im alten Rom bei. Unruhe unter den etwas über zweitausend Zuschauern, also Ihnen selbst. Ort der Verhandlung: die Kurie, ein historisches Gebäude auf dem Forum, zuletzt von Julius Cäsar restauriert, von Augustus gewissenhaft fertiggestellt. Bitte folgen Sie mir ins Innere, die hohen Mauern, das rechteckige Langschiff, in der Mitte zu beiden Seiten die parallelen Sitzreihen. Bitte nehmen Sie Platz. Eine hervorragende Akustik. Die Tagesordnung sieht nur einen einzigen Punkt vor, nun gut, zwei Punkte: ein Exposé des Ersten Bürgers mit anschließender Diskussion. Welcher Erste Bürger? Wer hat ihn ernannt? Mit welchem Recht? Unruhe in den Reihen der Opposition. Mystifikation! Manipulation! Provokation! Wer hat Tiberius zum Ersten Bürger ernannt? Tiberius wurde noch in Noli, unmittelbar nach dem Tode Augustus, zum Herrscher ausgerufen. Applaus. Hat ihn etwa Livia ernannt? Unruhe, Applaus. Er ist eben ihr Sohn, Punktum! Aber das gibt ihr nicht das Recht, ihn zum Prinzeps zu ernennen. Gut, ich, Ihr Reiseleiter … Rechtsgrundlage, Rechtsgrundlage! Applaus. Wer applaudiert? Die Mehrheit applaudiert. In welcher Sache? Die Mehrheit applaudiert Tiberius bereits im Voraus. Gut, ich, Ihr Reiseleiter … Applaus … bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Ich bin zu der Erklärung ermächtigt … Ermächtigt von wem? Von Tacitus, Annales, erstes Buch, siebter Abschnitt. Pfiffe, Applaus. Ich bin zu der Erklärung ermächtigt, dass Tiberius zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar nicht als Erster Bürger fungiert. Pfiffe. Noch nicht? Er hat diese Ratssitzung nicht in seiner Funktion als Erster Bürger einberufen. Illegal! Illegal! Tumult in den Reihen der Opposition. Er hat diese Sitzung legal, kraft der ihm zustehenden Tribunatsgewalt einberufen, und lediglich … Caesar! Caesar! Ovationen … und lediglich … Caesar! Caesar! Meine Worte gehen im Tumult unter. Plötzlich eine einzelne Stimme: Wer hat Agrippa Postumus getötet? Ich bitte um Ordnung … Postumus! Postumus! Postumus! Agrippa Postumus! Wo ist Agrippa Postumus? Dieser Punkt steht nicht auf der Tagesordnung. Wer hat ihn getötet? Ich bitte um Ruhe. Die Tagesordnung sieht ein Exposé des Sohns zur Frage der Ehrung seines verstorbenen Vaters vor. Mit anschließender Diskussion. Mit anschließender Diskussion. Ich bitte noch einmal ausdrücklich um Ruhe. Ich verlese nun die amtlichen Mitteilungen. Die Konsuln der laufenden Amtszeit haben dem Prinzeps den Treueeid geleistet. Welchem Prinzeps? Der Prinzeps ist verstorben! Nun gut, dem Sohn des Verstorbenen. Der Verstorbene hat diesen Sohn niemals gewollt. Usurpation! Jemand: Aber er hat ihn adoptiert! Ein anderer: Weil er musste! Ich verlese nun die zweite amtliche Mitteilung. Applaus. Die vereidigten Konsuln haben ihrerseits die nachfolgenden Eide abgenommen … Tacitus: Als bestünde noch immer die alte republikanische Ordnung. Der Präfekt der Prätorianergarde Seius Strabo wurde vereidigt (zur Information für Eingeweihte: Seius ist der Vater von Seianus, des künftigen Gardepräfekten, von dessen endgültigem Schicksal dereinst Leuchtsignale in Richtung Capri künden werden). Die öffentliche Sicherheit … Applaus … ist gewährleistet. Applaus. Der Chef des Verpflegungsprogramms wurde vereidigt … Applaus. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln … Jemand: Wer hat Agrippa getötet? Verehrte Herrschaften, ich bin zu der Erklärung ermächtigt, dass der geistig verwirrte und kraft eines Senatsbeschlusses in die Verbannung geschickte Agrippa Postumus, in der Tat vor wenigen Tagen hingerichtet wurde. Von wem? Von einem Zenturio, der möglicherweise unter Missbrauch seiner … Auf wessen Befehl? Verehrte Herrschaften, ich bin zu der Erklärung ermächtigt, dass der Prinzeps, Verzeihung, der Sohn des verstorbenen Kaisers Augustus, Tiberius Caesar, diesen Befehl nicht erteilt hat und nicht beabsichtigt, ihn zu kommentieren. Aufregung unter den Herrschaften. Tacitus: Simulabat iussa patris. Er tat, als sei es ein Befehl seines Vaters. Die ehernen Worte des Tacitus. Aber dieser Punkt steht nicht auf der Tagesordnung. In den Wandelgängen erzählt man sich, es habe einen Beschluss Tiberius’ gegeben, nach dem der besagte Zenturio eine Aussage vor dem Senat machen sollte, doch der Punkt wurde von der Tagesordnung ge- PUBLISHER TEMPO, TEMPO! nommen, nachdem Sallustius Crispus bei Livia interveniert hatte. Wer ist Sallustius Crispus? Der Chef des politischen Kabinetts. Wovon bitte? Ein Kabinett? Davon haben wir noch nie etwas gehört. Was soll das für ein Kabinett sein? Ein geheimes. Sicher, aber wem untersteht es? Dem Prinzeps. Welchem? Dem alten oder dem neuen? Es besteht unverändert. Aha, aha. Und dieser Chef, dieser wie hieß er gleich … Sallustius Crispus, der hat bei Livia interveniert und nicht bei Tiberius? Man sagt, er gehöre zu ihren Leuten. Mit seiner Intervention wollte er verhindern, dass Tiberius all diese Vorgänge dem Senat vorträgt, wie er es offensichtlich vorhatte. Es gebe gewisse Angelegenheiten, Staatsgeheimnisse, vertrauliche Hinweise von Beratern, geheimdienstliche Operationen, die der Kontrolle eines Einzelnen unterliegen müssten, dies sei eine Grundlage verantwortungsvollen Herrschens. So hat sich Sallustius Crispus ausgedrückt. Tacitus: Vor Angst, man könnte ihn selbst zur Verantwortung ziehen. Darf ich Sie dennoch in den Saal bitten? In wenigen Augenblicken wird der Prinzeps, der Sohn des Göttlichen Augustus, eintreffen, um zu den versammelten ehrwürdigen Senatoren zu sprechen. Bitte respektieren Sie die Würde des Augenblicks. Vom Forum her ertönen bereits Ovationen. Der Sohn erscheint, umgeben von einer Militäreskorte und in Begleitung seines eigenen Sohnes Drusus. Er ist tief betrübt und niedergeschlagen, in Trauer um den Göttlichen, von dessen Bahre er sich während der vergangenen Tage nicht einen Schritt entfernt hat, wie er es in seinem Edikt zur Einberufung des Senats formulierte. Jetzt wiederholt er diese Worte. 15 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Elżbieta Lempp DIE KEHRSEITE DER MEDAILLE Andrzej Bart (geb. 1951), Erzähler, Drehbuchautor, Dokumentarfilmer. In den vergangenen Jahren veröffentlichte er die Romane Noch einmal Don Juan und ANDRZEJ BART Die Fabrik der Fliegenfänger. 16 Die Kehrseite der Medaille, die den Untertitel Filmnovelle führt, ist eine literarische, völlig eigenständige Bearbeitung des Drehbuchs, auf dem der gleichnamige Spielfilm in der Regie von Borys Lankosz basiert. Die einsträngige Erzählung ist trügerisch schlicht. Im Prinzip spielt die Handlung in den Jahren 1952 und 1953 in Warschau, mehrere Szenen spielen in der Jetztzeit. Sabina, eine knapp dreißigjährige Lektorin des Lyrikressorts eines großen Verlagshauses, lebt mit ihrer Großmutter und Mutter in einer engen, mit Andenken an die einstige, die Vorkriegsherrlichkeit vollgestopften Wohnung. In Volkspolen geriet Sabinas Familie an den Rand der Wirklichkeit. Die Repräsentanten – wie man in der Epoche des Stalinismus zu sagen pflegte – der alten Bourgeoisie waren zu untergeordneten Posten verurteilt, zu bitterer Armut und anderen Schikanen. Mancher – hier der jüngere Bruder der Protagonistin, ein sozrealistischer Maler und Konformist – versuchte, in der kommunistischen Welt Fuß zu fassen, andere – wie Sabinas Mutter – ließen sich vollkommen einschüchtern und beherrschen. Sabinas Vorstellung, wie sie die ärgsten Nachkriegsjahre überstehen würde, war am einfachsten: Sie wollte ihre Würde bewahren und sich anständig verhalten. Doch nicht die Politik oder öffentliche Belange stehen im Vordergrund. Das Hauptproblem der Hauptfigur ist ein völlig privates Mißgeschick – ihre Altjungfernschaft. Deshalb erscheinen in Sabinas Zuhause ständig neue Verehrer, doch der, für den sich die Heldin selbst entscheidet, erweist sich – in der am besten geschriebenen Schlüsselszene zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Kehrseite der Medaille – als elender Schuft. Die Sache ist nicht einmal die, dass er Geheimdienstspitzel ist und Sabina die Ehe um den Preis des Aushorchens ihres Chefs vorschlägt, den sie verehrt und für den edelsten Menschen auf Erden hält. Er ist eine Kreatur, die Liebe heuchelt, von weiblicher Hingabe und Sensibilität schmarotzt. Er muss sterben – zur Begeisterung der beiden anderen Frauen und mit dem Segen des Bruders. Jenes Verbrechen muss man wie eigentlich alles in Die Kehrseite der Medaille als symbolisches Ereignis verstehen. Es ist Barts Ehrgeiz, eine in poetologischer wie auch ideellmoralischer Hinsicht andere Geschichte über die schlimmsten, von Terror und Verbrechen gezeichneten Jahre Volkspolens zu erzählen. Es geht dem Schriftsteller jedoch nicht um die Außerkraftsetzung der traditionellen martyrologischen Inhalte, die sich an die Epoche des Stalinismus knüpfen. Er stellt vielmehr die Frage, was wir heute als Gemeinschaft mit diesen Inhalten anfangen, wie wir sie nutzen und umgestalten. Dariusz Nowacki W.A.B. TRANSLATION RIGHTS 978-83-7414-676-0 ISBN W.A.B., WARSAW 2009 Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier 125 × 195, 168 PAGES, HARDCOVER „Nur dass wir im Lyrikressort als Eiskunstläuferinnen auftreten sollen...” „Das war mein eigener Vorschlag. Was ist die Poesie, wenn nicht ein über die Wolken Gleiten? Ich dachte, ich mache Ihnen damit eine Freude. Sie sind jung, wohlgeformt, in einem kurzen Röckchen könnten sie schön aufblühen...” „Herr Direktor, aber ich kann nicht Schlittschuh laufen...” Sabina fühlt sich erröten, und ihre Ahnung trügt sie nicht. Zu allem Überdruss weiß sie, dass sie das Gespräch falsch angefangen hat, denn schließlich ist sie nicht in dieser Sache hier. „Und wenn schon? Schließlich werden die Schlittschuhe um ihren Hals hängen.” „Ich habe ein bisschen Dauerlauf gemacht, vielleicht reichen Nagelschuhe?” Barski erhebt sich aus dem Sessel und streicht ihr etwas ungläubig über die Wange. „Mein Kind, wenn wir in allem so ehrlich sein könnten... Wer wüsste mit Metaphern besser Bescheid als Sie? Alle Demonstrationen und Paraden sind in gewisser Weise Theater...” Er stockte nach diesen Worten, und Sabina stellte fest, dass ihm auch dieses Stocken gut stand. „Natürlich im Dienste der richtigen Sache inszeniert. Sie spielen ganz einfach die Rolle eines sportlichen Mädchens, und ich verspreche auf der Tribüne einen Weisen vorzutäuschen. Sehe ich denn aus wie ein Weiser?” „Ja. Und Sie sind einer.” Lange war sie von ihrer Sache nicht so überzeugt gewesen. „Gut, dass ich es wenigstens in Ihren Augen bin.” Barski steht auf und läuft im Arbeitszimmer umher. Sie wusste nicht woher, aber sie wusste, dass er sie jetzt nach dem fragen würde, weswegen sie wirklich gekommen war. „Und was ist mit unserem großen Dichter? Weiß er bereits, dass wir ihn nicht verlegen können, wenn er sich nicht für die kleine Umredaktion entscheidet? Bitte bleiben Sie sitzen, ich laufe gerne umher. Eine Angewohnheit aus der Zelle.” „Morgen soll er kommen, um zu erfahren, wie Sie entschieden haben.” „Fräulein Sabina, wenn ich über alles zu entscheiden hätte, dann würde ich es als unseren größten Erfolg betrachten, einen solchen Dichter für unser Haus zu gewinnen... Die internationale Lage ist jedoch so und nicht anders, überall lauern Feinde...” Er sagt das ohne Überzeugung, ist aber auch so überzeugend. PUBLISHER SABINA kann vor Aufregung die halbe Nacht nicht schlafen. Das ist immer so, wenn ihr ein Gespräch mit Direktor Barski bevorsteht. Sie geht den langen Korridor zum Arbeitszimmer des Chefs entlang und spürt ihre Knie beben. Vom medizinischen Standpunkt aus könnte es verblüffen, dass sie trotz des Bebens rascher geht als gewöhnlich. Im Sekretariat verrät Pani Krystyna ihr das Geheimnis des Strickens. Der vor einem Monat bestellte Pullover aus beigefarbener Wolle ist schon fertig. Der Kragen und die Manschetten dunkelbraun. Zu der Farbzusammenstellung riet Großmama, die einen ähnlichen Pullover besaß, als im Pensionat war, und den hatte auch eine Frau namens Krystyna angefertigt. (…) In der Tür des Arbeitszimmers erscheint Lidia. Sie ist eines der schönsten Mädchen in Warschau, und bei ihrem Anblick versetzt es Sabina immer einen kleinen Stich der Eifersucht. Wenn sie jedoch zu wählen hätte, zöge sie es vor, anstelle ihrer Schönheit einen ebensolchen Mut zu haben. Lidia fürchtet nichts und niemanden und kann in der Gegenwart des Direktors sogar laut lachen. „Er telefoniert, du kannst aber schon reingehen. Er hat heute gute Laune.” Sie lässt Sabina passieren und schließt die Tür. „Die Farbe Beige passt zu ihr wie angegossen. Nur Grau wäre noch besser...”, sagt sie über den Pullover, den Pani Krystyna in Papier einwickelt. „Denk du lieber mal über deine grellen Lippenstifte nach” möchte Pani Krystyna antworten, schweigt aber. Das Arbeitszimmer ist groß und der Weg zum Schreibtisch lang. Sabina war als kleines Mädchen mit ihrem Vater hier. Sie hat längst vergessen, in welcher Angelegenheit und warum Vater sie zu seinem Freund mitgenommen hatte, dem Direktor der Landwirtschaftsbank. Von jenem Aufenthalt hier war ihr nur der Geschmack einer Schokoladentrüffel und der Duft des Cognacs, den die Männer tranken, in Erinnerung. Bei den späteren Besuchen erinnert sie sich nicht nur an jedes Wort Barskis, sondern an jedes Heben der Augenbrauen. Der Schreibtisch steht an derselben Stelle wie vor dem Krieg, das Sofa und die Sessel sind näher ans Fenster gerückt. Mit Sicherheit mehr Bücher, andere Portraits an den Wänden. Das PiłsudskiPortrait, das sie im Gedächtnis hat, war nicht gelungen, denn der Marschall sah darauf sehr furchteinflößend aus, und so war er doch nicht. Über die Portraits, die jetzt dort hängen, möchte sie lieber nicht nachdenken. Ein neues Möbelstück im Arbeitszimmer ist der Konferenztisch. Im Juli hatte er hier mit Sicherheit noch nicht gestanden. „Es wäre mir lieber, wenn Sie mich nicht enttäuschen würden, werter Genosse. Wir brauchen kein Flugzeug, um die Möbel zu transportieren...” Barski telefoniert. Bei Sabinas Anblick lächelt er und deutet auf einen der Sessel. Sabina setzt sich und betrachtet die Schreibtischlampe. Eine kaum bekleidete Frau aus Bronze hält den Glasschirm empor. Hinter ihr ist der Mensch gut zu sehen, der, auch wenn er geflüstert hätte, immer zu hören gewesen wäre. „Das ist eine politische Frage, und zwar nicht nur eine kulturpolitische. Verstehen Sie, woran ich denke? Ja, ich warte auf die Bestätigung... Holzkopf!” Das letzte Wort sagt er bereits, als er den Hörer auf die Gabel gefeuert hat. Erst jetzt blickt er sie an und lächelt so, wie nur er es kann. „In welcher Angelegenheit kommen Sie zu mir, Frau Redakteur?” Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch und setzte sich auf den Sessel ihr gegenüber. Er war nicht groß, aber er gehörte zu den Menschen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So stellte sie sich Napoleon Bonaparte vor, nur dass Barski keine bedeutenden Mienen schnitt und die Hand nicht auf die Brust legte. In seinem zerknitterten Sakko und Hemd mit dem angeknöpften Kragen sah er heute aus wie der Schriftsteller Somerset Maugham, dessen Bild auf ihrem Schreibtisch stand. „In keiner wichtigen. Die Kaderchefin hat beschlossen, dass wir bei der nächsten Parade Sportbekleidung tragen sollen...” „Das ist eher eine Direktive von oben. In einem gesunden Geist ein gesunder Körper oder vielleicht auch umgedreht. Wir, die wir die Bildung ins Land tragen, sollen unsere Bereitschaft zur physischen Anstrengung zeigen. Eigentlich lustig, aber in der Norm, meinen Sie nicht?” 17 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Łukasz Bursa HINTERLAND MARTA SYRWID 18 Marta Syrwid (geb. 1986) hat Ethnologie und Filmwissenschaft an der Jagiellonen-Universität in Krakau studiert Die Mittzwanzigerin Klara Wiśniewska ist magersüchtig. Sie kennt alle ihre Körpermaße auswendig und kann den Kalorienwert sämtlicher Lebensmittel exakt bestimmen. Ihre Hauptnahrungsmittel sind grüne Bohnen, Karotten, Reis und Süßstoff, wobei sie von Zeit zu Zeit ihre Ernährungsweise ändert, um zu überprüfen, mit welcher Diät die besten Ergebnisse zu erzielen sind. Über ihre Beobachtungen von Veränderungen an Organismus und Haut könnte sie eine Doktorarbeit schreiben. Marta Syrwids Protagonistin ist sich nur selten bewusst, wie sehr das Hungern sich auf ihre geistige Leistungsfähigkeit auswirkt. Dennoch beschließt sie, etwas dagegen zu tun. Sie stellt sich also ihrer eigenen Person, oder besser: spaltet sich in zwei Personen auf – in die Klara, die an Magersucht leidet, und in die Klara, die das Stadium ihrer Krankheit bewertet und versucht, deren Auslöser zu finden. Den ganzen psychischen Ballast, den sie mit sich herumschleppt, auf die Wagschale zu legen. Eine Expedition ins Hinterland. Das Krankheitsbild der Anorexie ist bereits hinreichend bekannt; die Schriftstellerin konzentriert sich lediglich auf diesen einen, konkreten, bis ins kleinste Detail analysierten Fall. So beschreibt sie genauestens Klaras Familiensituation. Es wird die Beziehung der Eltern beleuchtet, wobei die Autorin sich auf die Figur des Vaters konzentriert, eines Mannes, der nicht nur keine Liebe zeigen kann, sondern Klara – und später ihren kleinen Bruder – psychisch und physisch misshandelt. Die Kinder sind somit die Schwächeren und praktisch wehrlos. Nicht besser steht es um Wiśniewskis Verhältnis zur Ehefrau, zurück zum Inhaltsverzeichnis die sich jedoch nicht unterdrücken lässt und ihm die Stirn bietet, was beinahe täglich zu hässlichen Szenen führt. Klara, die weder über Einfluss- noch Ausbruchsmöglichkeiten aus der heimischen Hölle verfügt, giert nach der Kontrolle über Dinge, die von ihr selbst abhängen: ihr Aussehen. Syrwids Diagnose ist hiermit eindeutig: die Krankheit des Mädchens ist eine Folge der vergifteten Familienatmosphäre, in der sie aufwuchs, und nicht der unkritischen Übernahme eines heutzutage lancierten Schönheitsideals. Die psychologisch präzise, fest auf dem Grund der gesellschaftlich-ökonomischen Realien fußende Darstellung der Familie Wiśniewski ist das originellste Element dieses Romans. Ebenso eindrucksvoll ist jedoch die Schilderung des täglichen Ringens mit dem Hunger. Das vor allem wegen des poetischen Stils, frei von jeglicher Exaltation, dessen sich die Autorin bedient. Die zuhöchst künstlerische Sprache und die ungewöhnliche, in der Narration konsequent durchgehaltene „Persönlichkeitsspaltung ” zeugen von der Reife der jungen Autorin. Syrwid hat bereits viel zu sagen und weiß, wie sie es sagen will. Marta Mizuro W.A.B. 123 × 195, 224 PAGES, PAPERBACK TRANSLATION RIGHTS 978-83-7414-662-3 ISBN Aus dem Polnischen von Lisa Palmes W.A.B., WARSAW 2009 gibt es lang herbeigesehnte und wunderbare Tage. Wenn Vater nicht da ist. Ich esse die ungesunde gezuckerte Milch aus der Tube, Mama nimmt sich frei. Wir müssen nicht in den Kindergarten, nicht zur Schule. Ein paar Jahre später hat Mama Olek auf dem Schoß und spielt mit mir Monopoly. Wir essen Popcorn und gucken Märchen auf Video. Erst spät gehen wir schlafen. Wenn Vater zurückkommt, wird es still und schrecklich. Ich spüre die drückende Luft bei geschlossenem Mund. Als hätten wir uns alle vor einem Ungeheuer im Schrank versteckt. Und bemühten uns, nicht zu atmen, weil es uns sonst finden könnte. Ich habe Angst vor meinem Vater, wenn ich mit ihm am Tisch sitze. Ich bin ein paar Jahre alt. Jetzt nicht. Jetzt nicht, denn ich treffe ihn nicht. Seit langem sprechen wir nicht miteinander. Ich habe ihn über eine Woche nicht gesehen. Er wohnt im Zimmer nebenan. Er und ich, wir haben einen ungeschriebenen Vertrag. Wenn Vater hört, dass ich in der Küche oder im Vorzimmer bin, kommt er nicht aus seinem heraus. Um mich nicht zu treffen. Wenn das Telefon klingelt, ist es unangenehm. Vor dem Apparat treffen wir aufeinander. Du fragst, ob ich will, dass du schlecht über ihn denkst? Dass ich ihn zu negativ darstelle. Dass ich meinen Ärger rauslasse. Du weißt, was ich dir sagen werde. Oder? Sprich leiser, Klara, Vater merkt, dass du nebenan am Tisch sitzt. Er schmeißt dich raus, und ich kriegs später zu hören, weil ich fremde Leute nach Hause einlade. Bei Gelegenheit. Soll ich dir was von draußen mitbringen? Du bist ja allein in dem Laden. Nicht? Das Maggi knallt auf den Tisch. Er hat fertig gegessen. „Na los, weiter, iss!” Spricht, als würde er schreien. Ich kann Brühe nicht ausstehen. Mama weiß das. Aber sie hat meinen Teller gefüllt und auf den Tisch gestellt. Als Vater nur die Wohnung betrat. Brüllte. „Na mach schon, Helka, trag die Suppe auf!” Er wusch sich die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht, trocknete sich mit Mamas Handtuch ab. Sie streiten sich immer, weil Vater sich nicht merken kann, welches Handtuch sein ist. Wenn Mama nur ihm Suppe gegeben und sich mit mir im Zimmer eingeschlossen hätte. Wir hätten Vaters Misstrauen geweckt. Er hätte begonnen, an unsere Tür zu klopfen. Zu drohen. Damit wir gestehen sollten. Was passiert ist? Mama hätte beteuert, nichts sei passiert. Er hätte ihr nicht geglaubt. Beide wären explodiert. Mama hätte geweint. Deshalb habe ich Brühe bekommen und sitze vor meinem Teller, Vater gegenüber. Er erhebt sich. Ragt vor mir auf. Legt die Hand auf meinen Kopf. Umfasst mit seiner Hand meine ganzen Haare. Streichelt mich nicht. Ich erschauere. Fühle, dass er mich ertappt hat. Dabei, dass ich mich vor ihm ekle. Mit meinem ganzen Dasein. Ich blicke Vater an, von unten. Lege den Kopf nicht besonders weit in den Nacken. Warte. Er bewegt die Lippen. Öffnet sie nicht. Schiebt die geschlossenen Lippen von links nach rechts. Beleckt sie. Dreht sich um. Geht. Ich habe eine Gänsehaut von innen. Genauso eine, wie wenn Vater mir aufträgt, die mit Spucke gelöschten Zigaretten ins Klo zu schmeißen. Aus dem gläsernen, schweren, tiefblauen Aschenbecher. Ich werde ihn auf ausgestreckter Hand tragen. Mich schütteln. Mich dabei bemühen, seine Ränder nicht zu berühren. Auf die letzte gelöschte Zigarette lässt er Spucke tropfen. Mama wird nicht in der Wohnung sein. Die Spucke beginnt auf dem erlöschenden Stummel zu knistern. Ich erbreche das Frühstück. Auf den Teppich. Kriege eins aufs Maul. Mit der Hand. Von der Seite. Auf den Kopf. Ich falle aufs Sofa. Kriege was auf den Hintern. Vollgekotzt, verheult. Es wird mir kalt sein, denn ich werde vorausahnen, dass er noch etwas tun wird. Er schlägt zu. Zerschlägt diesen Aschenbecher auf meinem Kopf. Aber verbietet mir nur zu weinen. Sagt, ich solle die Fresse halten. Stößt mich noch einmal. „Und geh mir aus den Augen, du elender Drecksbalg. Wasch dir Hände und Gesicht und flenn hier nicht rum. Du altes Ferkel, guck, PUBLISHER MANCHMAL was du gemacht hast, alles vollgekotzt, das wischst du jetzt auf. Du putzt das weg, mit deiner eigenen Zunge leckst du das auf.” Ich renne ins Bad, verriegele die Tür. Stecke die geballte Faust in den Mund. Ich werde draufbeißen, bis ich zu weinen aufhöre. So leise, wie ich kann. Ich höre den Bus, der am Fenster vorbeifährt. Und die Türklingel einige Jahre später, eine halbe Minute später, Mama, die sich verspätet hat. Vater wird mir nichts mehr antun können. Ich lasse Mama ins Bad. Sie sieht mich zwischen Waschmaschine und Wäschekorb sitzen. Die Faust im Mund. Ich werde nach Kotze stinken. Mama streichelt mir über das Haar, leckt sich über die Lippen und beißt die Zähne zusammen. „O Gott, mein Liebling.” Sie kniet sich vor mich hin. Mit einer Hand nimmt sie mir die Faust aus dem Mund. Mit der anderen beginnt sie mich zu kämmen. Gibt mir einen Kuss auf die Stirn, als wollte sie prüfen, ob ich Fieber habe. Sie wird noch immer weiche und feuchte Lippen haben. Ich esse die Brühe nicht. Stehe stumm vom Tisch auf. Renne zu Mama. Sie blickt mich durch die Glasscheiben von der dunklen Küche her an. Die ganze Zeit hat sie mich und Vater durch diese schmutzigen Vorhänge hindurch beobachtet. Ich drücke mich an ihre Beine. Sie riecht gut. Nach Wärme und Schweiß. Vater hat gemerkt, dass ich ihn nicht ertragen kann. Zwischen uns brennt die Luft. Und die Schere. Das ist die größte Errungenschaft aus meiner Kindheit. Eine weitere Tortenschicht. Ich bin fast acht Jahre alt. Ich bin mit Vater in der Wohnung. Er tischt Suppe auf. Graupensuppe. Ich kann Graupensuppe nicht ausstehen. Gekochtes Fleisch, Graupen, bräunlich, gelblich, scheußlich. Darin herumschwimmender Sellerie und Kartoffeln. Ich weiß, dass ich nicht kann. Es einfach nicht aufessen. Vater gibt mir Brot zur Suppe. Altes Brot. „Hier, zum Eintunken.” Er hat dieses Brot aus einer Baumwolltasche genommen. Mama sammelt in ihr Brotreste für die Schwäne. Aus dem Park neben unserem Haus. Ich esse die gekochten Kartoffeln aus der Suppe heraus. Mehr kann ich nicht. Mama kehrt nicht zurück. Vater kommt in die Küche nach Jahren des Beinebaumelns unter dem Tisch. Nach Stunden des Krümel-über-den-Tisch-Pustens, von links und von rechts. Das Brot unberührt. Die Suppe genauso, nur ohne Kartoffeln. „Ich hab nur die Kartoffeln rausgegessen, denn diese Suppe kann ich einfach nicht essen.” „Iss, aber sofort. Aufessen sollst du. Ich werd schon aufpassen, du rührst dich nicht vom Fleck. Solange das hier nicht aufgegessen ist!” Nase, Augen, Ohren, Haare, alles an ihm ist wie seine Worte, ein gleichförmiger Ton. Alle Weichheit abgeschliffen. Er setzt sich neben mich. Ich esse nicht. Ich weiß, dass die Stille ein Ende haben wird. Die Bombe wird platzen. 19 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Elżbieta Lempp DER TOD DES TSCHECHISCHEN HUNDES JANUSZ RUDNICKI 20 Janusz Rudnicki (geb. 1956), politischer Emigrant, lebt seit 1983 in Hamburg, publiziert jedoch regelmäßig in Polen. Der Tod des tschechischen Hundes ist bereits sein siebter Prosaband. Ab und zu stelle ich mir die Frage: Was zieht mich eigentlich so zu den Texten Rudnickis, der doch seit Jahren unentwegt genauso (hauptsächlich in der Tonlage der Groteske) über einunddasselbe schreibt (vor allen Dingen über sich selbst)? Wo mir doch das Einerlei in der Literatur überhaupt nicht behagt… Ausschlaggebend ist in meinem Falle nicht Rudnickis brillanter Prosastil, obschon er zweifelsohne ein Schriftsteller ist, der es versteht, die Wörter ordentlich „im Munde herumzudrehen”, der Autor jongliert behende mit den verschiedensten Sprachregistern des Polnischen, verquickt kunstvoll elegante Metaphern mit derben Grobschlächtigkeiten. Die Sache ist die, dass der Autor von Der Grenzgänger aus den Grundelementen seiner Prosa (Groteske, Ironie, Humor, Distanz, Provokation...) ideal konstruierte, auf den letzten Punkt gebrachte Texte verfassen kann. Mit anderen Worten Texte, in denen es keine überflüssigen Wörter oder Sätze gibt, keine Prosawatte, was der Erzähl- und Miniaturenband Der Tod des tschechischen Hundes erneut unter Beweis stellt. Das Buch besteht aus zwei Teilen, Erste Texte und Weitere Texte, und diese Unterteilung verweist auf die beiden bereits in den früheren Büchern vertretenen Hauptinteressenbereiche Rudnickis, der einerseits seine eigenen Erfahrungen eines „Polen auf Dienstreise” irgendwo in der Schwebe zwischen Deutschland und Polen zu grotesken, manchmal frevlerischen Erzählungen ausgestaltet, der aber andererseits Geschichten ganz eigener Art über bekannte Persönlichkeiten aus Literatur und Kultur und deren Werke zu einzigartigen biographisch-intertextuellen zurück zum Inhaltsverzeichnis Variationen umschreibt und kommentiert. Im ersten Teil treibt er erneut zwischen Polen und Deutschland seinen Schabernack (zum Beispiel in der Titelgeschichte), feixt über verschiedene nationale Unarten, macht dabei aber auch vor sich selber nicht Halt und betitelt sich ironisch als den „herausragendsten noch lebenden polnischen Schriftsteller”. Dennoch ist – wie mir scheint – in Rudnickis neuem Buch der zweite Teil entschieden interessanter, insbesondere die brillante Erzählung über die Schwächen und Wunderlichkeiten Hans Christian Andersens (Andersen, Andersen) und die das Monument des Schriftstellermythos ins Wanken bringende Geschichte von bekannten Autoren, die gerade darin besondere Meisterschaft bewiesen, nichtrückzahlbare Darlehen aufzunehmen („Das Beschwerdeheft”). Rudnicki schont in seinen Texten nichts und niemanden. Ein Frevler? Ein Provokateur? Das auch, aber vor allem ein Schriftsteller, der von Zeit zu Zeit frischen Wind in die Literatur bringen und dem Leser einige unbequeme Fragen stellen will. Robert Ostaszewski W.A.B. TRANSLATION RIGHTS 978-83-7414-558-9 ISBN 123 × 195, 208 PAGES, HARDCOVER Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier W.A.B., WARSAW 2009 Die Polen spenden ihr Blut lieber den Deutschen. Im Zentrum von Görlitz kauft eine deutsche Firma Blut an. Die Hälfte der Spender sind Polen aus der näheren Umgebung. Sie verdienen so ihr Geld für den Urlaub, Klamotten, Bier. (...) In Polen bekommt man für das Spenden von Blut oder Blutplasma allenfalls sechs Tafeln Schokolade. In Deutschland kann man damit Geld machen. Die Firma hat alle ihre Vertretungen in Ostdeutschland. Vor mehreren Monaten investierte sie eine Million in ihre fünfzehnte Blutspendestation, in Görlitz, das nur die Neiße von Zgorzelec trennt. („Gazeta Wyborcza”, 2007) „Verfickt, Himmelarschundzwirn, hört mich denn keiner?! Hallo?! Schickt mir Unterstützung! Alleine kann ich die Barrikade nicht halten, es sind zu viele!” Vor mir unsere Leute, sie kommen von allen Seiten auf mich zu. Hinter mir, in einem Gebäude im Herzen der Stadt eine weißgekleidete Armee deutscher Soldaten, alle mit Spritzen in den Händen! Ich bin Regierungsagent in besonderer Mission. Meine Spezialität sind die Brennpunkte, wenn sie so gefährlich lodern, dass man sie kaum löschen kann, dann lösche ich sie, der Mann für die Spezialaufträge. Beispiele? Erinnert ihr euch an die weiße Böe in Masuren? Ich war der vermeintliche Hellseher, der ihr letztes Opfer fand. Dank mir marschierte keine fremde Armee in Tiflis ein, und es kam in Georgien nicht zum Regierungswechsel. Ich war es, der den Durchbruch bei der Suche nach dem Grab des Nikolaus Kopernikus brachte. Und wenn ich mit Professor Geremek mitgefahren wäre, dann wäre der nicht hinterm Steuer eingeschlafen. Und wenn die Tschechen die Anbringung von zweisprachigen Straßenschildern im Olsagebiet noch länger hinauszögern, werden sie eines Morgens ihr blaues Wunder erleben. Und ich werde, wenn ich nicht umkomme oder die Seiten sich einigen, derjenige sein, der das Problem der Ostseepipeline löst, denn ich, nicht das Gas, werde deutscherseits heraussprudeln. Reicht das? Zum Brennpunkt wurde die Stadt Zgorzelec: Anfangs vergossen hundert von unsern Leuten Woche für Woche ihr Blut am anderen Neißeufer. Wenn man nur Blut verkaufen dürfte, führe uns das nicht so in die Knochen, Blut darf man nur viermal im Jahr spenden (pro Einzelspende zwanzig Euro), begraben liegt der Hund jedoch in dem verfickten Blutplasma! Billiger als Blut (pro Einzelspende fünfzehn Euro), aber das darf man sechsunddreißigmal im Jahr vergießen! Macht im Jahr? Plus Blut? Ebendrum. Hundert von unsern Leuten Woche für Woche, sage ich doch, die Daten sind schon älter, jetzt ist die Situation so brenzlig, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab, ich musste auf der Bühne der Zgorzelecer Ereignisse erscheinen. Ein katastrophaler Anblick, als ich mir den Fallschirm vom Kopf ziehe. Die Straßen entlang ziehen Menschen wie die Auserkorenen der Vampire: aschfahl, kreideweiß, hellblau. Der Bürgermeister der Stadt macht, wobei er sich mit dünner Stimme dafür entschuldigt, dass er sich zur Begrüßung nicht vorm Stuhl erheben kann, mir Meldung, dass ich unser Blut rächen solle, denn die hinter dem Fluss, auf die wir doch angewiesen seien, zapften mehr ab als nur den halben Liter. Und bezahlen täten sie nur für den halben. Und dass die Hälfte der Einwohner Blut vergießen gehe, und wer nicht gehe, gehe nicht, weil er schon gegangen sei. Und dass die Armen aus den Strafcontainern – ihre Kommunalwohnungen hatten zwangsräumen sie müssen – gingen und dass auch die aus den Nachbardörfern gingen, weil die Bauern ihr Blut schließlich immer vergossen hätten. Und dass unklar sei, wer es wie oft vergösse, weil die Polizei einen extremen Anstieg von Ausweisdiebstählen und fälschungen verzeichne. Und illegaler Schwangerschaftsabbrüche, denn schwanger... Der Bürgermeister redete immer noch, und ich war schon auf der Straße, und gleich ganz nah an der Grenze, verfickt, tatsächlich, Menschenmassen, je näher man der Brücke kam, um so unverhohlener! In dem Sinne: Die einen kommen zurück, die anderen gehen hin. Stop! schreie ich aus dem Militärjeep, mit einem Megaphon, Stehenbleiben, ihr Gesindel! Sie betrügen euch, sie lassen euch ausbluten wie beim Säueschlachten! Und wem rettet ihr so das Leben, ihr LeibundSeelenverkäufer?! Ihr männlichen polnischen Rindsviecher! Ihr weibliches Heimataas! Ihnen? Gerade ihnen?! Bei uns gibt PUBLISHER AUF DER BARRIKADE es keins, ein verficktes Pech für die Opfer, die am Unfallort überleben, denn woher das Blut nehmen?! Nichts, die polnische Pilgerschar reagiert nicht, sie gehen durch mich hindurch, als wäre ich unsichtbar! Das ist die erste Auswirkung der Grenzöffnung: Sie geben bei uns ihre Pfandflaschen ab und wir bei ihnen unser Blut. Ich hatte Stacheldrahtballen auf die Brücke gerollt, doch sie zogen blutüberströmt weiter. Im Zentrum von Görlitz, auf dem Platz, wo das Institut ist, warf ich Tränengas, Raketen und Rauchkerzen, es half etwas, sie wichen zurück, aber nicht für lange. „Verfickt, Himmelarschundzwirn, hört mich denn keiner?! Hallo?! Schickt mir Unterstützung! Alleine kann ich die Barrikade nicht halten, es sind zu viele!” Keiner hört mich, denn ich habe in dem Rauch und Lärm keine Verbindung zur Zentrale. Alleine schaffe ich es nicht. Ich lege mich auf die Schwelle, sie gehen über mich hinweg, trampeln drüber, und ich werde aussehen wie eine Tischdecke nach einer Hochzeit. Einer auf dem Dorf. Ich zerreiße mein Hemd, genau dasselbe, dazu erfriere ich, wer hält im Januar lange mit nacktem Oberkörper durch? Kann man nichts machen. Ich zerreiße mich in Stücke. Sprenge mich dort in die Luft, es bleibt kein anderer Ausweg. Ich renne ins Institut und sprenge. Und nehme sie alle dort mit. Mitsamt ihrem ganzen Hauptquartier dort. Des roten Teufels. Und alle kommen sie in die Hölle, ich aber in die Schulbücher. Und meine Organe, wenn sie geeignet sind, in andere Leiber. 21 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Emilian Snarski FOTOPLASTIKON Jacek Dehnel (geb. 1980), Dichter, Übersetzer, Schriftsteller und Maler. 2008 erschien im Rowohlt Verlag die Übersetzung seines Romans Lala, der auch JACEK DEHNEL in Italien und Israel erfolgreich herausgegeben wurde. 22 In Fotoplastikon übt Jacek Dehnel die Kunst der Ekphrasis, das heißt, der Beschreibung eines plastischen Kunstwerks mit Worten. Diese Kunstwerke sind alte Fotografien oder Postkarten – meistens aus dem 19. Jahrhundert und vom Anfang des 20. Jahrhunderts, obwohl es auch Fotos gibt, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen wurden. Der Autor ordnet die Bilder oft paarweise an, um – wie in einem echtem Fotoplastikon – einen stereoskopischen Effekt zu erzielen. Doch welchen Zweck erfüllen die Beschreibungen (denen im übrigen Reproduktionen der Bilder selbst zur Seite gestellt werden)? Die Ekphrasis ist eine eigentümliche Kunst, scheinbar überflüssig, denn warum sollte man beschreiben, was man ohnehin sieht? Doch derjenige, der Worte benutzt, muss notwendigerweise die Rolle eines Interpreten der Szene einnehmen, die Rolle eines, der den Rahmen des Bildes überschreitet, der den Kontext rekonstruiert und dem einen Moment aus dem Leben der Menschen und Gegenstände, den der Apparat aufgezeichnet hat, ihre frühere und spätere Geschichte hinzufügt. Der Beobachter des Bildes wird auch zum Soziologen und Psychologen, der die Motivationen erforscht, die der Pose und dem Verhalten der Fotografierten zugrunde liegen, der das soziale Milieu rekonstruiert, in dem sie lebten und das ihr Image kreierte. Er verfolgt und beschreibt auch das, was es auf dem Bild nicht gibt, oder was nur indirekt auf ihm vorhanden ist, verborgen wie der Revolver in Antonionis Blow Up. Er entziffert die Texte auf der Rückseite der Fotografien, und er liest auch aufmerksam den Text ganz anderer Art, das heißt, den vom zurück zum Inhaltsverzeichnis Fotografen arrangierten Hintergrund, auf dem die Gestalten erscheinen. Dehnel ist fasziniert von dem, was vergangen ist; dieser Faszination entspringt der außergewöhnlich reiche Wortschatz, mit dem er die Gegenstände auf den Bildern beschreibt. Aber es gibt noch einen anderen Grund, aus dem das mit Worten beschriebene Bild zu etwas anderem wird als das Original es ist: Die Fotografie fängt die Gestalten und Dinge in ihrer Individualität und Unwiederholbarkeit ein; das Wort verallgemeinert notwendigerweise, synthetisiert, passt die Objekte in ein „Bild der Epoche“ ein. Deshalb ist Dehnels Buch nicht nur eine Beschreibung von Bildern, sondern auch der Versuch einer sehr emotionalen Lektüre der Vergangenheit, ihr Held ist die Zeit als zusätzliche Dimension; erst sie bringt die Geschichte in die Rezeption der Fotos ein, indem sie diesen einen historischen Kontext verleiht – und das bittere Bewusstsein darüber, was kommen wird, und wovon die Fotografierten keine Ahnung hatten, als das Magnesium verbrannte und der Auslöser gedrückt wurde. Jerzy Jarzębski Warschau, 19.10.2007 Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall W.A.B. TRANSLATION RIGHTS 978-83-7414-692-0 Warschau, 9.6.2009 230 × 200, 224 PAGES, HARDCOVER Ach, wäre das nicht! Aber das ist schließlich da, zieht sich über einen großen Teil des Bildes, als würde der Kopf des Jungen wie ein Magnet Materie anziehen, als würde er bewirken, dass Wände, Köpfe, Frisuren, Hemdkragen flüssig werden, als würde er die sommerliche Luft ansaugen, mit ihren Staubteilchen, mit allem; es scheint, als wäre im Zentrum, auf dem Ehrenplatz, der schnauzbärtige Glatzkopf – aber nein, im Zentrum, wenn auch etwas verschoben, ist der Kleine. Oh, wir kennen ihn, wir kennen diese Geschichten – artige, schüchterne Knaben, die mit einer Berührung des Fingers das Holz in Asche verwandeln, die mit einem Schrei Fensterscheiben zum Springen bringen, die mit dem Blick Blumentöpfe auf dem Fensterbrett versetzen; wenn sie sich aufregen, springen mit lautem Krachen die Schubladen heraus, und Gabeln und Löffel fliegen durch die ganze Küche und bekleben sie mit einem Panzer aus Besteck, der bei jedem Schritt knirscht; deshalb dürfen diese Knaben aus ihrem eigenen, ihrem Lieblingsbecher trinken, und wenn er schmutzig ist, wird er ohne Murren gespült. Von Zeit zu Zeit kommen berühmte Professoren aus den Großstädten zu ihnen, heben ratlos die Hände und fahren kurz darauf wieder weg. Das ist angeblich Folge einer Erwärmung der Glasplatte und des Abfließens der Emulsion, bevor sie fixiert wurde – aber selbst wenn das stimmt, hat es keine große Bedeutung; das Foto sagt die Wahrheit – wenn nicht über diesen, dann über einen anderen Jungen, der in einer anderen Wohnung, in einer anderen Familie solche Dinge zu tun vermag, dass alle seine Schwäche für seinen Lieblingsbecher respektieren. ISBN Es liegt etwas Rührendes in dieser Verlogenheit, in diesem Bedürfnis, so zu tun, als sei nichts geschehen, als sei das nur ein Picknick, eine Familienveranstaltung in Begleitung lebenden Inventars, als sei hinter dieser Tür nur eine Badeanstalt, als würde dieser Transport nur zur Arbeit führen, als würde man nach dem Unterschreiben der Aussage „Ich war Geheimagent der feindlichen Bande, die es mit tierischer Perfidie auf die vitalen Interessen unserer Heimat abgesehen hatte“ in die Freiheit entlassen, einfach so. „Nun, Hirschkalb, stellt Euch nicht so an, unterschreibt hier, auf dem Gestrichelten, im Guten. Wir haben Zeit, wir haben viel Zeit, und auf Euch wartet im Wald die Frau, das kleine Kind, also, unterschreibt schon...“ Der Pionier in der ersten Reihe schaut vertrauensvoll in die Zukunft, der alte Hase mit der Flinte drängt sich nicht besonders vor das Objektiv, er steht eben da. Einer der Männer wird gleich in den Hof gehen, wird eine Schüssel zum Ausweiden bereitstellen und dabei eine fröhliche Melodie pfeifen, in der von Bäumen die Rede ist, von einem Bach, vom „rauschenden Wind“, was sich – wie auch sonst – auf „mein schönes Kind“ reimt. wäre das Bild ein ganz gewöhnliches: Eine Schüssel und ein Teller mit Kuchen; rund herum acht Becher auf Untertassen; um sie herum vier junge Männer, zwei Frauen, darunter eine mit einem Winzling, am Tischende ein kahlköpfiger pater familias und ein Junge mit gestreiftem Hemd; um sie ein einfacher Raum: eine dunkle Tür auf einer geweißten Wand, ein Ofen, daneben ein Wandschirm – kein phantasievolles Möbelstück, sondern eine Notwendigkeit: eine Trennwand, hinter die sich am Abend ein Kind oder ein Dienstmädchen legt. W.A.B., WARSAW 2009 Rührendes in dieser Symbiose von Mensch und Tier – zwei junge, kräftige Männer, ein wackerer Alter mit drolliger Brille, wahrhaft ein verloren gegangener Marx Brother, etwas näher ein Sprössling, und zwischen ihnen, wie in einer biblischen Beschreibung des Paradieses, nun – vielleicht nicht Löwe und Lamm, aber Hund und Hirschkalb. Denn das Hirschkalb, das etwas weiter am Rand steht, ist – lassen wir uns nicht täuschen – die wichtigste Figur auf diesem Bild; graziös neigt es den langen Hals nach vorn, mit feuchtem Schnäuzchen stupst es liebevoll die Hand eines seiner zweibeinigen Freunde, den zweiten, den Knirps, stupst es schelmisch mit dem Huf, vor allem aber betrachtet es uns, die Zuschauer, mit großem, ideal rundem Auge, das sich gegenüber dem Objektiv eines durchdachten, ja denkenden Apparats zu befinden scheint. Den Mörder – das weiß jeder Krimileser – verrät immer irgendein kleines Detail: ein vergessener Zettel, ein Tropfen Blut, eine Spur Gummiarabikum auf der Wange, eine falsch aufgeklebte Marke; dieses Detail stimuliert den Geist eines genialen Detektivs zu einer ganzen Reihe von Assoziationen; eine Beobachtung zieht die nächste nach sich; eine Billardkugel nach der anderen gleitet ins Loch, auf dem grünen Tuch bleibt die blendend weiße, glänzende Lösung. Aber nicht überall gibt es Scotland Yard und scharfsinnige ältere Damen, nicht überall gerät der Verbrecher im letzten Kapitel hinter Gitter und zischt durch die Zähne: „Durch so eine Dummheit auffliegen!“ Hier und da kann man ungestört töten und nach Hause gehen zu Hühnerbrühe und Knödeln. Vielleicht nicht immer und nicht jeden – aber ein Hirschkalb ohne Problem. Man braucht sich nicht zu verstecken. Man kann voll draufhalten. Man braucht sich nicht zu zieren. Wozu also die Maskerade, wozu dieses InsLot-Bringen, dieses Simulieren von Freundschaft und Herzlichkeit, wozu dieser „Tag des Tieres“, wozu schließlich diese Verkleidung des Bodens mit Blättern, damit das alles mehr nach Wald aussieht, da man doch genau den Arm von diesem Lulatsch sieht, der das erschossene Tier festhält, damit es nicht umfällt? WÄRE NICHT DAS, PUBLISHER ES LIEGT ETWAS 23 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Elżbieta Lempp ROSA STRAUSSENFEDERN HANNA KRALL 24 landen Hanna Krall, eine der bedeutendsten polnischen Reporterinnen. Ihre Bücher in viele regelmäßig auf den Bestsellerlisten in Polen und im Ausland. Sie wurde Sprachen übersetzt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, das neue Buch von Hanna Krall hätten andere geschrieben. Ihre Verwandten und Bekannten, die im Laufe von fünfzig Jahren an die Schriftstellerin Briefe, Postkarten oder Zettel richteten, wie man sie an der Tür hinterlässt, wenn der Hausherr nicht anwesend ist. Diesen Aufzeichnungen hat die Autorin schriftliche Berichte ihrer Schutzengel hinzugefügt, das heißt, Auszüge aus den Archiven des Sicherheitsdienstes oder Korrespondenz mit Verlegern, die sich dafür rechtfertigen, dass sie ihre Bücher nicht publizieren können. Auf den zweiten Blick entdeckt man jedoch, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was ihr geschickt wurde, und dem, was die Autorin selbst gehört und festgehalten hat. Selbst wenn der Verlag für die Zitate nicht die Kursive benutzt hätte, damit man die zwei Arten von Texten unterscheiden kann – der Ton der aus dem Gedächtnis rekonstruierten Geschichten ist unverwechselbar. So klingt Hanna Kralls charakteristischer Erzählstil. Die Reporterin hat mehr als einmal erwähnt, dass sie auf Lesungen ihre Zuhörer bittet, ihr etwas zu erzählen. Zweifellos hat sie mehr als einmal fremde Geschichten benutzt, aber erst in diesem Buch legt sie deren „rohe“ Version offen. Es sind keine abgeschlossenen Geschichten, sondern Keimzellen, potentielle Themen, die man entwickeln könnte. Indem sie uns diesen Abriss vorstellt, provoziert Hanna Krall den Leser zu vielen Fragen. Warum hat die Autorin diese Motive nicht ausgeführt? Kann man sie ausbauen und fortsetzen? Und schließ- zurück zum Inhaltsverzeichnis lich: Sollte man von manchen Geschichten nicht einfach die Finger lassen? Antworten auf diese Fragen finden wir zum Teil in diesem Buch. Aus Postkarten der kleinen Tochter oder Zetteln des Ehemanns ist schwer etwas zu machen. Andererseits entsteht daraus, wenn man sie chronologisch anordnet, plötzlich eine kraftvolle Erzählung. Eine auf historischem Hintergrund verankerte Familiengeschichte. Eben dieser Skizzierung der Szenerie dient die Ordnung nach dem Datum. Die Idee der Komposition ist klar, aber wieder bleibt ein Gefühl des Unbefriedigtseins. Spiegeln ein paar Notizen (in manchen Jahren sogar nur eine) wirklich den Zeitgeist wider? Oder hat die Schriftstellerin nur soviel aus einer bestimmten Zeit in Erinnerung, beziehungsweise hält nur soviel für wert, angeführt zu werden? Wenn man es so betrachtet, ist Rosa Straußenfedern ein Buch voller Rätsel. Doch man kann sie alle auf eine Frage zurückführen: Wo beginnt Literatur? Marta Mizuro LIEPMAN AGENCY 130 × 206, 208 PAGES, HARDCOVER TRANSLATION RIGHTS 978-83-247-1589-3 Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall ISBN KATARZYNA SZ. AUS DEN FERIEN Sie ist in Krakau, schläft auf dem Campingplatz. Krzyś und Skucio, Bekannte aus der Hala Gąsienicowa, hatten Examen an der Jagel- JAN C., EHEMALIGER LANDBESITZER ÜBER ZWEI ODER DREI TAGE ...Den Gutshof haben sie uns in der Agrarreform weggenommen, aber die Gegenstände aus Silber konnten wir vergraben. Sie waren „Gutsvermögen“ und gehörten der Staatskasse, aber ich wusste, wo sich das Vermögen befand, das nicht mir gehörte, und der aktuelle Besitzer – die Staatskasse – hatte davon keinen blassen Schimmer. Ich ging zum Rechtsanwalt, sagte: Ich zeige den Ort, wenn ein Teil für mich ist und der Rest für das Schloß. Der Rechtsanwalt ging zum Kulturministerium. Einige Wochen danach fuhren von Warschau aus drei Nysa-Busse los – mit Herren vom Ministerium, Miliz, Arbeitern, Schaufeln, Hacken und einer großen Kiste. Sie hielten vor dem Gutshof (gegenwärtig ein Komplex von Berufsschulen), die Herren vom Ministerium sagten: Corazzi-Stil; ich sagte: Man muß die Stelle markieren, wo sich zwei Linien schneiden, eine läuft vom Kellerfenster aus, die andere von dem Bogen über dem Gewölbe. Sie markierten den Schnittpunkt. Begannen zu graben. Alles wurde ins Museum und auf Tische gelegt. Historiker nahmen die Vasen in die Hand, die Schüsseln, Kerzenständer, Krüge, Besteck, Tabletts... Sie sagten – später Radke. Oder – früher Werner. Oder – Quadratfuß, neunzehn mal neunzehn. Ich ging nicht zu ihnen. Ich lehnte an der Wand und versuchte mich zu erinnern, wo welcher Leuchter gestanden und wann ich zum letzten Mal mit diesem Besteck gegessen hatte. Ich war ein bisschen unruhig, weil durch diese Reise, durch die Sache mit dem Museum, in der Werkstatt vieles liegen bleibt. Ich mache Glaskugeln für den Christbaum und Schmuck für Damen – Medaillons mit Bildern von Niemen und Inspector Columbo, Halsketten aus gestanztem Blech und Kreuze mit tschechischen Strasssteinen, Brillanten-Imitationen. Frühere Bekannte interessieren sich sehr für diese Geschichte. Sie besuchen mich, fragen nach dem Rechtsanwalt. Jemand fragte, wie sich meine Bauern nach der Agrarreform verhalten haben. Normal haben sie sich verhalten: Sie sind gekommen, wollten wissen, warum sie schlechtere Ernten haben als ich sie hatte. Ich erklärte ihnen – tiefer pflügen, Leute, die Pferde nicht schonen, diese Erde will tief gepflügt werden; sie fuhren nach Hause, pflügten tiefer und schrieben – danke, es ist mehr geworden. Wir sprachen über die Jagd. Jemand erzählte von Rebhühnern, ich wunderte mich – Sie benutzen jetzt Schrot, mein Herr? Und sofort erinnerte ich mich an die letzte Jagd, 1938, in Polesie. Ich habe einen Luchs geschossen, hinter Ihnen hängt sein Fell. Das Aquarell neben dem Fell ist unser Gutshof. Noch zwei, vielleicht drei Tage. Ich werde noch das Silber unter den Kindern verteilen, und das war´s dann. Ich kehre zu meinen Christbaumkugeln zurück, zu dem Damenschmuck, zu meinem wirklichen Leben, nur noch zwei oder drei Tage. ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009 1976 JERZY SZ. ÜBER ZEITWEILIGE SCHWIERIGKEITEN (ZETTEL AUF DEM TISCH) Mein liebes Frauchen, laß dich nicht unterkriegen, wir haben schon ganz andere Dinge überstanden, wir haben die Schwindsucht überstanden, die Wawel-Straße und den Verlust unserer Tulpenzwiebeln. Das Buch wird irgendwann herauskommen, das verspreche ich Dir. Vorläufig gehe ich die Pferde fürs Kind bezahlen und den dritten Band der Enzyklopädie kaufen. Nun ja, dein Buch ist ferner, aber die Familie ist näher, vielleicht ist das gar nicht so schlecht. lonen-Universität. Krzyś hat Mathe gemacht, er bekam eine Eins und hat ihnen in der Jama Michalikowa ein Eis spendiert. Abends waren sie in Iwona... PUBLISHER 1975 FRANCISZKA S., RENTNERIN ÜBER MODERNE KUNST ...Sie brachten ihn auf den Bau. Der Bau gefiel ihm, er ging hinein, bat um eine Leiter und nahm einen schwarzen Stift aus seiner Tasche. Er zeichnete eine Sirene. An die Wand. Alle freuten sich sehr, bedankten sich und fuhren weg, und die Sirene blieb. Die Wohnung wurde einem Eisenbahner zugeteilt. Er sah sie sich an, sagte, erstens sei sie mangelhaft, zweitens habe er kleine Kinder, und die Frau da habe eine nackte Brust; er nahm die Wohnung nicht, und sie riefen mich an. Ich hatte keine Kinder, und ich hatte keine Punkte – sie hätten mir höchstens Punkte für die Aktivität bei „Społem“ geben können, aber ich war nicht einmal Mitglied, als sie daher sagten, es gebe eine Wohnung, eilte ich wie auf Flügeln. Sie sagten, ich solle mich setzen. – Sehen Sie, sagte der Vorsitzende, das ist keine gewöhnliche Wohnung, das ist eine mit Sirene. – In Ordnung – ich war einverstanden. – Und sehen Sie, in dieser Wohnung muß es sauber sein, denn es können Gäste kommen. – Es wird sauber sein, versicherte ich, bekam die Schlüssel und öffnete die Tür... Meine Liebe, was soll ich Ihnen sagen. Das war Picasso. Das war groß, Jesus, wie groß das war. Eine Brust hatte sie wie zwei Ballons, die Augen dreieckig, in der langen, seltsam langen Hand hielt sie den Hammer, und der Schwanz war kurz und ganz dünn am Ende. Wir hatten nur eine Liege und einen Tisch. Der Tisch kam in die Mitte, die Liege an die Wand, der Hammer hing uns über den Köpfen, und wenn wir aufwachten, sahen wir ihre Augen, die noch seltsamer waren als die Hand und der Schwanz. Zuerst kam eine Reisegruppe aus China – sie besuchte die Siedlungen der polnischen Arbeiterklasse. Nach den Chinesen kamen Bergleute – feierlich, mit Federbüschen. Danach Textilarbeiter – Bestarbeiter. Ich war höflich, ich wusste, dass ich unsere Hauptstadt repräsentiere, aber in mir kochte es. Vor allem, wenn ich ihre Schuhe betrachtete und mir ausrechnete, wieviel Müll ich an diesem Tag wegbringen müsste. Der Präsident des Sejms kam zu uns – und Sie, Genossen, fürchten Sie sich nicht so ganz allein mit ihr? – fragte er in der Diele. Bierut kam, schaute – und nichts, kein Wort. Herren vom Ministerium kamen, maßen ab und tauschten Meinungen aus. Vielleicht zusammen mit dem Putz abnehmen? Ach nein, der ist zu dünn. Verglasen? Ach nein, das würde der Rahmen nicht aushalten... Sie nervten uns. Wir holten den Maler. Der Maler nahm einen Eimer mit Seife. Erst als er gestorben war und sie den Streit zwischen seinen Kindern beschrieben, dachten wir: Vielleicht war das nicht richtig...? Wir wurden vom gesellschaftlichen Interesse bestimmt, denn die Sirene war staatlich, und wir hätten sowieso nichts von ihr gehabt, wie wir auch keinen Groschen für den zerfetzten Teppich bekommen haben. Wieder kamen sie vom Ministerium. Brachten Apparate, durchleuchteten die Wand. Ich sagte, meine Herren, machen Sie sich keine Mühe, das war ein guter Fachmann, einer von vor dem Krieg, und gute Kernseife. 25 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Elżbieta Lempp FRASCATI EWA KURYLUK 26 en, Ewa Kuryluk (geb. 1946), Malerin, Zeichnerin, Autorin von Installation Paris. Kunsthistorikerin, Essayistin und Romanschriftstellerin. Sie lebt in Frascati – eine Straße in einem schönen Warschauer Stadtbezirk, unberührt geblieben von den Zerstörungen des 2. Weltkriegs. Nach dem Krieg siedelten sich hier Menschen an, die in Verbindung mit der neuen kommunistischen Regierung standen. Die Erinnerungen der seit langem in Paris und New York lebenden Schriftstellerin und Malerin Ewa Kuryluk sind jedoch weit mehr als nur eine Erzählung über das eigene Vaterland, den Heimatort der Familie, über Freunde und Verwandte und über ein Paradies, zerstört durch eine „von der Leine gelassene Geschichte” (wie ein polnischer Essayist die geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts einmal zusammenfasste). In Kuryluks Buch ist die Kindheitsidylle von einer ständigen unterschwelligen Bedrohung durchdrungen. Erst nach und nach erschließen sich dem Leser die privaten Chiffrierungen der Anwohner der Frascati-Straße, ganz wie es zuvor auch der Autorin selbst erging. Sie erzählt die Geschichte ihrer Mutter, einer Liebhaberin von Trakls Poesie, einer polnisch-deutschen Jüdin, dem Lemberger Ghetto entflohen und von ihrem zukünftigen Ehemann und dem Vater der Autorin gerettet. Miriam Kohany weihte ihre Tochter erst in ihr Geheimnis ein, als diese vierzig Jahre alt war. Nie konnte sie sich von der Angst befreien, ihr ganzes Leben lang wurde sie von wiederkehrenden Angstzuständen heimgesucht – diese Mutter ist die eigentliche Hauptfigur des Buchs. Aber es gibt auch andere: da ist der Vater, Karol Kuryluk, ein außergewöhnlicher Mensch, links orientierter Redakteur aus Lemberg und Mitorganisator des antifaschistischen „Kongresses zur Verteidi- zurück zum Inhaltsverzeichnis gung der Kultur” 1936, Konspirateur zur Zeit der Besetzung, nach dem Krieg Kulturattaché in Wien, dann Kulturminister, der schnell in Ungnade fiel. Und der Bruder: Piotr, das von Schizophrenie gezeichnete Wunderkind, der fast sein gesamtes Erwachsenenleben in Krankenhäusern und Anstalten für psychisch Kranke verbrachte. Des Weiteren gibt es Freunde, die echten und die falschen, es gibt ein Panorama menschlicher Schicksale, Aufzeichnungen von Begegnungen mit dem polnischen Antisemitismus und dem polnischen Alltag, früher und heute, nicht nur aus dem Blickwinkel der Bewohner der Frascati-Straße. Es gibt einen Ausflug, eine Wanderung auf den Spuren der Familie ins heutige, ukrainische Lemberg und nach Israel, auf der Suche nach neu entdeckten Verwandten. Kuryluks Buch ist eine Aufzeichnung der wiedererlangten, traumatisierten Erinnerung, eine unendliche Aufarbeitung der Trauer um die verstorbenen Eltern und den Bruder, ein Kapitel aus den Historien eines neuen Herodot: es hat das Ausmaß einer postmodernen Tragödie, der einzigen heutzutage möglichen privaten Geschichte der Menschheit „von innen heraus betrachtet” und aus der Perspektive der Opfer. Dieses literarisch herausragende Werk ist eine Geschichtschronik und ein ausgezeichnetes Beispiel für die Literatur des persönlichen Dokuments. Es weckt Mitgefühl, Furcht und leitet zum Verständnis an. Marek Zaleski WYDAWNICTWO LITERACKIE CONTACT EWA KURYLUK & WYDAWNICTWO LITERACKIE TRANSLATION RIGHTS 978-83-08-04377-6 ISBN WYDAWNICTWO LITERACKIE, CRACOW 2009 Aus dem Polnischen von Lisa Palmes 147 × 207, 344 PAGES, HARDCOVER auf dem Powązki-Friedhof begraben lag, wollte auf den Mond auswandern. Und warum?” Sie blickte mich an. „Aus Angst, weil er in einem feindlich eingestellten Land allein mit einer unzurechnungsfähigen Mutter und einer asthmatischen Schwester zurückgeblieben war”, gab sie sich selbst die Antwort. „Einmal in der Woche holte dich der Krankenwagen ab und du kamst unters Sauerstoffzelt, hast du das vergessen?” „Ich habe es nicht vergessen.” „Ich wusste, ihr würdet eine Emigration nicht überleben”, seufzte sie, „ich musste also in der Frascati bleiben.” Sie hustete. „Wie viele Tausende haben sie mit ihren Angstmethoden zum Ausreisen gebracht?” Sie sah mich an. „Ich weiß nicht genau, Mama.” „Aber uns konnten sie nicht durch Angst dazu bewegen”, warf sie sich in die Brust, „ich hatte mir geschworen, freiwillig würden wir ihnen die Frascati nicht überlassen.” Ihr Blick wanderte über die Wand. „Deswegen habe ich mich entschieden.” „Zu was entschieden, Mama?” „Im März habe ich die Irre gespielt, um die Frascati zu retten.” „Ge..gespielt?”, vor Aufregung begann ich zu stottern. „Es gab keinen anderen Ausweg”, sagte sie unwillig, „also habe ich mir gedacht, eine Verrückte würden sie wohl in Ruhe lassen.” „Darum hast du immer geschrien?” „Ich habe das ganze Haus zusammengeschrien, damit es alle mitbekamen”, nickte sie. „Habe mich um mich selbst gedreht, um in Trance zu geraten”, fügte sie hinzu, „und aufgehört, die Medikamente zu nehmen, die der Dozent mir verschrieben hatte.” „Du hast deine Paranoia simuliert?” „Mit aller Macht”, antwortete sie. „Ich wurde dafür von einer schrecklichen Strafe heimgesucht, ich hatte die Bestie in mir geweckt. Von da an lauerte sie in mir, und zwei Jahre später kam sie plötzlich zum Vorschein. Nur um Haaresbreite habe ich kein Verbrechen begangen”, sie barg ihr Gesicht in den Händen. „Also ist es doch wahr?” „Sie stand mit einem Küchenmesser vor mir”, hörte ich in Cambridge die Stimme meines Bruders durchs Telefon, „ich musste den Rettungswagen rufen”, er zwang sich zur Ruhe, „sie haben Mama nach Tworki mitgenommen.” PUBLISHER „ES sollte mal jemand über der Geschichte der Nachkriegszeit aus der Innenperspektive schreiben. Von den Folgen des Schocks, der psychischen Polarisierung”, sagte Mama langsam und mit Bedacht, als habe sie meine Gedanken erraten, „vom Übermaß an Empathie, vom völligen Fehlen von Empathie. Horror sensibilisiert entweder für das Böse oder führt zur Gefühllosigkeit. Woran mag das liegen? An der Veranlagung? Der Weltanschauung? Dem Glauben? Der Moral? Am Ort, an den uns das Schicksal verschlagen hat?”, fügte sie nachdenklich hinzu. „Sicher an allem ein bisschen, Mama, aber hauptsächlich am Charakter.” „Ein guter Charakter heißt wenig Angst, viel Empathie, Glaube an sich selbst”, sagte sie mit Überzeugung. „Eine seltene Kombination. - Eine Rarität! Bei gewöhnlichen Charakteren bringt der Krieg die schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein, bei guten nur die besten”, stellte sie fest. „Ein spannendes Thema, was, Mama?” „Ich wollte darüber schreiben, habe es aber nicht geschafft, das ist was für dich”, sie nahm meine Hand.” „Ich weiß nicht viel über den Krieg.” „Über die Spuren, die er in der menschlichen Psyche zurücklässt, weißt du so einiges”, zwinkerte sie mir vielsagend zu, „ohne ein Zuviel an Details lässt es sich leichter zum Kern der Sache vordringen.” „Frascati osculati”, begann sie nach einer längeren Weile zu summen, auf deutsch: „hier ist meine zweite Heimat. – Frascati ist eine wirkliche Köstlichkeit”, Mamas Stimme veränderte sich, „In diesem schrecklichen Frühling” – so pflegte sie den März `68 zu nennen – „lauerten sie auf unsere Wohnung. Das war klar, sie hat ja nur Vorzüge. Drei Zimmer in einem Altbau, ruhig, mit Balkon, ideal geschnitten, Villenviertel”, sie zählte an ihren Fingern ab, „Klavier, Sekretär, Musikschrank, eine komplette Sammlung der „Sygnały” im Originaleinband aus der Vorkriegszeit. In der Vorratskammer ein Sortiment Einmachgläser aus eigener Herstellung”, sie schnalzte, „Kompotte und Fruchtmus der verschiedensten Art, Marmeladen, Nüsse in Zucker. Wie ich nach der Rückkehr aus Wien ununterbrochen am Herd stand und einkochte, weißt du noch? Sie wollten Karol keine Arbeit geben, also habe ich Vorräte angelegt. Als er gestorben war, schickten sie im Auftrag des Geheimdienstes Diplomaten aus dem Westen auf uns los. Wollten dich um jeden Preis überreden, zu emigrieren.” „Nein, Mama”, stieß ich schnell hervor, „ein paar Bekannte haben uns angeboten, uns im Fall einer Ausreise zur Seite zu stehen. Sie wußten, wer Łapka war.” „Sie wussten es!” intonierte sie finster. „Und hier ist der Hund begraben, meine Kleine”, sie strich mir übers Gesicht wie einem Kind, „sie wussten es, und du nicht. Sie wussten es, denn sie hatten uns vom Boden bis zur Decke verkabelt”, sie hob die Augen, „hatten eine Wanze in Telefon, Radio, Fernseher installiert. Sie wussten,dass wir hier wie die Kaninchen vor der Schlange sitzen. Wussten, wie man Witwen und Waisen eine Falle stellt”, sie verdrehte die Augen, „und wussten, wie man uns Angst einjagt.” „Mama, niemand wollte uns...” „Spiel nicht die Idiotin!” unterbrach sie mich, „Du bist jetzt fünfzig und kein Kleinkind mehr! Sie haben sich bereits vor Freude ihre gierigen Pfoten gerieben, dass wir vor Angst selbst”, sie betonte das Wort, „um Ausreise ansuchen werden. Aber da konnten sie lange warten!”, sie knirschte mit den Zähnen, „selbst, niemals! Ich hatte mir das Partisanenehrenwort gegeben”, Mama reckte zwei Finger in die Höhe, „um nichts in der Welt würden wir um Gnade winseln wie die bescheuerte Zaza”, heulte sie auf. „Wenn euch das Wasser im Munde zusammenläuft vor lauter Gier auf unsere Frascati, dann schlagt doch mit euren Gewehrkolben die Fenster ein.” Sie begann zu zittern. „Nehmt uns die Dokumente weg”, sie warf eine Zeitung auf den Boden, „holt euch unser Hab und Gut”, strich mit der Hand über die Couch, „konfisziert unseren Besitz!” und schlug mit dem Schlüssel auf das Nachttischchen ein. „Los! Brecht bei der Witwe ein, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hat”, sie tippte sich an die Stirn, „Los! Gestapo! Kommt in der Nacht und holt euch meine Kleinen! Deportiert minderjährige kranke Kinder in Viehwaggons ohne Wasser.” „Wir waren nicht minderjährig, Mama.” „Piotruś war noch keine achtzehn”, sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, „Tag und Nacht wachte er an der Tür zum Treppenhaus, wartete zusammen mit dem Hund auf Vater, der längst 27 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Andrzej Wróbel UND ES WAR AUCH LIEBE IM GHETTO Marek Edelman (geb. 1922), legendärer Anführer des Aufstands im Warschauer MAREK EDELMAN Ghetto, Kardiologe, Polit- und Sozialaktivist. 28 Viele Leser kennen Marek Edelman, den letzten noch lebenden Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, nach dem Krieg ein angesehener Herzchirurg in Łódź und Mitglied der demokratischen Opposition, ausgezeichnet mit dem höchsten polnischen Orden, dem Orden vom Weißen Adler, bereits aus Hanna Kralls Buch Dem Herrgott zuvorkommen (1977), das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Und es war auch Liebe im Ghetto entstand in enger Zusammenarbeit mit Paula Sawicka, die Edelmans Erzählungen zuhörte und das Gehörte notierte. Edelman spricht über seine Kindheit und seine Schulzeit, über seine Jugendjahre als Mitglied der jüdischen Arbeiterpartei „Der Bund“, über das Krankenhaus im Ghetto, über die Untergrundbewegung, über den Aufstand im Ghetto im April 1943 sowie über den Warschauer Aufstand im August 1944. Die Ereignisse und Episoden zum Titelthema werden in einer lebendigen und rauen Sprache erzählt. Marek Edelmans Verlangen nach einem Film über die Liebe im Ghetto war der Antrieb, das Buch zu schreiben. Er wandte sich mit dieser Bitte an mehrere Regisseure, die aber alle abwinkten, mit der Begründung, das Thema sei zu schwierig. Von den Zeitzeugen wurde das Thema meist gemieden. „Aber das ist nicht die ganze Wahrheit: Es gab dort auch Menschen, die glückliche Momente erlebten. Ist das nicht großartig? Unter unmenschlichen Bedingungen geschahen wunderbare Dinge. Das hängt allein vom Menschen ab. In diesen Zeiten klebten die Menschen aneinander, denn die Einsamkeit war schwer zu ertragen. Die Liebe überwindet alles, ohne sie kann man nicht zurück zum Inhaltsverzeichnis leben. Das erkennt man erst in Extremsituationen“, sagt Marek Edelman während der Vorstellung seines Buches in Warschau. Warum hat er nicht früher darüber gesprochen? Weil ihn niemand danach gefragt hat. Das zumindest behauptet Paula Sawicka. Marek Zaleski ŚWIAT KSIĄŻKI TRANSLATION RIGHTS 978-83-247-1416-2 ISBN ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009 Aus dem Polnischen von Andreas Volk 125 × 200, 200 PAGES, PAPERBACK Professor für Schiffbau und das Mädchen eine hervorragend ausgebildete Laborantin. Als ihre Söhne erwachsen wurden, verliebte sie sich in einen der beiden und verbrachte mit ihm lange glückliche Jahre. Sie schrieb später in einem Brief, dass, obwohl sie bereits gewusst habe, was mit ihrem Mann geschehen sei, den sie sehr geliebt habe, es die Liebe gewesen sei, die sie am Leben erhalten habe. Die Liebe und die Wärme ihres Sohnes, der später ihr Geliebter wurde. Sie starb im Alter von über neunzig Jahren. Die Mutter des Mädchens wurde krank, und das Mädchen war mit der Zwillingsschwester auf sich selbst gestellt. Sie hatten Angst, nachts mit der kranken Mutter allein zu bleiben. Ein Junge, ein Rikschafahrer, begann sie zu besuchen. Ging es der Mutter sehr schlecht, blieb er über Nacht, und das Mädchen kuschelte sich an ihn, aus Angst, etwas Schreckliches würde geschehen. Es schlief in einem Nachthemd aus Batist, schmiegte sich an ihn und schlief an seiner Seite ruhig ein. Sie begannen ihre Liebe zueinander zu entdecken. Auch wenn nicht sicher ist, ob sie sich liebten, oder ob sie überhaupt wussten, wie das geht. Aber dank seiner Anwesenheit fand das Mädchen seine innere Ruhe. Die Mutter wurde langsam wieder gesund, und das Mädchen ging zur Arbeit. Eines Tages gab es in der Karmelicka eine Razzia. Als es davon hörte, rannte es nach Hause, aber die Mutter war schon weg. Eine riesige Menschenmenge, mehrere tausend Personen, wurde zum Umschlagplatz getrieben. Sein Freund mit der Rikscha kreuzte auf. Sie holten den Zug ein und fuhren auf der Suche nach der Mutter an tausenden Menschen vorbei. Kurz vor dem Umschlagplatz erblickten sie sie. Das Mädchen stieg aus der Rikscha aus, der Junge blieb am Rand des Bürgersteiges stehen. Es sagte zu ihm: „Wir müssen uns leider trennen, Mama kann eine solche Reise nicht allein machen.“ Und es folgte seiner Mutter in den Waggon. Was aus seiner Schwester wurde, weiß niemand. PUBLISHER SO bekam Deda, das war der Name von Frau Tenenbaums Tochter, die „Lebensnummer“ ihrer Mutter. Das schüchterne Mädchen blieb ganz allein zurück. Und plötzlich verliebte sie sich in einen Jungen. Sie musste auch etwas Geld gehabt haben, denn der Junge besorgte ihnen eine Wohnung auf der arischen Seite. Die Liebe ließ sie aufblühen. Drei Monate lang genoss sie in der Wohnung auf der arischen Seite mit dem Jungen das große Glück. Diese Liebe stand ihr ins Gesicht geschrieben. Jeder, aber auch jeder, der sie damals sah, sagte, dass sie vor Glück strahle. Sie erzählte Marysia, die sie besuchte, dass dies die glücklichsten Monate ihres Lebens seien. Die Wärme, die ihr der Junge gab, ließ sie das Ghetto vergessen. Das Glück dauerte drei Monate. Dann – vielleicht war ihnen das Geld ausgegangen – lieferten die Wohnungsbesitzer sie und ihren Freund an die Deutschen aus. Zwischen der Januaraktion und April kehrten wir über den fünften Stock eines großen Mietshauses mit großen Wohnungen von unseren Aktionen in den Bäckereien zurück (jeder Bäcker musste uns 40 Laib Brot geben, und das geschah gewöhnlich früh morgens nach Backschluss). Alle Türen in den Wohnungen und auch zum Treppenhaus standen offen, um den Durchgang zu erleichtern (du betratst die Wohnung durch die Vordertür, gingst durch die ganze Wohnung und verließt sie durch den Dienstboteneingang, und von dort gelangtest du in die nächste Wohnung). In den Korridoren und Dielen waren Betten aufgestellt. Ich sah dort Złotogórski. Das war ein riesiger Kerl. Ich weiß nicht, warum sich mir sein großer gebräunter Oberkörper (es war noch nicht Sommer, und er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich zu sonnen) eingeprägt hat. Ein kleines blondes siebzehnjähriges Mädchen lag an seiner Schulter. Es schlief an ihn angeschmiegt, und auf seinem Gesicht, das Ruhe ausstrahlte, lag ein seliges Lächeln. Einige Tage später gerieten beide in eine Sonderrazzia und wurden nach Treblinka deportiert. Sie war Ärztin, fast vierzig Jahre alt, ihr Mann war ebenfalls Arzt, Offizier der Luftwaffe. Er wurde im Krieg vermisst. Sie wusste nicht, was aus ihm geworden war. Heute weiß man, dass er in Katyn ums Leben gekommen ist. Am zweiten Kriegstag kam sie zur Arbeit ins Krankenhaus und verließ von da an ihren Posten nicht mehr. Sie war sehr einsam. Sie fühlte sich miserabel. Dann begann sie eine Affäre mit einem Jungen, der fünfzehn Jahre jünger war als sie. Der Junge war plötzlich krank geworden, sie hatte ihn zu sich ins Bett genommen, und wie durch ein Wunder wurde er wieder gesund. Einige Tage lang schlief sie mit ihm in einem Bett. Später sagte sie, dass sie das erste Mal in dieser Einsamkeit jemanden gefunden hatte, mit jemandem zusammen gewesen war, und von nun an versuchen würde, immer mit jemandem zusammen zu sein. Im Warschauer Aufstand blieb sie wieder allein. Sie hatte ein Fläschchen mit 4 Gramm (eine ungeheure Dosis!) Morphium. Sie schluckte diese 4 Gramm Morphium und torkelte schon leicht, als jemand kam und ihr gewaltsam einen Becher Seifenwasser einflößte. Sie erbrach und erwachte mitten in der Nacht, bereits bei Bewusstsein. Und damals begann ihre große Liebe zu einem Jungen, der zwanzig Jahre jünger war als sie. Sie verbrachte mit ihm eine glückliche Zeit, vom Ende des Aufstands bis November, als sie aus Żoliborz evakuiert wurde, als glückstrahlende, stets hilfsbereite Frau. Nach dem Krieg ließ sie sich in Łódź nieder. Eines Tages kam jemand sie besuchen, die Tür stand offen. Niemand schien zu Hause zu sein. Wie sich aber herausstellte, lag Frau Doktor in der Küche unter einer warmen Decke, den Kopf in die Decke eingepackt. Vielleicht schlief sie, vielleicht war sie nur eingenickt. Plötzlich setzte sie sich auf und sagte: „Ich werde hier nicht mehr länger allein bleiben“. Und das sagte so ein mutiger Mensch wie sie. „Ich habe Angst, ich muss hier weg.“ Niemand weiß, wie sie nach Australien gelangte. Auch dort war sie allein. Sie, die eine große Spezialistin auf ihrem Gebiet war. Auf dem Pazifik kreuzte ein Schiff mit jüdischen Kindern, die kein Staat aufnehmen wollte. Es ankerte auf der Reede, zwölf Meilen vom Ufer entfernt. Die Bewohner fuhren mit Booten zum Schiff und nahmen jeweils ein paar Kinder mit. Meine Ärztin ging auch ans Ufer. Sie nahm zwei Jungen und ein Mädchen zu sich. Der eine Junge wurde Architekt und arbeitete in Shanghai, der andere wurde 29 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Andrzej Bernat DIE INSEL – EIN SCHLÜSSEL MAŁGORZATA SZEJNERT 30 Małgorzata Szejnert (geb. 1936), Journalistin und Reporterin. Für ihr Buch Der schwarze Garten erhielt sie 2008 den Preis der polnischen öffentlichen Medien „Cogito“. „Eine historische Reportage ist nur dann berechtigt, wenn sie auch ein gegenwärtiges Leben hat“, sagte Małgorzata Szejnert in einem Interview. Dieses „gegenwärtige Leben“ ist das heutige Gesicht Nordamerikas mit seinen vielen Völkern und Kulturen. Sein Genius Loci wurde auf Ellis Island geboren, an einem Ort, wo fast ein Jahrhundert lang darüber entschieden wurde, wer amerikanischer Bürger werden darf und wer nicht. Obwohl die Reporterin von Briefen polnischer Emigranten dazu inspiriert wurde, dieses Buch zu schreiben, so sind es nicht die Auswanderer, die im Vordergrund stehen, sondern vor allem jene, die die Ankömmlinge aufnahmen oder sie aus verschiedenen Gründen zurückschickten. Die Insel – ein Schlüssel stellt also die Schicksale der Kommissare der Insel vor, der Übersetzer und Ärzte, der Sozialarbeiterinnen – so genannter „matrons“, die sich um die Frauen kümmerten, sowie des legendären Fotografen Augustus Sherman. Die meisten derjenigen, die auf der Insel zum Personal gehörten, waren sich darüber bewusst, dass sie an einem historisch bedeutungsvollen Vorgang teilnahmen und hinterließen unzählige Zeitzeugnisse, die heute in einer Bibliothek auf Ellis Island zusammen getragen sind. Diese Dokumente, aus denen in dem Buch auch häufig zitiert wird, nutzte die Autorin unter anderem für ihre Geschichte. Und doch ist ihre Vision der Geschehnisse die einer Schriftstellerin. Sie allein entscheidet welche Episoden oder Requisiten besonders hervorgehoben werden. Sie allein wählt die Gestalten, die im Hintergrund bleiben und verfolgt dabei zurück zum Inhaltsverzeichnis nicht nur das Schicksal von Annie Moore, der Irin, die als erste auf der Insel abgefertigt wurde, sondern auch die Geschichte der behinderten Paula, die nur bedingt aufgenommen wurde und jahrelang über die Fortschritte in ihrer Entwicklung Rechenschaft ablegen musste. Paulas Geschichte fügt sich ein in das eingehender beschriebene Thema der Aufnahme- und Bewertungskriterien, nach denen die Begabungen der Kandidaten und ihre Nützlichkeit als Amerikaner beurteilt wurden. Szejnert konzentriert sich auf das Thema Aufnahme und Ablehnung, wobei ihr eine meisterhafte Auslese des nur schwer überschaubaren Materials gelingt. In diesem, nicht sehr umfangreichen Buch wiegt jeder Satz und jedes Element wird zu einem Symbol. Diese Aufwertung bedeutet jedoch nicht, dass Die Insel – ein Schlüssel sich durch Pathos auszeichnet, was vielen Abhandlungen mit großen Themen zu Eigen ist. Für das Buch entscheidend sind die Gewandtheit der Feder, der Humor und die Sensibilität der Autorin. Marta Mizuro doch nach so vielen Arbeitsjahren in Castle Garden unterscheidet Peter Mac den Klang der Sprachen. Die Leute, die polnisch sprechen, geben ungern ihr Gepäck zur Aufbewahrung und schleppen es überall hin mit. Am wichtigsten sind ihnen die Federbetten. Sie tragen sie manchmal auf dem Kopf oder auf der Schulter und stützen sie mit der einen Hand während sie mit der anderen einen Koffer und die sich daran klammernden Kinder hinter sich her ziehen. Den Strom der Menschen und Dinge beobachtet auch Doktor Victor Safford aufmerksam, dem auf Ellis Island eine Stelle als Arzt angeboten wurde. Er kam mit dem Schiff zum Interview, doch er hat noch ein wenig Zeit, also schaut er zu. Er ist ein sehr aufmerksamer Beobachter. Das Schauspiel auf Ellis Island fasziniert ihn so sehr, dass er bereit ist, ein viel niedrigeres Gehalt als das, was er zur Zeit bezieht, zu akzeptieren, nur um diesen ungewöhnlichen Ort besser kennen zu lernen. Er vermutet, dass ihn hier berufliche Herausforderungen erwarten und er muss zugeben, dass er gerne eine Arztuniform des Immigrationsdienstes tragen würde, die an die Uniform eines Flottenoffiziers erinnert. Wie Peter Mac ist auch er darüber verblüfft, wie die Immigranten an ihrem Hab und Gut festhalten. Wie es sich für einen Chirurgen gehört, macht er auf die gefährlichen Folgen dieser Sturheit aufmerksam. Halb so schlimm, wenn ein Mensch von einem Weidenkorb zu Boden gedrückt wird, denn die Weidentriebe werden nachgeben und ihm keine Rippen brechen. Gefährlicher ist es, wenn mit Eisengegenständen voll gepackte Kisten und Truhen auf jemanden niederprasseln. Man sollte sich auch vor den großen Bündeln auf den Schultern starker slawischer Mädchen in Acht nehmen. Diese Ballen scheinen weich und flauschig zu sein, doch außer zwei oder drei Federbetten enthalten sie wahrscheinlich auch ein paar Ofenroste, Wasserkessel aus Eisen oder Töpfe und alle möglichen anderen Dinge, die in Osteuropa grundsätzlich zur praktischen Ausstattung gehören. ZNAK TRANSLATION RIGHTS 978-83-240-1161-2 ISBN ZNAK, CRACOW 2009 165 × 235, 352 PAGES, HARDCOVER Aus dem Polnischen von Joanna Manc PUBLISHER DIE ersten Immigranten, die das riesige Gebäude mit den unzähligen Fenstern, einem steilen Dach und den spitzen Türmen betreten – ein Gebäude, das eher an ein Spielkasino in einem Seebad erinnert als an einen Kontrollpunkt für arme Leute – fühlen unter den Füßen das gleiche Material wie an Bord der Schiffe in den letzten Wochen: solide Holzbretter. Das Holz kommt aus Nord Carolina und Georgia. Der Kiefernboden ist entharzt, die Wände – auch aus Kiefern und Fichten – nicht, und so kommt den Ankömmlingen aus Dörfern und kleinen Städten der vertraute Geruch von Wald und Zuhause entgegen. Die Firma „Sheridan and Byrne“ sollte die Außenwände mit rostfreiem Blech auslegen, doch man weiß nicht, ob sie das getan hat. Angesichts der Ereignisse, die bald folgen, könnte man daran zweifeln. Das Gebäude ist vierhundert Fuß lang (fast einhundertzweiundzwanzig Meter) und einhundertfünfzig Fuß breit (etwas mehr als fünfundvierzig Meter). Es hat eine zentrale Dampfheizung, Strom und ist mit modernen Sanitäranlagen ausgestattet. Es kann, wie die Zeitung „Harpers Weekly“ berichtet, zehntausend Immigranten am Tag aufnehmen. Später wird sich herausstellen, dass das übertrieben ist. Schon fünftausend täglich sind auf Ellis Island eine Geißel Gottes. Doch auch so ist es wohl die größte Karawanserei der Welt. Bereits als er zum Kommissar der Insel nominiert wurde, stellte Oberst Weber seine Belegschaft sorgfältig zusammen. Er begann mit einem Besuch in Castle Garden. Unangekündigt erschien er dort und mischte sich unter die Leute. Er sah erschrockene Menschen, die von Bauernfängern und Schwindlern herumgeschubst wurden. Er schaute sich den Immigrationsdienst an und sprach jemandem an, der sein Vertrauen geweckt hatte. Bald war er im Besitz von drei Listen. Einer guten: mit ehrlichen Mitarbeitern, einer neutralen: mit Mitarbeitern, über deren moralische Haltung man nicht viel wusste, und einer schlechten: mit Mitarbeitern, denen auf Ellis Island keine Aufgaben hätten übertragen werden sollen. (...) Einer der Mitarbeiter von der guten Liste in Castle Garden ist Peter McDonald. Seit zwanzig Jahren kümmert er sich um das Gepäck. Auf den ersten Blick erkennt er aus welchem Land es kommt. Über die Herkunft der Koffer weiß er mehr als über seine eigene. Als die neue Gepäckaufbewahrung, die Reisebündel, Koffer und Truhen von zwölftausend Passagieren fassen kann, eröffnet wird, ist Peter Mac – so wird er hier genannt – dreiundvierzig Jahre alt. Er kennt sein Geburtsdatum: 1849, doch er weiß nicht, wo er auf die Welt kam; in Irland, in New York oder in Fall River im Staat Massachusetts. Er weiß auch nicht, ob die Menschen, die ihn groß gezogen haben, seine wirklichen Eltern sind oder nur ihre Freunde, die ihn zu sich nahmen, nachdem seine Mutter gestorben war. Der Gepäckwart Peter Mac mit der runden Dienstmütze, im weißen Hemd und in Hosen mit Hosenträgern (es ist eine gute Stelle und Peter hat bereits einen kleinen Bauch bekommen) lenkt das Hin und Her der Habseligkeiten, die aus aller Welt mitgebracht werden. Manche Dinge, die er beobachtet, sind offensichtlich, andere verblüffen ihn immer wieder. Er hat sich zum Beispiel daran gewöhnt, dass jede Nation ihre Bündel anders zusammen schnürt; so weiß er welche Schlaufen und Knoten in Irland - das ihm besonders teuer ist (von dort kommt seine Frau) - gemacht wurden und welche in Schweden, in Italien oder in der Schweiz. Am meisten voll gepackt sind die Koffer der Dänen, der Schweden und der Norweger. Peter meint, diese Leute würden mehr mitnehmen als sonst irgendjemand: Matratzen, Daunendecken, Betten, Schubladen, Küchenstühle. Und obwohl man ihnen erklärt, dass sie einen Haufen Geld für den Transport zum Bestimmungsort zahlen müssen, so wollen sie sich von den Dingen nicht trennen; als ob es um ihr Leben ginge. Die Koffer der Franzosen und Engländer sind in einem besseren Zustand als andere und eindeutig die modernsten. Griechen und Araber haben Bündel so groß wie Berge; sie sammeln verschiedene Sachen, die fünfhundert oder sechshundert Pfund wiegen, legen sie zusammen und rollen sie in Teppiche und Tücher ein. So eine Rolle müssen dann manchmal sechs Männer tragen. Peter, der über die Koffer und Bündel wacht und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit behauptet, ihm sei noch nie etwas verloren gegangen, wundert sich über die Polen. Sie seien in ihren Reisedokumenten zwar als Russen, Österreicher oder Deutsche eingetragen, 31 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Krzysztof Miller / Agencja Gazeta NACHTWANDERER WOJCIECH JAGIELSKI 32 Wojciech Jagielski (geb. 1960), Journalist und Reporter. Kenner Afrikas und Zentralasiens, des Kaukasus und Transkaukasiens. Er berichtete von den wichtigsten politischen Brennpunkten der Welt. In seinem neuesten Buch nimmt Wojciech Jagielski den Leser mit auf eine finstere Reise durch Afrika, genauer gesagt nach Uganda. Jagielski hat viele blutige Konflikte beschrieben, in denen sich die Kriegsparteien gegenseitig an Brutalität überboten, vielfach hat er auch seiner Verwunderung über das ungeheure Ausmaß der menschlichen Bestialität Ausdruck verliehen (Jagielski gibt häufig die Rolle des unparteiischen, objektiven Beobachters auf und lässt den Leser teilhaben an seinen Gefühlen, Zweifeln, seiner inneren Zerrissenheit). Diesmal hat er es jedoch mit dem Bösen schlechthin zu tun, das sich jeglicher Vorstellung geradezu entzieht. Uganda, das über Jahrzehnte Bürgerkriegsland war, wurde von grausamen Diktatoren – wie dem berüchtigten Idi Amin – regiert, denen das menschliche Leben nichts bedeutete. Zurzeit herrscht dort relative Ruhe, obwohl in einer der ugandischen Provinzen weiterhin blutige Kämpfe ausgetragen werden. Tod und Vernichtung sät dort die „Widerstandsarmee des Herrn“, die von Joseph Kony, einem fanatischen, selbsternannten Propheten, geführt wird. Es ist eine Armee, wie sie die Welt bisher noch nicht gesehen hat: Sie besteht vor allem aus Kindern, die aus ihren Dörfern entführt und in gnadenlose Tötungsmaschinen verwandelt wurden. Jagielski, dessen Text keine klassische Reportage ist (die Protagonisten sind keine realen Figuren, sondern wurden, wie der Autor in einem kurzen Vorwort schreibt, „für die Bedürfnisse dieser Erzählung aus mehreren wirklichen Figuren zusammengesetzt“), versucht die „Widerstandsarmee des Herrn“ zu beschreiben und das Besondere zurück zum Inhaltsverzeichnis der Lebensverhältnisse in Uganda zu verstehen. In der Stadt Gulu, die in der umkämpften Provinz liegt, besucht Jagielski ein Umerziehungsheim, in dem Kinder, denen die Flucht aus den Rebelleneinheiten gelang oder die von Regierungstruppen gefangen genommen wurden, „geheilt“ werden. Dort lernt er den dreizehnjährigen Samuel kennen. Seine Beziehung zu dem Jungen ist schwierig, Jagielski – anderen geht es ähnlich weiß nicht so recht wie er ein Kind behandeln soll, das sowohl ein Kriegsopfer als auch ein Kriegsverbrecher ist, der dutzende Menschen auf dem Gewissen hat. Jagielski versucht auch dahinterzukommen, warum gerade dieses Land, das ein Paradies auf Erden sein könnte, ständig im brudermörderischen Krieg versinkt. Das ist nicht einfach, da die üblichen, rationale Erklärungen sich mit magischen vermischen, da die Ugander fest an den Einfluss der Geisterwelt auf die Wirklichkeit glauben (Kony selbst behauptet, dass der Heilige Geist durch ihn spreche). Jagielskis neuestes Buch ist ein bewegendes und bitteres Buch. Robert Ostaszewski W.A.B. TRANSLATION RIGHTS 978-83-7414-602-9 ISBN W.A.B., WARSAW 2009 Aus dem Polnischen von Andreas Volk 142 × 202, 336 PAGES, PAPERBACK stellen? Er hat sich von hinten an die Schlange herangeschlichen, sie mit bloßen Händen gepackt und sie lebendig in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen. Sie hat gut geschmeckt, nicht wahr?“ Samuel nickte und fletschte die Zähne zu einem Lächeln. „Erzähl mal, wie ihr euch in der Nacht verirrt habt. Erzähl, wie sie dir ein Gewehr gegeben haben.“ Er kannte nur wenige englische Wörter, was zur Folge hatte, dass seine Erzählungen sachlich und einfach waren. Er sprach langsam, deutlich und wählte die Ausdrücke sorgfältig aus wie ein guter, auf den Unterricht vorbereiteter Schüler, der vom Lehrer abgefragt wird. Nora hörte ihm aufmerksam zu. Er starrte sie an, und ihr Nicken wertete er als Lob und Ermunterung weiterzusprechen. „Am wichtigsten ist es, gute Fragen zu stellen. Er muss wissen, was ich ihn frage. Wenn er es nicht versteht, erschrickt er und zieht sich in sich zurück“, sagte Nora. „Nicht wahr, Sam? Du ziehst dich in dich zurück und schweigst wie ein Grab. Oder du brichst in Tränen aus wie ein Dreikäsehoch.“ „Nora ist ein Dreikäsehoch“, rief er lachend und zeigte auf das Mädchen. „Nora Dreikäsehoch! Nora Dreikäsehoch!“ „Samuel, pass auf!“, drohte sie. „Frag ihn nach der Schule!“ Ich fragte ihn nach seinen Lieblingsfächern in der Schule und nach den Lehrern, nach Fußballvereinen, deren Namen und Trikotfarben er aus dem Fernsehen kannte. „Ich mag Zeichnen, und ich mag Nora“, antwortete er ernsthaft. „Und Mathematik? Ich mochte Mathematik nicht.“ „Ich mag Mathematik auch nicht.“ „Und Sport? Magst Du Sport? Ich mochte Sport.“ „Ich mag auch Sport. Und ich mag Naturkunde.“ „Ich mochte Naturkunde auch sehr gerne.“ Eines Tages saß ich mit Nora und Samuel nach dem Unterricht auf der Treppe aus rohem Beton vor dem Aufenthaltsraum. Wir sahen den anderen Kindern zu, wie sie über den staubigen Schulhof liefen und Fußball spielten. Im Büro klingelte das Telefon. PUBLISHER ICH habe mich nie gehemmt gefühlt, wenn ich Menschen begegnet bin, die töteten oder den Befehl zum Töten gaben. Soldaten, Rebellen, ihren Kommandanten und politischen Führern, die Kriege auslösten, felsenfest davon überzeugt, dass nur so Gerechtigkeit hergestellt werden konnte, dass dies die einzige Rettung war. Selten nahmen sie sich als Kriegsverbrecher wahr. Sie rechtfertigten sich, suchten nach mildernden Umständen, redeten das Böse klein, beschuldigten andere. Die Gespräche mit ihnen waren einfache Duelle in puncto Durchtriebenheit und Sachverstand, Spiele, in denen Hinterlist die Regel war und das Überlisten des Gegners den Sieg bedeutete. Mit den Opfern von Kriegsverbrechen, in der Regel deren einzige Zeugen, war es schwerer sich zu unterhalten. Erzählten sie einem Journalisten von ihrem Unglück, spekulierten sie auf Hilfe, auf eine Änderung ihres Schicksals. Das eigene Elend hielten sie für das größte und ungerechteste, es war das einzig Wertvolle, das ihnen geblieben war. Sie waren sich sicher, dass ihr Leid der Welt nicht gleichgültig war. Als sich aber nichts änderte, wuchs die Verbitterung und verstärkte sich das Gefühl erlittenen Unrechts. Sie wollten nicht erzählen, weil sie die Reste ihres Vermögens, die Erinnerung an das Gesehene und Durchlebte, für sich behalten wollten. Sie wollten nicht erzählen, weil sie sich vor dem Schmerz, der Trauer und den Schuldgefühlen fürchteten. Warum bin ich nicht früher geflüchtet? Warum habe ich die Tür geöffnet? Während die Gespräche mit den Tätern an Verhöre erinnerten, waren die Begegnungen mit ihren Opfern Beichten, die aber weder zur Auferlegung einer Buße noch zur Vergebung der Sünden führten. Sie spendeten weder Trost noch linderten sie den Schmerz. Darüber hinaus musste man so viel wie möglich in Erfahrung bringen, damit die Erzählung möglichst gut, möglichst glaubwürdig war. Man musste unpassende Fragen stellen nach scheinbar sinnlosen Details, Kleinigkeiten und Dingen. Um wie viel Uhr sind die Rebellen ins Dorf gekommen? Schien die Sonne? Was haben Sie gerade gemacht? Lief das Radio? Erinnern Sie sich, um wie viel Uhr die Bombe auf Ihr Haus fiel? Und wie sah der Mörder Ihres Mannes aus? Erinnern Sie sich an sein Gesicht? Wie war er angezogen? Wie viele Male schoss er? Wie war das? Bitte, erzählen Sie doch. Die Schwierigkeit mit Samuel bestand darin, dass er gleichzeitig Opfer und Henker war. Ich wollte ihn in beiden Rollen kennen lernen, verstehen, wie er die eine gegen die andere eingetauscht hatte und dann wieder in die erste, in die Ausgangsrolle geschlüpft war. Ich schob das Gespräch auf, obwohl ich wusste, dass ich es führen musste. Und dass ich genau das wollte. Als ich morgens ins Heim kam, hielt ich auf dem Hof unter den Kindern nach Samuel Ausschau. Ich lächelte und winkte ihm zu, als er sich nach mir umdrehte. Er erwiderte meinen Gruß, kam aber nicht von selbst herüber, ich rief ihn jedoch nicht. Ich setzte mich auf die Bank und wartete auf Nora. Als sie kam, tauchte auch gleich Samuel auf. Manchmal kletterte er wie ein kleines Kind ungeschickt auf ihren Schoß, ohne auf ihre Proteste und peinvollen Beschwerden Rücksicht zu nehmen. „Sam! Was machst du da?! Geh sofort runter von mir“, sagte sie und rieb sich die schmerzenden Schenkel. „Du bist zu schwer, du zerquetschst mich. Und du willst ein Rebell sein?“ Der Junge neckte sie und stieß ihr absichtlich die Ellenbogen in die Beine. Bei Noras Anblick verlegte er gewöhnlich sein Spiel in die Nähe der Bank. Er schielte ununterbrochen in unsere Richtung und hörte dem Gespräch zu, das er nicht verstehen konnte. Obwohl er aussah wie ein Zehnjähriger, war er in Wirklichkeit dreizehn Jahre alt. Er hatte jedoch etwas an sich, vielleicht waren es die ernsten Augen, was ihn manchmal noch älter erscheinen ließ als er war. Er hatte einen großen, kahl geschorenen Kopf, sehnige Hände voller Narben und wunde Füße, die so groß waren wie bei einem Erwachsenen. Er unterschied sich nicht von den anderen Kindern im Heim, und seine Geschichte war keineswegs dramatischer oder ungewöhnlicher als die der anderen. Nora hatte ihn ausgewählt. Oder vielleicht hatte er mir die Wahl abgenommen. Indem er Nora nicht von der Seite wich, wurde er auch zu meinem Begleiter. „Sam, zeig, wie du im Busch die Viper gefangen hast“, sagte Nora, und der Junge spielte uns eine Jagdszene vor. „Kannst du dir das vor- 33 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Tomasz Kamiński DAS HERZ DER NATION AN DER HALTESTELLE WŁODZIMIERZ NOWAK 34 Włodzimi erz Nowak (geb. 1958), bekannte r Reporter , Journali st bei „Gazeta Wyborcza “. In seinem neuen Reportagenband Das Herz der Nation an der Haltestelle richtet Włodzimierz Nowak seine Aufmerksamkeit auf das Polen außerhalb Warschaus, auf das B-Polen, wie er es in der den Band abschließenden Reportage Solidarność flieht mit dem Fahrrad nennt. In der Sammlung geht es um Städte und Dörfer, die durch die Transformation des Systems und der Wirtschaft nach 1989 wenig gewonnen haben oder gar zu den Verlierern gehören. Der Band enthält Reportagen, die in den Jahren 1998-2009 in der „Gazeta Wyborcza“ erschienen sind. Ähnlich wie in seinem vorherigen Buch (Die Nacht von Wildenhagen) versucht Nowak Probleme, die ihn interessieren, anhand von Schicksalen konkreter Menschen aufzuzeigen. Diese Geschichten sind selten grotesk, eher verworren, um nicht zu sagen: dramatisch. Der Reporter widmet jenen Menschen viel Platz, die es nicht geschafft haben, sich in der veränderten Wirklichkeit zurecht zu finden, oder die für den Versuch, sich über Wasser zu halten, einen hohen Preis zahlen mussten; Menschen, die sich durch Armut oder wegen eines Gebrechens am Rande der Gesellschaft wieder fanden. Zum wiederholten Mal schreibt Nowak über Gestrandete, die in den Ruinen der „Zivilisation der LPGs“ stecken geblieben sind, in diesen riesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, wobei sie in bitterer Armut leben, von einer Gelegenheitsarbeit zur nächsten, ohne Hoffnung auf eine Verbesserung ihres Schicksals. Er erzählt von Bergarbeiterfamilien, für die die Schließung der Grube nicht nur Existenzprobleme bedeutet, sondern auch das zurück zum Inhaltsverzeichnis Ende der traditionellen schlesischen Familie. Oder von einem jungen Mann, der – weil er seine Arbeit in einem Konditoreibetrieb nicht verlieren wollte – bereit war, nahezu Sklavenarbeit zu leisten und dann bei einem Unfall umkam. Der Autor zeigt auch Menschen, die bereit sind, ihre Gesundheit und ihr Leben zu riskieren, um sich ein einigermaßen angenehmes Leben zu sichern; wie die Händler illegaler Steroiden („Koks“) aus der Reportage Meister der Hocke und Grätsche oder auch die ‚Spezialisten’, die Autos zusammenkrachen lassen, d.h. Unfälle arrangieren, um von Versicherungen Geld zu erschleichen (Ganz Polen lässt es krachen). In Nowaks Texten – wie üblich bei investigativen Reportagen – herrscht meistens eine düstere Atmosphäre, die Farben sind eher dunkel. Als Kontrapunkt bringt der Autor jedoch eine Reportage voller Wärme und Hoffnung in die Sammlung ein. Sie erzählt die Geschichte einer körperbehinderten Frau, die bereit war, viel Leid und manche Entbehrung auf sich zu nehmen, um ihr Gebrechen so weit ‚zu zähmen’, dass sie eine glückliche Familie gründen konnte. Zudem opfert sie ihre Freizeit dafür, anderen Behinderten zu helfen und rettet ihnen dadurch so manches Mal das Leben (Das Leben ist vertikal). Robert Ostaszewski POLISH RIGHTS WŁODZIMIERZ NOWAK TRANSLATION RIGHTS 978-83-7536-131-5 ISBN Aus dem Polnischen von Joanna Manc 125 × 195, PAPERBACK Großmutter Aniela erinnert sich an ihren Mann: „Frydek war ein guter, doch damals herrschte mehr der Mann. Die Frau hatte Arbeit daheim, die vielen Kinder. Und wenn der Mann einen trinken war, dann schlug er manchmal zu.“ „Und zu meinen Zeiten sagte man schon“, wirft die Krawczykowa ein, „dass der Mann zwar der Kopf der Familie sei, doch die Frau der Hals, der den Kopf bewegt. Der Ehemann legte seinen Lohn und den Lohnstreifen auf den Tisch und der Rest ging ihn nichts an. Die Hausfrau musste zusehen, dass es reichte. Wenn der Mann im Bergwerk war, dann wagte sie sich nicht aus dem Haus. ‚Der Mann in der Grube, die Alte zu Haus’, sagte man. Daheim gab’s viel Arbeit. Man musste es zu etwas bringen. Als die Zwillinge zwei Jahre alt waren, habe ich eine Waschmaschine gekauft. Die wusch sechzig Windeln auf einmal. Manchmal kamen die Frauen zusammen, zum Federrupfen – es war lustig. Ein anderes Leben hatte man nicht. CONTACT DER MANN IN DER GRUBE, DIE ALTE ZU HAUS CZARNE, WOŁOWIEC 2009 Am 11. September machte sich Joanna wieder Sorgen um ihren Mann. Er war mit den Kumpeln von „Bolesław“ zu einer Demonstration in die Hauptstadt gefahren – dreißig Busse. „Im Radio sagten sie, die Bergleute würden sich mit der Polizei Kämpfe liefern. Sie würden Warschau demolieren und Feuer legen. Ich habe Mutter eine Beruhigungstablette gegeben. Später erzählte mir mein Mann, dass jedes Bergwerk für sich marschierte. Sie hatten weder Stöcke noch Flaschen dabei. Plötzlich sprangen irgendwelche Leute mit Stöcken und diesen Cocktails in die Gruppe rein. Keiner weiß woher, denn um sie herum waren nur die Kumpel von ‚Bolesław Śmiały’“. Einige Tage später machten sich die Frauen von „Bolesław“ auf den Weg zur Präsidentengattin Kwaśniewska. Um ein wenig die Wogen zu glätten. Das Treffen organisierte die Planistin Barbara Kisielewicz. Sie schickte ein Fax zum Schloss des Präsidenten. In der Konditorei von Szary, zwei Häuser von der Krawczykowa und den Migułas entfernt, bestellten sie Kolatschen (Hefekuchen mit Streuseln, gefüllt mit Quark, Mohn oder Äpfeln). Sie packten die Statue der Heiligen Barbara aus Kohle ein und nahmen zwei Tage Urlaub. Die Kisielewicz paukte schon ab Łaziska die Ansprache an die Kwaśniewska. „Wir, die Mütter, Ehefrauen und Töchter der Bergleute möchten unsere Trauer und unser Bedauern darüber ausdrücken, dass es zu solch’ drastischen Ausschreitungen gekommen ist, doch wir lassen auch nicht zu, dass man aus unseren Männern Banditen macht.“ Bei der Kwaśniewska musste man keine Ansprache halten. „Kommt rein Frauen“, lud sie ins Schloss ein. (Die Jungs vom BOR schauten in die Kolatschen rein.) Sie bat Minister Piechota zu sich. Also erklärten sie lang und breit dem Minister, dass „Bolesław“ bereits durch ein spezielles Förderband mit einem Kraftwerk verbunden und ein Betrieb zur Kohleanreicherung sei. Angeblich das einzige dieser Art in Europa. Alles für hunderte Millionen Zloty, die Prämien der Bergleute seien dafür draufgegangen. Doch plötzlich habe es sich jemand anders überlegt: nicht verbinden, sondern auflösen. Wenn „Bolesław“ geschlossen werde, dann werde es in Łaziska neunzig Prozent Arbeitslosigkeit geben. Sie ließen die Kolatschen da, gingen von der Kwaśniewska direkt zum Glemp und vereinbarten einen Empfangstermin. Dann fuhren sie zum Papst. Überall zündeten sie Kerzen an und beteten für die bedrohten Bergwerke. Professor Marek Szczepański von der Schlesischen Universität sagt ein wenig scherzhaft, es seien die Frauen der Bergleute gewesen, die die letzten Streiks ausgelöst haben: „Sie mussten nur sagen: ‚Wenn du entlassen wirst, dann nehme ich die Kinder und gehe wieder zu meiner Mutter.’ Heute ist die Frau eines Bergmanns der Manager und Finanzminister in der Familie. Sie sieht, dass die Einkünfte der Familie zurückgehen, dass es keine Bergarbeiter-Boni mehr gibt, dass der Firma ‚Bergarbeiterfamilie’ die Pleite droht. Also setzt sie einerseits wie üblich ihren Mann unter Druck: ‚Was bringst mir da für einen Hungerlohn?’, doch andererseits weiß sie als Manager, dass ihr Bergarbeiter ungebildet ist und außer Kohle zu fördern nicht viel kann und auch nirgendwohin gehen könnte. Von hundert Bergarbeitern haben sechzehn eine Grundausbildung plus Weiterbildungskurse, eine höhere Ausbildung haben nur vier. Daher übernimmt die Frau die Initiative. Ich bin selbst mit einer Bergarbeiterfamilie befreundet; er arbeitet unter Tage, sie bewegt sich in der Grauzone und putzt bei Ausländern. Statistisch gesehen hat die Frau eines Bergarbeiters eine bessere Ausbildung als ihr Mann. Sie will jetzt höher hinaus, will verdienen, sich bilden. Eine deutliche Veränderung konnte man 1989 beobachten. Immer mehr Frauen wurden berufstätig. Davor arbeiteten von hundert Bergarbeiterfrauen nur neunundzwanzig, danach waren es einundfünfzig. Selbst die ärmsten Bergarbeiterfamilien lassen ihre Kinder jetzt ausbilden. Laut Untersuchungen sorgen fünfundsiebzig von hundert Bergarbeitern, die Töchter haben, für die Ausbildung der Mädchen. Das ist ein paar Prozent mehr, als bei denjenigen, die für eine Ausbildung der Söhne sorgen. Ich sehe hier den Einfluss der vorsorgenden Ehefrauen, sie denken dabei an die Mitgift: das Diplom als Mitgift“. Und weiter sagt Professor Szczepański: „Häufig legten wir den Reformern nahe, bei der Restrukturierung des Bergbaus die Frauen der Bergarbeiter zu berücksichtigen, diese Hausmanager, die bei dem Schicksal ihrer Grube die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Denn die Grube ist wie eine Kirche, sie ist das Zentrum festgelegter Werte, sie ist Lebensweise und Lebensstil. Es waren doch die Frauen, die zum Haus von Premier Hausner gegangen sind und zu den Bürogebäuden der Kohlegesellschaft, und sie fuhren zu der Kwaśniewska. Manche sagen boshaft, die Weiber würden nur für sich selbst kämpfen, weil ein unter Tage-Bergmann immer eine Arbeit fände und am meisten die Stellen „oben“ bedroht seien. Dort arbeiten jetzt Frauen. Früher herrschten oben die Männer“. „Es gab nur ein paar Frauen in der Rechnungsabteilung, vorwiegend ledige, weil die verheirateten mit den Kindern zu Hause hockten“, erinnert sich Leokadia „Lala“ Supryn, die Chefin der Liga Polnischer Frauen bei „Bolesław“. „Sie begannen irgendwann Frauen einzustellen, weil sie die Vetternwirtschaft nicht in den Griff bekamen. Da trank einer, kam nicht zur Arbeit, und dann ging er mit ´ner Flasche zum Kollegen im Büro, damit der das als Urlaub rein schreibt.“ „Verdammte Weiber, tun nix, nur Kaffe trinken se“, fluchten die Männer unten, als die Frauen oben die Herrschaft übernahmen. PUBLISHER DIE HEILIGE BARBARA, KOLATSCHEN UND AB NACH WARSCHAU 35 zurück zum Inhaltsverzeichnis OB DER HERRGOTT WOHL GLÜCKLICH IST UND ANDERE FRAGEN Leszek Kołakowski (1927-2009), berühmter polnischer Philosoph, Schriftsteller, LESZEK KOŁAKOWSKI Großintellektueller, Autor mehrerer Dutzend Bücher, die in zahlreiche Sprachen 36 übersetzt wurden. Kann Gott glücklich sein, und was ist das überhaupt: Glück? Sind die Menschen von Natur aus gut? Wozu brauchen wir Menschenrechte? Hat der Begriff „Wahrheit” – „die Wahrheit” – noch eine Zukunft? In seinen Texten aus den letzten Jahren hat sich Prof. Leszek Kołakowski bemüht, auf diese und ähnliche Fragen eine Antwort zu finden. Zbigniew Mentzel hat diese Texte in einem Sammelband zusammengestellt. Das Buch erschien erst nach dem Tod Kołakowkis, doch gab dieser noch sein Einverständnis zur Textauswahl, und auch der Titel stammt von ihm. Der Band umfasst 36 längere und kürzere Essays – Stationen einer faszinierenden Reise durch die Geschichte der menschlichen Gedanken über die grundlegenden Dingen des Lebens. Was Kołakowski in den letzten Jahren besonders interessierte, war die Situation des menschlichen Geistes in der heutigen Zeit, eines Geistes, der durch verschiedenste geschichtliche Erfahrungen gegangen ist und auf verschiedenste Arten versucht hat, diese Erfahrungen zu verarbeiten, um sich in einer Situation wiederzufinden, in der er aufgehört hat, sich selbst zu verstehen. Hin- und hergerissen zwischen Glaube und Zweifel, zwischen der Sehnsucht nach unumstößlichen Tatsachen und der Gewöhnung an Verirrungen kehrt dieser Geist heute zu den Fragen zurück, die er sich seit Jahrhunderten gestellt hat. Besonders fasziniert zeigt sich Kołakowski dabei von der Rückkehr zu Fragen aus dem Bereich des Glaubens. Der Anstrengung zahlreicher Denker zum Trotz konnte die Gottesfrage bis heute nicht „gelöst” werden – nach wie vor ist sie intelektuelle Herausforderung und Gegenstand heißer Auseinandersetzungen. PUBLISHER ISBN zurück zum Inhaltsverzeichnis ZNAK, CRACOW 2009 978-83-240-1258-9 ”Ich könnte mich natürlich brüsten”, schreibt Kołakowski in seiner Einleitung, „dass dies ein Buch über alles sei: über Glauben und Unglauben, Glück und Unglück, das Gute und das Böse, über Gott und den Satan, Verstand und Unverstand, über die Unruhe der heutigen Zeit, über die Wahrheit und viele andere Dinge.” Der Autor ist sich jedoch bewusst, dass jedes der aufgeworfenen Themen vor allem eine Reise bis tief zurück in die Traditionen und ein Herantasten an verschiedene Positionen darstellt. Und so teilt er dem Leser mit einem Augenzwinkern mit: „Es will mir einfach nicht gelingen, die wichtigsten Fragen ihrer endgültigen Lösung zuzuführen, und ständig stellen sich mir Schwierigkeiten in den Weg, denen ich dann mit der ungeschicken Ausflucht ››einerseits..., andererseits jedoch...‹‹ auszuweichen gezwungen bin. Vielleicht ist das eine Schwäche oder eher ein Gebrechen, das dem Verstand des Autoren zugrundeliegt, vielleicht aber auch – und wieder schmeichle ich mir selbst – ein Gebrechen des menschlichen Daseins allgemein.” Wojciech Bonowicz 144 × 205, 308 PAGES, HARDCOVER TRANSLATION RIGHTS MOHRBOOKS AG LITERARY AGENCY POLEN AUSGETAUSCHT turkritiker und Literaturprofessor. Leitet die Forsc hungsstelle für Literaturkritik an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen. Wie sehen in einer Zeit, in der die großen Narrationen in der Krise stecken, die Erzählungen über die Gesellschaft aus? Kann das, was einst zusammenschweißte, in einer postmodernen Wirklichkeit helfen, neue Bindungen zu schaffen? Wo hat die Freiheit des Individuums und die der Gemeinschaft ihre Grenzen? Auf diese grundlegenden Fragen versucht Przemysław Czapliński in seinem neuesten Buch Polen ausgetauscht. Die Spätmoderne und unsere großen Narrationen eine Antwort zu geben. Czapliński beschäftigt sich mit der polnischen Literatur der Jahre 1986-2008, und zwar nicht nur aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers, sondern vor allem aus der Perspektive eines scharfsinnigen Soziologen, der wie besessen gesellschaftlichen Prozesse nachspürt und dann ihre Widerspiegelung in literarischen Texten sucht. Seiner Ansicht nach wurden in der polnischen Literatur der letzten zwanzig Jahre vor allem drei klassische Ideen der Moderne – Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit – erkundet, auf die das Buch Polen ausgetauscht folgerichtig auch aufgebaut ist. Jedes Kapitel wurde einem dieser drei Begriffe gewidmet. Czaplińskis essayistische Ausführungen enthalten nicht nur Analysen literarischer Texte, sondern geben auch ein Bild vom heutigen Bewusstsein der Polen. Czapliński stellt mutige Thesen auf, die den Leser verunsichern. In einer wissenschaftlichen, aber dennoch gut verständlichen Sprache stellt er unangenehme Wahrheiten dar, hält den Polen den Spiegel vor, deckt stereotypes Denken auf und zeigt, wie dieses in den bekanntesten polnischen Romanen der letzten zwanzig Jahre funktioniert. Eingehend analysiert werden u. a. Picknick am PUBLISHER ISBN W.A.B., WARSAW 2009 978-83-7414-508-4 Ende der Nacht von Piotr Siemion, Schneeweiß und Russenrot von Dorota Masłowska sowie Lubiewo von Michał Witkowski. Auch wenn es scheinen mag, dass es über diese Texte nichts Neues mehr zu sagen gibt, so gelingt es Czapliński doch, uns zu überraschen, indem er diese Romane aus einer völlig anderen literaturkritischen Perspektive betrachtet. Polen ausgetauscht ist kein Literaturführer durch die letzten zwanzig Jahre. Die Romane dienen hier nur als Vorwand. Czapliński beschert uns eine faszinierende Erzählung über die Geschichte, Politik und Verfassung der polnischen Gesellschaft. Es ist eine Erzählung über die Polen von heute, die versuchen, sich in einer sich zu schnell verändernden Wirklichkeit zurechtzufinden. Magdalena Wołowicz www.gpunkt.pl 123 × 195, 384 PAGES, HARDCOVER TRANSLATION RIGHTS W.A.B. PRZEMYSŁAW CZAPLIŃSKI Przemysław Czapliński (geb. 1962), einer der einflu ssreichsten polnischen Litera- 37 zurück zum Inhaltsverzeichnis SCHWERKRAFTBEDINGTE MISSHELLIGKEITEN TOMASZ LEM 38 Tomasz Lem (geb. 1968), Sohn des berühmten polnischen Science-Fiction-Autors Stanisław Lem. Studierte Physik u.a. an der Universität Princeton, von Beruf Übersetzer. Tomasz Lem ist der spät geborene Sohn von Stanisław Lem, er hat also keine Erinnerungen an den Vater als jungen Mann. In Schwerkraftbedingte Misshelligkeiten porträtiert er den berühmten Vater. Das Buch, das nach dessen Tod entstand, erhebt nicht den Anspruch, mit den Monographien über Lems Werk zu konkurrieren. Tomasz Lem widmet Lems Schaffen nur wenig Raum, er konzentriert sich vielmehr darauf, den schillernden Charakter des Vaters mit seinen zahlreichen Eigenarten und Marotten zu zeichnen. Er beginnt mit Familienerzählungen und Anekdoten, da er selbst die Zeit des Krieges und des Stalinismus nicht miterlebt hat, und zitiert auch aus Briefen und Interviews Lems eigene Erinnerungen und die seiner Freunde. Zum Vorschein kommt die Geschichte des Menschen Lem: die Geschichte seiner Kriegsabenteuer, die in wenigen Worten erzählt werden, seiner Wohnungen und Häuser, seiner Auslandsreisen und längeren Aufenthalte in WestBerlin und Wien, seiner Freundschaften und intellektuellen Beziehungen sowie seiner persönlichen Leidenschaften und Schwächen, insbesondere seiner verhängnisvollen Vorliebe für Süßigkeiten. Begleitet wird Lem von seiner Frau Barbara, die stets in seinem Schatten steht, aber als Partnerin und Betreuerin in all den Jahren ihrer Ehe eine außerordentlich wichtige Person ist. Es handelt sich hierbei, was aus einer breiteren als der familiären Perspektive noch interessanter ist, um das Porträt einer außergewöhnlichen Persönlichkeit in den Jahren totalitärer Herrschaft, des Kalten Krieges, der Zensur sowie der allge- zurück zum Inhaltsverzeichnis meinen Mangelwirtschaft im sozialistischen Lager. Der Kampf des widerspenstigen Lem mit diesen Unannehmlichkeiten, seine Proteste, seine Ohnmacht und seine Apathie dienen zum einen als Vorwand, um die düstere Realität des Kommunismus darzustellen, und sind zum anderen Gegenstand unzähliger grotesker Anekdoten. Zum Ende des Buches hin beginnt der erwachsen werdende Sohn Tomasz in diesen Anekdoten eine immer größere Rolle zu spielen. Lem ist ein dominanter, häufig despotischer Vater, seine Neigung zur Dominanz verbindet er aber mit einer wahrhaft kindlichen Liebe zu Spielen und Spielzeug, was eine besondere Vertrautheit zwischen Vater und Sohn schafft. Lem junior schlägt jedoch einen anderen Lebensweg ein und wird nicht, wie vom Vater erhofft, Physiker. Aus dieser Erzählung erfahren wir zwar nicht, warum Lem ein Geistesgröße war, aber wir lernen ihn in Alltagssituationen und vor dem Hintergrund seiner Zeit kennen, was das Buch für alle Lem-Liebhaber zu einer überaus interessanten Lektüre macht. Jerzy Jarzębski WYDAWNICTWO LITERACKIE CONTACT TOMASZ LEM TRANSLATION RIGHTS 978-83-08-04379-0 Ich kenne kein anderes Land, in dem der Mensch atmet so frei ISBN 1 WYDAWNICTWO LITERACKIE, CRACOW 2009 Aus dem Polnischen von Andreas Volk 145 × 207, 262 PAGES, HARDCOVER Vater trug das Stück mit großem Engagement vor, gelegentlich von Lachen unterbrochen. Im Lied von den Ulanen Wenn er mich liebgewänne // Wehren würde ich mich nicht // Auf dass er mich mitnehme, fort von hier sang er die Partie des Mädchens, ohne das Rasieren zu unterbrechen, im Diskant. Zu seinen morgendlichen Standards gehörte auch eine Komposition über das Fräulein Franciszka, das sich zusammen mit dem von den Eltern abgewiesenen Heiratskandidaten umbringt und dazu mit Strychnin versetzte Wurst benutzt, was naheliegt, da der Vater des Fräuleins Fleischer ist. Die französischen und englischen Lieder schienen direkt aus dem Kanon des Jazz zu stammen. Lange Zeit war ich überzeugt, dass es Jazz-Standards aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren waren, die aus unbekannten Gründen nicht im Radio gespielt wurden. Indessen war zumindest eines dieser Stücke wahrscheinlich eine eigene Vertonung von Robert Burns Fond Kiss (...) Nach Abschluss der Morgentoilette und des Konzerts spielten wir manchmal mit einer künstlichen Fliege, in der ein Metallplättchen versteckt war. Man legte sie auf ein Blatt Papier und belebte sie mit einem Magnet. Man konnte auch Eisenspäne auf das Blatt streuen und beobachten, wie sie „aufstanden“, wenn man unter das Papier einen Magnet hielt, oder die Magnetfeldlinien betrachten, die von einem Stabmagnet hervorgerufen wurden. Fast täglich überprüften wir mit einem Kompass, ob Norden dort war, wo es am Tag zuvor gewesen war, und verifizierten anschließend das Ergebnis mit Hilfe eines anderen Kompasses. Das grüne Tuch auf dem Schreibtisch eignete sich, waren alle Typoskripte und Bücher weggeräumt, hervorragend zum Flohhüpfen, was aber nicht einfach eine Spielerei war, sondern eine taktisch komplizierte kriegerische Auseinandersetzung, die eine einfallsreiche Strategie erforderte. PUBLISHER ALS Kind wurde ich von meinem Vater mit Spielzeug überhäuft. Was nicht weiter verwunderlich gewesen wäre, hätte mein Vater nicht schon Jahre vor meiner Geburt angefangen Spielsachen zu kaufen. Während eines Russlandaufenthaltes in den Sechzigerjahren kaufte er zum Beispiel ein Modellflugzeug und setzte es im Hotelzimmer zusammen. Weil er es aber, aufgrund der beachtlichen Maße, nicht mitnehmen konnte, schenkte er es kurzerhand einem Schriftstellerkollegen, mit dem er das Zimmer teilte und der noch etwas länger in Moskau blieb. Als ich größer wurde, beklagte er sich, dass sein Sohn nicht mit dem von ihm gekauften Spielzeug spiele. Von da an kaufte er nicht mehr so viel, sah er aber ein besonders schönes Modell, ein Schiff oder eine Dampflokomotive, konnte er einfach nicht widerstehen. Meine Besuche bei meinem Vater begannen mit der immergleichen Frage: „Papa, hast du Zeit?“ Meistens hatte er Zeit für mich. Wir beschäftigten uns mit Geophysik (Vater zeichnete Vulkane), schauten uns Anatomieatlanten oder Sternkarten an und sprachen viel über die Planeten, deren Namen ich schon auswendig kannte, bevor ich zur Schule ging. Vater ließ meine Vermutung, dass die Saturnringe sich immer langsamer drehen, unkommentiert, obwohl es ihn einiges an Selbstbeherrschung gekostet haben musste, angesichts einer derart schändlichen Missachtung der grundlegenden Gesetze der Mechanik zu schweigen. Eigens für mich projektierte er ein Fahrzeug, das von Hunden und Katzen (statt von einem Motor) angetrieben wurde. Dessen weiterentwickeltes Modell hatte einen zusätzlichen Hund und eine Rückwärtsgangkatze. Beide Fahrzeuge blieben natürlich „Reißbrettentwürfe“; das Maß aller väterlichen Hingabe hingegen war das von ihm entwickelte, mit einer kleinen Kurbel angetriebene Modell einer Seilbahn, die eine Zeitlang zwischen dem Nachttisch und dem Bücherregal hin- und hergondelte, diagonal durch das Arbeitszimmer, fast unmittelbar über den Schreibtisch. Die Zuteilung von süßen Rationen – genauer gesagt von Marzipanbrot – wurde von einem besonderen Ritual begleitet. Vater öffnete den Schrank, nahm ein Taschenmesser heraus, rieb die Klinge an einem Taschentuch ab, wickelte dann still und konzentriert ein Stück Marzipan aus dem Papier und schnitt zwei Portionen ab – eine für mich und eine für sich. Nach einer kurzen behaglichen Stille, in der Vater seinen Gedanken nachhing, fegte er mit einer schwungvollen Bewegung die Krümel in die Ritze unter der Klappe – mit der Zeit häufte sich dort einiges an. Diese Marzipanfestessen fanden in einer konspirativen Atmosphäre statt, da uns beiden klar war – obwohl darüber nie gesprochen wurde –, dass Mutter von der Art, wie wir uns der Krümel entledigten, nicht begeistert gewesen wäre, und auch die Art, das Taschenmesser zu reinigen, nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen wäre. (…) Als Knirps sah ich Vater oft bei der Morgentoilette in seinem Zimmer zu. Das Rasieren mit einer elektrischen Remington, bei dem sich der Duft des Eau de Toilette Old Spice Pre-Electric im Raum ausbreitete, wurde von verschiedenen Musikstücken begleitet. Er selbst sang nicht nur häufig, sondern hörte auch gerne – ungeachtet seiner wiederholten Beteuerung, er sei „stocktaub“ – klassische Musik, insbesondere die Sinfonien Beethovens, Jazz, vor allem das Duett Louis Armstrong und Ella Fitzgerald, das Kabarett Starszych Panów (das Lied Ich verfluche dich) sowie einige Songs der Beatles aus dem Film Yellow Submarine. Zu seinem Repertoire, das er nach dem Rasieren sang, gehörten ukrainische Volkslieder: vom Mädchen, das den Geliebten bespuckt, weil er sie nicht so anschaut, wie es sich gehört, vom Liebsten, den die Cholera als Einzigen im Dorf verschont, oder von einem anderen Mädchen, das den Geliebten ausgräbt, um ihn vor der Wiederbestattung einer gründlichen Reinigung zu unterziehen. Die Melodie, die die Waschung des Toten beschreibt, war ungewöhnlich leichtfüßig und fröhlich. Das sowjetische Ja takoi drugoi strany nie snaju, gde tak wolno dyschit tschelowek1, ergänzte das Lemberger Liedgut, das mit sanftem Bariton und Lemberger Akzent gesungen wurde (...) Hoch im Kurs stand die Bettelballade von Makary (Es war ein Kerl namens Makary // Gefräßig man glaubt es kaum), der der armen Witwe und dem Kind nicht helfen will, sich überfrisst und platzt. 39 zurück zum Inhaltsverzeichnis Photo: Mirosław Kasprzyk / Ambermedia DIE ANDEREN BILDER MARIA POPRZĘCKA 40 Maria Poprzęcka (geb. 1942), Kunsthistorikerin und Autorin zahlreicher populärwissenschaftlicher Abhandlungen. Für Andere Bilder erhielt sie in diesem Jahr den renommierten Literaturpreis der Stadt Gdynia. „Mich interessiert das Unscharfe, das Unklare, das Ungewisse”, signalisiert Maria Poprzęcka in ihrem Vorwort. Das nebelverhangene Bild, das Spiegelbild im Fensterglas, das in der grellen Sonne verschwimmende wie auch das ins Dunkel gehüllte Bild. Oder das einzig „mit den Augen der Seele” – durch Künstler wie Betrachter – geschaute Bild. Einen Betrachter, dem die Verfasserin Der anderen Bilder mit Marcel Duchamp den Status eines Mitschöpfers zuspricht. Die anderen Bilder verknüpfen die Geschichte sich wandelnder Konventionen mit der Rezeptionsgeschichte. Die Autorin hält sich jedoch an keine chronologische Ordnung und hat nicht den Anspruch, jede Umbruchserscheinung nachzuzeichnen oder zu systematisieren. Sie verfolgt das Ziel, Kunst- und Philosophiegeschichte um das Problem der „Weltwahrnehmung” und des Entzifferns der Bedeutungen des Offenbaren wie des Verborgenen zu fokussieren. Des Verdeckten, vom Licht oder durch den Blickwinkel Deformierten. Blickwinkel im doppelten Sinne, wörtlich und symbolisch verstanden, denn Poprzęcka koppelt Auge und Vernunft. Daher wirft sie auch einen Blick auf die theoretischen Arbeiten der Künstler wie ihrer Interpreten, der Erzähler und Dichter (die ihrer Ansicht nach die besten Rezipienten sind). In ihrer Arbeit ist also von Kunsttraktaten und Ekphrasis die Rede. Ebenbürtige Themen der Essays sind Künstler (u.a. Odilon Redon, Francis Bacon, William Turner, Andrzej Bielawski, Leon Tarasewicz und der bereits erwähnte Marcel Duchamp als Schöpfer des „Großen Glases”), Maltechniken, Strömungen der Kunst (insbesondere Impressionismus zurück zum Inhaltsverzeichnis und Symbolismus) und der Philosophie, auch die allerneuesten. All diese Elemente werden vermengt, doch der Übergang vom Einen zum Andern bereitet dem Leser keine Probleme. Denn die Essays zeichnen sich, obwohl große Bildung dahintersteht, durch einen ungewöhnlich klaren Stil aus. Poprzęcka warnt, das sei kein weiteres Buch, das vorgibt, „wie man Kunstwerke sehen soll”, doch es könne dabei helfen, ihren Reichtum und die damit einhergehende konzeptuelle Arbeit wahrzunehmen. Die größten Vorzüge Der anderen Bilder scheinen in der Präsentation des Wesentlichen aus der „Geschichte des Auges” und der Verbindung von Synthese und eigenständiger Analyse der beschriebenen Phänomene zu liegen. Marta Mizuro SŁOWO/OBRAZ TERYTORIA CONTACT MARIA POPRZĘCKA TRANSLATION RIGHTS 978-83-7453-808-4 ISBN Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier 162 × 215, 248 PAGES, HARDCOVER Francis Bacon steht mit seiner Vorliebe für Bilder hinter Glas eher alleine. Die meisten Betrachter scheinen die Gefühle Tadeusz Różewiczs, des Verfassers des angeführten Gedichtfragments, zu teilen, wenn auch nicht alle so kategorisch reagieren und doch bisweilen wieder den Louvre oder andere Museen besuchen, auch in dem Wissen, dass sie dort auf Bilder hinter Glas stoßen können. Jenes Glas, auch wenn es als Überbleibsel alter Ausstellungstechniken allmählich weicht, ist manchmal eine konservatorische Notwendigkeit oder ein Schutz vor den irrsinnigsten Gefahren seitens des Publikums. Daher das Panzerglas vor den berühmtesten Bildern der Welt. Als notwendiges Übel betrachtet scheint es unmerklich zu sein. Und doch erscheint das Glas – worauf schließlich das zitierte Gedichtfragment hindeutet – auf der Bildoberfläche nicht nur als ein ärgerliches Hindernis bei dessen Betrachtung. Glas ist durchsichtig. Wenn es aber einer intransparenten Oberfläche aufliegt, wird es reflektierend. Das Bild – die Leinwand, das Holz, der Karton, das Papier – fungiert als Beschichtung, dank der sich das damit unterlegte Glas in einen Spiegel verwandelt. Wenn wir vor einem Bild hinter Glas stehen, sehen wir darin das Spiegelbild all dessen, was sich davor befindet: die gegenüberliegende Umgebung, andere Bilder, Betrachter, schließlich uns selbst. Dazu kommen Lichtreflexe, gleißende Blitzlichter, das Schimmern der Oberfläche. Ein besseres Beispiel für kognitive Dissonanz lässt sich kaum finden. Das zu Betrachtende wird beeinträchtigt durch das Nicht zu Betrachtende. In einer solchen Situation sind wir für gewöhnlich bemüht, all das auszublenden, was in den Bildraum eindringt, wir wollen all das ignorieren, ausklammern, was nicht zum Werk gehört, sondern ihm aufgezwungen wird oder wir ihm vielmehr selbst aufzwingen, indem wir uns davor stellen und uns im Glas spiegeln. Wir strengen uns an, dem Bild seine makellose Gestalt wiederzugeben wie ein Restaurator, der eine Leinwand von den darüberliegenden Übermalungen und Firnissen reinigt, um zur ersten, authentischen Schicht des Werks vorzudringen. Diese Anstrengung ergibt sich aus der für unseren Umgang mit Kunst grundlegenden Ansicht, ein Bild sei ein autonomes Sein und seine richtige Rezeption solle kontemplativen Charakter haben. Also gilt es alles, was diese Autonomie zerstört und der Kontemplation zuwiderläuft, aus der Perzeption zu eliminieren. Das Bild hinter Glas ist eine besondere Herausforderung an die berufliche Fertigkeit und rezeptive Selbstbeherrschung, die Fähigkeit des Extrahierens der eigentlichen Botschaft aus dem visuellen Informationsrauschen. Auf der anderen Seite kann man bemerken, dass alles, was auf der Oberfläche des verglasten Bildes erscheint, visuell sehr anziehend sein kann. Das Bild ist reglos. (“Gioconda lag bewegungslos im gläsernen sarg”), dafür regt sich das aufliegende Spiegelbild (Die Japaner „waren sehr flink”). Es regt sich, also lebt es, während das hinter Glas beigesetzte Bild tot ist. Es ist unveränderlich, während das über seine Oberfläche dahinziehende Leben unablässiger Veränderung unterliegt. Über die erstarrte, substantielle Malereigrundie- WYDAWNICTWO SŁOWO/OBRAZ TERYTORIA, GDAŃSK 2008 Tadeusz Różewicz, Francis Bacon oder Diego Valezquez im Zahnarztstuhl (Fragment) Aus dem Polnischen von Karl Dedecius rung wandern fließende, immaterielle, beiläufige und unerwartete Formen des Lichts. Das Bild unterliegt, obwohl es subkutan unberührbar ist, unendlichen Metamorphosen, wird fast schon zum Bildschirm, der passiv die auf ihn projizierten Ansichten aufnimmt. Mehr noch, die Form des Spiegelbilds hängt in großem Maße von uns selbst ab, da es mit jeder Bewegung von uns changiert. Paradoxerweise wechseln wir beim Versuch, jene unerwünschten Einflüsse zu entfernen, die Position, wodurch das Bild noch dynamischer und fesselnder wird. Und wenn wir endlich das Spiegelbild beseitigt haben, dann haben wir auch das Bild selbst aus den Augen verloren, zumindest in seiner durch große Nähe unverstellten Form. Wir selbst entscheiden nämlich über die Existenz oder Nichtexistenz des Spiegelbilds. Es verschwindet letztlich, wenn wir den Reflexionsradius verlassen (normalerweise suchen wir genau so einen Platz). Die Sache verhält sich wieder wie bei einem Spiegel, wo die Metallbeschichtung von Dauer ist, die auf der Glasoberfläche entstehenden Bilder jedoch flüchtig, abhängig von unserer Gegenwart und unserem Blick. Die Lichtreflexe, die das Betrachten des Bildes hinter Glas am stärksten beeinträchtigen, bilden andererseits ein den Blick in seinen Bann ziehendes, lebhaft changierendes Spiel der Blitzlichter und des Schimmerns. Sie zerstören das Bild, doch sie locken das Auge. Und was das Wichtigste ist – wir betrachten dort die „interessanteste Oberfläche der Welt”: unser Gesicht. […] Wenn wir vor einem Schaufenster stehen, in dem sich die Straße, die Passanten und wir selbst spiegeln, pressen wir, um das unerwünschte Bild abzuschütteln, die Nase fast schon auf die Scheibe, schützen uns mit den Händen vor dem Licht, das das ungewollte Spiegelbild entstehen lässt. In Galerien, wo ein solches Verhalten unzulässig ist, bleibt nur, einen Blickpunkt zu suchen, von dem aus das Spiegelbild relativ gesehen am schwächsten und das, was sich hinter dem Glas befindet, am besten zu sehen ist. Manchmal, bei der richtigen Beleuchtung, kann der Betrachter – ohne sich von der Stelle zu rühren – nach Belieben das eigene Spiegelbild oder das Bild selbst anschauen. Doch was tun wir eigentlich, wenn wir uns entscheiden, etwas um den Preis der Beseitigung von Anderem zu betrachten? fragt Jonathan Miller, der Kurator einer der Spiegelbildthematik gewidmeten Ausstellung in der Londoner National Gallery, die das Phänomen gerade am Beispiel des Ladenschaufensters ins Bild setzt. Wie vollzieht sich eine derartige Entscheidung? Diese Frage ähnelt einem Problem, das in der experimentellen Psychologie als „Cocktailparty-Problem” bezeichnet wird. In einem überfüllten Zimmer voll redender Gäste bemühen wir uns, jemandem zuzuhören, der unmittelbar zu uns spricht. Plötzlich hören wir von anderswo ein Fragment einer interessanteren Konversation. Dann können wir uns entweder ausklinken und das ferne Gespräch herausfischen oder andersherum uns von den heranströmenden Stimmen absondern und unsere Aufmerksamkeit auf den nahen Gesprächspartner konzentrieren. Aber man kann nicht zwei Dinge auf einmal tun. Die akustische Alternation ist analog zur optischen. In beiden Fällen sieht die Psychologie darin die Folge des Agierens von Willen und Intellekt, nicht einer Körperbewegung. Wenn wir uns anstrengen, können wir das ferne Gespräch hören, sogar ohne den Kopf in dessen Richtung zu wenden. Und genauso kann man, ohne den Kopf zu bewegen, entscheiden, ob wir die Auslage des Ladenschaufensters betrachten oder den Straßenverkehr. PUBLISHER Bacon erzählte er habe gern seine bilder verglast betrachtet sogar Rembrandt mag er hinter glas und ihn stören nicht die zuffäligen passanten die sich im glas spiegeln das bild verwischen und weitergehen ich ertrage verglaste bilder schlecht ich sehe dort mich irgendwann sah ich ein paar Japaner aufgetragen auf Mona Lisas lächeln sie waren sehr flink Gioconda lag bewegungslos im gläsernen sarg nach diesem abenteuer ging ich nie wieder in den Louvre 41 zurück zum Inhaltsverzeichnis RUSSLAND UND DIE VÖLKER WOJCIECH ZAJĄCZKOWSKI 42 Wojciech Zajączkowski (geb.1963), Diplomat und Historiker, Doktor der Philosophie, war an den polnischen Botschaften in Moskau, Kiew und Aşgabad tätig, zurzeit ist er polnischer Botschafter in Rumänien. 250 Seiten sind nicht viel für eine Geschichte Russlands. Und doch ist es dem Autor gelungen, zwei – schwer zu vereinbarende – Qualitäten eines historischen Essays miteinander zu verbinden: Weitläufigkeit und Kohärenz. Zajączkowski schildert die Geschichte Russlands von den Anfängen bis zum Zusammenbruch der UdSSR ebenso kompetent wie spannend. Der zentrale Gedanke des Buches lautet, dass die Geschichte Russlands eine Einheit bildet, die nicht in eine Geschichte des zaristischen Russlands und eine Geschichte der Sowjetunion getrennt werden darf. Diese Sicht der russischen Geschichte macht die geistigen Anleihen erkennbar, die die Sowjetunion bei den zaristischen Administratoren und ihrem Ringen mit der Völkervielfalt machte. Ein zentraler Gedanke, den Stalin von seinen zaristischen Vorgängern übernahm, war das Dogma der „Einheit und Unteilbarkeit Russlands”. Doch die Umsetzung dieses Dogmas erfolgte mit unterschiedlichen Mitteln: Im zaristischen Russland hatte man sämtliche nichtrussischen Volksgruppen ihrer Souveränität beraubt, indem man ihnen den Zugang zu wichtigen politischen Ämtern verwehrte; Stalin vertrat zunächst das Prinzip größtmöglicher Souveränität – indem er den einzelnen Volksgruppen das Recht auf ethnische Identität zuerkannte – um in den darauffolgenden Jahren die Voraussetzungen für eine vollständige Dominanz der russischen Sprache und Kultur zu schaffen. Sein verbrecherisches Meisterstück war es, die russischen Nationalisten unmittelbar nach der Revolution gegen sämtliche fremde Elemente aufzuhetzen, anschließend zurück zum Inhaltsverzeichnis dieselben Nationalisten mithilfe des Proletariats zu beseitigen und schließlich die wichtigsten Positionen der neuen Ordnung mit russischen Kommunisten zu besetzen. Wie konnte es dann zum Zusammenbruch eines so effizient verwalteten Molochs kommen? Bei der Antwort auf diese Frage wird zumeist auf den ökonomischen Kollaps oder die Unabhängigkeitsbestrebungen der Sowjetrepubliken hingewiesen. Zajączkowski vertritt auch in diesem Punkt einen originellen Standpunkt. Er argumentiert, dass die wirtschaftliche Krise und die Separationsbestrebungen zwar eine wichtige Rolle gespielt haben, der wichtigste Faktor sei jedoch der nationale Egoismus der russischen Bevölkerung gewesen. Gegen Ende der 80er-Jahre waren viele Russen der Ansicht, dass die Republiken eine zu große wirtschaftliche Belastung darstellten und dass der einzige Weg zur Überwindung der Krise die Trennung von jeglichem unnötigen Ballast war. Wenn in einigen Jahrzehnten Aserbaidschaner, Armenier, Tataren, Kirgisen, Tadschiken, Usbeken, Georgier und Kasachen ihre Autos mit russischem Benzin betanken und ihre Häuser mit russischem Strom versorgen, und wenn sie abends vor dem Fernseher sitzen um sich die russische Version von James Bond oder „Krieg der Sterne“ anzuschauen, dann wird sich der imperiale Auftrag Russlands erneut verwirklicht haben. Przemysław Czapliński WYDAWNICTWO MG CONTACT WOJCIECH ZAJĄCZKOWSKI TRANSLATION RIGHTS 978-83-61297-60-4 ISBN WYDAWNICTWO MG, WARSAW 2009 Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau 173 × 240, 256 PAGES, HARDCOVER Osteuropas und Nordasiens. An dieser Stelle soll keineswegs dem geografischen Determinismus gehuldigt werden, denn nicht allein die natürlichen Faktoren waren für die Entwicklung dieser Region verantwortlich (als ebenso wichtig erwiesen sich wirtschaftliche und militärische Aspekte). Doch die Analogien zwischen sämtlichen staatlichen Strukturen, die während der vergangenen zwei Jahrtausende in dieser Region entstanden, sind zu groß, um sie einfach vom Tisch zu wischen. Die Imperien der Türken, Chasaren, Mongolen und schließlich der Russen, entwickelten sich unter vergleichbaren regionalen Bedingungen und hatten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen: Wie konnte man Territorien sichern, die durch keinerlei natürliche Hindernisse geschützt waren? Wie konnte man sich in dem rauen Klima ernähren? Nach welchen Regeln sollte man das innere Leben einer multiethnischen Gesellschaft organisieren, deren Mitglieder über Tausende von Kilometern verstreut waren? Ein solche Sicht der Geschichte Russlands ist keine Erfindung des 21 Jahrhunderts. In der russischen Geisteswelt manifestierte sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gestalt des Eurasismus. Dieser betonte die historisch-geografische Einheit der Region, die sich zwischen dem Stillen Ozean und den Karpaten erstreckte und die das nördliche Asien und das östliche Europa umfasste. (…) Das vorliegende Buch entstand aus dem Gefühl heraus, dass der bis vor kurzem vorherrschende Blick auf die Vergangenheit Russlands und der UdSSR unzulänglich ist und in vielen Fällen das Verständnis der historischen Entwicklung erschwert. Es stellt jedoch weder eine Synthese der russischen Geschichte noch eine wissenschaftliche Arbeit dar, sondern vielmehr ein historisches Essay, in dem versucht werden soll, die nichtrussische Dimension der russischen Geschichte und die Kontinuität der ihr zugrunde liegenden Prozesse aufzuzeigen. Es soll es keine vollständige Beschreibung und Analyse der ethnischen Problematik in Russland und ihres Zusammenhangs mit den geografischen Bedingungen und zivilisatorischen Entwicklungen bieten, sondern lediglich die wichtigsten Aspekte dieses Themenbereichs aufzeigen. Vielleicht bewirkt dieses Buch, dass unser Bild der russischen Geschichte an Dimensionalität und Tiefe gewinnt. PUBLISHER DAS Interesse an Russland – wie an allen großen Imperien – erklärt sich vor allem aus seiner Größe und aus seiner Wirkung auf die Weltgeschichte. Unwillkürlich stellt sich die Frage nach den Ursachen dieser Größe und Wirkungskraft. Die Wissenschaft widmet sich diesem Thema nun schon seit fast 200 Jahren, wenn man das Werk Nikolai Karamsins als Ausgangspunkt nimmt, doch wir können nicht behaupten, einer Antwort näher gekommen zu sein als die Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts. Die Schwierigkeit liegt nicht allein in der Komplexität des Gegenstands, sondern auch in der Tatsache, dass Russland sich als letztes der großen Weltreiche unablässig verändert und immer neue Facetten offenbart. Das römische Reich, die Mongolen, die Kolonialmächte Frankreich, Spanien und Großbritannien sind Vergangenheit, Russland nicht. In der gesamten Historiografie stellt die russische Geschichte ein nahezu einzigartiges Phänomen dar. Ihre Besonderheit ist die durch die Geburt und den Zusammenfall der UdSSR markierte Zäsur, die die russische Vergangenheit in zwei nahezu gänzlich separate Teile trennt. Russland vor und nach 1917, das sind zwei unterschiedliche Länder, zwei unterschiedliche Welten. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als befänden sich diese Länder auf unterschiedlichen Kontinenten, in unterschiedlichen Klimazonen, und als habe es nie eine Verbindung zwischen den sie bewohnenden Menschen gegeben. Das zweite Paradox beruht auf der Tatsache, dass die Geschichte Russlands als Geschichte der Russen verstanden wird, obwohl die Weltmacht Russland seit jeher ein Vielvölkerreich war, dessen ethnische Beziehungen zu den kompliziertesten auf der Welt gehörten. Der Anteil der russischen Bevölkerung verringerte sich seit dem 16 Jahrhundert systematisch, bis er nach Erreichen der kritischen Marke von 50 Prozent kurzfristig wieder anstieg, um schließlich abermals auf 50 Prozent zu fallen. Die dramatischen Korrekturen der ethnischen Proportionen fallen ebenfalls auf die Jahre 1917 und 1991. Um die Zusammenhänge zwischen dem ethnischen Gefüge des Vielvölkerreichs und den großen politischen Umwälzungen zu verstehen, muss man vor allem die These zweier disparater Russlands verwerfen. So unterschiedlich diese auch sein mochten – es war dasselbe Land und dieselbe Bevölkerung. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung Russlands und sämtlicher ihr vorangegangener Staatsgebilde waren (vor allem bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) die geografischen, klimatischen und biologischen Bedingungen 43 zurück zum Inhaltsverzeichnis NEUE LYRIK AUS POLEN 44 Die Gedichtbände Radiogespinst und Sämtliche Radiosender der Sowjetunion von Agnieszka Mirahina schlagen in unserem hiesigen poetischen Blasorchester zweifellos einen Ton an, der so rein ist, wie der einer Lead-Trompete. Und das ist gut so, denn zuletzt mangelte es doch ein wenig an deutlichen Tönen, provokativen Fiorituren und synkopischen Improvisationen, wie sie Mirahinas Lyrik zweifellos bietet. Mal sehen, was noch daraus wird. Aber wenigstens haben wir etwas, auf das wir uns freuen können, denn die ersten Gedichte der Autorin haben unseren Appetit auf zukünftige herzhafte Mahlzeiten geweckt (wie sich Tadeusz Pióro ausdrücken würde). Doch die erste Geige spielte zuletzt (und ich möchte sagen, wie gewöhnlich) Piotr Sommer mit seinem bemerkenswerten Buch Tage und Nächte, dem ersten lyrischen Material des Autors seit Hirtenlied (1999). Und es ist erstklassiges Material. Unter den vielen hervorragenden Gedichten gibt es einige, die mir besonders gefallen, wie zum Beispiel das wunderschöne Zweite Hälfte oder Flügge. Doch wie immer gibt es in Sommers Büchern ausschließlich starke Gedichte, und kaum dass wir uns ihnen zuwenden, oder besser, kaum dass sie sich uns zuwenden, sind sie uns so vertraut, wie der Wechsel von Tag und Nacht. Kann man mit Sommers Versen übereinkommen? Ich denke, ja, und es könnte eine Übereinkunft auf Lebenszeit werden. Sommers Stimme ist auch aus diesem Grund so wichtig, weil sie in der Flut von x-beliebigen „poetischen“ Melodien nach wahrhafter, unverfälschter Musik klingt – und darum geht es, denn den allgegenwärtigen Glamour haben wir, denke ich, alle gründlich satt. Man sieht diesen Versen an, dass sie einiges durchgemacht haben, dass sie, wie es der Autor sagt, langsam gereift sind. In einem Gespräch mit Wojciech Bonowicz sagte Sommer so schön:“ (…) Aber es stimmt sicherlich – wenn Du danach fragst – dass der Abstand zwischen der Lebenserfahrung und der sprachlichen Form, die ihre eigene Geschichte erzählt, in diesen Versen verhältnismäßig gering ist. Das stört mich nicht, darüber mache ich mir überhaupt keine Gedanken, solange ich das Gefühl habe, dass das sprachliche Handlungspotenzial eines Gedichts über den „Plot“ hinausreicht. Die Frage zurück zum Inhaltsverzeichnis lautet für mich also eher: Hat die Sprache etwas Interessantes erfasst, hat sich etwas in der Sprache ereignet, und nicht: Ist es mir gelungen, irgendeine „existenzielle“ Neuigkeit – oder gar etwas existenziell „Wichtiges“ – zu erfassen, denn diese Unterscheidung – in existenzielle und andere Dinge, oder in existenziell wichtige und unwichtige Dinge – wurde, so scheint es mir oft, für jemand anderen erfunden. Recht haben all jene, die darauf hinweisen, dass die Zeit in den neuen Gedichten Sommers an Bedeutung gewinnt. Doch es ist vielmehr die Zeit der geschehenden Sprache als jene kalendarische, sich bis zum Schmerzhaften wiederholende Zeit. Eben deshalb geht es in diesen Gedichten auch so feierlich zu. Feierlich nicht im Sinne billigen Christbaumschmucks oder bemalter Ostereier, sondern im Sinne der Begegnung mit einer anderen, persönlichen und zärtlichen Sprache. Und ich denke, dass die Gedichte Sommers, unseres größten poetischen Revolutionärs seit Tadeusz Różewicz, uns eben deshalb so berühren, weil man mit ihnen übereinkommen kann, auch wenn er selbst sagt: Schade, man hätte sich/ gegenseitig helfen können,/ wenigstens ein Stück weit. Doch wenn man/ so nachlässig spricht,/ kommt nichts dabei heraus, und alles bleibt/ ungewiss. Schade,/ es sah schon so aus, als käme man überein – aber denkste! Und noch etwas. Der intime Ton von Sommers Gedichten bewirkt, dass sie so oft zu einem intimen Erlebnis des Lesers werden. Und diese flüchtige Schönheit der Sprache, einer Sprache, die sich nur ein einziges Mal ereignet, ist es, die uns bis ins Mark trifft. Konzentration ist eines der wichtigsten Gedichte in Mariusz Grzebalski neuestem Buch Nichtlieder. Und das aus mehreren Gründen. Vor allem, weil es jene Begriffe etabliert, die für die neue Poetik des Lyrikers aus Poznań so zentral sind, die Konzentration und die Nichtliedhaftigkeit. Die Konzentration auf die fließenden Übergänge von einem Bild zum anderen. Die Beschränkung der Gedichte auf das Wesentliche. Da ich selbst in gewisser Weise an der Entstehung dieses Buches beteiligt war (Mariusz schickte mir die aufeinanderfolgenden Rohfassungen), konnte ich beobachten, wie es sich allmählich heraus- Frühling, die Komponisten brüten unreflektiert. Wenn der weiße Mann nicht tanzt, muss er Grimassen schneiden, wie ein Staatsoberhaupt im Museum für Vogelscheuchen. Na gut, wie ein Bolschewist auf einer Goralenhochzeit. Bis zur Geschlechtlichkeit ist es noch ein weiter Weg. Doch alles andere steht uns frei.“ (Farsala). Wir können uns nur freuen, dass Pióro in so ausgezeichneter Form ist, alles deutet darauf hin, dass uns seine Texte auch weiterhin viel Freude bereiten werden. Zu guter Letzt muss ich hinzufügen, dass diese Auswahl selbstverständlich rein subjektiv ist. Wie Sie wissen, besteht ein Orchester aus vielen Instrumenten – manche sind so wichtig, dass man sie gar nicht erwähnt, andere sind so belanglos, dass man sie getrost übergehen kann, wie zum Beispiel die Frusta. Diese Frusta war einst eine Peitsche mit einem trockenen Klang. Heute werden statt der Frusta nur noch Holzlatten verwendet, die dieses Geräusch imitieren. Und mit diesen Worten überlasse ich alles andere Ihrem Urteil. Edward Pasewicz NEUE LYRIK AUS POLEN kristallisierte und Gestalt gewann – und zwar allein durch das Mittel der Reduktion. Als ließe sich Grzebalski nur von dem einen Gedanken leiten: Je einfacher, desto besser. Und in diesem Fall hat die asketische Schlichtheit, der Verzicht auf stilistische Figurationen zugunsten (ich muss es so sagen) saftiger Akkorde, erstaunliche Effekte erzielt. Diese Sprache klingt wie das reinste Madrigal, ohne eine einzige überflüssige Note. Man mag in Grzebalskis neuem Buch etwas Nihilistisches erblicken, eine Negativität, Nichtliedhaftigkeit, doch das ist gut so, denn in dem Blasorchester unserer polnischen Lyrik wird eine nüchterne, „cioraneske“ Klarinette dringend benötigt. Denn soviel ist sicher, die Klarinette harmoniert mit dem übrigen Orchester nur, sofern sie dies wünscht, wenn nicht, dann spielt sie für sich allein, und wenn du dich auf den Kopf stellst. Grzebalski hatte schon immer eine charakteristische und markante Stimme, doch jetzt hat diese Stimme einige unverwechselbare Töne hinzugewonnen. Der Minimalismus steht ihm gut zu Gesicht, weil er ein Dichter ist, der es versteht, die sprachliche Erfahrung auf ihre wesentlichen Elemente zu abstrahieren und diese zu einem neuen Ganzen zusammenzusetzen. Wie zum Beispiel in dem Gedicht Was machst du, Meer?, in dem die Subjekt-Objekt-Spaltung auf geradezu buddhistische Weise aufgelöst wird. Ein buddhistisches Lied? Ja, jedoch nicht auf der Ebene bloßer Erklärungen, sondern einer fast schon physischen Realisation des Gedichts. Und eben dies macht den besonderen Wert dieser Lyrik aus. Dariusz Sośnickis Gedichtband Familie P. war für manche eine Überraschung und für andere nicht. Über die Bezüge zwischen diesem Band und Zbigniew Herberts Herr Cogito ist bereits vieles geschrieben worden. Erstmals bedient sich der Autor des Mittels der Rollenlyrik. Und wir sollten gleich hinzufügen, dass diese Rollenlyrik, wie alles bei Sośnicki, präzise formuliert, absolut logisch und perfekt konstruiert ist. Mancher mag in dieser Lyrik etwas „Verstörendes“ erblicken, aber das haben Sośnickis Bücher so an sich, dass sie einen beim ersten Lesen verstören, abschrecken, aber auch faszinieren. Weil man es einfach nicht für möglich hält, dass ein Autor seines Formats ein schlechtes Buch fabrizieren könnte. Und das tut er auch nicht. Jenen, die Familie P. für eines der schwächeren Bücher Sośnickis halten, möchte ich sagen, dass sie sich gründlich irren. Dieses Buch ist zweifellos anders, aber sicher nicht schwächer, ganz sicher nicht. All jenen, die die saftigen Avantgardehappen eines Nikos Skalkottas (zur Erinnerung: ein griechischer Komponist des 20. Jahrhunderts) lieben und die sich für den polnischen Futurismus der Zwanziger- und Dreißigerjahre erwärmen, möchte ich auf die freudige Überraschung hinweisen, die uns Marcin Sendecki mit seinem Band 22 gemacht hat. Der Geist der Zwölftonmusik klingt in diesen Oktostichen, die sich nicht nur vor der Tradition verneigen, sondern vor allem vor ihrer eigenen ungezügelten Freiheit. Denn ein Gedicht muss nicht wie ein Koffer sein, der irgendeinen Inhalt transportiert, er kann auch einfach nur ein Koffer sein, schön und kostbar, einfach weil es ihn gibt. Eben deshalb empfehle ich jedem die Gedichte von Marcin Sendecki, denn entgegen den Annahmen der modernen Verschwörungstheoretiker ist dies kein Hermetismus, keine Einführung in die Lehren der Rosenkreuzer und keine Rosencreutzsche Chymische Hochzeit in Versform. Es ist einfach die Freude am Schreiben. Und selbst wenn manche in den Gedichten einen spielerischen Umgang mit dem Alltag, geheime Siegel und eine Tendenz zu freimaurerischen Ritualen erblicken, wiederhole ich gerne: Sie liegen falsch. Sendeckis Gedichte sind melodisch, doch es sind keine rührseligen Melodien. Es ist ernste Musik. Ein weiteres Zeichen dafür, dass es um unser poetisches Orchester nicht zum Schlechtesten steht, ist der neueste Band von Tadeusz Pióro mit dem Titel Abc. Alles, was man über die Gedichte von Tadeusz Pióro sagen kann, findet sich in den Gedichten von Tadeusz Pióro. Dieses Buch ist Pflichtlektüre. Wie immer versteht es Pióro, zu belustigen und zu belehren, hier eine Kostprobe: „Madame haben hier nichts zu suchen. Die Fauna regiert sich selbst, im Herbst sieht es aus wie im 45 zurück zum Inhaltsverzeichnis MARIUSZ GRZEBALSKI NIEPIOSENKI ISBN 160 × 220, 52 PAGES, PAPERBACK BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009 PUBLISHER 97883-60602-90-4 TRANSLATION RIGHTS MARIUSZ GRZEBALSKI CONTACT BIURO LITERACKIE AGNIESZKA MIRAHINA RADIOWIDMO ISBN 160 × 215, 40 PAGES, PAPERBACK BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009 PUBLISHER 97883-60602-95-9 TRANSLATION RIGHTS AGNIESZKA MIRAHINA CONTACT BIURO LITERACKIE TADEUSZ PIÓRO NEUE LYRIK AUS POLEN ABECADŁO ISBN 160 × 215, 40 PAGES, PAPERBACK BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009 PUBLISHER 97883-60602-82-9 TRANSLATION RIGHTS TADEUSZ PIÓRO CONTACT BIURO LITERACKIE MARCIN SENDECKI 22 WIELKOPOLSKA BIBLIOTEKA POEZJI, POZNAŃ 2009 PUBLISHER ISBN 978-83-60746-42-4 135 × 210, 32 PAGES, PAPERBACK MARCIN SENDECKI TRANSLATION RIGHTS PIOTR SOMMER DNI I NOCE BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009 PUBLISHER ISBN 97883-60602-79-7 TRANSLATION RIGHTS 160 × 215, 92 PAGES, PAPERBACK PIOTR SOMMER CONTACT BIURO LITERACKIE DARIUSZ SOŚNICKI PAŃSTWO P. PUBLISHER ISBN 46 zurück zum Inhaltsverzeichnis BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009 97883-60602-79-7 TRANSLATION RIGHTS 160 × 215, 64 PAGES, PAPERBACK DARIUSZ SOŚNICKI CONTACT BIURO LITERACKIE WIELKOPOLSKA BIBLIOTEKA POEZJI ul. Tęczowa 50a/9 53-602 Wrocław phone: +48 71 346 08 23 [email protected] www.biuroliterackie.pl ul. Bolesława Prusa 3 60-819 Poznań phone: +48 61 66 40 850 fax: +48 61 66 27 366 [email protected] www.wbp.poznan.pl CZARNE Wołowiec 11 38-307 Sękowa phone: +48 18 351 00 70, +48 502 318 711 fax: + 48 18 351 58 93 [email protected] www.czarne.com.pl LIEPMAN LITERARY AGENCY, LIEPMAN AG WYDAWNICTWO LITERACKIE ul. Długa 1 31-147 Kraków phone: +48 12 619 27 40 fax: +48 12 422 54 23 [email protected] www.wydawnictwoliterackie.pl WYDAWNICTWO MG Englischviertelstrasse 59 CH-8032 Zürich phone: +41 (0)43 268 23 80 fax: +41 (0)43 268 23 81 [email protected] www.liepmanagency.com PKiN, Pl. Defilad 1 P.O.box 51 00-901 Warszawa 134 [email protected] www.wydawnictwomg.pl MOHRBOOKS AG, LITERARY AGENCY ZNAK Klosbachstrasse 110 CH-8032 Zürich phone: +41 43 244 86 26 fax: +41 43 244 86 27 [email protected] www.mohrbooks.com ul. Kościuszki 37 30-105 Kraków phone: +48 12 619 95 01 fax: +48 12 619 95 02 [email protected] www.znak.com.pl POLISH RIGHTS, C/O WYDAWNICTWO KARAKTER ul. Gazowa 13/17 31-060 Kraków [email protected] www.polishrights.com SŁOWO/OBRAZ TERYTORIA ul. Grunwaldzka 74/3 80-244 Gdańsk phone: +48 58 345 47 07 fax: +48 58 520 80 63 [email protected] www.terytoria.com.pl ŚWIAT KSIĄŻKI ul. Rosoła 10 02-786 Warszawa phone: +48 22 654 82 00 [email protected] www.swiatksiazki.pl W.A.B. ul. Usypiskowa 5, 02-386 Warszawa phone: +48 22 646 05 10 fax: +48 22 646 05 11 [email protected] www.wab.com.pl ADRESSEN DER VERLAGE UND AGENTEN BIURO LITERACKIE 47 zurück zum Inhaltsverzeichnis www.bookinstitute.pl DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT / INSTYTUT KSIĄŻKI ul. Szczepańska 1, PL 31-011 Kraków Tel.+48 12 433 70 40 Fax:+48 12 429 38 29 [email protected] WARSCHAUER FILIALE DES POLNISCHEN BUCHINSTITUTES Pałac Kultury i Nauki Pl. Defilad 1, IX piętro, pok. 911 PL 00-901 Warszawa Tel.+48 22 656 63 86 Fax:+48 22 656 63 89 [email protected] Warszawa 134, P.O. Box 39 ©DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT, KRAKAU 2009 Redaktion: Izabella Kaluta, Joanna Czudec, Elżbieta Kalinowska Übersetzung: Ursula Kiermeier, Joanna Manc, Lisa Palmes, Heinz Rosenau, Renate Schmidgall, Paulina Schulz, Andreas Volk Weitere Informationen über die polnische Literatur auf: www.bookinstitute.pl Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel New Book Directly From Poland Fall 2009 kann über das Buchinstitut bezogen werden. GRAPHIK UND SATZ: Studio Otwarte, Krakau st udi ot w ar te www.otwarte.com.pl