Untitled - Instytut Książki

Transkrypt

Untitled - Instytut Książki
DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT ist eine staatliche Kultureinrichtung, deren Hauptziele darin liegen, die Lesebereitschaft zu fördern, das Buch als Medium und die Leselust in
Polen zu verbreiten sowie weltweit für die polnische Literatur
zu werben. Diese Ziele werden umgesetzt durch:
Das Buchinstitut stellt die Literaturprogramme bei polnischen
Auftritten auf ausländischen Buchmessen, bereitet Lesungen
polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals, gibt regelmäßig den Katalog „NEUE BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in
dem literarische Neuerscheinungen präsentiert werden, organisiert Studienreisen und Seminare für Übersetzer polnischer
Literatur, zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und verleiht
auch den Preis „TRANSATLANTYK“ für den besten Vermittler polnischer Literatur im Ausland.
Das Programm „HIER WIRD GELESEN!“ besteht aus einer
Reihe von Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und
NGOs richten. Dazu gehören u.a.: das Projekt Buchdiskussionsklubs und der jährliche Literaturfestival-Zyklus DIE VIER
JAHRESZEITEN DES BUCHES.
www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland,
präsentiert Neuerscheinungen und Verlagsprogramme, betreibt auch ein regelmäßiges Rezensions-Service. Man findet
dort außerdem über 100 Biogramme zeitgenössischer polnischer Autoren, die Vorstellung von über 500 Publikationen,
Fragmente, Essays, Anschriften der Verleger und Literaturagenten. Alles über polnische Bücher – auf Polnisch, Englisch, Deutsch und Hebräisch.
DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT
• Vorstellung und Werbung für die besten polnischen Bücher
und ihre Autoren
• Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten
Umgang mit dem Buch verdeutlichen
• Programm zur Leseförderung HIER WIRD GELESEN!
• Jährlicher Literaturfestival-Zyklus DIE VIER JAHRESZEITEN DES BUCHES
• Präsentation der polnischen Literatur im Ausland
• Übersetzerkolleg
• Seminare für Verleger
• Übersetzungsprogramm © POLAND
• Sample Translations © POLAND
• Informationszentrum für Kinderbücher
• Informationsportal zur polnischen Literatur
www.bookinstitute.pl
DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND
DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND
Ziel des Programms ist es, Übersetzungen der polnischen Literatur zu fördern sowie deren Präsenz auf den ausländischen
Buchmärkten zu stärken.
Das Programm umfasst insbesondere:
• Belletristik und Essayistik
• Kinder- und Jugendliteratur
• Sachbücher
Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die
ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde
Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen.
Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert werden:
bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs
bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus dem
Polnischen.
Anträge auf die Förderung von Übersetzungen polnischer Literatur können von Verlegern bei dem Buchinstitut in Krakau
gestellt werden (spätestens 4 Monate vor der geplanten Publikation).
SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND
Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur
zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher
ausländischen Verlegern zu präsentieren.
Die Programm-Voraussetzungen sind folgende:
• Es werden 20 Seiten einer Übersetzung bezahlt (1800 Zeichen pro Seite)
• Der/die Übersetzer/-in reicht eine Bewerbung ein
• Der/die Übersetzer/-in muss mindestens eine Buch-Übersetzung gemacht haben bevor er/sie sich bewirbt.
• Es muss die erste Übersetzung des Buches in die jeweilige
Sprache sein und der Beispieltext darf nirgendwo zuvor veröffentlicht worden sein.
Die Angebotsformulare der Programme können bei dem
Buchinstitut angefordert werden, oder von der Website
www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden.
TITEL
4
Andrzej Stasiuk
Europa im Zustand der Auflösung
6
Jerzy Sosnowski
Idzis Installation
8
Zbigniew Kruszyński
Der letzte Bericht
10
Michał Witkowski
Margot
12
Michał Komar
Einweihungen
14
Jacek Bocheński
Tiberius Caesar
16
Andrzej Bart
Die Kehrseite der Medaille
18
Marta Syrwid
Hinterland
20
Janusz Rudnicki
Der Tod des tschechischen Hundes
22
Jacek Dehnel
Fotoplastikon
24
Hanna Krall
Rosa Straußenfedern
26
Ewa Kuryluk
Frascati
28
Marek Edelman
Und es war auch Liebe im Ghetto
30
Małgorzata Szejnert
Die Insel – ein Schlüssel
32
Wojciech Jagielski
Nachtwanderer
34
Włodzimierz Nowak
Das Herz der Nation an der Haltestelle
36
Leszek Kołakowski
Ob der Herrgott wohl glücklich ist und andere Fragen
37
Przemysław Czapliński
Polen ausgetauscht
38
Tomasz Lem
Schwerkraftbedingte Misshelligkeiten
40
Maria Poprzęcka
Die anderen Bilder
42
Wojciech Zajączkowski
Russland und die Völker
44
Neue Lyrik aus Polen
47
Adressen der Verlage und Agenten
INHALT
AUTOR
SEITE
Photo: Piotr Janowski / AG
EUROPA IM ZUSTAND DER AUFLÖSUNG
ANDRZEJ STASIUK
Andrzej Stasiuk (geb. 1960), Prosaist, Dichter, Essayist, Literaturkritiker.
4
Seine Bücher wurden in fast alle europäischen Sprachen übersetzt.
Stasiuk ignoriert die offiziellen Geschichtsversionen seit
Jahren. An der Debatte, ob der Kommunismus von der
Solidarność bezwungen wurde oder ob er unterging, weil er
den ökonomischen Wettlauf mit dem Westen verlor, nimmt er
daher nicht teil. Stasiuk interessieren diese Fragen nicht, weil
der Wertmaßstab einer historischen Erzählung über Europa
für ihn Europas Provinz ist.
Zu dieser Provinz zählt der Autor das große Gebiet im Südosten Europas, das Polen, die Ukraine, die Slowakei, Ungarn,
Tschechien und Rumänien umfasst. Wer auf dieses Gebiet die
erhabene Geschichte von der Geburt eines vereinten Europas
anwenden wollte, würde vorgehen wie ein blinder Schmied,
der an ein Bauernfuhrwerk einen Dieselmotor zu montieren
versucht. Eben auf diese Art hat man – so Stasiuk – nach
1989 versucht, die zivilisatorischen Errungenschaften des
Westens mit der Armut all der Käffer im Südosten zu verbinden. Doch vom Westen kam dort nur Billigkram an. Die
riesigen Konsumbedürfnisse setzten eine Second-Hand-Zivilisation in Gang: die von jahrhundertelanger Armut gedemütigten Massen wollten das Beste haben, aber das Beste ist nicht
für die Massen.
In dem Roman Taksim erzählt Stasiuk die Geschichte von
der nächsten Etappe des globalisierten Kapitalismus. Wir sehen, wie die beiden Helden Paweł und Władek – Händler, die
durch die Basare der europäischen Provinz fahren – in der
Auseinandersetzung mit einer neuen Kraft real und symbolisch scheitern. Bisher ging es immer noch. Sie beluden ihre
schrottreifen Autos bis zum Dach mit Waren vierter Wahl, die
sie in die Vororte von Bukarest, Budapest oder Prag brachten.
Die Gesellschaft glich damals einem hungrigen Staubsauger,
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der alles einsaugte: Socken, Jacken, Schuhe, Taschen, Kosmetik, Autoteile... Und alles mit dem Aufkleber: Paris – London – New York.
Doch jetzt ist die nächste Phase gekommen – die Phase der
Waren aus China, die fast nichts mehr kosten. Statt des bisherigen Krams, der ein, zwei Jahre hielt, kommt für jeden
Geldbeutel erschwinglicher Ramsch für den einmaligen Gebrauch auf den Markt. Die gestrige Kultur der Kurzzeitbenutzung weicht der Wegwerfkultur. Asien überschwemmt Europa
mit Imitaten von Imitaten, das heißt mit Waren, die die Chinesen von mitteleuropäischen Produkten kopiert haben, die
wiederum Kopien westlicher Produkte sind. Hat der Westen
das Niveau materieller Vollkommenheit erreicht, so nimmt
die Nachahmung in Europas Provinz zunächst die Form der
Parodie und danach die Form der Abhängigkeit an.
Stasiuk interessiert hier weniger der „Sieg der gelben Rasse
über die weiße“ als vielmehr das Bild der Verlierer, das heißt,
der Bewohner der ärmsten, der „schlechteren“ Regionen Europas, die durch den Ort, an dem sie leben zu einem schlechteren Leben verurteilt sind. Diese Menschen kaufen schlechtere Ware und werden selbst – vor allem die Frauen – in Ware
verwandelt. Westeuropa exportiert nach Osteuropa gebrauchte Dinge, Schrott, Müll – und importiert von dort männliche
Körper für schlechtere Arbeiten und weibliche Körper für das
Vergnügen. So führen die Macht des Geldes und die Schwäche der Provinz zu einer Auflösung der Idee Europas. Und
da die von Geld angetriebene Geschichte keine Hemmschwelle
kennt, ist es eine nicht aufzuhaltende Auflösung.
Przemysław Czapliński
POLISH RIGHTS
CONTACT
ANDRZEJ STASIUK
TRANSLATION RIGHTS
978-83-7536-116-2
ISBN
Vergangenen Abend saß ich neben einem Tisch, den ein Vater
mit seinem Sohn einnahm. Es waren Zugereiste. Man erkennt sie
leicht, weil sie sich unsicher fühlen. Sie schauen sich ständig um.
Selbst wenn alles ruhig ist, können sie nicht umhin, zur Seite zu
schielen, als erwarteten sie einen Hieb oder irgendeine Belästigung.
Der Vater war groß, dick und hatte einen Schnurrbart. Er saß lässig ausgestreckt da, aber er schielte immer wieder. Der Sohn sah
ihm ähnlich, war schon auseinandergegangen von dem üppigen,
billigen Fraß. Ich wartete auf jemanden und hörte ihnen eine halbe Stunde zu. Eigentlich redete hauptsächlich der Alte. Von einem
Auto, genauer gesagt, von den Türen des Autos: Ob es sich lohne,
sie zu lackieren und die Bespannung auszutauschen. Der Sohn war
im Prinzip mit allem einverstanden und nickte. Das Wort „Bespannung“ fiel wohl zehn, fünfzehn Mal und bestimmte den Rhythmus
des farblosen Vortrags. Der Alte verlieh dem Gelaber ein Gewicht,
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
125 × 205, 328 PAGES, HARDCOVER
Die Bullen versammeln sich ebenfalls dort. Auch sie sind meistens glatzköpfig. Vielleicht sind sie nur ein bisher besser genährt,
größer, dicker und selbstsicher. Aber es ist eine Selbstsicherheit, die
sie aus amerikanischen Filmen gelernt haben. Außer der Tankstelle sind nachts in der Stadt nur die Videotheken offen. Die Leute
nehmen zwei, drei oder vier Filme mit und gehen nach Hause. Die
Bullen unterscheiden sich nicht von den anderen Leuten. Vielleicht
kommen sie sich nur besser vor als die. Aber sie sind es nicht. Sie
sind genauso wie die Glatzköpfe mit den abstehenden Ohren. Sie
schauen sich die gleichen Filme an und essen in der Tankstellenkneipe das gleiche Zeug. Und warten ebenso auf eine Revolution,
die alles verändert. Das ist es, was ich in dieser Stadt spüre – Warten.
Alle beschäftigen sich nur zeitweilig mit dem Leben. Sie warten es
ab in der Hoffnung, dass alles auf den Kopf gestellt wird, dass es
ganz anders werden wird, als es ist, dass die letzten endlich die ersten sein werden.
Ich konnte nicht warten, ich musste gehen. Ich sah sie noch durch
die Fensterscheibe. Der Alte schluckte langsam und redete zwischen
einem Bissen und dem anderen. Der Junge hatte den Blick auf den
Teller geheftet und aß. Sie waren nicht von hier, aber sie waren
zu einem ähnlichen Ort unterwegs. Sagen wir, nach Żłobisko oder
noch weiter, direkt an die Grenze. Dort gab es höchstens weniger
Laternen und Autos, aber der Rest sah genauso aus. Doch jetzt saßen sie auf Kunstleder an einem Tisch, der Holz imitierte, unter einer Plastikpflanze, in diesem vernickelten und aufgeräumten Raum,
und hatten es nicht eilig nach Hause. So ist diese Stadt entstanden.
Die Leute sind hierher gezogen, weil sie es bei sich nicht aushielten.
Jetzt gehen sie weg von hier und machen Platz für solche wie die an
dem Tisch. Ein Geschäft muss in Bewegung sein. Später geht alles
ein, und die Bewegung zieht zusammen mit dem Geschäft woandershin. Übrig bleiben diejenigen, die keine Kraft mehr haben. Sie
bleiben überall übrig und befassen sich mit den Resten. Wie ich.
CZARNE, WOŁOWIEC 2009
Abends um zehn ist alles tot. Nur die Tankstelle lebt. Niemand
tankt. Alle kaufen Alkohol oder sitzen in der Kneipe. Sie haben immer größere, immer billigere und immer ältere Autos. Die kaufen
sie bei den Schlitzohren, die mit ausländischem Schrott handeln. Ja,
alle gehen weg oder führen etwas ein. Hier gibt es nichts. Diese Autos fliegen jeden Moment auseinander, die Böden fallen ab, und die
Karosserien landen in den Wäldern hinter der Stadt. So etwas kauft
kein Mensch mehr. Da werden Füchse oder Rebhühner einziehen.
Füchse sind klug. Ich sehe sie immer näher an der Stadt. Die Leute
werfen Essen weg. Sie kaufen es und können es nicht essen. Es ist
billig und eklig. Genau richtig für die Füchse. Manchmal überqueren sie die Straße wie Katzen oder Hunde. Sie fressen die Wurst
der Menschen und wohnen in verrosteten Limousinen. Schließlich
räumt den Kram keiner weg. Alteisen, kaum noch zu was gut. Aber
die von der Tankstelle stört das nicht. Meistens sind sie glatzköpfig, hager und haben abstehende Ohren. Als seien sie unterernährt.
Manchmal tanke ich nachts und betrachte sie durch die Scheibe.
Sie machen insektenhafte, nervöse Bewegungen. Sicher hat man sie
als Kinder geschlagen. Umsonst. Sie sind dumm und fluchen ohne
Ende. Aber später, wenn sie sich getrennt haben, wenn sie allein
sind, huschen sie verstohlen an den Schatten der Mauern entlang
und schauen nicht auf.
wie es väterlichen Belehrungen über Sinn und Tücken des Lebens
eigen ist. Sie aßen Bohnensuppe. In der Küche brutzelten Koteletts
für sie. Plötzlich war der Monolog unmerklich auf ein Handy zum
günstigem „Aktionspreis mit Servicepaket“ übergegangen. Wieder
nickte der Sohn und warf ein paar Silben ein. Dann stand er auf
und ging zur Theke, um die Teller mit dem Hauptgericht abzuholen. Er trug einen dunkelblauen Trainingsanzug aus Polyester. Der
Vater eine Lederjacke.
PUBLISHER
IM
Herbst sieht man, dass die Stadt verrottet. Diejenigen, die fliehen wollten, sind schon lange geflohen.
In der Abenddämmerung stinken brennende Blätter.
Der Rauch mischt sich mit Nebel und verhüllt die Außenbezirke.
Die Lichter werden gelblich und fahl. Man muß auf die Fußgänger achten, sie sind schwarz wie der Asphalt. Manchmal fahre ich
kreuz und quer durch die Stadt und sehe, dass es keine Stelle gibt,
wo man aussteigen möchte – und keinen Grund. Vier Kreuzungen,
ein Kreisel, die Ampeln blinken gelb, schon um zehn Uhr abends.
Wenn Nordwind ist, riecht man den Gestank der sterbenden Fabrik. Alle sind schon weg. Nur die, die es nicht schaffen, sind noch
hier. Sie wachen morgens auf, schauen aus dem Fenster und gehen
nicht raus. Es sei denn, sie haben einen Hund. Dann gehen sie auf
den Marktplatz und gucken sich die Todesanzeigen an, um zu sehen, wer gestorben ist, und sich zu freuen, dass es sie noch nicht
erwischt hat.
5
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Photo: Elżbieta Lempp
IDZIS INSTALLATION
JERZY SOSNOWSKI
6
Jerzy Sosnowski (geb. 1962), Schriftsteller, Publizist, Journalist für Funk und
Fernsehen, Autor von fünf Prosa-Bänden und zwei essayistischen Büchern.
Idzis Installation ist ein psychologischer Gegenwartsroman
mit einer großen Bandbreite an Problematiken. Dieses Buch
verfügt über die Vorzüge eines Ideen-Romans, man könnte es
ebenfalls einen katholischen Roman nennen – in dem Sinne,
dass er die Nöte der heutigen Katholiken vorstellt und eine
Beurteilung der Kondition des polnischen Katholizismus vom
Anfang des 21. Jahrhunderts enthält.
Die Handlung spielt in Warschau der Gegenwart, vor allem
im Journalisten-Milieu. Die Intrige, um die herum der Plot
aufgebaut wurde, ist schlicht: der Protagonist, ein erfahrener
Journalist mittleren Alters, erfährt unerwartet, dass er einen
erwachsenen Sohn habe – den titelgebenden Idzi. Idzis Mutter
bittet ihn um eine Intervention, denn ihr Sohn ist in absonderliche Schwierigkeiten gekommen. Er verfiel in eine religiöse
Manie und wurde zu einer Art selbsternannten Propheten. Was
ist Idzi zugestoßen, und warum? Ist er überhaupt der Sohn des
Protagonisten? Jedoch nicht die Suche nach Antworten auf
diese und sich daraus ergebende Fragen scheint hier wesentlich: im erkenntnistheoretischen und ideellen Sinne wichtiger
ist dies, was sich im Hintergrund des Romans abspielt. Denn
gerade im Hintergrund läuft ein multidimensionaler, lebhafter und enorm spannender „Kampf der Ideale“ ab. Es kommt
zu Konfrontationen verschiedener ethischer Einstellungen, zu
Gewissenskonflikten. Die zentrale Frage ist dabei, um es so zu
formulieren, die Mühe, ein Katholik zu sein – vor allem, wenn
man eine gebildete Person aus der Mittelschicht ist, die in der
postmodernen Welt funktioniert.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Die Dilemmas und Antinomien des heutigen katholischen
Selbstverständnisses wurden von Sosnowski auf eine durchdringende Weise erfasst, man ist geneigt zu sagen: mit großer
Kenntnis des Problems. Die Konfliktfelder erstrecken sich sehr
weit: die inneren Konflikte wegen der katholischen Sexualethik, die Frage nach dem Platz für „gläubige Freidenker“,
die Spannungen auf der Linie Konservatismus – Liberalismus
in der Kirche.
Idzis Installation ist ein intellektuell wertvoller Roman, inspirierend und mit großem Gespür verfasst.
Dariusz Nowacki
WYDAWNICTWO LITERACKIE
TRANSLATION RIGHTS
ISBN
978-83-08-04391-2
WYDAWNICTWO LITERACKIE, CRACOW 2009
Aus dem Polnischen von Paulina Schulz
123 × 197, 402 PAGES, PAPERBACK
ste, warum er in einem Zwei-Personen-Zimmer, das sie zufällig bei
einem Ausflug des studentischen Touristik-Verbandes zusammen
zugeteilt bekamen, auf seinem Bett lag wie ein Brett, anstatt sich zu
ihr auf das Nachbarbett zu legen. Nie wieder hörte er, dass jemand
so lachte: gesund und dennoch verhöhnend (wie es ihm vorkam).
Bald darauf begann er, die Grenzen dessen, was ihm erlaubt war,
zu verschieben, zwar unter Druck, aber dennoch gerne; und er verrannte sich in mehrstöckige Labyrinthe aus Rechtfertigungen und
Begründungen. Diese perfektionierte er immer mehr, dennoch waren sie in dem Moment nutzlos, wenn er sonntags in die Kirche
ging und sich dessen nicht würdig fühlte, die Heilige Kommunion
zu empfangen. Das Sonderbarste daran war für ihn, dass Jola sich
als Katholikin deklarierte (wie übrigens die meisten seiner Bekannten in der Zeit der Solidarność und des Kriegsrechts).
Schließlich, als er das immer schnellere Hin und Her zwischen
Himmel und Hölle nicht mehr aushielt, zwischen Erlaubnis und
Verdammung, entschied er – unter dem Einfluss der Lektüre des
Heiligen Augustinus – alles hinzuschmeißen und Priester zu werden. Jola und er weilten damals im Riesengebirge. Waldeks Eltern
machten ihm mittlerweile keine Szenen mehr wegen dieser Ausflüge zu zweit, sie sandten ihm nur einen langen Blick, wenn er sich
eilig den Rucksack überwarf und die Wohnung verließ. Jola merkte,
dass mit ihm etwas los war, einmal brach er vor ihr sogar in Tränen
aus, wie ein Kind; schließlich vertraute er ihr an, dass er etwas Anderes wollte, dass er über sich selbst nachdenken müsse – das Wort
„Priesterseminar“ kam ihm nicht über die Lippen.
Sie kam von alleine darauf und beschimpfte ihn als einen „verrotzten kleinen Scheißer“, wünschte ihm „viel Spaß im Kreise der
Eunuchen“ (an den Wortlaut erinnerte er sich bis heute), packte
noch am selben Tag ihre Sachen und ging zur Bushaltestelle. Als er
ihr vorschlug, sie dahin zu bringen, meinte sie nur knapp, er solle
sich verpissen. Er hat sie nie wieder gesehen.
Er hörte mal, dass sie an der Uni ein Freisemester genommen
hatte, dann, dass sie irgendwohin in die Nähe von Warschau gezogen war.
Und so erschien es ihm ziemlich verdächtig, im Kontext dieser
Erinnerungen, dass sie ihn in ihrem Brief als einen „großartigen
Kerl“ etikettierte.
PUBLISHER
DAS
ganze Lokal erinnerte Waldek an ein Aquarium,
in das man Monster gesteckt hatte:
Tore mit Glupschaugen, dümmlich grinsende
Spötter, Heuchler mit angeklatschten Haaren, chronische Fremdgeherinnen in Masken aus Foundation und Lippenstift. Und hinter
seinem Rücken, in den Autos im Kanal der Łazienkowska-Strecke, fuhren hin und her inmitten ihrer obskuren Machenschaften
Schufte, die unrühmlich zu Geld gekommen waren, Verleumder,
die einander verfolgten, Spekulanten, die sich miese Intrigen ausdachten. Sowie Perverse, massenweise Perverse, die von dem Gedanken besessen waren, mit Leichen, Tieren, Kindern zu verkehren.
Und mittendrin unter ihnen: er – aus der Perspektive der Absoluten
Gerechtigkeit, an die er hin und wieder glaubte, machte er auch
keinen besseren Eindruck – der auf ein Treffen mit seiner jahrelang
verschollenen Jugendliebe wartete.
Waldek checkte seinen email-Briefkasten zwei Mal am Tag, nach
dem Frühstück und abends, vor allem zu dem Zweck, den Spam zu
löschen, der ihn regelmäßig überflutete, und außerdem um zu überprüfen, welche Probleme es der Herausgeberin von „Sztuka-teria“
diesmal unmöglich machten, die geplanten Gäste in die Sendung
einzuladen (Wie viele von ihnen stahlen? Wie viele belästigten Kinder?). Jene email hätte er vorgestern beinahe gelöscht, nur verklickte
er sich und landete mit dem Cursor am Icon mit dem Papierkorb
vorbei. Und da er bei der Arbeit ein paar abergläubische Ideen aufgeschnappt hatte, nahm er es als Omen und öffnete gehorsam die
Nachricht:
„Waldek, ich erlaube mir, Dich zu duzen, da ich darauf hoffe,
dass Du Dich an mich erinnerst. Die nette Dame in der Redaktion wollte Deine Telefonnummer nicht heraus geben, weswegen ich
natürlich keine Vorwürfe erhebe, vor allem, da Du angeblich meine
email ohnehin innerhalb von 24 Stunden lesen wirst.
Vor 20 Jahren standen wir einander nahe, verzeih, dass ich es erwähne – aber ich erinnere mich an Dich als an einen großartigen
Kerl, und ich hoffe, dass Du meine Bitte nicht abwehren wirst.
Denn diese Bitte hat damit zu tun, was damals passiert war. ich
brauche deine hilfe! Ich habe Dich die ganzen Jahre nicht belästigt, aber jetzt sehe ich wirklich keinen Ausweg. Bitte, rufe mich
an, so bald wie möglich. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie
wichtig es ist. Ich werde warten …
Meine Handy-Nummer: 0 699 996 999. Enttäusche mich nicht,
ich flehe Dich an.
Jola Janik.“
Jola Janik. Ha, Jola Janik! Sie haben sich ganz am Anfang des
Studiums kennen gelernt, in der Hitze nach dem August, bei der
Versammlung des Studentenrates. Die ein Jahr ältere Vertreterin der
Fakultät Ökonomie und Management entzückte ihn mit der Anmut, mit der sie allen um sie herum ihre Meinung aufdrängte. Sie
machte den Eindruck eines Mädchens, das sehr wohl wusste, was
es wollte. Bald waren sie unzertrennlich. Doch gleichzeig gab es in
ihrer Beziehung von Anfang an einen toxischen Aspekt. Wenn sie in
Gesellschaft brillierte, empfand er Stolz und gleichzeitig Eifersucht,
denn er konnte sich nicht vorstellen, dass sie eines Tages nicht mit
einem Anderen die Veranstaltung verlassen würde. Es beruhigte
ihn nicht einmal, als er die Tatsache entdeckte, dass Jola unter den
Kommilitonen eher als guter Kumpel angesehen wurde, mitnichten
als eine Schönheit, auf die alle scharf waren.
Wenn er ihr bei unterschiedlichen Gelegenheiten nachgab (und
so war es meistens), ärgerte es ihn, dass er von der Macht der Eltern
direkt unter die Fuchtel von jemandem geraten war, der alles permanent besser wusste. In jener lange zurück liegenden Zeit war das
eine Jahr Altersunterschied bedeutend und machte Jola in seinen
Augen wesentlich älter und viel erfahrener.
Und da war noch seine katholische Erziehung, die Ursache nicht
enden wollender Probleme. Jola konnte Waldeks Verstrickungen
nicht begreifen; seine Meinung, dass man doch, wenn man wirklich
liebte, bis zur Ehe warten sollte, dass man den anderen Menschen
nicht zu diesen Zwecken instrumentalisieren sollte, und dass ein
Kuss nur dann keine Sünde ist, wenn man seine Gedanken unter
Kontrolle hat. Waldek diente seit der achten Klasse als Messdiener
beim Gottesdienst, und er hatte öfters gehört, wie die Jungs von
ihren Freundinnen die „Liebesbeweise“ erzwangen – und nichts hat
ihn auf die umgekehrte Situation vorbereitet, da er erklären mus-
7
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Photo: Elżbieta Lempp
DER LETZTE BERICHT
ZBIGNIEW KRUSZYŃSKI
8
Zbigniew Kruszyński (geb. 1957), mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichneter
Schriftsteller, der sowohl bei seinen Lesern als auch bei seinen Kritikern hoch im
Kurs steht. Er lehrt an den schwedischen Universitäten in Uppsala und Stockholm.
Der Protagonist des letzten Romans von Zbigniew Kruszyński
ist ein Virtuose der Sprache und der Beschreibung der Welt.
Zum Ende der kommunistischen Herrschaft in Polen bietet er
sich dem polnischen Staatssicherheitsdienst an, dem er – gegen einen Reisepass und gewisse Erleichterungen – über sein
Leben und seine Treffen mit Anderen berichtet. Der Einstieg
in diese Zusammenarbeit geschieht recht zynisch seitens des
Protagonisten, mit der Zeit engagiert er sich jedoch immer
mehr bei der Opposition und wird zum ‚Doppelagenten’ mit
unklarer Identität. Während des Kriegszustands reist er in
die Schweiz, wo er Gelder für die sich jetzt im Untergrund
befindende Solidarność organisiert. Als oppositioneller Held
kehrt er nach Polen zurück und versteckt sich. Von der sich
in die Länge ziehenden Konspiration müde, denunziert er bei
der Staatssicherheit einen anderen Oppositionellen im Untergrund, wird jedoch selbst das Opfer einer Denunziation. Man
verhaftet ihn und er sitzt eine mehrjährige Strafe ab. Nach
den Veränderungen von 1989 bemüht er sich nicht um einen
höheren Posten, sondern geht lediglich als Diplomat nach
Stockholm. Abgesehen davon bleibt er ein Outsider.
Die demaskierende Spitze des Romans trifft im Grunde den
Protagonisten nicht, trotz seines Zynismus und seiner moralischen Laxheit. Denn es lässt sich nicht klar sagen, wer er
ist: ein Verräter oder ein Kämpfer für die gerechte Sache. Er
ist nämlich weder der Typ eines Feiglings noch der eines Verräters – eher ein Narziss und Hedonist. Wenn er mit etwas
abschreckt, dann ist es die arrogante Selbstzufriedenheit oder
zurück zum Inhaltsverzeichnis
die Neigung, Frauen auszunutzen, mit denen er Liebesaffären
hat. Bei den Affären favorisiert er das Model des ‚Dreiecks’,
ähnlich dem Dreieck in seinen Beziehungen zur Staatssicherheit und zur Opposition. Somit sucht sich bei Kruszyński jedes
Engagement gleich eine Antithese.
Der Protagonist, das ist vor allem der Autor, also derjenige,
der die Geschehnisse festhält. Das spezifische dandyhafte Ritual begleitet bei ihm den Prozess des Schreibens selbst. Mehr
noch; Kruszyński unterstreicht, dass Stil gleich Mensch ist,
d.h. dass sich sein Held hauptsächlich in der Sprache und in
seiner Fähigkeit, die Welt zu beschreiben, verwirklicht. Und in
seinem Stil ist es unmöglich, Kruszyński selbst nicht zu erkennen. Sagt also der Autor einfach: „Auch ich hätte so sein können, wenn meine Lebensgeschichte anders verlaufen wäre“?
Oder anders: „Es existiert eine besondere Grausamkeit und
moralische Doppeldeutigkeit allein in dem Prozess des Niederschreibens des Lebens“? Oder einfacher: „Die Aufzeichnung
der Geschehnisse ist immer Literatur, in der man umsonst
nach der objektiven Wahrheit sucht“?
Jerzy Jarzębski
WYDAWNICTWO LITERACKIE
TRANSLATION RIGHTS
123 × 197, 246 PAGES, PAPERBACK
ISBN
978-83-08-04386-8
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
WYDAWNICTWO LITERACKIE, CRACOW 2009
terdicke Schwellung, das Gas im Haus stank, der Müllsack platzte
gleich im Zwischengeschoss, und der Briefträger, der mir die Ladung zum Polizeipräsidium daließ, musterte mich mitleidig; interessant, interessant, scannten mich die Pupillen unter dem Schirm
seiner Mütze hervor – die ein Chaos der zu erledigenden Dinge war:
die wieder einmal zu stark gestärkte Wäsche von der Reinigung abholen, als ob man auf einer Tischdecke schlafen würde; in der Apotheke Kalzium mit Vitaminen kaufen, wenn welches da ist; beim
Schuster, der „Butapren“ schnüffelt, Schuhe vorbeibringen; im Lebensmittelladen am Kreisel die Liste der Einkäufe abarbeiten, möglichst passend zum vorher in der Bäckerei gekauften Brot; im Hotel,
in dem man nicht wohnen muss um sich betrinken zu können, für
Gutscheine Alkohol mit Orangensaft kaufen; in der Buchhandlung
fragen, ob der Roman des Autors von „Ausläufer“ weiterhin nicht
da sei, weil wir zu zweifeln begännen, ob er ihn je geschrieben hat;
an der Unibibliothek den Leihzettel für ein verbotenes Buch – mit
einem Vermerk der entsprechenden Abteilung, dass es ausgeliehen
werden darf – abgeben und dann das Buch Seite für Seite unter
der Aufsicht der Bibliothekarin – einer Wasserstoffblondine mit wie
Lettern bleiernem Blick – lesen und mir den Kopf darüber zerbrechen, was erlaubt sei, denn Beschreibungen des Sonnenaufgangs
in Radom dürften wohl kaum verboten sein; Mutter anrufen, aus
einer Telefonzelle unter den Arkaden, deren Zähler klemmt und
nicht zur Eile mahnt, sie beruhigen, alles sei gut, in Ordnung, man
ernährt sich und verdaut, bitte, keine Päckchen, es fehlt an nichts,
außer vielleicht an Sinn, doch den nehmen sie bei der Post nicht
entgegen, am Schalter mit Blick auf die Stahlwaage.
All das, das noch vor ein paar Stunden auseinander zu fallen
schien, sich im Kosmos zu zerstreuen und trotz höherer Dosen an
Stärke und „Butapren“ unmöglich miteinander zu verbinden war,
gewann plötzlich, beim Hinaustreten vors Präsidium auf die sonnendurchflutete Granittreppe über dem geschlossenen Ring des
Festungsgrabens – was soll’s, dass das Wasser darin faulte und mit
feiner Wasserlinse bedeckt war – an Einheit und Glanz.
Ich wollte durch die Straßen rennen, ich wollte mich vereinigen.
Von überall her umzingelten mich Beobachtungen, schon nach ein
paar Metern habe ich mir den Pass und so manches Dokument verdient. In einem von der Welt abgetrennten Winkel der Schleuse
entdeckte ich ein junges Liebespaar; fester, fester forderten ihre roten Fingernägel, umsonst, weil er schon längst gekommen war und
der Wasserspiegel unverändert blieb, die Wasserlinse zuckte nicht.
Etwas weiter, auf dem Weg zwischen Parkplatz und dem hinteren
Teil der Oper stieß ich auf einen Kollegen aus meiner Gruppe – alle
auf ‚K’, der Fluch der übervölkerten Richtungen – wie er Bier unter Beimischung anderer Flüssigkeiten aus sich herauspisste. Kaum
hatte er in der Blase ein wenig Platz gemacht, schlug er ein nächstes
vor. Ich lehnte nicht ab, wir gingen zum Zelt auf dem Theaterplatz,
von dort aus hatte ich das ganze Panorama, und drum herum die
Kakophonie der Stimmen.
PUBLISHER
„SIE
haben die Gabe des Beobachtens“. Mit diesem Satz fing alles an.
Ich habe die Gabe des Beobachtens, also beschreiben wir den Sonnenuntergang, mit Einzelheiten: Wenn sich
die Sonne hinter dem mit Bieberschwanz-Ziegeln gedeckten Dach
bei den Jesuiten versteckt, nimmt das Leuchten auf dem Spitzdach
des früheren Piaristenkollegiums kein Ende.
„Sie haben die Gabe des Beobachtens, also beobachten Sie.“ Der
Offizier legte den Pass hin, ein dunkelblaues Büchlein, gültig für
alle Länder; der Stempel war etwas verfrüht, denn du kannst nirgendwohin fahren ohne die grüne Karte zur Grenzüberschreitung,
ein Stückchen Karton, das der Offizier immer noch in seinen Händen hielt und mit dem er wie mit einem As oder König spielte. „Wir
wollen nicht viel“, sagte er. Ich solle nur die Augen offen halten. Es
würde sowieso schwer sein, sie zu schließen und einzuschlafen. Eine
Reise in den Westen – man kann es nicht leugnen – bringt einen
visuellen Schock mit sich. Wir werden von allem hingerissen sein,
von den Geschäften, vom Müll. Man kann alles anfassen und an
allem riechen.
Unsere Verwunderung, dass in Bierdosen das auf ihnen beschriebene Bier ist und keine Luft. Die Shampooflaschen sind voller
Shampoo, die Weinflaschen voller Wein. Der Wodka – genauso
stark und fünf Mal teurer. Wir werden die geschmuggelten Flaschen herumtragen und versuchen, sie den geizigen Gastwirten unterzujubeln. In den Parfümerien werden wir uns den Gerüchen der
Parfümproben hingeben und neue Kombinationen mit slawischem
Schweiß kreieren. Wir werden hungrig und durstig sein. Tütensuppen im kalten Leitungswasser auflösen, weil man irgendwo kochen
können muss, um kochendes Wasser zu haben. Wir werden zum
subventionierten Baguette die bereits ranzige Krakauer kauen, ein
Leckerbissen, der eine bessere Behandlung verdient.
Wir bekämen Pässe mit dem grünen Karton. Der Offizier warf
ihn schließlich auf den Schreibtisch. „Wir?“, wunderte ich mich
und schielte zur Seite. Ja, oder habe ich etwa vor, auf meine Freundin zu verzichten? Hatte ich nicht. Wir bekämen auch Devisen
zugeteilt, hundertdreißig Dollar – wir würden sehen, wie lange es
reiche, was der Markt und dieser wahnsinnige, entfesselte Preiswettlauf bedeuteten. Es sei nicht schwer, in einem höllischen Tempo
Ware zu produzieren und sie dann mit einem ungerechtfertigten
Gewinn zu verkaufen. Innerhalb von mehreren Stunden für ein
Durchschnittseinkommen. Um wie viel schwieriger ist es, Maß zu
halten, das Warenangebot zu gestalten, den Appetit zu planen.
Sie erwarten nicht viel, lose Beobachtungen. Wer im Louvre aufmerksam die Meisterwerke studiere. Wer den dritten Monat Pfannkuchen verkaufe und am Ende des Arbeitstages sich ein paar Gläschen Grand Marnier genehmige. Mit wem die Stipendiatin schlafe,
deren Stipendium schon längst abgelaufen sei. Warum ein alter Professor, der seine Verpflegung im Wissenschaftlichen Zentrum der
Polnischen Akademie in der rue Lauriston sicher habe, ständig zwischen den Studenten in der Mensa in Maubillon, in Dunstschwaden
schlechten Weins auftauche und das plebejische Recht auf das kostenlose supplement pommes frittes missbrauche. Ob das schwere,
billige Öl die zwar ‚eingeschlafenen’, aber immer noch beweglichen
Gallensteine nicht zum neuen Leben erwecke? Denn worauf warten
die, auf eine Losung? Und ob man tatsächlich auf einem der Bögen
über der trüben Seine eine strategische Position einnehmen könne,
um zu sehen, wie sich in der Abenddämmerung ein orangefarbener
Ballon auf den Eiffelturm aufspießt, aber nicht platzt.
Ich rannte aus dem Polizeipräsidium und spürte wie mir der
Pass ein Viereck in die Brust brannte. Es war später Frühling und
im Park über dem Festungsgraben veränderte sich zusehends das
Leben; es umhüllte sich mit einer Art Schleppe oder Schleier. Aus
langem Winterschlaf herausgerissene Typen soffen Fusel noch vom
Herbst. Omas nahmen ihre Kopftücher ab und die erdfarbene,
runzlige Haut beneidete die glatte und gebräunte. Ein Paar Stare kreuzte sich mit einem Paar Stockenten auf einem wackeligen
Rauten-Schachbrett über dem Wasser. Ein Paar schläfrige Polizisten
ruhten sich auf einer kaputten Bank aus und ihre auf beiden Seiten
liegenden Mützen sahen aus wie die Huldigung der im Dienst Umgekommenen, es fehlten nur Sarg und Leichentuch.
Die Welt, die am Morgen noch unerträglich durcheinander geraten schien – eine stumpfe Rasierklinge hinterließ eine zentime-
9
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Photo: Kasia Kobel
MARGOT
MICHAŁ WITKOWSKI
10
Michał Witkowski (geb. 1975), Schriftsteller, Journ
alist, Feuilletonist. Sein
Buch Lubiewo ist in 11 Sprachen übersetzt worden.
Michał Witkowskis literarische tour de force war Lubiewo, ein
Roman über den homosexuellen Untergrund im kommunistischen Polen und die Anfänge einer Schwulenkultur im heutigen Polen. In diesem und in seinem folgenden Buch zeigte
sich Witkowski als glänzender Beobachter der Alltagssitten,
begabt mit Humor und einem ausgezeichneten Gespür für die
Sprache. Er besang die Epoche der großen Transformation als
Chronist eines Zeitalters, in dem die Paradigmen und stabilen
Identitäten ihre Gültigkeit verlieren und nichts mehr selbstverständlich ist. Die durch ihre abweichende sexuelle Orientierung
bedingten Peripetien seiner Helden lassen sich auch als Metapher für Veränderungen interpretieren, die unterminieren, was
früher für alle verlässlich und – sollte man meinen – universal
schien. Nicht zufällig ist seinem neuesten Roman ein Motto
aus Ovids Metamorphosen vorangestellt: „In neue Gestalt verwandelt will ich die Leiber besingen.“ Er erzählt von Polen,
zugleich aber von einem Teil Europas, der in stürmischem
Wandel begriffen ist: Glaube, Gewohnheiten, Urteilskriterien,
Bedürfnisse und Vorlieben – alles verändert sich. Die Titelheldin Margot, eine unberechenbare Frau mit großem erotischem
Appetit, übt einen sehr männlichen Beruf aus: Sie fährt einen großen Kühltransporter im internationalen Verkehr. Der
zweite Held ist Waldek Mandarynka, ein Junge vom Land, der
Karriere bei Big Brother macht und bald zum Fernseh- und
Bühnenstar avanciert. Die beiden begegnen sich unerwartet
im Pfarrhaus bei einem Priester, der als Businessmann ein
Unterhaltungs- und Medien-Imperium aufgebaut hat. Dort-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
hin hat sie zum Zwecke des Computer-Exorzismus Margots
Bekannter aus dem Geldwäsche-Hotel eines großen Mafiosi
geführt. Diese beiden und eine ganze Galerie von Nebenfiguren, Asia – die neue polnische Heilige und Radio-Moderatorin,
Greta, der Lenker eines deutschen Lastwagens und Verkörperung des machismo, Träger eines weiblichen Vornamens, und
Waldis Geliebte, sprich der Stilvoll Alternde Star, ein buntes
Völkchen aus Fernsehen und Showbusiness, das für die neuen
Eliten steht, füllen die Seiten dieses vorzüglichen Buches von
Witkowski.
Marek Zaleski
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
ŚWIAT KSIĄŻKI
TRANSLATION RIGHTS
Frisch gemacht, gehe ich zu McDonalds. Ich futtere am „besseren Russentisch“, denn ich bin Kühlwagen, das heißt Aristokratie.
Beim Aquarium. Im „Nevada“ gilt nämlich eine strenge Hierarchie.
Es gibt drei Kneipen, davon steht McDonalds ganz oben, und dort
wiederum steht ein Aquarium, an dem nur die großen Fische sitzen
dürfen, das heißt die Kühlwagen: Greta, Zbyszek, Ilaj usw., sowie
die Russen in Pelzmützen, die sich die ganze Zeit streiten, wer in
welcher Zeit von Amsterdam bis Moskau gefahren ist. Sie zählen
sogar die Minuten. Das ist so ein Spiel. (Ja, du kommst nach Hause, rauf das Auto auf den Wagenheber, und die Räder drehen sich
weiter !). Vor dem McDonalds hat der Parkplatz-Chef sogar einen
kleinen Zwinger angelegt, dort stolzieren Pfauen umher, und Karnickel sitzen im Käfig.
978-83-2471-745-3
Denn manchmal packt es mich so richtig, dann muss ich meiner lyrischen Ader auf dem Männerklo freien Lauf lassen. Ich ziehe
meinen eleganten goldenen Taschenspiegel und schminke mich.
Ein bisschen Pariser Eleganz, nur verdorben durch den höllischen
Gestank und die Geräusche aus der Nachbarkabine. Die fressen
all diese Würste und Eisbeine, Bratlinge und fetttriefenden Hacksteaks, was hier verkauft wird, und am Ende kommt dann so was
dabei raus. Noch eine satirische Zeichnung von Greta, gezeichnet
„Herman-Transport“, das sollte auf sie wirken. Daneben hat schon
jemand vor mir mit rosa Marker eine schöne Prinzessin mit Sternlein in den Augen gemalt, mit Zauberrute, Riesenballons und einem
CB-Funkgerät am Ohr, Unterschrift: Die Heilige Asia der Fernfahrer. Was kratzt mich das! Ich fabrizierte auf der Stelle ein Selbstporträt neben das Gedicht, spitzte meine Silhouette eindrucksvoll
ästhetisch mit einer dürren Haxe zu und hübschte meine Frisur auf,
denn heute bin ich um fünf auf dem Parkplatz aufgestanden und
seit zwei Tagen auf Tour.
ISBN
[...]
„Was? Hören Sie, wofür? Was? Kein Fahrtenschreiber... Aber ich
habe eine Pause eingelegt. Zitzie kann das bezeugen. Ich fahre erst
seit einer Stunde. Die Scheiben sind mir ausgegangen, und ich muss
das Fleisch anliefern, sondern wird’s sauer.“
Fragen Sie meine Chefin. Das ist sowieso eine Schrottkiste. Solche
MANs werden heute gar nicht mehr gebaut. Aber ich mag ihn. Er
ist so... na... so... so groß! Ich rede ihn an wie eine Frau, oder genauer ein Tier: „Kotzbrumme“. Kotzbrumme, so wie Wuchtbrumme
– hässlich, faul, ungelenk, aber wenn richtig mit ihr umgeht, kann
man ihr ganz schön was abmelken. Fünfzehntausend Geldstrafe?
Ich bitte die Obrigkeit! Großes Auto, große Geldstrafe? Ha ha ha,
alter Witz, schade nur, dass er nicht lustig ist. Na, toll, hier haben
Sie die Firmenadresse, Spanier Mariola – Mariola Spedition GmbH,
schicken Sie das meiner Chefin, Warschau, Radarstraße, fragen Sie
dort nach, dort wird man Ihnen alles sagen. Und hier haben Sie
ein Messer, geben Sie mir den Rest. Meine Chefin wird der Schlag
treffen. Was jetzt noch? Zu wenig Druck? Habe ich nachgefüllt.
Wie viel? Scheiß Bullen! Ein Typ und eine Alte, heutzutage sind die
Ich war hier
ich stand hier
wie ein Schluck Bier
vergeht mein Leben
125 × 200, 208 PAGES, PAPERBACK
„He, Margot!“ – Soviel kann er noch.
„He, Margot, fahr mal auf den Standstreifen, bisschen reden. Bye,
bye. Kommen.“
„Träum davon auf Era. Hast du dir gedacht. Hols dir runter,
Arsch. Nicht kommen. Ich wünsche dir niedrige Viadukte.“
„Gleichfalls.“
„Gleichfalls?! Mann, pass auf! Siehst du nicht, dass ich ein Kühlwagen bin? Und du bist ein PeKaEs, oder? Du solltest wissen, wo du
hingehörst, du Rüpel. Und was sollen diese Lichtzeichen, willst du,
dass die Bullen dich beißen? Hier lauern die Teddies mit dem Föhn!
– Er hat „Kazek“ an der Frontscheibe stehen. So ein Pupser mit
Schnauzer und Baseball-Mütze mit der Aufschrift „HBO“. – „Hau
ab, Kazek, Freundchen, gleich kommt Nuttental, da nimmst du dir
was bei der Schwarzen Grete. Eine Lahme nimmst du dir, ha ha!
Und ich muss auf meine Mittellinie achten. Bye, bye, gute Fahrt!“
„Gut Haftung“.
„Gute Fahrt“.
„Gut Haftung.“
„Fahrt, sage ich, verdammt, ich weiß, dass Bodenhaftung wichtig ist. Aber es ist eine heilige Sitte, dass man gute Fahrt sagt, du
kannst hier nicht plötzlich die Fernfahrerkultur ändern. Haftung
okay, aber im Winter“.
„Wo geht’s denn hier zu diesem Hotel da? Wo die Metzen sind?
Kommen.“
„Nach links, nach links und noch mal nach links,“ schreie ich und
biege dann schnell nach rechts ab, nach rechts und noch mal nach
rechts. Verloren, Mist, versenkt!“
Ich erreiche in aller Seelenruhe „Nevada Center“, trotz des angeblich zu niedrigen Reifendrucks. Amerika, nur ein bisschen sehr allein auf weiter Flur. Erst einmal pumpe ich diese verfluchten Reifen
auf. So. Bin ganz außer Puste gekommen. Dann gieße ich Schmiere
nach und bekomme zur Belohnung einen Essensbon im Wert von
fünfzehn Zloty. Ich ziehe die Handschuhe aus, werfe sie auf den
Sitz, schalte den Webasto ein, nehme meine Handtasche und ziehe mir die Lippen im tellergroßen Seitenspiegel nach, schließe das
Führerhäuschen ab und gehe aufs Klo. Aufs Männerklo, ein anderes
gibt es hier nicht. Hier ist kein Platz für Weiber. Ich ziehe meinen
Filzer und schreibe an die Wand:
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009
Ich strecke sogar den Kopf aus dem halb geöffneten Fenster, damit meine Geste seine leere Birne besser erreicht. Da hupt der auch
noch und fährt auf den Randstreifen. Zieht unanständige Gesichter,
deutet an, was er mit mir machen würde. Wenn du nur könntest,
Alter! Verpiss dich, Opa. Schönen Tag auch. Dein Vergaser ist eine
Nummer zu klein für mich, he, he! Der denkt sich, wenn da eine
Alte fährt, muss er sich sofort einfädeln. Seine Ehre erlaubt es ihm
nicht, hinter einer Frau herzufahren. Er überholt. Sogar vor einer
Kreuzung. Dabei rase ich sowieso schon halsbrecherisch schnell,
weil es mir zer... doch still. Und sofort kommt er auf schmutzige
Gedanken. Weil er eine Frau sieht. Fernstraße ist Frauennot. Null
Weiber auf hundert Kilometer. Und er sagt in sein CB:
Weiber die Bullen. Ich soll auf den nächsten Parkplatz fahren? Bin
schon weg! Auf Nimmerwiedersehen, Obrigkeit. Affenarsch, Krokodil, was für ein undankbarer Beruf, Bulle sein, die Polizei wird
immer und überall gefickt sein usw.
PUBLISHER
WIE
fährst du, Mensch, du ungewaschener
Schwanz?! Drängel nicht, du Ochse! Siehst du
nicht, dass ich Gefahrgut transportiere? Gefahr für dein Leben! Ist dir die leibliche Mutter nicht lieb?! Willst
du es krachen lassen? Ist ein Wetter, oder nicht? Na klar. Sind die
Verkehrsverhältnisse so, und nicht anders?! Es suppt seit einer Woche. Bodenhaftung eher schmierig! Mit einem Wort, Mistwetter,
Schmadderadatsch. Tief, heißt es im Radio, ein Tief über Skandinavien! Der Jahrhundert-Juli. Fahr mir am besten noch auf den Kopf!
Mann o Mann! Hast du ein Rad ab? Leck mich mal, hier! Fuck you,
motherfucker! Nicht kommen.
11
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Photo: Elżbieta Lempp
EINWEIHUNGEN
Michał Komar (geb. 1946), Doktor humanistischer Wissenschaften, Schriftsteller,
Essayist,
Autor
zahlreicher
Filmdrehbücher,
Theaterstücke
und
MICHAŁ KOMAR
Fernsehsendungen.
12
Tatsächlich ist es sehr schwer, Komars Buch auf der Landkarte
der Schriftkunst exakt zu verorten, denn es handelt sich um
ein Werk am Kreuzweg zwischen Roman, Essay, einem philosophischen Traktat und einem Kochbuch. Der Autor schafft
hier flüssige Übergänge von den Beschreibungen verwickelter
polnischer Schicksale der letzten Jahrhunderte bis zu detailierten Analysen von beispielsweise Antigone des Sophokles
oder Die Handschriften von Saragossa von Jan Graf Potocki;
von subtilen Betrachtungen über philosophische Begriffe bis
hin zu Beschreibungen raffinierter Speisen und ihrer Zusammensetzungen.
Die Hauptfiguren der Einweihungen sind Frau E. und ihr Diener – gleichsam der Erzähler der Geschichte. Die betagte Frau
E., die aus einem ehrbaren Geschlecht mit jahrhundertealter
Tradition stammt, ist eine belesene, intelligente Frau mit enormer Lebensweisheit, die ihren zahlreichen Erfahrungen entspringt. Der Diener kümmert sich im Hause (oder vielmehr: in
den Häusern) der Frau E. praktisch um alles, obwohl er sich
in erster Linie als Koch verwirklicht, Spezialist für Speisen,
die man umsonst in den Menüs auch der besten Restaurants
suchen würde, und Kenner der berühmtesten Spirituosen. Er
ist außerdem das Objekt pädagogischer Leidenschaft seiner
Arbeitgeberin, die der Meinung ist, dass es zu ihren Pflichten
gehöre, die „niederen Schichten“ zu bilden.
Der Erzähler der Einweihungen stellt die letzten Monate im
Leben der Frau E. vor, konzentriert sich dabei vor allem auf
Beschreibungen der Einladungen zu Frühstücken, Mittag- und
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Abendessen, während derer sie mit ihren Gästen (unter anderem einem beliebten Schauspieler und einem kaum gelesenen,
aber sehr interessanten Schriftsteller) abschweifende, hin und
her gehende Gespräche am reich gedeckten Tisch führt. Um es
kurz zu sagen, sind es regelrechte Orgien des Intellektes und
des Geschmacks.
Komar entschied sich in seinem neuen Buch für eine originelle
Verbindung eines soliden intellektuellen Diskurses mit einer
gewissen Kurzweil, die man unter anderem in den von Komik
und Ironie geprägten Relationen zwischen Frau E. und ihrem
Diener spürt. Dies führt dazu, dass die Einweihungen den Leser
zum einen zur Reflexion zwingen, zum anderen niemals ermüden. Komars Buch wurde komponiert wie ein perfektes Mahl
(und hier ist der kulinarische Vergleich absolut passend): das
durch den Reichtum an Geschmäckern verführt, das gleichzeitig satt macht und leichtverdaulich ist.
Robert Ostaszewski
ŚWIAT KSIĄŻKI
TRANSLATION RIGHTS
978-83-247-1319-6
ISBN
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009
Aus dem Polnischen von Paulina Schulz
138 × 220, 272 PAGES, HARDCOVER
Und dass überstürzte Handlungen zum Unglück führen. Das Alter wiederum kleidet sich in die Gewänder der Vernunft, um zu
verbergen, dass ihm die Dummheit gut steht; was auch nicht gut
ausgeht, denn: ist jemand glücklich, der sich mit seiner Dummheit
wohl fühlt?“
An dieser Stelle öffnete der Schriftsteller K. das linke Auge und
schloss das rechte.
„Ja, ja, Dummheit! Man sollte sich nichts vormachen!“, rief Frau
E., „Erinnern Sie sich an den Augenblick, in dem der Wärter seinem
Herrn Kreon die Nachricht überbringt, dass die Leiche von Polyneikes von einem Unbekannten vergraben wurde? Was macht der
Chorführer an dieser Stelle? Mein lieber Herr K., der Chorführer
beginnt zu kombinieren! Warum? Weil er sieht, dass – obwohl einem für die Zuwiderhandlung die Todesstrafe droht – sich jemand
gefunden hat, der dieses tödliche Risiko auf sich genommen hat.
Wer, um Gottes Willen? Wer kann so dumm sein? Oder im Gegenteil: gar nicht dumm. Vielleicht tut er nur dumm.
Das erste Gebot des Alters, das, was sie am Leben hält, ist das
krampfhafte Festhalten an der irdischen Existenz. Um jeden Preis,
und für die Bequemlichkeit. Die Altersvernunft, der es an jeder
Erkenntnis mangelt, verleitet zu der Annahme, dass, wenn nun
ein Mutiger aufgetaucht ist, der sich den Befehlen Kreons widersetzt, wohl eine Macht hinter ihm stehen müsse. Welche Macht?
Machtvoll genug, um Kreon den Gehorsam zu verweigern. Also
eine bedeutende Macht. Dass sie unbenannt ist? Die Menschen aus
Theben haben schon andere Wunder gesehen! Wäre es denn nicht
vernünftig, diese Macht, die von oben kommt, milde zu stimmen,
ohne Kreon dabei zu erzürnen? Und daher beginnt der Chorführer,
Kreon gegenüber irgendetwas zu schwafeln: über den Verstand, der
ihm eingibt, dass bei dem Begräbnis Polyneikes` die Götter ihre
Finger im Spiel gehabt haben müssen. Der Verstand? Es ist doch
das Letzte, was man vom Chor erwarten würde. Kreon weiß das
sehr wohl, denn er quittiert die Worte des Führers wie folgt: Hör
auf, Unsinn zu reden, bevor erkennbar wird, dass du alt und dumm
bist.
PUBLISHER
FRAU E.
erzählte mir einst, dass
ihre jüngere Schwester, die
bereits erwähnte Belle de
Jour, während ihrer Pubertät Schnecken gegenüber einen Ekel,
Hass geradezu, empfand. Sie soll auf sie uriniert, sie zertreten, mit
Petroleum begossen und angezündet haben. Alles aus moralischen
Gründen. Sie assoziierte Schnecken nämlich mit sündigen Mysterien des geschlechtlichen Lebens, vor dem sie der Priester Wincenty
zu gerne warnte. Die Obsession hörte in dem Moment auf, als Belle
de Jour zu begreifen begann, dass wenn es um das Durchdringen
des Wesens der Sünde geht, der Ekel nicht der einzige Berater sein
sollte. Ein wenig praktische Neugierde sei da schon von Vorteil.
Was mich angeht, so finde ich, dass Drosseln eine bemerkenswerte Speise sind, auch wenn es lästig ist, sie zu rupfen. Am einfachsten
ist es, sie auf dünn geschnittenen Streifen Speck zu schmoren, mit
Butter, Salz und Pfeffer, anschließend sollte man sie für einige Minuten in den Ofen tun, damit sie Farbe bekommen. Man kann es
auch anders machen: das Brustfleisch zusammen mit dem Brustknochen abtrennen, den Rest des Fleisches zusammen mit Magen,
Leber (man kann da auch zwei-drei Hühnerlebern hinzufügen) sowie mit Schalotten und Speck dünsten; dann sorgfältig kleinhacken, mit Butter, Salz, Pfeffer und zwei Eigelben verreiben, (auch mit
Kräutern, nach Belieben, wenn auch ich von Wacholder abraten
würde). Danach bestreicht man zwei runde Böden aus Blätterteig
mit dieser Füllung, legt die Drosselbrüste drauf, bedeckt sie dicht
mit Speckscheiben und schiebt das alles in den Ofen. Sobald der
Speck braun wird, sollte man ihn wegwerfen, und die Brüstchen mit
Butter bestreichen. Mir würde es gefallen – aus reinem Respekt vor
der Ordnung der Natur – wenn der Vogel von panierten Schnecken, die in Butter gebraten wurden, umgeben wäre. Ich notiere dies,
während mir bewusst ist, dass Drosseln unter Naturschutz stehen,
mit Ausnahme der Wacholderdrossel und der Misteldrossel, die nur
zeitweise in der Schonzeit sind; sie sind saftig, wenn man es richtig
anpackt. Ganz verträumt würde ich zu den Vögelchen Hermitage
oder St. Joseph reichen, die beide außer der dominierenden SyrahRebe auch ein wenig Marsanne und Roussanne aufweisen. Ein Barolo von Silvio Frasso würde auch gehen.
An dieser Stelle muss ich gestehen, dass die Tatsache, dass sich
der Schriftsteller K. in Schweigen hüllte, keine Ausnahme war. Ich
würde eher von einer Serie an Ereignissen sprechen. Zunächst fiel
unser Gast in den am Kamin stehenden Sessel, und dann nahm sein
Gesicht tief purpurrote Farbe an.
„Fehlt Ihnen etwas?“, fragte Frau E.
„Ich habe die Stimme des Herrn vernommen.“, erwiderte K. und
schloss das linke Auge, während das rechte unbewegt Frau E. anstarrte, boshaft und herausfordernd, denn solchen Eindruck machen starre Blicke.
Daraufhin wandte Frau E. den Blick vom Auge des Herrn K. ab
und sagte, das Gespräch über Sophokles fortsetzend:
„Wir erinnern uns, dass der Befehl, Polyneikes` Leiche den Hunden und den Geiern zum Fraß vorzuwerfen, zuallererst keinen eindeutigen Protest unter der thebanischen Öffentlichkeit hervorgerufen hat, die ja durch die alten Männer des Chors repräsentiert
wurde. Reden wir eher von Akzeptanz. Von Akzeptanz, die frei von
Verlegenheit ist. Denn der Befehl war anscheinend rechtmäßig, anscheinend gerecht, von einem Mann strenger Prinzipien ausgesprochen. Dieser Befehl bezog sich auf die Leiche eines Verräters, zur
Ermahnung der Anderen, somit pädagogisch wertvoll, andererseits
aber irgendwie übertrieben. Außerdem könnte Widerstand Kreon
erzürnen, was bedeutende Konsequenzen für den Chor hätte, einschließlich der Todesstrafe. Wäre es das Risiko wert? Wer wäre so
dumm, seinen Kopf zu riskieren. Man muss besonnen handeln. Somit gibt der Chorführer dem Herrscher zu verstehen, obwohl er ihm
gleichzeitig das Recht gewährt, über das Vorgehen mit dem Kadaver
des Verräters zu entscheiden, dass es ihm lieber wäre, sich von der
ganzen Angelegenheit fern zu halten. Es ist ja nicht ausgeschlossen,
meint er, dass Kreon sein Recht auf Lebende wie auf Tote anwenden
darf, so dass die Leichen den Tieren zum Fraß vorgeworfen werden
können; doch unter der Bedingung, dass der Chor aus der Sache
herausgehalten wird. Die Jüngeren sollen sich darum kümmern!
Sophokles war ein aufmerksamer Mensch, so dass ihm aufgefallen
war, dass die reine, naive Jugend dazu neigt, überstürzt zu handeln.
13
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Photo: Włodzimierz Wasyluk
TIBERIUS CAESAR
JACEK BOCHEŃSKI
Jacek Bocheński (geb. 1926), Romanschriftsteller, Essayist und Publizist sowie
14
Übersetzer deutscher und lateinischer Literatur. 1997-99 war er Vorsitzender
des polnischen P.E.N. Clubs.
Der Tiberius-Roman bildet den Abschluss von Jacek Bocheńskis
römischer Trilogie. Ihre beiden ersten Teile Göttlicher Julius.
Aufzeichnungen eines Antiquars (1961) und Der Täter heißt
Ovid (1967) wurden als Beispiele einer „äsopischen Prosa” interpretiert, die sich einer anspielungsreichen Sprache und der
Metapher des historischen Kostüms bedient, um heikle Inhalte
vor der Zensur zu verschleiern. In der Figur des Julius Caesar erkannte man Josef Stalin, der Ovid-Roman schien vom
Schicksal des zu Zwangsarbeit verurteilten Schriftstellers Joseph Brodsky zu erzählen. Der Roman Tiberius Caesar zwingt
zu einer erneuten Auseinandersetzung mit den ersten beiden
Teilen der Trilogie. Bocheński schildert die Geschichte eines
großen Herrschers, eines Menschen, der die Welt verändern
wollte, und der das Pech hatte, die Chronisten gegen sich zu
haben. Er erzählt von den ewigen menschlichen Leidenschaften, Ängsten und Sehnsüchten, von Feigheit und Mut, vom
Wesen der Macht sowie von der Rolle des Unvermeidlichen
und des Zufalls in unserem Leben. Er stellt die Frage nach der
historischen Wahrheit, nach dem Wesen von Grausamkeit und
Erotik, und er versucht zu verstehen, was es heißt, man selbst
zu sein. Dieser Roman vermittelt (wie bereits seine Vorläufer) die Einsicht, dass die menschliche Natur unveränderlich
ist. Doch aus diesem Gedanken folgt, dass der 1970 begonnene und lange Jahre zur Seite gelegte Tiberius-Roman (sogar
Freunde des Autors hielten die Schilderungen der römischen
Dekadenz für zu drastisch und gewagt) auch von unserer Gegenwart handelt. Bocheński erzählt die Geschichte Tiberius’
zurück zum Inhaltsverzeichnis
aus der Sicht eines Reiseleiters (in Göttlicher Julius war es ein
Antiquar, in Der Täter heißt Ovid ein Conférencier und Ermittler). Gegenwart und Vergangenheit gehen ineinander über, die
Stimmen der antiken Chronisten überlagern sich mit denen der
Romanfiguren und schließlich mit denen der Reisegesellschaft.
Der Erzähler polemisiert gegen die alten und neuen italienischen Marxisten, die als geistige Lehrer der Roten Brigaden
endeten (Bocheński schrieb auch ein ausgezeichnetes Buch
über den italienischen Terrorismus mit dem Titel Blutige Spezialitäten). Die Reise in das antike Rom und seine Provinzen
ist auch eine Reise in die Seele eines heute lebenden Erben und
Altersgenossen Tiberius’.
Marek Zaleski
ŚWIAT KSIĄŻKI
TRANSLATION RIGHTS
978-83-247-1556-5
ISBN
132 × 210, 320 PAGES, PAPERBACK
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009
Der beschleunigte Rhythmus der Welt. Die neue Komödie des
Lebens. Aber sicher doch, Applaus ist unentbehrlich. Schon jetzt,
gleich zu Anfang. Sie wohnen nun einer Senatssitzung im alten
Rom bei. Unruhe unter den etwas über zweitausend Zuschauern,
also Ihnen selbst. Ort der Verhandlung: die Kurie, ein historisches
Gebäude auf dem Forum, zuletzt von Julius Cäsar restauriert, von
Augustus gewissenhaft fertiggestellt. Bitte folgen Sie mir ins Innere,
die hohen Mauern, das rechteckige Langschiff, in der Mitte zu beiden Seiten die parallelen Sitzreihen. Bitte nehmen Sie Platz. Eine
hervorragende Akustik. Die Tagesordnung sieht nur einen einzigen
Punkt vor, nun gut, zwei Punkte: ein Exposé des Ersten Bürgers
mit anschließender Diskussion. Welcher Erste Bürger? Wer hat ihn
ernannt? Mit welchem Recht? Unruhe in den Reihen der Opposition.
Mystifikation! Manipulation! Provokation! Wer hat Tiberius zum Ersten Bürger ernannt? Tiberius wurde noch in Noli, unmittelbar nach
dem Tode Augustus, zum Herrscher ausgerufen. Applaus. Hat ihn
etwa Livia ernannt? Unruhe, Applaus. Er ist eben ihr Sohn, Punktum! Aber das gibt ihr nicht das Recht, ihn zum Prinzeps zu ernennen. Gut, ich, Ihr Reiseleiter … Rechtsgrundlage, Rechtsgrundlage!
Applaus. Wer applaudiert? Die Mehrheit applaudiert. In welcher
Sache? Die Mehrheit applaudiert Tiberius bereits im Voraus. Gut,
ich, Ihr Reiseleiter … Applaus … bitte um Ihre Aufmerksamkeit.
Ich bin zu der Erklärung ermächtigt … Ermächtigt von wem? Von
Tacitus, Annales, erstes Buch, siebter Abschnitt. Pfiffe, Applaus. Ich
bin zu der Erklärung ermächtigt, dass Tiberius zum gegenwärtigen
Zeitpunkt noch gar nicht als Erster Bürger fungiert. Pfiffe. Noch
nicht? Er hat diese Ratssitzung nicht in seiner Funktion als Erster
Bürger einberufen. Illegal! Illegal! Tumult in den Reihen der Opposition. Er hat diese Sitzung legal, kraft der ihm zustehenden Tribunatsgewalt einberufen, und lediglich … Caesar! Caesar! Ovationen
… und lediglich … Caesar! Caesar! Meine Worte gehen im Tumult
unter. Plötzlich eine einzelne Stimme: Wer hat Agrippa Postumus
getötet? Ich bitte um Ordnung … Postumus! Postumus! Postumus!
Agrippa Postumus! Wo ist Agrippa Postumus? Dieser Punkt steht nicht
auf der Tagesordnung. Wer hat ihn getötet? Ich bitte um Ruhe. Die
Tagesordnung sieht ein Exposé des Sohns zur Frage der Ehrung
seines verstorbenen Vaters vor. Mit anschließender Diskussion. Mit
anschließender Diskussion.
Ich bitte noch einmal ausdrücklich um Ruhe. Ich verlese nun die
amtlichen Mitteilungen. Die Konsuln der laufenden Amtszeit haben
dem Prinzeps den Treueeid geleistet. Welchem Prinzeps? Der Prinzeps
ist verstorben! Nun gut, dem Sohn des Verstorbenen. Der Verstorbene hat diesen Sohn niemals gewollt. Usurpation! Jemand: Aber er hat
ihn adoptiert! Ein anderer: Weil er musste! Ich verlese nun die zweite
amtliche Mitteilung. Applaus. Die vereidigten Konsuln haben ihrerseits die nachfolgenden Eide abgenommen … Tacitus: Als bestünde noch immer die alte republikanische Ordnung. Der Präfekt der
Prätorianergarde Seius Strabo wurde vereidigt (zur Information für
Eingeweihte: Seius ist der Vater von Seianus, des künftigen Gardepräfekten, von dessen endgültigem Schicksal dereinst Leuchtsignale
in Richtung Capri künden werden). Die öffentliche Sicherheit …
Applaus … ist gewährleistet. Applaus. Der Chef des Verpflegungsprogramms wurde vereidigt … Applaus. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln … Jemand: Wer hat Agrippa getötet?
Verehrte Herrschaften, ich bin zu der Erklärung ermächtigt,
dass der geistig verwirrte und kraft eines Senatsbeschlusses in die
Verbannung geschickte Agrippa Postumus, in der Tat vor wenigen
Tagen hingerichtet wurde. Von wem? Von einem Zenturio, der möglicherweise unter Missbrauch seiner … Auf wessen Befehl? Verehrte
Herrschaften, ich bin zu der Erklärung ermächtigt, dass der Prinzeps, Verzeihung, der Sohn des verstorbenen Kaisers Augustus, Tiberius Caesar, diesen Befehl nicht erteilt hat und nicht beabsichtigt,
ihn zu kommentieren. Aufregung unter den Herrschaften. Tacitus:
Simulabat iussa patris. Er tat, als sei es ein Befehl seines Vaters. Die
ehernen Worte des Tacitus.
Aber dieser Punkt steht nicht auf der Tagesordnung. In den Wandelgängen erzählt man sich, es habe einen Beschluss Tiberius’ gegeben, nach dem der besagte Zenturio eine Aussage vor dem Senat
machen sollte, doch der Punkt wurde von der Tagesordnung ge-
PUBLISHER
TEMPO, TEMPO!
nommen, nachdem Sallustius Crispus bei Livia interveniert hatte.
Wer ist Sallustius Crispus? Der Chef des politischen Kabinetts. Wovon
bitte? Ein Kabinett? Davon haben wir noch nie etwas gehört. Was soll
das für ein Kabinett sein? Ein geheimes. Sicher, aber wem untersteht
es? Dem Prinzeps. Welchem? Dem alten oder dem neuen? Es besteht
unverändert. Aha, aha. Und dieser Chef, dieser wie hieß er gleich …
Sallustius Crispus, der hat bei Livia interveniert und nicht bei Tiberius? Man sagt, er gehöre zu ihren Leuten. Mit seiner Intervention
wollte er verhindern, dass Tiberius all diese Vorgänge dem Senat
vorträgt, wie er es offensichtlich vorhatte. Es gebe gewisse Angelegenheiten, Staatsgeheimnisse, vertrauliche Hinweise von Beratern,
geheimdienstliche Operationen, die der Kontrolle eines Einzelnen
unterliegen müssten, dies sei eine Grundlage verantwortungsvollen
Herrschens. So hat sich Sallustius Crispus ausgedrückt. Tacitus:
Vor Angst, man könnte ihn selbst zur Verantwortung ziehen.
Darf ich Sie dennoch in den Saal bitten? In wenigen Augenblicken wird der Prinzeps, der Sohn des Göttlichen Augustus, eintreffen, um zu den versammelten ehrwürdigen Senatoren zu sprechen.
Bitte respektieren Sie die Würde des Augenblicks. Vom Forum her
ertönen bereits Ovationen. Der Sohn erscheint, umgeben von einer
Militäreskorte und in Begleitung seines eigenen Sohnes Drusus. Er
ist tief betrübt und niedergeschlagen, in Trauer um den Göttlichen,
von dessen Bahre er sich während der vergangenen Tage nicht einen
Schritt entfernt hat, wie er es in seinem Edikt zur Einberufung des
Senats formulierte. Jetzt wiederholt er diese Worte.
15
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Photo: Elżbieta Lempp
DIE KEHRSEITE DER MEDAILLE
Andrzej Bart (geb. 1951), Erzähler, Drehbuchautor, Dokumentarfilmer. In den
vergangenen Jahren veröffentlichte er die Romane Noch einmal Don Juan und
ANDRZEJ BART
Die Fabrik der Fliegenfänger.
16
Die Kehrseite der Medaille, die den Untertitel Filmnovelle
führt, ist eine literarische, völlig eigenständige Bearbeitung
des Drehbuchs, auf dem der gleichnamige Spielfilm in der Regie von Borys Lankosz basiert. Die einsträngige Erzählung
ist trügerisch schlicht. Im Prinzip spielt die Handlung in den
Jahren 1952 und 1953 in Warschau, mehrere Szenen spielen in der Jetztzeit. Sabina, eine knapp dreißigjährige Lektorin des Lyrikressorts eines großen Verlagshauses, lebt mit
ihrer Großmutter und Mutter in einer engen, mit Andenken
an die einstige, die Vorkriegsherrlichkeit vollgestopften Wohnung. In Volkspolen geriet Sabinas Familie an den Rand der
Wirklichkeit. Die Repräsentanten – wie man in der Epoche
des Stalinismus zu sagen pflegte – der alten Bourgeoisie waren zu untergeordneten Posten verurteilt, zu bitterer Armut
und anderen Schikanen. Mancher – hier der jüngere Bruder
der Protagonistin, ein sozrealistischer Maler und Konformist – versuchte, in der kommunistischen Welt Fuß zu fassen, andere – wie Sabinas Mutter – ließen sich vollkommen
einschüchtern und beherrschen. Sabinas Vorstellung, wie sie
die ärgsten Nachkriegsjahre überstehen würde, war am einfachsten: Sie wollte ihre Würde bewahren und sich anständig verhalten. Doch nicht die Politik oder öffentliche Belange
stehen im Vordergrund. Das Hauptproblem der Hauptfigur
ist ein völlig privates Mißgeschick – ihre Altjungfernschaft.
Deshalb erscheinen in Sabinas Zuhause ständig neue Verehrer, doch der, für den sich die Heldin selbst entscheidet, erweist sich – in der am besten geschriebenen Schlüsselszene
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Der Kehrseite der Medaille – als elender Schuft. Die Sache ist
nicht einmal die, dass er Geheimdienstspitzel ist und Sabina
die Ehe um den Preis des Aushorchens ihres Chefs vorschlägt,
den sie verehrt und für den edelsten Menschen auf Erden hält.
Er ist eine Kreatur, die Liebe heuchelt, von weiblicher Hingabe
und Sensibilität schmarotzt. Er muss sterben – zur Begeisterung der beiden anderen Frauen und mit dem Segen des Bruders. Jenes Verbrechen muss man wie eigentlich alles in Die
Kehrseite der Medaille als symbolisches Ereignis verstehen.
Es ist Barts Ehrgeiz, eine in poetologischer wie auch ideellmoralischer Hinsicht andere Geschichte über die schlimmsten,
von Terror und Verbrechen gezeichneten Jahre Volkspolens
zu erzählen. Es geht dem Schriftsteller jedoch nicht um die
Außerkraftsetzung der traditionellen martyrologischen Inhalte, die sich an die Epoche des Stalinismus knüpfen. Er stellt
vielmehr die Frage, was wir heute als Gemeinschaft mit diesen
Inhalten anfangen, wie wir sie nutzen und umgestalten.
Dariusz Nowacki
W.A.B.
TRANSLATION RIGHTS
978-83-7414-676-0
ISBN
W.A.B., WARSAW 2009
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
125 × 195, 168 PAGES, HARDCOVER
„Nur dass wir im Lyrikressort als Eiskunstläuferinnen auftreten
sollen...”
„Das war mein eigener Vorschlag. Was ist die Poesie, wenn nicht
ein über die Wolken Gleiten? Ich dachte, ich mache Ihnen damit
eine Freude. Sie sind jung, wohlgeformt, in einem kurzen Röckchen
könnten sie schön aufblühen...”
„Herr Direktor, aber ich kann nicht Schlittschuh laufen...” Sabina
fühlt sich erröten, und ihre Ahnung trügt sie nicht. Zu allem Überdruss weiß sie, dass sie das Gespräch falsch angefangen hat, denn
schließlich ist sie nicht in dieser Sache hier.
„Und wenn schon? Schließlich werden die Schlittschuhe um ihren Hals hängen.”
„Ich habe ein bisschen Dauerlauf gemacht, vielleicht reichen Nagelschuhe?”
Barski erhebt sich aus dem Sessel und streicht ihr etwas ungläubig
über die Wange.
„Mein Kind, wenn wir in allem so ehrlich sein könnten... Wer
wüsste mit Metaphern besser Bescheid als Sie? Alle Demonstrationen und Paraden sind in gewisser Weise Theater...” Er stockte nach
diesen Worten, und Sabina stellte fest, dass ihm auch dieses Stocken
gut stand. „Natürlich im Dienste der richtigen Sache inszeniert. Sie
spielen ganz einfach die Rolle eines sportlichen Mädchens, und ich
verspreche auf der Tribüne einen Weisen vorzutäuschen. Sehe ich
denn aus wie ein Weiser?”
„Ja. Und Sie sind einer.” Lange war sie von ihrer Sache nicht so
überzeugt gewesen.
„Gut, dass ich es wenigstens in Ihren Augen bin.” Barski steht auf
und läuft im Arbeitszimmer umher. Sie wusste nicht woher, aber
sie wusste, dass er sie jetzt nach dem fragen würde, weswegen sie
wirklich gekommen war. „Und was ist mit unserem großen Dichter? Weiß er bereits, dass wir ihn nicht verlegen können, wenn er
sich nicht für die kleine Umredaktion entscheidet? Bitte bleiben Sie
sitzen, ich laufe gerne umher. Eine Angewohnheit aus der Zelle.”
„Morgen soll er kommen, um zu erfahren, wie Sie entschieden
haben.”
„Fräulein Sabina, wenn ich über alles zu entscheiden hätte, dann
würde ich es als unseren größten Erfolg betrachten, einen solchen
Dichter für unser Haus zu gewinnen... Die internationale Lage ist
jedoch so und nicht anders, überall lauern Feinde...” Er sagt das
ohne Überzeugung, ist aber auch so überzeugend.
PUBLISHER
SABINA
kann vor Aufregung die
halbe Nacht nicht schlafen.
Das ist immer so, wenn ihr
ein Gespräch mit Direktor Barski bevorsteht.
Sie geht den langen Korridor zum Arbeitszimmer des Chefs entlang und spürt ihre Knie beben. Vom medizinischen Standpunkt
aus könnte es verblüffen, dass sie trotz des Bebens rascher geht als
gewöhnlich. Im Sekretariat verrät Pani Krystyna ihr das Geheimnis
des Strickens. Der vor einem Monat bestellte Pullover aus beigefarbener Wolle ist schon fertig. Der Kragen und die Manschetten
dunkelbraun. Zu der Farbzusammenstellung riet Großmama, die
einen ähnlichen Pullover besaß, als im Pensionat war, und den hatte
auch eine Frau namens Krystyna angefertigt.
(…) In der Tür des Arbeitszimmers erscheint Lidia. Sie ist eines
der schönsten Mädchen in Warschau, und bei ihrem Anblick versetzt es Sabina immer einen kleinen Stich der Eifersucht. Wenn sie
jedoch zu wählen hätte, zöge sie es vor, anstelle ihrer Schönheit einen ebensolchen Mut zu haben. Lidia fürchtet nichts und niemanden und kann in der Gegenwart des Direktors sogar laut lachen.
„Er telefoniert, du kannst aber schon reingehen. Er hat heute gute
Laune.” Sie lässt Sabina passieren und schließt die Tür. „Die Farbe
Beige passt zu ihr wie angegossen. Nur Grau wäre noch besser...”,
sagt sie über den Pullover, den Pani Krystyna in Papier einwickelt.
„Denk du lieber mal über deine grellen Lippenstifte nach” möchte Pani Krystyna antworten, schweigt aber.
Das Arbeitszimmer ist groß und der Weg zum Schreibtisch lang.
Sabina war als kleines Mädchen mit ihrem Vater hier. Sie hat längst
vergessen, in welcher Angelegenheit und warum Vater sie zu seinem
Freund mitgenommen hatte, dem Direktor der Landwirtschaftsbank. Von jenem Aufenthalt hier war ihr nur der Geschmack einer Schokoladentrüffel und der Duft des Cognacs, den die Männer
tranken, in Erinnerung. Bei den späteren Besuchen erinnert sie sich
nicht nur an jedes Wort Barskis, sondern an jedes Heben der Augenbrauen.
Der Schreibtisch steht an derselben Stelle wie vor dem Krieg, das
Sofa und die Sessel sind näher ans Fenster gerückt. Mit Sicherheit
mehr Bücher, andere Portraits an den Wänden. Das PiłsudskiPortrait, das sie im Gedächtnis hat, war nicht gelungen, denn der
Marschall sah darauf sehr furchteinflößend aus, und so war er doch
nicht. Über die Portraits, die jetzt dort hängen, möchte sie lieber
nicht nachdenken. Ein neues Möbelstück im Arbeitszimmer ist der
Konferenztisch. Im Juli hatte er hier mit Sicherheit noch nicht gestanden.
„Es wäre mir lieber, wenn Sie mich nicht enttäuschen würden,
werter Genosse. Wir brauchen kein Flugzeug, um die Möbel zu
transportieren...” Barski telefoniert. Bei Sabinas Anblick lächelt er
und deutet auf einen der Sessel.
Sabina setzt sich und betrachtet die Schreibtischlampe. Eine kaum
bekleidete Frau aus Bronze hält den Glasschirm empor. Hinter ihr
ist der Mensch gut zu sehen, der, auch wenn er geflüstert hätte,
immer zu hören gewesen wäre.
„Das ist eine politische Frage, und zwar nicht nur eine kulturpolitische. Verstehen Sie, woran ich denke? Ja, ich warte auf die Bestätigung... Holzkopf!” Das letzte Wort sagt er bereits, als er den Hörer
auf die Gabel gefeuert hat. Erst jetzt blickt er sie an und lächelt so,
wie nur er es kann. „In welcher Angelegenheit kommen Sie zu mir,
Frau Redakteur?”
Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch und setzte sich auf den
Sessel ihr gegenüber. Er war nicht groß, aber er gehörte zu den
Menschen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So stellte sie
sich Napoleon Bonaparte vor, nur dass Barski keine bedeutenden
Mienen schnitt und die Hand nicht auf die Brust legte. In seinem
zerknitterten Sakko und Hemd mit dem angeknöpften Kragen sah
er heute aus wie der Schriftsteller Somerset Maugham, dessen Bild
auf ihrem Schreibtisch stand.
„In keiner wichtigen. Die Kaderchefin hat beschlossen, dass wir
bei der nächsten Parade Sportbekleidung tragen sollen...”
„Das ist eher eine Direktive von oben. In einem gesunden Geist
ein gesunder Körper oder vielleicht auch umgedreht. Wir, die wir
die Bildung ins Land tragen, sollen unsere Bereitschaft zur physischen Anstrengung zeigen. Eigentlich lustig, aber in der Norm,
meinen Sie nicht?”
17
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Photo: Łukasz Bursa
HINTERLAND
MARTA SYRWID
18
Marta Syrwid (geb. 1986) hat Ethnologie und Filmwissenschaft an der Jagiellonen-Universität in Krakau studiert
Die Mittzwanzigerin Klara Wiśniewska ist magersüchtig. Sie
kennt alle ihre Körpermaße auswendig und kann den Kalorienwert sämtlicher Lebensmittel exakt bestimmen. Ihre Hauptnahrungsmittel sind grüne Bohnen, Karotten, Reis und Süßstoff, wobei sie von Zeit zu Zeit ihre Ernährungsweise ändert,
um zu überprüfen, mit welcher Diät die besten Ergebnisse zu
erzielen sind. Über ihre Beobachtungen von Veränderungen an
Organismus und Haut könnte sie eine Doktorarbeit schreiben.
Marta Syrwids Protagonistin ist sich nur selten bewusst, wie
sehr das Hungern sich auf ihre geistige Leistungsfähigkeit auswirkt. Dennoch beschließt sie, etwas dagegen zu tun. Sie stellt
sich also ihrer eigenen Person, oder besser: spaltet sich in zwei
Personen auf – in die Klara, die an Magersucht leidet, und
in die Klara, die das Stadium ihrer Krankheit bewertet und
versucht, deren Auslöser zu finden. Den ganzen psychischen
Ballast, den sie mit sich herumschleppt, auf die Wagschale zu
legen. Eine Expedition ins Hinterland.
Das Krankheitsbild der Anorexie ist bereits hinreichend bekannt; die Schriftstellerin konzentriert sich lediglich auf diesen einen, konkreten, bis ins kleinste Detail analysierten Fall.
So beschreibt sie genauestens Klaras Familiensituation. Es
wird die Beziehung der Eltern beleuchtet, wobei die Autorin
sich auf die Figur des Vaters konzentriert, eines Mannes, der
nicht nur keine Liebe zeigen kann, sondern Klara – und später
ihren kleinen Bruder – psychisch und physisch misshandelt.
Die Kinder sind somit die Schwächeren und praktisch wehrlos.
Nicht besser steht es um Wiśniewskis Verhältnis zur Ehefrau,
zurück zum Inhaltsverzeichnis
die sich jedoch nicht unterdrücken lässt und ihm die Stirn bietet, was beinahe täglich zu hässlichen Szenen führt. Klara,
die weder über Einfluss- noch Ausbruchsmöglichkeiten aus der
heimischen Hölle verfügt, giert nach der Kontrolle über Dinge,
die von ihr selbst abhängen: ihr Aussehen. Syrwids Diagnose
ist hiermit eindeutig: die Krankheit des Mädchens ist eine Folge der vergifteten Familienatmosphäre, in der sie aufwuchs,
und nicht der unkritischen Übernahme eines heutzutage lancierten Schönheitsideals.
Die psychologisch präzise, fest auf dem Grund der gesellschaftlich-ökonomischen Realien fußende Darstellung der Familie
Wiśniewski ist das originellste Element dieses Romans. Ebenso
eindrucksvoll ist jedoch die Schilderung des täglichen Ringens
mit dem Hunger. Das vor allem wegen des poetischen Stils, frei
von jeglicher Exaltation, dessen sich die Autorin bedient. Die
zuhöchst künstlerische Sprache und die ungewöhnliche, in der
Narration konsequent durchgehaltene „Persönlichkeitsspaltung ” zeugen von der Reife der jungen Autorin. Syrwid hat
bereits viel zu sagen und weiß, wie sie es sagen will.
Marta Mizuro
W.A.B.
123 × 195, 224 PAGES, PAPERBACK
TRANSLATION RIGHTS
978-83-7414-662-3
ISBN
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
W.A.B., WARSAW 2009
gibt es lang herbeigesehnte und wunderbare Tage. Wenn Vater nicht
da ist. Ich esse die ungesunde gezuckerte Milch aus der Tube, Mama
nimmt sich frei. Wir müssen nicht in den Kindergarten, nicht zur
Schule. Ein paar Jahre später hat Mama Olek auf dem Schoß und
spielt mit mir Monopoly. Wir essen Popcorn und gucken Märchen
auf Video. Erst spät gehen wir schlafen. Wenn Vater zurückkommt,
wird es still und schrecklich. Ich spüre die drückende Luft bei geschlossenem Mund. Als hätten wir uns alle vor einem Ungeheuer
im Schrank versteckt. Und bemühten uns, nicht zu atmen, weil es
uns sonst finden könnte.
Ich habe Angst vor meinem Vater, wenn ich mit ihm am Tisch
sitze. Ich bin ein paar Jahre alt.
Jetzt nicht. Jetzt nicht, denn ich treffe ihn nicht. Seit langem sprechen wir nicht miteinander. Ich habe ihn über eine Woche nicht
gesehen. Er wohnt im Zimmer nebenan. Er und ich, wir haben
einen ungeschriebenen Vertrag. Wenn Vater hört, dass ich in der
Küche oder im Vorzimmer bin, kommt er nicht aus seinem heraus.
Um mich nicht zu treffen. Wenn das Telefon klingelt, ist es unangenehm. Vor dem Apparat treffen wir aufeinander.
Du fragst, ob ich will, dass du schlecht über ihn denkst? Dass ich
ihn zu negativ darstelle. Dass ich meinen Ärger rauslasse. Du weißt,
was ich dir sagen werde. Oder? Sprich leiser, Klara, Vater merkt,
dass du nebenan am Tisch sitzt. Er schmeißt dich raus, und ich
kriegs später zu hören, weil ich fremde Leute nach Hause einlade.
Bei Gelegenheit. Soll ich dir was von draußen mitbringen? Du bist
ja allein in dem Laden. Nicht?
Das Maggi knallt auf den Tisch. Er hat fertig gegessen.
„Na los, weiter, iss!” Spricht, als würde er schreien.
Ich kann Brühe nicht ausstehen. Mama weiß das. Aber sie hat
meinen Teller gefüllt und auf den Tisch gestellt. Als Vater nur die
Wohnung betrat. Brüllte.
„Na mach schon, Helka, trag die Suppe auf!”
Er wusch sich die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht,
trocknete sich mit Mamas Handtuch ab. Sie streiten sich immer,
weil Vater sich nicht merken kann, welches Handtuch sein ist.
Wenn Mama nur ihm Suppe gegeben und sich mit mir im Zimmer eingeschlossen hätte. Wir hätten Vaters Misstrauen geweckt. Er
hätte begonnen, an unsere Tür zu klopfen. Zu drohen. Damit wir
gestehen sollten. Was passiert ist?
Mama hätte beteuert, nichts sei passiert.
Er hätte ihr nicht geglaubt.
Beide wären explodiert.
Mama hätte geweint.
Deshalb habe ich Brühe bekommen und sitze vor meinem Teller,
Vater gegenüber.
Er erhebt sich. Ragt vor mir auf. Legt die Hand auf meinen Kopf.
Umfasst mit seiner Hand meine ganzen Haare. Streichelt mich
nicht. Ich erschauere. Fühle, dass er mich ertappt hat. Dabei, dass
ich mich vor ihm ekle. Mit meinem ganzen Dasein.
Ich blicke Vater an, von unten. Lege den Kopf nicht besonders
weit in den Nacken. Warte.
Er bewegt die Lippen. Öffnet sie nicht. Schiebt die geschlossenen
Lippen von links nach rechts. Beleckt sie. Dreht sich um. Geht.
Ich habe eine Gänsehaut von innen.
Genauso eine, wie wenn Vater mir aufträgt, die mit Spucke gelöschten Zigaretten ins Klo zu schmeißen. Aus dem gläsernen,
schweren, tiefblauen Aschenbecher. Ich werde ihn auf ausgestreckter
Hand tragen. Mich schütteln. Mich dabei bemühen, seine Ränder
nicht zu berühren. Auf die letzte gelöschte Zigarette lässt er Spucke
tropfen. Mama wird nicht in der Wohnung sein. Die Spucke beginnt auf dem erlöschenden Stummel zu knistern. Ich erbreche das
Frühstück. Auf den Teppich. Kriege eins aufs Maul. Mit der Hand.
Von der Seite. Auf den Kopf. Ich falle aufs Sofa. Kriege was auf den
Hintern. Vollgekotzt, verheult. Es wird mir kalt sein, denn ich werde
vorausahnen, dass er noch etwas tun wird. Er schlägt zu. Zerschlägt
diesen Aschenbecher auf meinem Kopf. Aber verbietet mir nur zu
weinen. Sagt, ich solle die Fresse halten. Stößt mich noch einmal.
„Und geh mir aus den Augen, du elender Drecksbalg. Wasch dir
Hände und Gesicht und flenn hier nicht rum. Du altes Ferkel, guck,
PUBLISHER
MANCHMAL
was du gemacht hast, alles vollgekotzt, das wischst du jetzt auf. Du
putzt das weg, mit deiner eigenen Zunge leckst du das auf.”
Ich renne ins Bad, verriegele die Tür. Stecke die geballte Faust in
den Mund. Ich werde draufbeißen, bis ich zu weinen aufhöre. So
leise, wie ich kann. Ich höre den Bus, der am Fenster vorbeifährt.
Und die Türklingel einige Jahre später, eine halbe Minute später,
Mama, die sich verspätet hat. Vater wird mir nichts mehr antun
können.
Ich lasse Mama ins Bad. Sie sieht mich zwischen Waschmaschine
und Wäschekorb sitzen. Die Faust im Mund. Ich werde nach Kotze
stinken. Mama streichelt mir über das Haar, leckt sich über die Lippen und beißt die Zähne zusammen.
„O Gott, mein Liebling.”
Sie kniet sich vor mich hin. Mit einer Hand nimmt sie mir die
Faust aus dem Mund. Mit der anderen beginnt sie mich zu kämmen. Gibt mir einen Kuss auf die Stirn, als wollte sie prüfen, ob
ich Fieber habe. Sie wird noch immer weiche und feuchte Lippen
haben.
Ich esse die Brühe nicht. Stehe stumm vom Tisch auf. Renne zu
Mama. Sie blickt mich durch die Glasscheiben von der dunklen
Küche her an. Die ganze Zeit hat sie mich und Vater durch diese
schmutzigen Vorhänge hindurch beobachtet. Ich drücke mich an
ihre Beine. Sie riecht gut. Nach Wärme und Schweiß.
Vater hat gemerkt, dass ich ihn nicht ertragen kann. Zwischen
uns brennt die Luft.
Und die Schere. Das ist die größte Errungenschaft aus meiner
Kindheit. Eine weitere Tortenschicht.
Ich bin fast acht Jahre alt. Ich bin mit Vater in der Wohnung. Er
tischt Suppe auf. Graupensuppe.
Ich kann Graupensuppe nicht ausstehen. Gekochtes Fleisch,
Graupen, bräunlich, gelblich, scheußlich. Darin herumschwimmender Sellerie und Kartoffeln. Ich weiß, dass ich nicht kann. Es
einfach nicht aufessen. Vater gibt mir Brot zur Suppe. Altes Brot.
„Hier, zum Eintunken.”
Er hat dieses Brot aus einer Baumwolltasche genommen. Mama
sammelt in ihr Brotreste für die Schwäne. Aus dem Park neben unserem Haus. Ich esse die gekochten Kartoffeln aus der Suppe heraus. Mehr kann ich nicht.
Mama kehrt nicht zurück.
Vater kommt in die Küche nach Jahren des Beinebaumelns unter dem Tisch. Nach Stunden des Krümel-über-den-Tisch-Pustens,
von links und von rechts. Das Brot unberührt. Die Suppe genauso,
nur ohne Kartoffeln.
„Ich hab nur die Kartoffeln rausgegessen, denn diese Suppe kann
ich einfach nicht essen.”
„Iss, aber sofort. Aufessen sollst du. Ich werd schon aufpassen,
du rührst dich nicht vom Fleck. Solange das hier nicht aufgegessen
ist!”
Nase, Augen, Ohren, Haare, alles an ihm ist wie seine Worte, ein
gleichförmiger Ton. Alle Weichheit abgeschliffen.
Er setzt sich neben mich. Ich esse nicht. Ich weiß, dass die Stille
ein Ende haben wird. Die Bombe wird platzen.
19
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Photo: Elżbieta Lempp
DER TOD DES TSCHECHISCHEN HUNDES
JANUSZ RUDNICKI
20
Janusz Rudnicki (geb. 1956), politischer Emigrant, lebt seit 1983 in Hamburg,
publiziert jedoch regelmäßig in Polen. Der Tod des tschechischen Hundes ist
bereits sein siebter Prosaband.
Ab und zu stelle ich mir die Frage: Was zieht mich eigentlich
so zu den Texten Rudnickis, der doch seit Jahren unentwegt
genauso (hauptsächlich in der Tonlage der Groteske) über
einunddasselbe schreibt (vor allen Dingen über sich selbst)?
Wo mir doch das Einerlei in der Literatur überhaupt nicht
behagt… Ausschlaggebend ist in meinem Falle nicht Rudnickis
brillanter Prosastil, obschon er zweifelsohne ein Schriftsteller
ist, der es versteht, die Wörter ordentlich „im Munde herumzudrehen”, der Autor jongliert behende mit den verschiedensten Sprachregistern des Polnischen, verquickt kunstvoll
elegante Metaphern mit derben Grobschlächtigkeiten. Die
Sache ist die, dass der Autor von Der Grenzgänger aus den
Grundelementen seiner Prosa (Groteske, Ironie, Humor, Distanz, Provokation...) ideal konstruierte, auf den letzten Punkt
gebrachte Texte verfassen kann. Mit anderen Worten Texte,
in denen es keine überflüssigen Wörter oder Sätze gibt, keine Prosawatte, was der Erzähl- und Miniaturenband Der Tod
des tschechischen Hundes erneut unter Beweis stellt. Das Buch
besteht aus zwei Teilen, Erste Texte und Weitere Texte, und
diese Unterteilung verweist auf die beiden bereits in den früheren Büchern vertretenen Hauptinteressenbereiche Rudnickis, der einerseits seine eigenen Erfahrungen eines „Polen auf
Dienstreise” irgendwo in der Schwebe zwischen Deutschland
und Polen zu grotesken, manchmal frevlerischen Erzählungen
ausgestaltet, der aber andererseits Geschichten ganz eigener
Art über bekannte Persönlichkeiten aus Literatur und Kultur
und deren Werke zu einzigartigen biographisch-intertextuellen
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Variationen umschreibt und kommentiert. Im ersten Teil treibt
er erneut zwischen Polen und Deutschland seinen Schabernack
(zum Beispiel in der Titelgeschichte), feixt über verschiedene
nationale Unarten, macht dabei aber auch vor sich selber nicht
Halt und betitelt sich ironisch als den „herausragendsten noch
lebenden polnischen Schriftsteller”. Dennoch ist – wie mir
scheint – in Rudnickis neuem Buch der zweite Teil entschieden
interessanter, insbesondere die brillante Erzählung über die
Schwächen und Wunderlichkeiten Hans Christian Andersens
(Andersen, Andersen) und die das Monument des Schriftstellermythos ins Wanken bringende Geschichte von bekannten
Autoren, die gerade darin besondere Meisterschaft bewiesen,
nichtrückzahlbare Darlehen aufzunehmen („Das Beschwerdeheft”). Rudnicki schont in seinen Texten nichts und niemanden.
Ein Frevler? Ein Provokateur? Das auch, aber vor allem ein
Schriftsteller, der von Zeit zu Zeit frischen Wind in die Literatur bringen und dem Leser einige unbequeme Fragen stellen
will.
Robert Ostaszewski
W.A.B.
TRANSLATION RIGHTS
978-83-7414-558-9
ISBN
123 × 195, 208 PAGES, HARDCOVER
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
W.A.B., WARSAW 2009
Die Polen spenden ihr Blut lieber den Deutschen. Im Zentrum von
Görlitz kauft eine deutsche Firma Blut an. Die Hälfte der Spender sind
Polen aus der näheren Umgebung. Sie verdienen so ihr Geld für den
Urlaub, Klamotten, Bier. (...) In Polen bekommt man für das Spenden von Blut oder Blutplasma allenfalls sechs Tafeln Schokolade. In
Deutschland kann man damit Geld machen. Die Firma hat alle ihre
Vertretungen in Ostdeutschland. Vor mehreren Monaten investierte sie
eine Million in ihre fünfzehnte Blutspendestation, in Görlitz, das nur
die Neiße von Zgorzelec trennt. („Gazeta Wyborcza”, 2007)
„Verfickt, Himmelarschundzwirn, hört mich denn keiner?! Hallo?! Schickt mir Unterstützung! Alleine kann ich die Barrikade nicht
halten, es sind zu viele!”
Vor mir unsere Leute, sie kommen von allen Seiten auf mich zu.
Hinter mir, in einem Gebäude im Herzen der Stadt eine weißgekleidete Armee deutscher Soldaten, alle mit Spritzen in den Händen!
Ich bin Regierungsagent in besonderer Mission. Meine Spezialität
sind die Brennpunkte, wenn sie so gefährlich lodern, dass man sie
kaum löschen kann, dann lösche ich sie, der Mann für die Spezialaufträge. Beispiele? Erinnert ihr euch an die weiße Böe in Masuren? Ich war der vermeintliche Hellseher, der ihr letztes Opfer
fand. Dank mir marschierte keine fremde Armee in Tiflis ein, und
es kam in Georgien nicht zum Regierungswechsel. Ich war es, der
den Durchbruch bei der Suche nach dem Grab des Nikolaus Kopernikus brachte. Und wenn ich mit Professor Geremek mitgefahren
wäre, dann wäre der nicht hinterm Steuer eingeschlafen. Und wenn
die Tschechen die Anbringung von zweisprachigen Straßenschildern
im Olsagebiet noch länger hinauszögern, werden sie eines Morgens
ihr blaues Wunder erleben. Und ich werde, wenn ich nicht umkomme oder die Seiten sich einigen, derjenige sein, der das Problem der
Ostseepipeline löst, denn ich, nicht das Gas, werde deutscherseits
heraussprudeln. Reicht das?
Zum Brennpunkt wurde die Stadt Zgorzelec: Anfangs vergossen
hundert von unsern Leuten Woche für Woche ihr Blut am anderen Neißeufer. Wenn man nur Blut verkaufen dürfte, führe uns
das nicht so in die Knochen, Blut darf man nur viermal im Jahr
spenden (pro Einzelspende zwanzig Euro), begraben liegt der Hund
jedoch in dem verfickten Blutplasma! Billiger als Blut (pro Einzelspende fünfzehn Euro), aber das darf man sechsunddreißigmal im
Jahr vergießen! Macht im Jahr? Plus Blut? Ebendrum. Hundert von
unsern Leuten Woche für Woche, sage ich doch, die Daten sind
schon älter, jetzt ist die Situation so brenzlig, dass es keinen anderen
Ausweg mehr gab, ich musste auf der Bühne der Zgorzelecer Ereignisse erscheinen.
Ein katastrophaler Anblick, als ich mir den Fallschirm vom Kopf
ziehe. Die Straßen entlang ziehen Menschen wie die Auserkorenen
der Vampire: aschfahl, kreideweiß, hellblau. Der Bürgermeister der
Stadt macht, wobei er sich mit dünner Stimme dafür entschuldigt,
dass er sich zur Begrüßung nicht vorm Stuhl erheben kann, mir
Meldung, dass ich unser Blut rächen solle, denn die hinter dem
Fluss, auf die wir doch angewiesen seien, zapften mehr ab als
nur den halben Liter. Und bezahlen täten sie nur für den halben.
Und dass die Hälfte der Einwohner Blut vergießen gehe, und wer
nicht gehe, gehe nicht, weil er schon gegangen sei. Und dass die
Armen aus den Strafcontainern – ihre Kommunalwohnungen hatten zwangsräumen sie müssen – gingen und dass auch die aus den
Nachbardörfern gingen, weil die Bauern ihr Blut schließlich immer
vergossen hätten. Und dass unklar sei, wer es wie oft vergösse, weil
die Polizei einen extremen Anstieg von Ausweisdiebstählen und fälschungen verzeichne. Und illegaler Schwangerschaftsabbrüche,
denn schwanger...
Der Bürgermeister redete immer noch, und ich war schon auf
der Straße, und gleich ganz nah an der Grenze, verfickt, tatsächlich,
Menschenmassen, je näher man der Brücke kam, um so unverhohlener! In dem Sinne: Die einen kommen zurück, die anderen gehen
hin. Stop! schreie ich aus dem Militärjeep, mit einem Megaphon,
Stehenbleiben, ihr Gesindel! Sie betrügen euch, sie lassen euch ausbluten wie beim Säueschlachten! Und wem rettet ihr so das Leben,
ihr LeibundSeelenverkäufer?! Ihr männlichen polnischen Rindsviecher! Ihr weibliches Heimataas! Ihnen? Gerade ihnen?! Bei uns gibt
PUBLISHER
AUF DER BARRIKADE
es keins, ein verficktes Pech für die Opfer, die am Unfallort überleben, denn woher das Blut nehmen?!
Nichts, die polnische Pilgerschar reagiert nicht, sie gehen durch
mich hindurch, als wäre ich unsichtbar! Das ist die erste Auswirkung der Grenzöffnung: Sie geben bei uns ihre Pfandflaschen ab
und wir bei ihnen unser Blut.
Ich hatte Stacheldrahtballen auf die Brücke gerollt, doch sie zogen
blutüberströmt weiter.
Im Zentrum von Görlitz, auf dem Platz, wo das Institut ist, warf
ich Tränengas, Raketen und Rauchkerzen, es half etwas, sie wichen
zurück, aber nicht für lange.
„Verfickt, Himmelarschundzwirn, hört mich denn keiner?! Hallo?! Schickt mir Unterstützung! Alleine kann ich die Barrikade nicht
halten, es sind zu viele!”
Keiner hört mich, denn ich habe in dem Rauch und Lärm keine
Verbindung zur Zentrale. Alleine schaffe ich es nicht. Ich lege mich
auf die Schwelle, sie gehen über mich hinweg, trampeln drüber, und
ich werde aussehen wie eine Tischdecke nach einer Hochzeit. Einer
auf dem Dorf. Ich zerreiße mein Hemd, genau dasselbe, dazu erfriere ich, wer hält im Januar lange mit nacktem Oberkörper durch?
Kann man nichts machen. Ich zerreiße mich in Stücke. Sprenge
mich dort in die Luft, es bleibt kein anderer Ausweg. Ich renne ins
Institut und sprenge. Und nehme sie alle dort mit. Mitsamt ihrem
ganzen Hauptquartier dort. Des roten Teufels. Und alle kommen
sie in die Hölle, ich aber in die Schulbücher. Und meine Organe,
wenn sie geeignet sind, in andere Leiber.
21
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Photo: Emilian Snarski
FOTOPLASTIKON
Jacek Dehnel (geb. 1980), Dichter, Übersetzer, Schriftsteller und
Maler.
2008 erschien im Rowohlt Verlag die Übersetzung seines Romans Lala,
der auch
JACEK DEHNEL
in Italien und Israel erfolgreich herausgegeben wurde.
22
In Fotoplastikon übt Jacek Dehnel die Kunst der Ekphrasis,
das heißt, der Beschreibung eines plastischen Kunstwerks mit
Worten. Diese Kunstwerke sind alte Fotografien oder Postkarten – meistens aus dem 19. Jahrhundert und vom Anfang des
20. Jahrhunderts, obwohl es auch Fotos gibt, die nach dem
Zweiten Weltkrieg aufgenommen wurden. Der Autor ordnet
die Bilder oft paarweise an, um – wie in einem echtem Fotoplastikon – einen stereoskopischen Effekt zu erzielen. Doch
welchen Zweck erfüllen die Beschreibungen (denen im übrigen
Reproduktionen der Bilder selbst zur Seite gestellt werden)?
Die Ekphrasis ist eine eigentümliche Kunst, scheinbar überflüssig, denn warum sollte man beschreiben, was man ohnehin
sieht? Doch derjenige, der Worte benutzt, muss notwendigerweise die Rolle eines Interpreten der Szene einnehmen, die
Rolle eines, der den Rahmen des Bildes überschreitet, der den
Kontext rekonstruiert und dem einen Moment aus dem Leben
der Menschen und Gegenstände, den der Apparat aufgezeichnet hat, ihre frühere und spätere Geschichte hinzufügt. Der
Beobachter des Bildes wird auch zum Soziologen und Psychologen, der die Motivationen erforscht, die der Pose und dem
Verhalten der Fotografierten zugrunde liegen, der das soziale
Milieu rekonstruiert, in dem sie lebten und das ihr Image kreierte. Er verfolgt und beschreibt auch das, was es auf dem Bild
nicht gibt, oder was nur indirekt auf ihm vorhanden ist, verborgen wie der Revolver in Antonionis Blow Up. Er entziffert
die Texte auf der Rückseite der Fotografien, und er liest auch
aufmerksam den Text ganz anderer Art, das heißt, den vom
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Fotografen arrangierten Hintergrund, auf dem die Gestalten
erscheinen.
Dehnel ist fasziniert von dem, was vergangen ist; dieser Faszination entspringt der außergewöhnlich reiche Wortschatz,
mit dem er die Gegenstände auf den Bildern beschreibt. Aber
es gibt noch einen anderen Grund, aus dem das mit Worten
beschriebene Bild zu etwas anderem wird als das Original es
ist: Die Fotografie fängt die Gestalten und Dinge in ihrer Individualität und Unwiederholbarkeit ein; das Wort verallgemeinert notwendigerweise, synthetisiert, passt die Objekte in
ein „Bild der Epoche“ ein. Deshalb ist Dehnels Buch nicht
nur eine Beschreibung von Bildern, sondern auch der Versuch
einer sehr emotionalen Lektüre der Vergangenheit, ihr Held
ist die Zeit als zusätzliche Dimension; erst sie bringt die Geschichte in die Rezeption der Fotos ein, indem sie diesen einen
historischen Kontext verleiht – und das bittere Bewusstsein
darüber, was kommen wird, und wovon die Fotografierten keine Ahnung hatten, als das Magnesium verbrannte und der Auslöser gedrückt wurde.
Jerzy Jarzębski
Warschau, 19.10.2007
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
W.A.B.
TRANSLATION RIGHTS
978-83-7414-692-0
Warschau, 9.6.2009
230 × 200, 224 PAGES, HARDCOVER
Ach, wäre das nicht! Aber das ist schließlich da, zieht sich über
einen großen Teil des Bildes, als würde der Kopf des Jungen wie
ein Magnet Materie anziehen, als würde er bewirken, dass Wände, Köpfe, Frisuren, Hemdkragen flüssig werden, als würde er die
sommerliche Luft ansaugen, mit ihren Staubteilchen, mit allem; es
scheint, als wäre im Zentrum, auf dem Ehrenplatz, der schnauzbärtige Glatzkopf – aber nein, im Zentrum, wenn auch etwas verschoben, ist der Kleine.
Oh, wir kennen ihn, wir kennen diese Geschichten – artige,
schüchterne Knaben, die mit einer Berührung des Fingers das Holz
in Asche verwandeln, die mit einem Schrei Fensterscheiben zum
Springen bringen, die mit dem Blick Blumentöpfe auf dem Fensterbrett versetzen; wenn sie sich aufregen, springen mit lautem Krachen die Schubladen heraus, und Gabeln und Löffel fliegen durch
die ganze Küche und bekleben sie mit einem Panzer aus Besteck, der
bei jedem Schritt knirscht; deshalb dürfen diese Knaben aus ihrem
eigenen, ihrem Lieblingsbecher trinken, und wenn er schmutzig ist,
wird er ohne Murren gespült. Von Zeit zu Zeit kommen berühmte
Professoren aus den Großstädten zu ihnen, heben ratlos die Hände
und fahren kurz darauf wieder weg.
Das ist angeblich Folge einer Erwärmung der Glasplatte und des
Abfließens der Emulsion, bevor sie fixiert wurde – aber selbst wenn
das stimmt, hat es keine große Bedeutung; das Foto sagt die Wahrheit – wenn nicht über diesen, dann über einen anderen Jungen, der
in einer anderen Wohnung, in einer anderen Familie solche Dinge
zu tun vermag, dass alle seine Schwäche für seinen Lieblingsbecher
respektieren.
ISBN
Es liegt etwas Rührendes in dieser Verlogenheit, in diesem Bedürfnis, so zu tun, als sei nichts geschehen, als sei das nur ein Picknick,
eine Familienveranstaltung in Begleitung lebenden Inventars, als sei
hinter dieser Tür nur eine Badeanstalt, als würde dieser Transport
nur zur Arbeit führen, als würde man nach dem Unterschreiben der
Aussage „Ich war Geheimagent der feindlichen Bande, die es mit
tierischer Perfidie auf die vitalen Interessen unserer Heimat abgesehen hatte“ in die Freiheit entlassen, einfach so. „Nun, Hirschkalb,
stellt Euch nicht so an, unterschreibt hier, auf dem Gestrichelten,
im Guten. Wir haben Zeit, wir haben viel Zeit, und auf Euch wartet
im Wald die Frau, das kleine Kind, also, unterschreibt schon...“ Der
Pionier in der ersten Reihe schaut vertrauensvoll in die Zukunft,
der alte Hase mit der Flinte drängt sich nicht besonders vor das
Objektiv, er steht eben da. Einer der Männer wird gleich in den Hof
gehen, wird eine Schüssel zum Ausweiden bereitstellen und dabei
eine fröhliche Melodie pfeifen, in der von Bäumen die Rede ist, von
einem Bach, vom „rauschenden Wind“, was sich – wie auch sonst
– auf „mein schönes Kind“ reimt.
wäre das Bild ein ganz gewöhnliches: Eine Schüssel und ein Teller
mit Kuchen; rund herum acht Becher auf Untertassen; um sie herum vier junge Männer, zwei Frauen, darunter eine mit einem Winzling, am Tischende ein kahlköpfiger pater familias und ein Junge
mit gestreiftem Hemd; um sie ein einfacher Raum: eine dunkle Tür
auf einer geweißten Wand, ein Ofen, daneben ein Wandschirm –
kein phantasievolles Möbelstück, sondern eine Notwendigkeit: eine
Trennwand, hinter die sich am Abend ein Kind oder ein Dienstmädchen legt.
W.A.B., WARSAW 2009
Rührendes in dieser Symbiose von Mensch und Tier – zwei junge,
kräftige Männer, ein wackerer Alter mit drolliger Brille, wahrhaft
ein verloren gegangener Marx Brother, etwas näher ein Sprössling,
und zwischen ihnen, wie in einer biblischen Beschreibung des Paradieses, nun – vielleicht nicht Löwe und Lamm, aber Hund und
Hirschkalb. Denn das Hirschkalb, das etwas weiter am Rand steht,
ist – lassen wir uns nicht täuschen – die wichtigste Figur auf diesem Bild; graziös neigt es den langen Hals nach vorn, mit feuchtem
Schnäuzchen stupst es liebevoll die Hand eines seiner zweibeinigen
Freunde, den zweiten, den Knirps, stupst es schelmisch mit dem
Huf, vor allem aber betrachtet es uns, die Zuschauer, mit großem,
ideal rundem Auge, das sich gegenüber dem Objektiv eines durchdachten, ja denkenden Apparats zu befinden scheint.
Den Mörder – das weiß jeder Krimileser – verrät immer irgendein
kleines Detail: ein vergessener Zettel, ein Tropfen Blut, eine Spur
Gummiarabikum auf der Wange, eine falsch aufgeklebte Marke;
dieses Detail stimuliert den Geist eines genialen Detektivs zu einer
ganzen Reihe von Assoziationen; eine Beobachtung zieht die nächste nach sich; eine Billardkugel nach der anderen gleitet ins Loch,
auf dem grünen Tuch bleibt die blendend weiße, glänzende Lösung.
Aber nicht überall gibt es Scotland Yard und scharfsinnige ältere
Damen, nicht überall gerät der Verbrecher im letzten Kapitel hinter
Gitter und zischt durch die Zähne: „Durch so eine Dummheit auffliegen!“ Hier und da kann man ungestört töten und nach Hause
gehen zu Hühnerbrühe und Knödeln. Vielleicht nicht immer und
nicht jeden – aber ein Hirschkalb ohne Problem. Man braucht
sich nicht zu verstecken. Man kann voll draufhalten. Man braucht
sich nicht zu zieren. Wozu also die Maskerade, wozu dieses InsLot-Bringen, dieses Simulieren von Freundschaft und Herzlichkeit,
wozu dieser „Tag des Tieres“, wozu schließlich diese Verkleidung
des Bodens mit Blättern, damit das alles mehr nach Wald aussieht,
da man doch genau den Arm von diesem Lulatsch sieht, der das
erschossene Tier festhält, damit es nicht umfällt?
WÄRE NICHT DAS,
PUBLISHER
ES LIEGT ETWAS
23
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Photo: Elżbieta Lempp
ROSA STRAUSSENFEDERN
HANNA KRALL
24
landen
Hanna Krall, eine der bedeutendsten polnischen Reporterinnen. Ihre Bücher
in viele
regelmäßig auf den Bestsellerlisten in Polen und im Ausland. Sie wurde
Sprachen übersetzt.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, das neue Buch von
Hanna Krall hätten andere geschrieben. Ihre Verwandten und
Bekannten, die im Laufe von fünfzig Jahren an die Schriftstellerin Briefe, Postkarten oder Zettel richteten, wie man sie
an der Tür hinterlässt, wenn der Hausherr nicht anwesend ist.
Diesen Aufzeichnungen hat die Autorin schriftliche Berichte
ihrer Schutzengel hinzugefügt, das heißt, Auszüge aus den Archiven des Sicherheitsdienstes oder Korrespondenz mit Verlegern, die sich dafür rechtfertigen, dass sie ihre Bücher nicht
publizieren können.
Auf den zweiten Blick entdeckt man jedoch, dass es einen
Unterschied gibt zwischen dem, was ihr geschickt wurde, und
dem, was die Autorin selbst gehört und festgehalten hat. Selbst
wenn der Verlag für die Zitate nicht die Kursive benutzt hätte,
damit man die zwei Arten von Texten unterscheiden kann – der
Ton der aus dem Gedächtnis rekonstruierten Geschichten ist
unverwechselbar. So klingt Hanna Kralls charakteristischer
Erzählstil.
Die Reporterin hat mehr als einmal erwähnt, dass sie auf Lesungen ihre Zuhörer bittet, ihr etwas zu erzählen. Zweifellos
hat sie mehr als einmal fremde Geschichten benutzt, aber erst
in diesem Buch legt sie deren „rohe“ Version offen. Es sind
keine abgeschlossenen Geschichten, sondern Keimzellen, potentielle Themen, die man entwickeln könnte. Indem sie uns
diesen Abriss vorstellt, provoziert Hanna Krall den Leser zu
vielen Fragen. Warum hat die Autorin diese Motive nicht ausgeführt? Kann man sie ausbauen und fortsetzen? Und schließ-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
lich: Sollte man von manchen Geschichten nicht einfach die
Finger lassen?
Antworten auf diese Fragen finden wir zum Teil in diesem Buch.
Aus Postkarten der kleinen Tochter oder Zetteln des Ehemanns
ist schwer etwas zu machen. Andererseits entsteht daraus,
wenn man sie chronologisch anordnet, plötzlich eine kraftvolle Erzählung. Eine auf historischem Hintergrund verankerte
Familiengeschichte. Eben dieser Skizzierung der Szenerie
dient die Ordnung nach dem Datum. Die Idee der Komposition
ist klar, aber wieder bleibt ein Gefühl des Unbefriedigtseins.
Spiegeln ein paar Notizen (in manchen Jahren sogar nur eine)
wirklich den Zeitgeist wider? Oder hat die Schriftstellerin nur
soviel aus einer bestimmten Zeit in Erinnerung, beziehungsweise hält nur soviel für wert, angeführt zu werden? Wenn
man es so betrachtet, ist Rosa Straußenfedern ein Buch voller
Rätsel. Doch man kann sie alle auf eine Frage zurückführen:
Wo beginnt Literatur?
Marta Mizuro
LIEPMAN AGENCY
130 × 206, 208 PAGES, HARDCOVER
TRANSLATION RIGHTS
978-83-247-1589-3
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
ISBN
KATARZYNA SZ.
AUS DEN FERIEN
Sie ist in Krakau, schläft auf dem Campingplatz. Krzyś und Skucio,
Bekannte aus der Hala Gąsienicowa, hatten Examen an der Jagel-
JAN C., EHEMALIGER LANDBESITZER
ÜBER ZWEI ODER DREI TAGE
...Den Gutshof haben sie uns in der Agrarreform weggenommen,
aber die Gegenstände aus Silber konnten wir vergraben. Sie waren
„Gutsvermögen“ und gehörten der Staatskasse, aber ich wusste, wo
sich das Vermögen befand, das nicht mir gehörte, und der aktuelle
Besitzer – die Staatskasse – hatte davon keinen blassen Schimmer.
Ich ging zum Rechtsanwalt, sagte: Ich zeige den Ort, wenn ein
Teil für mich ist und der Rest für das Schloß. Der Rechtsanwalt
ging zum Kulturministerium. Einige Wochen danach fuhren von
Warschau aus drei Nysa-Busse los – mit Herren vom Ministerium,
Miliz, Arbeitern, Schaufeln, Hacken und einer großen Kiste. Sie
hielten vor dem Gutshof (gegenwärtig ein Komplex von Berufsschulen), die Herren vom Ministerium sagten: Corazzi-Stil; ich
sagte: Man muß die Stelle markieren, wo sich zwei Linien schneiden, eine läuft vom Kellerfenster aus, die andere von dem Bogen
über dem Gewölbe. Sie markierten den Schnittpunkt. Begannen
zu graben.
Alles wurde ins Museum und auf Tische gelegt. Historiker nahmen die Vasen in die Hand, die Schüsseln, Kerzenständer, Krüge,
Besteck, Tabletts... Sie sagten – später Radke. Oder – früher Werner. Oder – Quadratfuß, neunzehn mal neunzehn. Ich ging nicht
zu ihnen. Ich lehnte an der Wand und versuchte mich zu erinnern,
wo welcher Leuchter gestanden und wann ich zum letzten Mal mit
diesem Besteck gegessen hatte. Ich war ein bisschen unruhig, weil
durch diese Reise, durch die Sache mit dem Museum, in der Werkstatt vieles liegen bleibt. Ich mache Glaskugeln für den Christbaum
und Schmuck für Damen – Medaillons mit Bildern von Niemen
und Inspector Columbo, Halsketten aus gestanztem Blech und
Kreuze mit tschechischen Strasssteinen, Brillanten-Imitationen.
Frühere Bekannte interessieren sich sehr für diese Geschichte. Sie
besuchen mich, fragen nach dem Rechtsanwalt. Jemand fragte, wie
sich meine Bauern nach der Agrarreform verhalten haben. Normal
haben sie sich verhalten: Sie sind gekommen, wollten wissen, warum sie schlechtere Ernten haben als ich sie hatte. Ich erklärte ihnen
– tiefer pflügen, Leute, die Pferde nicht schonen, diese Erde will
tief gepflügt werden; sie fuhren nach Hause, pflügten tiefer und
schrieben – danke, es ist mehr geworden. Wir sprachen über die
Jagd. Jemand erzählte von Rebhühnern, ich wunderte mich – Sie
benutzen jetzt Schrot, mein Herr? Und sofort erinnerte ich mich an
die letzte Jagd, 1938, in Polesie. Ich habe einen Luchs geschossen,
hinter Ihnen hängt sein Fell. Das Aquarell neben dem Fell ist unser
Gutshof.
Noch zwei, vielleicht drei Tage. Ich werde noch das Silber unter
den Kindern verteilen, und das war´s dann. Ich kehre zu meinen
Christbaumkugeln zurück, zu dem Damenschmuck, zu meinem
wirklichen Leben, nur noch zwei oder drei Tage.
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009
1976
JERZY SZ.
ÜBER ZEITWEILIGE SCHWIERIGKEITEN
(ZETTEL AUF DEM TISCH)
Mein liebes Frauchen, laß dich nicht unterkriegen, wir haben schon
ganz andere Dinge überstanden, wir haben die Schwindsucht überstanden, die Wawel-Straße und den Verlust unserer Tulpenzwiebeln.
Das Buch wird irgendwann herauskommen, das verspreche ich Dir.
Vorläufig gehe ich die Pferde fürs Kind bezahlen und den dritten
Band der Enzyklopädie kaufen. Nun ja, dein Buch ist ferner, aber
die Familie ist näher, vielleicht ist das gar nicht so schlecht.
lonen-Universität. Krzyś hat Mathe gemacht, er bekam eine Eins
und hat ihnen in der Jama Michalikowa ein Eis spendiert. Abends
waren sie in Iwona...
PUBLISHER
1975
FRANCISZKA S., RENTNERIN
ÜBER MODERNE KUNST
...Sie brachten ihn auf den Bau. Der Bau gefiel ihm, er ging hinein,
bat um eine Leiter und nahm einen schwarzen Stift aus seiner Tasche. Er zeichnete eine Sirene. An die Wand. Alle freuten sich sehr,
bedankten sich und fuhren weg, und die Sirene blieb.
Die Wohnung wurde einem Eisenbahner zugeteilt. Er sah sie sich
an, sagte, erstens sei sie mangelhaft, zweitens habe er kleine Kinder,
und die Frau da habe eine nackte Brust; er nahm die Wohnung
nicht, und sie riefen mich an. Ich hatte keine Kinder, und ich hatte
keine Punkte – sie hätten mir höchstens Punkte für die Aktivität bei
„Społem“ geben können, aber ich war nicht einmal Mitglied, als sie
daher sagten, es gebe eine Wohnung, eilte ich wie auf Flügeln.
Sie sagten, ich solle mich setzen. – Sehen Sie, sagte der Vorsitzende, das ist keine gewöhnliche Wohnung, das ist eine mit Sirene.
– In Ordnung – ich war einverstanden. – Und sehen Sie, in dieser
Wohnung muß es sauber sein, denn es können Gäste kommen. – Es
wird sauber sein, versicherte ich, bekam die Schlüssel und öffnete
die Tür...
Meine Liebe, was soll ich Ihnen sagen.
Das war Picasso.
Das war groß, Jesus, wie groß das war. Eine Brust hatte sie wie
zwei Ballons, die Augen dreieckig, in der langen, seltsam langen
Hand hielt sie den Hammer, und der Schwanz war kurz und ganz
dünn am Ende.
Wir hatten nur eine Liege und einen Tisch. Der Tisch kam in
die Mitte, die Liege an die Wand, der Hammer hing uns über den
Köpfen, und wenn wir aufwachten, sahen wir ihre Augen, die noch
seltsamer waren als die Hand und der Schwanz.
Zuerst kam eine Reisegruppe aus China – sie besuchte die Siedlungen der polnischen Arbeiterklasse. Nach den Chinesen kamen
Bergleute – feierlich, mit Federbüschen. Danach Textilarbeiter –
Bestarbeiter. Ich war höflich, ich wusste, dass ich unsere Hauptstadt
repräsentiere, aber in mir kochte es. Vor allem, wenn ich ihre Schuhe betrachtete und mir ausrechnete, wieviel Müll ich an diesem Tag
wegbringen müsste.
Der Präsident des Sejms kam zu uns – und Sie, Genossen, fürchten Sie sich nicht so ganz allein mit ihr? – fragte er in der Diele.
Bierut kam, schaute – und nichts, kein Wort. Herren vom Ministerium kamen, maßen ab und tauschten Meinungen aus. Vielleicht
zusammen mit dem Putz abnehmen? Ach nein, der ist zu dünn.
Verglasen? Ach nein, das würde der Rahmen nicht aushalten...
Sie nervten uns. Wir holten den Maler. Der Maler nahm einen
Eimer mit Seife.
Erst als er gestorben war und sie den Streit zwischen seinen Kindern beschrieben, dachten wir: Vielleicht war das nicht richtig...?
Wir wurden vom gesellschaftlichen Interesse bestimmt, denn die
Sirene war staatlich, und wir hätten sowieso nichts von ihr gehabt,
wie wir auch keinen Groschen für den zerfetzten Teppich bekommen haben.
Wieder kamen sie vom Ministerium. Brachten Apparate, durchleuchteten die Wand. Ich sagte, meine Herren, machen Sie sich keine Mühe, das war ein guter Fachmann, einer von vor dem Krieg,
und gute Kernseife.
25
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Photo: Elżbieta Lempp
FRASCATI
EWA KURYLUK
26
en,
Ewa Kuryluk (geb. 1946), Malerin, Zeichnerin, Autorin von Installation
Paris.
Kunsthistorikerin, Essayistin und Romanschriftstellerin. Sie lebt in
Frascati – eine Straße in einem schönen Warschauer Stadtbezirk, unberührt geblieben von den Zerstörungen des 2.
Weltkriegs. Nach dem Krieg siedelten sich hier Menschen an,
die in Verbindung mit der neuen kommunistischen Regierung
standen. Die Erinnerungen der seit langem in Paris und New
York lebenden Schriftstellerin und Malerin Ewa Kuryluk sind
jedoch weit mehr als nur eine Erzählung über das eigene Vaterland, den Heimatort der Familie, über Freunde und Verwandte und über ein Paradies, zerstört durch eine „von der
Leine gelassene Geschichte” (wie ein polnischer Essayist die
geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts einmal zusammenfasste). In Kuryluks Buch ist die Kindheitsidylle von
einer ständigen unterschwelligen Bedrohung durchdrungen.
Erst nach und nach erschließen sich dem Leser die privaten
Chiffrierungen der Anwohner der Frascati-Straße, ganz wie es
zuvor auch der Autorin selbst erging. Sie erzählt die Geschichte ihrer Mutter, einer Liebhaberin von Trakls Poesie, einer polnisch-deutschen Jüdin, dem Lemberger Ghetto entflohen und
von ihrem zukünftigen Ehemann und dem Vater der Autorin
gerettet. Miriam Kohany weihte ihre Tochter erst in ihr Geheimnis ein, als diese vierzig Jahre alt war. Nie konnte sie sich
von der Angst befreien, ihr ganzes Leben lang wurde sie von
wiederkehrenden Angstzuständen heimgesucht – diese Mutter
ist die eigentliche Hauptfigur des Buchs. Aber es gibt auch andere: da ist der Vater, Karol Kuryluk, ein außergewöhnlicher
Mensch, links orientierter Redakteur aus Lemberg und Mitorganisator des antifaschistischen „Kongresses zur Verteidi-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
gung der Kultur” 1936, Konspirateur zur Zeit der Besetzung,
nach dem Krieg Kulturattaché in Wien, dann Kulturminister,
der schnell in Ungnade fiel. Und der Bruder: Piotr, das von
Schizophrenie gezeichnete Wunderkind, der fast sein gesamtes Erwachsenenleben in Krankenhäusern und Anstalten für
psychisch Kranke verbrachte. Des Weiteren gibt es Freunde,
die echten und die falschen, es gibt ein Panorama menschlicher Schicksale, Aufzeichnungen von Begegnungen mit dem
polnischen Antisemitismus und dem polnischen Alltag, früher
und heute, nicht nur aus dem Blickwinkel der Bewohner der
Frascati-Straße. Es gibt einen Ausflug, eine Wanderung auf
den Spuren der Familie ins heutige, ukrainische Lemberg und
nach Israel, auf der Suche nach neu entdeckten Verwandten.
Kuryluks Buch ist eine Aufzeichnung der wiedererlangten,
traumatisierten Erinnerung, eine unendliche Aufarbeitung der
Trauer um die verstorbenen Eltern und den Bruder, ein Kapitel
aus den Historien eines neuen Herodot: es hat das Ausmaß
einer postmodernen Tragödie, der einzigen heutzutage möglichen privaten Geschichte der Menschheit „von innen heraus
betrachtet” und aus der Perspektive der Opfer. Dieses literarisch herausragende Werk ist eine Geschichtschronik und ein
ausgezeichnetes Beispiel für die Literatur des persönlichen
Dokuments. Es weckt Mitgefühl, Furcht und leitet zum Verständnis an.
Marek Zaleski
WYDAWNICTWO LITERACKIE
CONTACT
EWA KURYLUK & WYDAWNICTWO LITERACKIE
TRANSLATION RIGHTS
978-83-08-04377-6
ISBN
WYDAWNICTWO LITERACKIE, CRACOW 2009
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
147 × 207, 344 PAGES, HARDCOVER
auf dem Powązki-Friedhof begraben lag, wollte auf den Mond auswandern. Und warum?” Sie blickte mich an. „Aus Angst, weil er in
einem feindlich eingestellten Land allein mit einer unzurechnungsfähigen Mutter und einer asthmatischen Schwester zurückgeblieben
war”, gab sie sich selbst die Antwort. „Einmal in der Woche holte
dich der Krankenwagen ab und du kamst unters Sauerstoffzelt, hast
du das vergessen?” „Ich habe es nicht vergessen.” „Ich wusste, ihr
würdet eine Emigration nicht überleben”, seufzte sie, „ich musste
also in der Frascati bleiben.” Sie hustete. „Wie viele Tausende haben sie mit ihren Angstmethoden zum Ausreisen gebracht?” Sie sah
mich an. „Ich weiß nicht genau, Mama.” „Aber uns konnten sie
nicht durch Angst dazu bewegen”, warf sie sich in die Brust, „ich
hatte mir geschworen, freiwillig würden wir ihnen die Frascati nicht
überlassen.” Ihr Blick wanderte über die Wand. „Deswegen habe ich
mich entschieden.” „Zu was entschieden, Mama?” „Im März habe
ich die Irre gespielt, um die Frascati zu retten.” „Ge..gespielt?”, vor
Aufregung begann ich zu stottern. „Es gab keinen anderen Ausweg”,
sagte sie unwillig, „also habe ich mir gedacht, eine Verrückte würden
sie wohl in Ruhe lassen.” „Darum hast du immer geschrien?” „Ich
habe das ganze Haus zusammengeschrien, damit es alle mitbekamen”, nickte sie. „Habe mich um mich selbst gedreht, um in Trance
zu geraten”, fügte sie hinzu, „und aufgehört, die Medikamente zu
nehmen, die der Dozent mir verschrieben hatte.” „Du hast deine
Paranoia simuliert?” „Mit aller Macht”, antwortete sie. „Ich wurde dafür von einer schrecklichen Strafe heimgesucht, ich hatte die
Bestie in mir geweckt. Von da an lauerte sie in mir, und zwei Jahre
später kam sie plötzlich zum Vorschein. Nur um Haaresbreite habe
ich kein Verbrechen begangen”, sie barg ihr Gesicht in den Händen.
„Also ist es doch wahr?” „Sie stand mit einem Küchenmesser vor
mir”, hörte ich in Cambridge die Stimme meines Bruders durchs
Telefon, „ich musste den Rettungswagen rufen”, er zwang sich zur
Ruhe, „sie haben Mama nach Tworki mitgenommen.”
PUBLISHER
„ES
sollte mal jemand über der Geschichte der Nachkriegszeit aus der Innenperspektive schreiben. Von
den Folgen des Schocks, der psychischen Polarisierung”, sagte Mama langsam und mit Bedacht, als habe sie meine
Gedanken erraten, „vom Übermaß an Empathie, vom völligen Fehlen von Empathie. Horror sensibilisiert entweder für das Böse oder
führt zur Gefühllosigkeit. Woran mag das liegen? An der Veranlagung? Der Weltanschauung? Dem Glauben? Der Moral? Am Ort,
an den uns das Schicksal verschlagen hat?”, fügte sie nachdenklich
hinzu.
„Sicher an allem ein bisschen, Mama, aber hauptsächlich am
Charakter.”
„Ein guter Charakter heißt wenig Angst, viel Empathie, Glaube
an sich selbst”, sagte sie mit Überzeugung. „Eine seltene Kombination. - Eine Rarität! Bei gewöhnlichen Charakteren bringt der
Krieg die schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein, bei guten nur
die besten”, stellte sie fest. „Ein spannendes Thema, was, Mama?”
„Ich wollte darüber schreiben, habe es aber nicht geschafft, das ist
was für dich”, sie nahm meine Hand.” „Ich weiß nicht viel über
den Krieg.” „Über die Spuren, die er in der menschlichen Psyche
zurücklässt, weißt du so einiges”, zwinkerte sie mir vielsagend zu,
„ohne ein Zuviel an Details lässt es sich leichter zum Kern der Sache
vordringen.”
„Frascati osculati”, begann sie nach einer längeren Weile zu summen, auf deutsch: „hier ist meine zweite Heimat. – Frascati ist eine
wirkliche Köstlichkeit”, Mamas Stimme veränderte sich, „In diesem
schrecklichen Frühling” – so pflegte sie den März `68 zu nennen
– „lauerten sie auf unsere Wohnung. Das war klar, sie hat ja nur
Vorzüge. Drei Zimmer in einem Altbau, ruhig, mit Balkon, ideal
geschnitten, Villenviertel”, sie zählte an ihren Fingern ab, „Klavier,
Sekretär, Musikschrank, eine komplette Sammlung der „Sygnały”
im Originaleinband aus der Vorkriegszeit. In der Vorratskammer
ein Sortiment Einmachgläser aus eigener Herstellung”, sie schnalzte, „Kompotte und Fruchtmus der verschiedensten Art, Marmeladen, Nüsse in Zucker. Wie ich nach der Rückkehr aus Wien ununterbrochen am Herd stand und einkochte, weißt du noch? Sie
wollten Karol keine Arbeit geben, also habe ich Vorräte angelegt.
Als er gestorben war, schickten sie im Auftrag des Geheimdienstes
Diplomaten aus dem Westen auf uns los. Wollten dich um jeden
Preis überreden, zu emigrieren.” „Nein, Mama”, stieß ich schnell
hervor, „ein paar Bekannte haben uns angeboten, uns im Fall einer
Ausreise zur Seite zu stehen. Sie wußten, wer Łapka war.”
„Sie wussten es!” intonierte sie finster. „Und hier ist der Hund begraben, meine Kleine”, sie strich mir übers Gesicht wie einem Kind,
„sie wussten es, und du nicht. Sie wussten es, denn sie hatten uns
vom Boden bis zur Decke verkabelt”, sie hob die Augen, „hatten
eine Wanze in Telefon, Radio, Fernseher installiert. Sie wussten,dass
wir hier wie die Kaninchen vor der Schlange sitzen. Wussten, wie
man Witwen und Waisen eine Falle stellt”, sie verdrehte die Augen,
„und wussten, wie man uns Angst einjagt.” „Mama, niemand wollte
uns...”
„Spiel nicht die Idiotin!” unterbrach sie mich, „Du bist jetzt fünfzig und kein Kleinkind mehr! Sie haben sich bereits vor Freude ihre
gierigen Pfoten gerieben, dass wir vor Angst selbst”, sie betonte das
Wort, „um Ausreise ansuchen werden. Aber da konnten sie lange
warten!”, sie knirschte mit den Zähnen, „selbst, niemals! Ich hatte
mir das Partisanenehrenwort gegeben”, Mama reckte zwei Finger in
die Höhe, „um nichts in der Welt würden wir um Gnade winseln
wie die bescheuerte Zaza”, heulte sie auf. „Wenn euch das Wasser
im Munde zusammenläuft vor lauter Gier auf unsere Frascati, dann
schlagt doch mit euren Gewehrkolben die Fenster ein.” Sie begann
zu zittern. „Nehmt uns die Dokumente weg”, sie warf eine Zeitung
auf den Boden, „holt euch unser Hab und Gut”, strich mit der
Hand über die Couch, „konfisziert unseren Besitz!” und schlug mit
dem Schlüssel auf das Nachttischchen ein. „Los! Brecht bei der Witwe ein, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hat”, sie tippte sich an
die Stirn, „Los! Gestapo! Kommt in der Nacht und holt euch meine
Kleinen! Deportiert minderjährige kranke Kinder in Viehwaggons
ohne Wasser.” „Wir waren nicht minderjährig, Mama.”
„Piotruś war noch keine achtzehn”, sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, „Tag und Nacht wachte er an der Tür zum Treppenhaus, wartete zusammen mit dem Hund auf Vater, der längst
27
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Photo: Andrzej Wróbel
UND ES WAR AUCH LIEBE IM GHETTO
Marek Edelman (geb. 1922), legendärer Anführer des Aufstands im Warschauer
MAREK EDELMAN
Ghetto, Kardiologe, Polit- und Sozialaktivist.
28
Viele Leser kennen Marek Edelman, den letzten noch lebenden Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, nach dem
Krieg ein angesehener Herzchirurg in Łódź und Mitglied der
demokratischen Opposition, ausgezeichnet mit dem höchsten
polnischen Orden, dem Orden vom Weißen Adler, bereits aus
Hanna Kralls Buch Dem Herrgott zuvorkommen (1977), das
in mehrere Sprachen übersetzt wurde.
Und es war auch Liebe im Ghetto entstand in enger Zusammenarbeit mit Paula Sawicka, die Edelmans Erzählungen zuhörte
und das Gehörte notierte. Edelman spricht über seine Kindheit
und seine Schulzeit, über seine Jugendjahre als Mitglied der
jüdischen Arbeiterpartei „Der Bund“, über das Krankenhaus
im Ghetto, über die Untergrundbewegung, über den Aufstand
im Ghetto im April 1943 sowie über den Warschauer Aufstand
im August 1944. Die Ereignisse und Episoden zum Titelthema
werden in einer lebendigen und rauen Sprache erzählt. Marek Edelmans Verlangen nach einem Film über die Liebe im
Ghetto war der Antrieb, das Buch zu schreiben. Er wandte
sich mit dieser Bitte an mehrere Regisseure, die aber alle abwinkten, mit der Begründung, das Thema sei zu schwierig. Von
den Zeitzeugen wurde das Thema meist gemieden. „Aber das
ist nicht die ganze Wahrheit: Es gab dort auch Menschen, die
glückliche Momente erlebten. Ist das nicht großartig? Unter
unmenschlichen Bedingungen geschahen wunderbare Dinge.
Das hängt allein vom Menschen ab. In diesen Zeiten klebten
die Menschen aneinander, denn die Einsamkeit war schwer zu
ertragen. Die Liebe überwindet alles, ohne sie kann man nicht
zurück zum Inhaltsverzeichnis
leben. Das erkennt man erst in Extremsituationen“, sagt Marek Edelman während der Vorstellung seines Buches in Warschau. Warum hat er nicht früher darüber gesprochen? Weil
ihn niemand danach gefragt hat. Das zumindest behauptet
Paula Sawicka.
Marek Zaleski
ŚWIAT KSIĄŻKI
TRANSLATION RIGHTS
978-83-247-1416-2
ISBN
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSAW 2009
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
125 × 200, 200 PAGES, PAPERBACK
Professor für Schiffbau und das Mädchen eine hervorragend ausgebildete Laborantin. Als ihre Söhne erwachsen wurden, verliebte sie
sich in einen der beiden und verbrachte mit ihm lange glückliche
Jahre. Sie schrieb später in einem Brief, dass, obwohl sie bereits gewusst habe, was mit ihrem Mann geschehen sei, den sie sehr geliebt
habe, es die Liebe gewesen sei, die sie am Leben erhalten habe. Die
Liebe und die Wärme ihres Sohnes, der später ihr Geliebter wurde.
Sie starb im Alter von über neunzig Jahren.
Die Mutter des Mädchens wurde krank, und das Mädchen war
mit der Zwillingsschwester auf sich selbst gestellt. Sie hatten Angst,
nachts mit der kranken Mutter allein zu bleiben. Ein Junge, ein
Rikschafahrer, begann sie zu besuchen. Ging es der Mutter sehr
schlecht, blieb er über Nacht, und das Mädchen kuschelte sich an
ihn, aus Angst, etwas Schreckliches würde geschehen. Es schlief in
einem Nachthemd aus Batist, schmiegte sich an ihn und schlief an
seiner Seite ruhig ein. Sie begannen ihre Liebe zueinander zu entdecken. Auch wenn nicht sicher ist, ob sie sich liebten, oder ob sie
überhaupt wussten, wie das geht. Aber dank seiner Anwesenheit
fand das Mädchen seine innere Ruhe. Die Mutter wurde langsam
wieder gesund, und das Mädchen ging zur Arbeit. Eines Tages
gab es in der Karmelicka eine Razzia. Als es davon hörte, rannte
es nach Hause, aber die Mutter war schon weg. Eine riesige Menschenmenge, mehrere tausend Personen, wurde zum Umschlagplatz
getrieben. Sein Freund mit der Rikscha kreuzte auf. Sie holten den
Zug ein und fuhren auf der Suche nach der Mutter an tausenden
Menschen vorbei. Kurz vor dem Umschlagplatz erblickten sie sie.
Das Mädchen stieg aus der Rikscha aus, der Junge blieb am Rand
des Bürgersteiges stehen. Es sagte zu ihm: „Wir müssen uns leider
trennen, Mama kann eine solche Reise nicht allein machen.“ Und
es folgte seiner Mutter in den Waggon. Was aus seiner Schwester
wurde, weiß niemand.
PUBLISHER
SO
bekam Deda, das war der Name von Frau Tenenbaums
Tochter, die „Lebensnummer“ ihrer Mutter. Das
schüchterne Mädchen blieb ganz allein zurück. Und
plötzlich verliebte sie sich in einen Jungen. Sie musste auch etwas
Geld gehabt haben, denn der Junge besorgte ihnen eine Wohnung
auf der arischen Seite. Die Liebe ließ sie aufblühen. Drei Monate
lang genoss sie in der Wohnung auf der arischen Seite mit dem Jungen das große Glück. Diese Liebe stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Jeder, aber auch jeder, der sie damals sah, sagte, dass sie vor Glück
strahle. Sie erzählte Marysia, die sie besuchte, dass dies die glücklichsten Monate ihres Lebens seien. Die Wärme, die ihr der Junge
gab, ließ sie das Ghetto vergessen. Das Glück dauerte drei Monate.
Dann – vielleicht war ihnen das Geld ausgegangen – lieferten die
Wohnungsbesitzer sie und ihren Freund an die Deutschen aus.
Zwischen der Januaraktion und April kehrten wir über den fünften Stock eines großen Mietshauses mit großen Wohnungen von
unseren Aktionen in den Bäckereien zurück (jeder Bäcker musste
uns 40 Laib Brot geben, und das geschah gewöhnlich früh morgens
nach Backschluss). Alle Türen in den Wohnungen und auch zum
Treppenhaus standen offen, um den Durchgang zu erleichtern (du
betratst die Wohnung durch die Vordertür, gingst durch die ganze
Wohnung und verließt sie durch den Dienstboteneingang, und von
dort gelangtest du in die nächste Wohnung). In den Korridoren
und Dielen waren Betten aufgestellt.
Ich sah dort Złotogórski. Das war ein riesiger Kerl. Ich weiß nicht,
warum sich mir sein großer gebräunter Oberkörper (es war noch
nicht Sommer, und er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich zu
sonnen) eingeprägt hat. Ein kleines blondes siebzehnjähriges Mädchen lag an seiner Schulter. Es schlief an ihn angeschmiegt, und auf
seinem Gesicht, das Ruhe ausstrahlte, lag ein seliges Lächeln. Einige
Tage später gerieten beide in eine Sonderrazzia und wurden nach
Treblinka deportiert.
Sie war Ärztin, fast vierzig Jahre alt, ihr Mann war ebenfalls Arzt,
Offizier der Luftwaffe. Er wurde im Krieg vermisst. Sie wusste nicht,
was aus ihm geworden war. Heute weiß man, dass er in Katyn ums
Leben gekommen ist. Am zweiten Kriegstag kam sie zur Arbeit ins
Krankenhaus und verließ von da an ihren Posten nicht mehr. Sie
war sehr einsam. Sie fühlte sich miserabel. Dann begann sie eine
Affäre mit einem Jungen, der fünfzehn Jahre jünger war als sie. Der
Junge war plötzlich krank geworden, sie hatte ihn zu sich ins Bett
genommen, und wie durch ein Wunder wurde er wieder gesund.
Einige Tage lang schlief sie mit ihm in einem Bett.
Später sagte sie, dass sie das erste Mal in dieser Einsamkeit jemanden gefunden hatte, mit jemandem zusammen gewesen war, und
von nun an versuchen würde, immer mit jemandem zusammen zu
sein.
Im Warschauer Aufstand blieb sie wieder allein. Sie hatte ein
Fläschchen mit 4 Gramm (eine ungeheure Dosis!) Morphium. Sie
schluckte diese 4 Gramm Morphium und torkelte schon leicht, als
jemand kam und ihr gewaltsam einen Becher Seifenwasser einflößte. Sie erbrach und erwachte mitten in der Nacht, bereits bei Bewusstsein.
Und damals begann ihre große Liebe zu einem Jungen, der zwanzig Jahre jünger war als sie. Sie verbrachte mit ihm eine glückliche
Zeit, vom Ende des Aufstands bis November, als sie aus Żoliborz
evakuiert wurde, als glückstrahlende, stets hilfsbereite Frau. Nach
dem Krieg ließ sie sich in Łódź nieder. Eines Tages kam jemand sie
besuchen, die Tür stand offen. Niemand schien zu Hause zu sein.
Wie sich aber herausstellte, lag Frau Doktor in der Küche unter
einer warmen Decke, den Kopf in die Decke eingepackt. Vielleicht
schlief sie, vielleicht war sie nur eingenickt. Plötzlich setzte sie sich
auf und sagte: „Ich werde hier nicht mehr länger allein bleiben“.
Und das sagte so ein mutiger Mensch wie sie. „Ich habe Angst, ich
muss hier weg.“
Niemand weiß, wie sie nach Australien gelangte. Auch dort war
sie allein. Sie, die eine große Spezialistin auf ihrem Gebiet war. Auf
dem Pazifik kreuzte ein Schiff mit jüdischen Kindern, die kein Staat
aufnehmen wollte. Es ankerte auf der Reede, zwölf Meilen vom
Ufer entfernt. Die Bewohner fuhren mit Booten zum Schiff und
nahmen jeweils ein paar Kinder mit. Meine Ärztin ging auch ans
Ufer. Sie nahm zwei Jungen und ein Mädchen zu sich. Der eine
Junge wurde Architekt und arbeitete in Shanghai, der andere wurde
29
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Photo: Andrzej Bernat
DIE INSEL – EIN SCHLÜSSEL
MAŁGORZATA SZEJNERT
30
Małgorzata Szejnert (geb. 1936), Journalistin und Reporterin. Für ihr Buch
Der schwarze Garten erhielt sie 2008 den Preis der polnischen öffentlichen
Medien „Cogito“.
„Eine historische Reportage ist nur dann berechtigt, wenn sie
auch ein gegenwärtiges Leben hat“, sagte Małgorzata Szejnert in einem Interview. Dieses „gegenwärtige Leben“ ist das
heutige Gesicht Nordamerikas mit seinen vielen Völkern und
Kulturen. Sein Genius Loci wurde auf Ellis Island geboren,
an einem Ort, wo fast ein Jahrhundert lang darüber entschieden wurde, wer amerikanischer Bürger werden darf und wer
nicht.
Obwohl die Reporterin von Briefen polnischer Emigranten dazu
inspiriert wurde, dieses Buch zu schreiben, so sind es nicht die
Auswanderer, die im Vordergrund stehen, sondern vor allem
jene, die die Ankömmlinge aufnahmen oder sie aus verschiedenen Gründen zurückschickten. Die Insel – ein Schlüssel stellt
also die Schicksale der Kommissare der Insel vor, der Übersetzer und Ärzte, der Sozialarbeiterinnen – so genannter „matrons“, die sich um die Frauen kümmerten, sowie des legendären Fotografen Augustus Sherman. Die meisten derjenigen,
die auf der Insel zum Personal gehörten, waren sich darüber
bewusst, dass sie an einem historisch bedeutungsvollen Vorgang teilnahmen und hinterließen unzählige Zeitzeugnisse, die
heute in einer Bibliothek auf Ellis Island zusammen getragen
sind. Diese Dokumente, aus denen in dem Buch auch häufig
zitiert wird, nutzte die Autorin unter anderem für ihre Geschichte. Und doch ist ihre Vision der Geschehnisse die einer
Schriftstellerin. Sie allein entscheidet welche Episoden oder
Requisiten besonders hervorgehoben werden. Sie allein wählt
die Gestalten, die im Hintergrund bleiben und verfolgt dabei
zurück zum Inhaltsverzeichnis
nicht nur das Schicksal von Annie Moore, der Irin, die als
erste auf der Insel abgefertigt wurde, sondern auch die Geschichte der behinderten Paula, die nur bedingt aufgenommen
wurde und jahrelang über die Fortschritte in ihrer Entwicklung
Rechenschaft ablegen musste. Paulas Geschichte fügt sich ein
in das eingehender beschriebene Thema der Aufnahme- und
Bewertungskriterien, nach denen die Begabungen der Kandidaten und ihre Nützlichkeit als Amerikaner beurteilt wurden.
Szejnert konzentriert sich auf das Thema Aufnahme und Ablehnung, wobei ihr eine meisterhafte Auslese des nur schwer
überschaubaren Materials gelingt. In diesem, nicht sehr umfangreichen Buch wiegt jeder Satz und jedes Element wird zu
einem Symbol. Diese Aufwertung bedeutet jedoch nicht, dass
Die Insel – ein Schlüssel sich durch Pathos auszeichnet, was
vielen Abhandlungen mit großen Themen zu Eigen ist. Für das
Buch entscheidend sind die Gewandtheit der Feder, der Humor
und die Sensibilität der Autorin.
Marta Mizuro
doch nach so vielen Arbeitsjahren in Castle Garden unterscheidet
Peter Mac den Klang der Sprachen. Die Leute, die polnisch sprechen, geben ungern ihr Gepäck zur Aufbewahrung und schleppen
es überall hin mit. Am wichtigsten sind ihnen die Federbetten. Sie
tragen sie manchmal auf dem Kopf oder auf der Schulter und stützen sie mit der einen Hand während sie mit der anderen einen Koffer und die sich daran klammernden Kinder hinter sich her ziehen.
Den Strom der Menschen und Dinge beobachtet auch Doktor
Victor Safford aufmerksam, dem auf Ellis Island eine Stelle als Arzt
angeboten wurde. Er kam mit dem Schiff zum Interview, doch er
hat noch ein wenig Zeit, also schaut er zu. Er ist ein sehr aufmerksamer Beobachter. Das Schauspiel auf Ellis Island fasziniert ihn so
sehr, dass er bereit ist, ein viel niedrigeres Gehalt als das, was er
zur Zeit bezieht, zu akzeptieren, nur um diesen ungewöhnlichen
Ort besser kennen zu lernen. Er vermutet, dass ihn hier berufliche
Herausforderungen erwarten und er muss zugeben, dass er gerne
eine Arztuniform des Immigrationsdienstes tragen würde, die an
die Uniform eines Flottenoffiziers erinnert. Wie Peter Mac ist auch
er darüber verblüfft, wie die Immigranten an ihrem Hab und Gut
festhalten. Wie es sich für einen Chirurgen gehört, macht er auf die
gefährlichen Folgen dieser Sturheit aufmerksam. Halb so schlimm,
wenn ein Mensch von einem Weidenkorb zu Boden gedrückt wird,
denn die Weidentriebe werden nachgeben und ihm keine Rippen
brechen. Gefährlicher ist es, wenn mit Eisengegenständen voll gepackte Kisten und Truhen auf jemanden niederprasseln. Man sollte
sich auch vor den großen Bündeln auf den Schultern starker slawischer Mädchen in Acht nehmen. Diese Ballen scheinen weich und
flauschig zu sein, doch außer zwei oder drei Federbetten enthalten
sie wahrscheinlich auch ein paar Ofenroste, Wasserkessel aus Eisen
oder Töpfe und alle möglichen anderen Dinge, die in Osteuropa
grundsätzlich zur praktischen Ausstattung gehören.
ZNAK
TRANSLATION RIGHTS
978-83-240-1161-2
ISBN
ZNAK, CRACOW 2009
165 × 235, 352 PAGES, HARDCOVER
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
PUBLISHER
DIE
ersten Immigranten, die das riesige Gebäude mit
den unzähligen Fenstern, einem steilen Dach und
den spitzen Türmen betreten – ein Gebäude, das
eher an ein Spielkasino in einem Seebad erinnert als an einen Kontrollpunkt für arme Leute – fühlen unter den Füßen das gleiche
Material wie an Bord der Schiffe in den letzten Wochen: solide
Holzbretter. Das Holz kommt aus Nord Carolina und Georgia.
Der Kiefernboden ist entharzt, die Wände – auch aus Kiefern und
Fichten – nicht, und so kommt den Ankömmlingen aus Dörfern
und kleinen Städten der vertraute Geruch von Wald und Zuhause
entgegen. Die Firma „Sheridan and Byrne“ sollte die Außenwände mit rostfreiem Blech auslegen, doch man weiß nicht, ob sie das
getan hat. Angesichts der Ereignisse, die bald folgen, könnte man
daran zweifeln.
Das Gebäude ist vierhundert Fuß lang (fast einhundertzweiundzwanzig Meter) und einhundertfünfzig Fuß breit (etwas mehr als
fünfundvierzig Meter). Es hat eine zentrale Dampfheizung, Strom
und ist mit modernen Sanitäranlagen ausgestattet. Es kann, wie die
Zeitung „Harpers Weekly“ berichtet, zehntausend Immigranten am
Tag aufnehmen. Später wird sich herausstellen, dass das übertrieben
ist. Schon fünftausend täglich sind auf Ellis Island eine Geißel Gottes. Doch auch so ist es wohl die größte Karawanserei der Welt.
Bereits als er zum Kommissar der Insel nominiert wurde, stellte
Oberst Weber seine Belegschaft sorgfältig zusammen. Er begann mit
einem Besuch in Castle Garden. Unangekündigt erschien er dort
und mischte sich unter die Leute. Er sah erschrockene Menschen,
die von Bauernfängern und Schwindlern herumgeschubst wurden.
Er schaute sich den Immigrationsdienst an und sprach jemandem
an, der sein Vertrauen geweckt hatte. Bald war er im Besitz von drei
Listen. Einer guten: mit ehrlichen Mitarbeitern, einer neutralen:
mit Mitarbeitern, über deren moralische Haltung man nicht viel
wusste, und einer schlechten: mit Mitarbeitern, denen auf Ellis Island keine Aufgaben hätten übertragen werden sollen.
(...) Einer der Mitarbeiter von der guten Liste in Castle Garden ist
Peter McDonald. Seit zwanzig Jahren kümmert er sich um das Gepäck. Auf den ersten Blick erkennt er aus welchem Land es kommt.
Über die Herkunft der Koffer weiß er mehr als über seine eigene.
Als die neue Gepäckaufbewahrung, die Reisebündel, Koffer und
Truhen von zwölftausend Passagieren fassen kann, eröffnet wird,
ist Peter Mac – so wird er hier genannt – dreiundvierzig Jahre alt.
Er kennt sein Geburtsdatum: 1849, doch er weiß nicht, wo er auf
die Welt kam; in Irland, in New York oder in Fall River im Staat
Massachusetts. Er weiß auch nicht, ob die Menschen, die ihn groß
gezogen haben, seine wirklichen Eltern sind oder nur ihre Freunde,
die ihn zu sich nahmen, nachdem seine Mutter gestorben war.
Der Gepäckwart Peter Mac mit der runden Dienstmütze, im weißen Hemd und in Hosen mit Hosenträgern (es ist eine gute Stelle
und Peter hat bereits einen kleinen Bauch bekommen) lenkt das
Hin und Her der Habseligkeiten, die aus aller Welt mitgebracht
werden. Manche Dinge, die er beobachtet, sind offensichtlich, andere verblüffen ihn immer wieder. Er hat sich zum Beispiel daran
gewöhnt, dass jede Nation ihre Bündel anders zusammen schnürt;
so weiß er welche Schlaufen und Knoten in Irland - das ihm besonders teuer ist (von dort kommt seine Frau) - gemacht wurden und
welche in Schweden, in Italien oder in der Schweiz.
Am meisten voll gepackt sind die Koffer der Dänen, der Schweden und der Norweger. Peter meint, diese Leute würden mehr mitnehmen als sonst irgendjemand: Matratzen, Daunendecken, Betten, Schubladen, Küchenstühle. Und obwohl man ihnen erklärt,
dass sie einen Haufen Geld für den Transport zum Bestimmungsort
zahlen müssen, so wollen sie sich von den Dingen nicht trennen; als
ob es um ihr Leben ginge.
Die Koffer der Franzosen und Engländer sind in einem besseren
Zustand als andere und eindeutig die modernsten. Griechen und
Araber haben Bündel so groß wie Berge; sie sammeln verschiedene
Sachen, die fünfhundert oder sechshundert Pfund wiegen, legen sie
zusammen und rollen sie in Teppiche und Tücher ein. So eine Rolle
müssen dann manchmal sechs Männer tragen.
Peter, der über die Koffer und Bündel wacht und entgegen jeder
Wahrscheinlichkeit behauptet, ihm sei noch nie etwas verloren gegangen, wundert sich über die Polen. Sie seien in ihren Reisedokumenten zwar als Russen, Österreicher oder Deutsche eingetragen,
31
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Photo: Krzysztof Miller / Agencja Gazeta
NACHTWANDERER
WOJCIECH JAGIELSKI
32
Wojciech Jagielski (geb. 1960), Journalist und Reporter. Kenner Afrikas und
Zentralasiens, des Kaukasus und Transkaukasiens. Er berichtete von den wichtigsten politischen Brennpunkten der Welt.
In seinem neuesten Buch nimmt Wojciech Jagielski den Leser mit auf eine finstere Reise durch Afrika, genauer gesagt
nach Uganda. Jagielski hat viele blutige Konflikte beschrieben, in denen sich die Kriegsparteien gegenseitig an Brutalität überboten, vielfach hat er auch seiner Verwunderung über
das ungeheure Ausmaß der menschlichen Bestialität Ausdruck
verliehen (Jagielski gibt häufig die Rolle des unparteiischen,
objektiven Beobachters auf und lässt den Leser teilhaben an
seinen Gefühlen, Zweifeln, seiner inneren Zerrissenheit). Diesmal hat er es jedoch mit dem Bösen schlechthin zu tun, das
sich jeglicher Vorstellung geradezu entzieht. Uganda, das
über Jahrzehnte Bürgerkriegsland war, wurde von grausamen
Diktatoren – wie dem berüchtigten Idi Amin – regiert, denen
das menschliche Leben nichts bedeutete. Zurzeit herrscht
dort relative Ruhe, obwohl in einer der ugandischen Provinzen weiterhin blutige Kämpfe ausgetragen werden. Tod und
Vernichtung sät dort die „Widerstandsarmee des Herrn“, die
von Joseph Kony, einem fanatischen, selbsternannten Propheten, geführt wird. Es ist eine Armee, wie sie die Welt bisher
noch nicht gesehen hat: Sie besteht vor allem aus Kindern, die
aus ihren Dörfern entführt und in gnadenlose Tötungsmaschinen verwandelt wurden. Jagielski, dessen Text keine klassische Reportage ist (die Protagonisten sind keine realen Figuren, sondern wurden, wie der Autor in einem kurzen Vorwort
schreibt, „für die Bedürfnisse dieser Erzählung aus mehreren
wirklichen Figuren zusammengesetzt“), versucht die „Widerstandsarmee des Herrn“ zu beschreiben und das Besondere
zurück zum Inhaltsverzeichnis
der Lebensverhältnisse in Uganda zu verstehen. In der Stadt
Gulu, die in der umkämpften Provinz liegt, besucht Jagielski
ein Umerziehungsheim, in dem Kinder, denen die Flucht aus
den Rebelleneinheiten gelang oder die von Regierungstruppen
gefangen genommen wurden, „geheilt“ werden. Dort lernt er
den dreizehnjährigen Samuel kennen. Seine Beziehung zu dem
Jungen ist schwierig, Jagielski – anderen geht es ähnlich weiß nicht so recht wie er ein Kind behandeln soll, das sowohl
ein Kriegsopfer als auch ein Kriegsverbrecher ist, der dutzende
Menschen auf dem Gewissen hat. Jagielski versucht auch dahinterzukommen, warum gerade dieses Land, das ein Paradies
auf Erden sein könnte, ständig im brudermörderischen Krieg
versinkt. Das ist nicht einfach, da die üblichen, rationale Erklärungen sich mit magischen vermischen, da die Ugander fest
an den Einfluss der Geisterwelt auf die Wirklichkeit glauben
(Kony selbst behauptet, dass der Heilige Geist durch ihn spreche). Jagielskis neuestes Buch ist ein bewegendes und bitteres
Buch.
Robert Ostaszewski
W.A.B.
TRANSLATION RIGHTS
978-83-7414-602-9
ISBN
W.A.B., WARSAW 2009
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
142 × 202, 336 PAGES, PAPERBACK
stellen? Er hat sich von hinten an die Schlange herangeschlichen, sie
mit bloßen Händen gepackt und sie lebendig in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen. Sie hat gut geschmeckt, nicht wahr?“
Samuel nickte und fletschte die Zähne zu einem Lächeln.
„Erzähl mal, wie ihr euch in der Nacht verirrt habt. Erzähl, wie sie
dir ein Gewehr gegeben haben.“
Er kannte nur wenige englische Wörter, was zur Folge hatte, dass
seine Erzählungen sachlich und einfach waren. Er sprach langsam,
deutlich und wählte die Ausdrücke sorgfältig aus wie ein guter, auf
den Unterricht vorbereiteter Schüler, der vom Lehrer abgefragt
wird. Nora hörte ihm aufmerksam zu. Er starrte sie an, und ihr
Nicken wertete er als Lob und Ermunterung weiterzusprechen.
„Am wichtigsten ist es, gute Fragen zu stellen. Er muss wissen,
was ich ihn frage. Wenn er es nicht versteht, erschrickt er und zieht
sich in sich zurück“, sagte Nora. „Nicht wahr, Sam? Du ziehst dich
in dich zurück und schweigst wie ein Grab. Oder du brichst in Tränen aus wie ein Dreikäsehoch.“
„Nora ist ein Dreikäsehoch“, rief er lachend und zeigte auf das
Mädchen. „Nora Dreikäsehoch! Nora Dreikäsehoch!“
„Samuel, pass auf!“, drohte sie. „Frag ihn nach der Schule!“
Ich fragte ihn nach seinen Lieblingsfächern in der Schule und
nach den Lehrern, nach Fußballvereinen, deren Namen und Trikotfarben er aus dem Fernsehen kannte.
„Ich mag Zeichnen, und ich mag Nora“, antwortete er ernsthaft.
„Und Mathematik? Ich mochte Mathematik nicht.“
„Ich mag Mathematik auch nicht.“
„Und Sport? Magst Du Sport? Ich mochte Sport.“
„Ich mag auch Sport. Und ich mag Naturkunde.“
„Ich mochte Naturkunde auch sehr gerne.“
Eines Tages saß ich mit Nora und Samuel nach dem Unterricht
auf der Treppe aus rohem Beton vor dem Aufenthaltsraum. Wir
sahen den anderen Kindern zu, wie sie über den staubigen Schulhof
liefen und Fußball spielten. Im Büro klingelte das Telefon.
PUBLISHER
ICH
habe mich nie gehemmt gefühlt, wenn ich Menschen begegnet bin, die töteten oder den Befehl
zum Töten gaben. Soldaten, Rebellen, ihren
Kommandanten und politischen Führern, die Kriege auslösten, felsenfest davon überzeugt, dass nur so Gerechtigkeit hergestellt werden konnte, dass dies die einzige Rettung war.
Selten nahmen sie sich als Kriegsverbrecher wahr. Sie rechtfertigten sich, suchten nach mildernden Umständen, redeten das Böse
klein, beschuldigten andere. Die Gespräche mit ihnen waren einfache Duelle in puncto Durchtriebenheit und Sachverstand, Spiele,
in denen Hinterlist die Regel war und das Überlisten des Gegners
den Sieg bedeutete.
Mit den Opfern von Kriegsverbrechen, in der Regel deren einzige
Zeugen, war es schwerer sich zu unterhalten. Erzählten sie einem
Journalisten von ihrem Unglück, spekulierten sie auf Hilfe, auf
eine Änderung ihres Schicksals. Das eigene Elend hielten sie für das
größte und ungerechteste, es war das einzig Wertvolle, das ihnen
geblieben war. Sie waren sich sicher, dass ihr Leid der Welt nicht
gleichgültig war. Als sich aber nichts änderte, wuchs die Verbitterung und verstärkte sich das Gefühl erlittenen Unrechts.
Sie wollten nicht erzählen, weil sie die Reste ihres Vermögens,
die Erinnerung an das Gesehene und Durchlebte, für sich behalten
wollten. Sie wollten nicht erzählen, weil sie sich vor dem Schmerz,
der Trauer und den Schuldgefühlen fürchteten. Warum bin ich
nicht früher geflüchtet? Warum habe ich die Tür geöffnet? Während die Gespräche mit den Tätern an Verhöre erinnerten, waren
die Begegnungen mit ihren Opfern Beichten, die aber weder zur
Auferlegung einer Buße noch zur Vergebung der Sünden führten.
Sie spendeten weder Trost noch linderten sie den Schmerz.
Darüber hinaus musste man so viel wie möglich in Erfahrung
bringen, damit die Erzählung möglichst gut, möglichst glaubwürdig war. Man musste unpassende Fragen stellen nach scheinbar
sinnlosen Details, Kleinigkeiten und Dingen. Um wie viel Uhr sind
die Rebellen ins Dorf gekommen? Schien die Sonne? Was haben Sie
gerade gemacht? Lief das Radio? Erinnern Sie sich, um wie viel Uhr
die Bombe auf Ihr Haus fiel? Und wie sah der Mörder Ihres Mannes
aus? Erinnern Sie sich an sein Gesicht? Wie war er angezogen? Wie
viele Male schoss er? Wie war das? Bitte, erzählen Sie doch.
Die Schwierigkeit mit Samuel bestand darin, dass er gleichzeitig
Opfer und Henker war. Ich wollte ihn in beiden Rollen kennen lernen, verstehen, wie er die eine gegen die andere eingetauscht hatte
und dann wieder in die erste, in die Ausgangsrolle geschlüpft war.
Ich schob das Gespräch auf, obwohl ich wusste, dass ich es führen
musste. Und dass ich genau das wollte. Als ich morgens ins Heim
kam, hielt ich auf dem Hof unter den Kindern nach Samuel Ausschau. Ich lächelte und winkte ihm zu, als er sich nach mir umdrehte. Er erwiderte meinen Gruß, kam aber nicht von selbst herüber,
ich rief ihn jedoch nicht.
Ich setzte mich auf die Bank und wartete auf Nora. Als sie kam,
tauchte auch gleich Samuel auf. Manchmal kletterte er wie ein kleines Kind ungeschickt auf ihren Schoß, ohne auf ihre Proteste und
peinvollen Beschwerden Rücksicht zu nehmen.
„Sam! Was machst du da?! Geh sofort runter von mir“, sagte sie
und rieb sich die schmerzenden Schenkel. „Du bist zu schwer, du
zerquetschst mich. Und du willst ein Rebell sein?“
Der Junge neckte sie und stieß ihr absichtlich die Ellenbogen in
die Beine.
Bei Noras Anblick verlegte er gewöhnlich sein Spiel in die Nähe
der Bank. Er schielte ununterbrochen in unsere Richtung und hörte
dem Gespräch zu, das er nicht verstehen konnte.
Obwohl er aussah wie ein Zehnjähriger, war er in Wirklichkeit
dreizehn Jahre alt. Er hatte jedoch etwas an sich, vielleicht waren es
die ernsten Augen, was ihn manchmal noch älter erscheinen ließ als
er war. Er hatte einen großen, kahl geschorenen Kopf, sehnige Hände voller Narben und wunde Füße, die so groß waren wie bei einem
Erwachsenen. Er unterschied sich nicht von den anderen Kindern
im Heim, und seine Geschichte war keineswegs dramatischer oder
ungewöhnlicher als die der anderen. Nora hatte ihn ausgewählt.
Oder vielleicht hatte er mir die Wahl abgenommen. Indem er Nora
nicht von der Seite wich, wurde er auch zu meinem Begleiter.
„Sam, zeig, wie du im Busch die Viper gefangen hast“, sagte Nora,
und der Junge spielte uns eine Jagdszene vor. „Kannst du dir das vor-
33
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Photo: Tomasz Kamiński
DAS HERZ DER NATION AN DER HALTESTELLE
WŁODZIMIERZ NOWAK
34
Włodzimi erz
Nowak
(geb.
1958),
bekannte r
Reporter ,
Journali st
bei
„Gazeta Wyborcza “.
In seinem neuen Reportagenband Das Herz der Nation an der
Haltestelle richtet Włodzimierz Nowak seine Aufmerksamkeit
auf das Polen außerhalb Warschaus, auf das B-Polen, wie er es
in der den Band abschließenden Reportage Solidarność flieht
mit dem Fahrrad nennt. In der Sammlung geht es um Städte
und Dörfer, die durch die Transformation des Systems und der
Wirtschaft nach 1989 wenig gewonnen haben oder gar zu den
Verlierern gehören.
Der Band enthält Reportagen, die in den Jahren 1998-2009
in der „Gazeta Wyborcza“ erschienen sind. Ähnlich wie in seinem vorherigen Buch (Die Nacht von Wildenhagen) versucht
Nowak Probleme, die ihn interessieren, anhand von Schicksalen konkreter Menschen aufzuzeigen. Diese Geschichten
sind selten grotesk, eher verworren, um nicht zu sagen: dramatisch. Der Reporter widmet jenen Menschen viel Platz, die
es nicht geschafft haben, sich in der veränderten Wirklichkeit
zurecht zu finden, oder die für den Versuch, sich über Wasser
zu halten, einen hohen Preis zahlen mussten; Menschen, die
sich durch Armut oder wegen eines Gebrechens am Rande der
Gesellschaft wieder fanden. Zum wiederholten Mal schreibt
Nowak über Gestrandete, die in den Ruinen der „Zivilisation
der LPGs“ stecken geblieben sind, in diesen riesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, wobei sie in bitterer Armut leben, von einer Gelegenheitsarbeit zur nächsten,
ohne Hoffnung auf eine Verbesserung ihres Schicksals. Er
erzählt von Bergarbeiterfamilien, für die die Schließung der
Grube nicht nur Existenzprobleme bedeutet, sondern auch das
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ende der traditionellen schlesischen Familie. Oder von einem
jungen Mann, der – weil er seine Arbeit in einem Konditoreibetrieb nicht verlieren wollte – bereit war, nahezu Sklavenarbeit
zu leisten und dann bei einem Unfall umkam. Der Autor zeigt
auch Menschen, die bereit sind, ihre Gesundheit und ihr Leben zu riskieren, um sich ein einigermaßen angenehmes Leben
zu sichern; wie die Händler illegaler Steroiden („Koks“) aus
der Reportage Meister der Hocke und Grätsche oder auch die
‚Spezialisten’, die Autos zusammenkrachen lassen, d.h. Unfälle arrangieren, um von Versicherungen Geld zu erschleichen
(Ganz Polen lässt es krachen).
In Nowaks Texten – wie üblich bei investigativen Reportagen
– herrscht meistens eine düstere Atmosphäre, die Farben sind
eher dunkel. Als Kontrapunkt bringt der Autor jedoch eine Reportage voller Wärme und Hoffnung in die Sammlung ein. Sie
erzählt die Geschichte einer körperbehinderten Frau, die bereit war, viel Leid und manche Entbehrung auf sich zu nehmen,
um ihr Gebrechen so weit ‚zu zähmen’, dass sie eine glückliche
Familie gründen konnte. Zudem opfert sie ihre Freizeit dafür, anderen Behinderten zu helfen und rettet ihnen dadurch so
manches Mal das Leben (Das Leben ist vertikal).
Robert Ostaszewski
POLISH RIGHTS
WŁODZIMIERZ NOWAK
TRANSLATION RIGHTS
978-83-7536-131-5
ISBN
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
125 × 195, PAPERBACK
Großmutter Aniela erinnert sich an ihren Mann: „Frydek war ein
guter, doch damals herrschte mehr der Mann. Die Frau hatte Arbeit
daheim, die vielen Kinder. Und wenn der Mann einen trinken war,
dann schlug er manchmal zu.“
„Und zu meinen Zeiten sagte man schon“, wirft die Krawczykowa ein, „dass der Mann zwar der Kopf der Familie sei, doch die
Frau der Hals, der den Kopf bewegt. Der Ehemann legte seinen
Lohn und den Lohnstreifen auf den Tisch und der Rest ging ihn
nichts an. Die Hausfrau musste zusehen, dass es reichte. Wenn der
Mann im Bergwerk war, dann wagte sie sich nicht aus dem Haus.
‚Der Mann in der Grube, die Alte zu Haus’, sagte man. Daheim
gab’s viel Arbeit. Man musste es zu etwas bringen. Als die Zwillinge
zwei Jahre alt waren, habe ich eine Waschmaschine gekauft. Die
wusch sechzig Windeln auf einmal. Manchmal kamen die Frauen
zusammen, zum Federrupfen – es war lustig. Ein anderes Leben
hatte man nicht.
CONTACT
DER MANN IN DER GRUBE,
DIE ALTE ZU HAUS
CZARNE, WOŁOWIEC 2009
Am 11. September machte sich Joanna wieder Sorgen um ihren
Mann. Er war mit den Kumpeln von „Bolesław“ zu einer Demonstration in die Hauptstadt gefahren – dreißig Busse.
„Im Radio sagten sie, die Bergleute würden sich mit der Polizei
Kämpfe liefern. Sie würden Warschau demolieren und Feuer legen.
Ich habe Mutter eine Beruhigungstablette gegeben. Später erzählte
mir mein Mann, dass jedes Bergwerk für sich marschierte. Sie hatten weder Stöcke noch Flaschen dabei. Plötzlich sprangen irgendwelche Leute mit Stöcken und diesen Cocktails in die Gruppe rein.
Keiner weiß woher, denn um sie herum waren nur die Kumpel von
‚Bolesław Śmiały’“.
Einige Tage später machten sich die Frauen von „Bolesław“ auf
den Weg zur Präsidentengattin Kwaśniewska. Um ein wenig die
Wogen zu glätten. Das Treffen organisierte die Planistin Barbara
Kisielewicz. Sie schickte ein Fax zum Schloss des Präsidenten. In
der Konditorei von Szary, zwei Häuser von der Krawczykowa und
den Migułas entfernt, bestellten sie Kolatschen (Hefekuchen mit
Streuseln, gefüllt mit Quark, Mohn oder Äpfeln). Sie packten die
Statue der Heiligen Barbara aus Kohle ein und nahmen zwei Tage
Urlaub. Die Kisielewicz paukte schon ab Łaziska die Ansprache an
die Kwaśniewska. „Wir, die Mütter, Ehefrauen und Töchter der
Bergleute möchten unsere Trauer und unser Bedauern darüber ausdrücken, dass es zu solch’ drastischen Ausschreitungen gekommen
ist, doch wir lassen auch nicht zu, dass man aus unseren Männern
Banditen macht.“
Bei der Kwaśniewska musste man keine Ansprache halten.
„Kommt rein Frauen“, lud sie ins Schloss ein. (Die Jungs vom BOR
schauten in die Kolatschen rein.) Sie bat Minister Piechota zu sich.
Also erklärten sie lang und breit dem Minister, dass „Bolesław“
bereits durch ein spezielles Förderband mit einem Kraftwerk verbunden und ein Betrieb zur Kohleanreicherung sei. Angeblich das
einzige dieser Art in Europa. Alles für hunderte Millionen Zloty,
die Prämien der Bergleute seien dafür draufgegangen. Doch plötzlich habe es sich jemand anders überlegt: nicht verbinden, sondern
auflösen. Wenn „Bolesław“ geschlossen werde, dann werde es in
Łaziska neunzig Prozent Arbeitslosigkeit geben. Sie ließen die Kolatschen da, gingen von der Kwaśniewska direkt zum Glemp und
vereinbarten einen Empfangstermin. Dann fuhren sie zum Papst.
Überall zündeten sie Kerzen an und beteten für die bedrohten Bergwerke.
Professor Marek Szczepański von der Schlesischen Universität
sagt ein wenig scherzhaft, es seien die Frauen der Bergleute gewesen, die die letzten Streiks ausgelöst haben: „Sie mussten nur sagen: ‚Wenn du entlassen wirst, dann nehme ich die Kinder und
gehe wieder zu meiner Mutter.’ Heute ist die Frau eines Bergmanns
der Manager und Finanzminister in der Familie. Sie sieht, dass die
Einkünfte der Familie zurückgehen, dass es keine Bergarbeiter-Boni
mehr gibt, dass der Firma ‚Bergarbeiterfamilie’ die Pleite droht.
Also setzt sie einerseits wie üblich ihren Mann unter Druck: ‚Was
bringst mir da für einen Hungerlohn?’, doch andererseits weiß sie
als Manager, dass ihr Bergarbeiter ungebildet ist und außer Kohle
zu fördern nicht viel kann und auch nirgendwohin gehen könnte.
Von hundert Bergarbeitern haben sechzehn eine Grundausbildung
plus Weiterbildungskurse, eine höhere Ausbildung haben nur vier.
Daher übernimmt die Frau die Initiative. Ich bin selbst mit einer
Bergarbeiterfamilie befreundet; er arbeitet unter Tage, sie bewegt
sich in der Grauzone und putzt bei Ausländern.
Statistisch gesehen hat die Frau eines Bergarbeiters eine bessere
Ausbildung als ihr Mann. Sie will jetzt höher hinaus, will verdienen, sich bilden. Eine deutliche Veränderung konnte man 1989
beobachten. Immer mehr Frauen wurden berufstätig. Davor arbeiteten von hundert Bergarbeiterfrauen nur neunundzwanzig, danach
waren es einundfünfzig. Selbst die ärmsten Bergarbeiterfamilien
lassen ihre Kinder jetzt ausbilden. Laut Untersuchungen sorgen
fünfundsiebzig von hundert Bergarbeitern, die Töchter haben, für
die Ausbildung der Mädchen. Das ist ein paar Prozent mehr, als
bei denjenigen, die für eine Ausbildung der Söhne sorgen. Ich sehe
hier den Einfluss der vorsorgenden Ehefrauen, sie denken dabei
an die Mitgift: das Diplom als Mitgift“. Und weiter sagt Professor
Szczepański: „Häufig legten wir den Reformern nahe, bei der Restrukturierung des Bergbaus die Frauen der Bergarbeiter zu berücksichtigen, diese Hausmanager, die bei dem Schicksal ihrer Grube
die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Denn die Grube ist
wie eine Kirche, sie ist das Zentrum festgelegter Werte, sie ist Lebensweise und Lebensstil. Es waren doch die Frauen, die zum Haus
von Premier Hausner gegangen sind und zu den Bürogebäuden der
Kohlegesellschaft, und sie fuhren zu der Kwaśniewska. Manche sagen boshaft, die Weiber würden nur für sich selbst kämpfen, weil
ein unter Tage-Bergmann immer eine Arbeit fände und am meisten
die Stellen „oben“ bedroht seien. Dort arbeiten jetzt Frauen. Früher
herrschten oben die Männer“.
„Es gab nur ein paar Frauen in der Rechnungsabteilung, vorwiegend ledige, weil die verheirateten mit den Kindern zu Hause
hockten“, erinnert sich Leokadia „Lala“ Supryn, die Chefin der
Liga Polnischer Frauen bei „Bolesław“. „Sie begannen irgendwann
Frauen einzustellen, weil sie die Vetternwirtschaft nicht in den Griff
bekamen. Da trank einer, kam nicht zur Arbeit, und dann ging er
mit ´ner Flasche zum Kollegen im Büro, damit der das als Urlaub
rein schreibt.“
„Verdammte Weiber, tun nix, nur Kaffe trinken se“, fluchten die
Männer unten, als die Frauen oben die Herrschaft übernahmen.
PUBLISHER
DIE HEILIGE BARBARA,
KOLATSCHEN UND AB NACH WARSCHAU
35
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OB DER HERRGOTT WOHL GLÜCKLICH
IST UND ANDERE FRAGEN
Leszek Kołakowski (1927-2009), berühmter polnischer Philosoph, Schriftsteller,
LESZEK KOŁAKOWSKI
Großintellektueller, Autor mehrerer Dutzend Bücher, die in zahlreiche Sprachen
36
übersetzt wurden.
Kann Gott glücklich sein, und was ist das überhaupt: Glück?
Sind die Menschen von Natur aus gut? Wozu brauchen wir
Menschenrechte? Hat der Begriff „Wahrheit” – „die Wahrheit” – noch eine Zukunft? In seinen Texten aus den letzten
Jahren hat sich Prof. Leszek Kołakowski bemüht, auf diese
und ähnliche Fragen eine Antwort zu finden. Zbigniew Mentzel
hat diese Texte in einem Sammelband zusammengestellt. Das
Buch erschien erst nach dem Tod Kołakowkis, doch gab dieser
noch sein Einverständnis zur Textauswahl, und auch der Titel
stammt von ihm.
Der Band umfasst 36 längere und kürzere Essays – Stationen
einer faszinierenden Reise durch die Geschichte der menschlichen Gedanken über die grundlegenden Dingen des Lebens.
Was Kołakowski in den letzten Jahren besonders interessierte,
war die Situation des menschlichen Geistes in der heutigen
Zeit, eines Geistes, der durch verschiedenste geschichtliche
Erfahrungen gegangen ist und auf verschiedenste Arten versucht hat, diese Erfahrungen zu verarbeiten, um sich in einer
Situation wiederzufinden, in der er aufgehört hat, sich selbst
zu verstehen. Hin- und hergerissen zwischen Glaube und Zweifel, zwischen der Sehnsucht nach unumstößlichen Tatsachen
und der Gewöhnung an Verirrungen kehrt dieser Geist heute
zu den Fragen zurück, die er sich seit Jahrhunderten gestellt
hat. Besonders fasziniert zeigt sich Kołakowski dabei von der
Rückkehr zu Fragen aus dem Bereich des Glaubens. Der Anstrengung zahlreicher Denker zum Trotz konnte die Gottesfrage bis heute nicht „gelöst” werden – nach wie vor ist sie
intelektuelle Herausforderung und Gegenstand heißer Auseinandersetzungen.
PUBLISHER
ISBN
zurück zum Inhaltsverzeichnis
ZNAK, CRACOW 2009
978-83-240-1258-9
”Ich könnte mich natürlich brüsten”, schreibt Kołakowski
in seiner Einleitung, „dass dies ein Buch über alles sei: über
Glauben und Unglauben, Glück und Unglück, das Gute und
das Böse, über Gott und den Satan, Verstand und Unverstand,
über die Unruhe der heutigen Zeit, über die Wahrheit und
viele andere Dinge.” Der Autor ist sich jedoch bewusst, dass
jedes der aufgeworfenen Themen vor allem eine Reise bis tief
zurück in die Traditionen und ein Herantasten an verschiedene Positionen darstellt. Und so teilt er dem Leser mit einem
Augenzwinkern mit: „Es will mir einfach nicht gelingen, die
wichtigsten Fragen ihrer endgültigen Lösung zuzuführen, und
ständig stellen sich mir Schwierigkeiten in den Weg, denen
ich dann mit der ungeschicken Ausflucht ››einerseits..., andererseits jedoch...‹‹ auszuweichen gezwungen bin. Vielleicht ist
das eine Schwäche oder eher ein Gebrechen, das dem Verstand
des Autoren zugrundeliegt, vielleicht aber auch – und wieder
schmeichle ich mir selbst – ein Gebrechen des menschlichen
Daseins allgemein.”
Wojciech Bonowicz
144 × 205, 308 PAGES, HARDCOVER
TRANSLATION RIGHTS
MOHRBOOKS AG
LITERARY AGENCY
POLEN AUSGETAUSCHT
turkritiker und Literaturprofessor. Leitet die Forsc
hungsstelle für Literaturkritik an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen.
Wie sehen in einer Zeit, in der die großen Narrationen in der
Krise stecken, die Erzählungen über die Gesellschaft aus?
Kann das, was einst zusammenschweißte, in einer postmodernen Wirklichkeit helfen, neue Bindungen zu schaffen? Wo
hat die Freiheit des Individuums und die der Gemeinschaft
ihre Grenzen? Auf diese grundlegenden Fragen versucht
Przemysław Czapliński in seinem neuesten Buch Polen ausgetauscht. Die Spätmoderne und unsere großen Narrationen eine
Antwort zu geben.
Czapliński beschäftigt sich mit der polnischen Literatur der
Jahre 1986-2008, und zwar nicht nur aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers, sondern vor allem aus der Perspektive
eines scharfsinnigen Soziologen, der wie besessen gesellschaftlichen Prozesse nachspürt und dann ihre Widerspiegelung in
literarischen Texten sucht. Seiner Ansicht nach wurden in der
polnischen Literatur der letzten zwanzig Jahre vor allem drei
klassische Ideen der Moderne – Brüderlichkeit, Freiheit und
Gleichheit – erkundet, auf die das Buch Polen ausgetauscht
folgerichtig auch aufgebaut ist. Jedes Kapitel wurde einem
dieser drei Begriffe gewidmet.
Czaplińskis essayistische Ausführungen enthalten nicht nur
Analysen literarischer Texte, sondern geben auch ein Bild
vom heutigen Bewusstsein der Polen. Czapliński stellt mutige Thesen auf, die den Leser verunsichern. In einer wissenschaftlichen, aber dennoch gut verständlichen Sprache stellt
er unangenehme Wahrheiten dar, hält den Polen den Spiegel
vor, deckt stereotypes Denken auf und zeigt, wie dieses in den
bekanntesten polnischen Romanen der letzten zwanzig Jahre
funktioniert. Eingehend analysiert werden u. a. Picknick am
PUBLISHER
ISBN
W.A.B., WARSAW 2009
978-83-7414-508-4
Ende der Nacht von Piotr Siemion, Schneeweiß und Russenrot
von Dorota Masłowska sowie Lubiewo von Michał Witkowski.
Auch wenn es scheinen mag, dass es über diese Texte nichts
Neues mehr zu sagen gibt, so gelingt es Czapliński doch, uns
zu überraschen, indem er diese Romane aus einer völlig anderen literaturkritischen Perspektive betrachtet.
Polen ausgetauscht ist kein Literaturführer durch die letzten zwanzig Jahre. Die Romane dienen hier nur als Vorwand.
Czapliński beschert uns eine faszinierende Erzählung über
die Geschichte, Politik und Verfassung der polnischen Gesellschaft. Es ist eine Erzählung über die Polen von heute, die versuchen, sich in einer sich zu schnell verändernden Wirklichkeit
zurechtzufinden.
Magdalena Wołowicz
www.gpunkt.pl
123 × 195, 384 PAGES, HARDCOVER
TRANSLATION RIGHTS
W.A.B.
PRZEMYSŁAW CZAPLIŃSKI
Przemysław Czapliński (geb. 1962), einer der einflu
ssreichsten polnischen Litera-
37
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SCHWERKRAFTBEDINGTE MISSHELLIGKEITEN
TOMASZ LEM
38
Tomasz Lem (geb. 1968), Sohn des berühmten polnischen Science-Fiction-Autors
Stanisław Lem. Studierte Physik u.a. an der Universität Princeton, von Beruf
Übersetzer.
Tomasz Lem ist der spät geborene Sohn von Stanisław Lem,
er hat also keine Erinnerungen an den Vater als jungen Mann.
In Schwerkraftbedingte Misshelligkeiten porträtiert er den
berühmten Vater. Das Buch, das nach dessen Tod entstand,
erhebt nicht den Anspruch, mit den Monographien über Lems
Werk zu konkurrieren. Tomasz Lem widmet Lems Schaffen
nur wenig Raum, er konzentriert sich vielmehr darauf, den
schillernden Charakter des Vaters mit seinen zahlreichen Eigenarten und Marotten zu zeichnen. Er beginnt mit Familienerzählungen und Anekdoten, da er selbst die Zeit des Krieges und des Stalinismus nicht miterlebt hat, und zitiert auch
aus Briefen und Interviews Lems eigene Erinnerungen und
die seiner Freunde. Zum Vorschein kommt die Geschichte des
Menschen Lem: die Geschichte seiner Kriegsabenteuer, die in
wenigen Worten erzählt werden, seiner Wohnungen und Häuser, seiner Auslandsreisen und längeren Aufenthalte in WestBerlin und Wien, seiner Freundschaften und intellektuellen
Beziehungen sowie seiner persönlichen Leidenschaften und
Schwächen, insbesondere seiner verhängnisvollen Vorliebe für
Süßigkeiten. Begleitet wird Lem von seiner Frau Barbara, die
stets in seinem Schatten steht, aber als Partnerin und Betreuerin in all den Jahren ihrer Ehe eine außerordentlich wichtige
Person ist.
Es handelt sich hierbei, was aus einer breiteren als der familiären Perspektive noch interessanter ist, um das Porträt einer
außergewöhnlichen Persönlichkeit in den Jahren totalitärer
Herrschaft, des Kalten Krieges, der Zensur sowie der allge-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
meinen Mangelwirtschaft im sozialistischen Lager. Der Kampf
des widerspenstigen Lem mit diesen Unannehmlichkeiten, seine Proteste, seine Ohnmacht und seine Apathie dienen zum
einen als Vorwand, um die düstere Realität des Kommunismus
darzustellen, und sind zum anderen Gegenstand unzähliger
grotesker Anekdoten. Zum Ende des Buches hin beginnt der
erwachsen werdende Sohn Tomasz in diesen Anekdoten eine
immer größere Rolle zu spielen. Lem ist ein dominanter, häufig despotischer Vater, seine Neigung zur Dominanz verbindet
er aber mit einer wahrhaft kindlichen Liebe zu Spielen und
Spielzeug, was eine besondere Vertrautheit zwischen Vater
und Sohn schafft. Lem junior schlägt jedoch einen anderen Lebensweg ein und wird nicht, wie vom Vater erhofft, Physiker.
Aus dieser Erzählung erfahren wir zwar nicht, warum Lem
ein Geistesgröße war, aber wir lernen ihn in Alltagssituationen
und vor dem Hintergrund seiner Zeit kennen, was das Buch
für alle Lem-Liebhaber zu einer überaus interessanten Lektüre
macht.
Jerzy Jarzębski
WYDAWNICTWO LITERACKIE
CONTACT
TOMASZ LEM
TRANSLATION RIGHTS
978-83-08-04379-0
Ich kenne kein anderes Land, in dem der Mensch atmet so frei
ISBN
1
WYDAWNICTWO LITERACKIE, CRACOW 2009
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
145 × 207, 262 PAGES, HARDCOVER
Vater trug das Stück mit großem Engagement vor, gelegentlich von
Lachen unterbrochen.
Im Lied von den Ulanen Wenn er mich liebgewänne // Wehren würde ich mich nicht // Auf dass er mich mitnehme, fort von hier sang er
die Partie des Mädchens, ohne das Rasieren zu unterbrechen, im
Diskant.
Zu seinen morgendlichen Standards gehörte auch eine Komposition über das Fräulein Franciszka, das sich zusammen mit dem von
den Eltern abgewiesenen Heiratskandidaten umbringt und dazu
mit Strychnin versetzte Wurst benutzt, was naheliegt, da der Vater
des Fräuleins Fleischer ist.
Die französischen und englischen Lieder schienen direkt aus dem
Kanon des Jazz zu stammen. Lange Zeit war ich überzeugt, dass es
Jazz-Standards aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren waren, die
aus unbekannten Gründen nicht im Radio gespielt wurden. Indessen war zumindest eines dieser Stücke wahrscheinlich eine eigene
Vertonung von Robert Burns Fond Kiss (...)
Nach Abschluss der Morgentoilette und des Konzerts spielten wir
manchmal mit einer künstlichen Fliege, in der ein Metallplättchen
versteckt war. Man legte sie auf ein Blatt Papier und belebte sie mit
einem Magnet. Man konnte auch Eisenspäne auf das Blatt streuen
und beobachten, wie sie „aufstanden“, wenn man unter das Papier
einen Magnet hielt, oder die Magnetfeldlinien betrachten, die von
einem Stabmagnet hervorgerufen wurden. Fast täglich überprüften
wir mit einem Kompass, ob Norden dort war, wo es am Tag zuvor
gewesen war, und verifizierten anschließend das Ergebnis mit Hilfe
eines anderen Kompasses. Das grüne Tuch auf dem Schreibtisch
eignete sich, waren alle Typoskripte und Bücher weggeräumt, hervorragend zum Flohhüpfen, was aber nicht einfach eine Spielerei
war, sondern eine taktisch komplizierte kriegerische Auseinandersetzung, die eine einfallsreiche Strategie erforderte.
PUBLISHER
ALS
Kind wurde ich von meinem Vater mit Spielzeug
überhäuft. Was nicht weiter verwunderlich gewesen wäre, hätte mein Vater nicht schon Jahre
vor meiner Geburt angefangen Spielsachen zu kaufen. Während eines Russlandaufenthaltes in den Sechzigerjahren kaufte er zum Beispiel ein Modellflugzeug und setzte es im Hotelzimmer zusammen.
Weil er es aber, aufgrund der beachtlichen Maße, nicht mitnehmen
konnte, schenkte er es kurzerhand einem Schriftstellerkollegen, mit
dem er das Zimmer teilte und der noch etwas länger in Moskau
blieb. Als ich größer wurde, beklagte er sich, dass sein Sohn nicht
mit dem von ihm gekauften Spielzeug spiele. Von da an kaufte er
nicht mehr so viel, sah er aber ein besonders schönes Modell, ein
Schiff oder eine Dampflokomotive, konnte er einfach nicht widerstehen.
Meine Besuche bei meinem Vater begannen mit der immergleichen Frage: „Papa, hast du Zeit?“ Meistens hatte er Zeit für mich.
Wir beschäftigten uns mit Geophysik (Vater zeichnete Vulkane),
schauten uns Anatomieatlanten oder Sternkarten an und sprachen
viel über die Planeten, deren Namen ich schon auswendig kannte,
bevor ich zur Schule ging. Vater ließ meine Vermutung, dass die
Saturnringe sich immer langsamer drehen, unkommentiert, obwohl
es ihn einiges an Selbstbeherrschung gekostet haben musste, angesichts einer derart schändlichen Missachtung der grundlegenden
Gesetze der Mechanik zu schweigen. Eigens für mich projektierte er
ein Fahrzeug, das von Hunden und Katzen (statt von einem Motor)
angetrieben wurde. Dessen weiterentwickeltes Modell hatte einen
zusätzlichen Hund und eine Rückwärtsgangkatze. Beide Fahrzeuge
blieben natürlich „Reißbrettentwürfe“; das Maß aller väterlichen
Hingabe hingegen war das von ihm entwickelte, mit einer kleinen
Kurbel angetriebene Modell einer Seilbahn, die eine Zeitlang zwischen dem Nachttisch und dem Bücherregal hin- und hergondelte, diagonal durch das Arbeitszimmer, fast unmittelbar über den
Schreibtisch.
Die Zuteilung von süßen Rationen – genauer gesagt von Marzipanbrot – wurde von einem besonderen Ritual begleitet. Vater
öffnete den Schrank, nahm ein Taschenmesser heraus, rieb die Klinge an einem Taschentuch ab, wickelte dann still und konzentriert
ein Stück Marzipan aus dem Papier und schnitt zwei Portionen ab
– eine für mich und eine für sich. Nach einer kurzen behaglichen
Stille, in der Vater seinen Gedanken nachhing, fegte er mit einer
schwungvollen Bewegung die Krümel in die Ritze unter der Klappe
– mit der Zeit häufte sich dort einiges an. Diese Marzipanfestessen
fanden in einer konspirativen Atmosphäre statt, da uns beiden klar
war – obwohl darüber nie gesprochen wurde –, dass Mutter von der
Art, wie wir uns der Krümel entledigten, nicht begeistert gewesen
wäre, und auch die Art, das Taschenmesser zu reinigen, nicht auf
ungeteilte Zustimmung gestoßen wäre.
(…)
Als Knirps sah ich Vater oft bei der Morgentoilette in seinem Zimmer zu. Das Rasieren mit einer elektrischen Remington, bei dem
sich der Duft des Eau de Toilette Old Spice Pre-Electric im Raum
ausbreitete, wurde von verschiedenen Musikstücken begleitet. Er
selbst sang nicht nur häufig, sondern hörte auch gerne – ungeachtet seiner wiederholten Beteuerung, er sei „stocktaub“ – klassische
Musik, insbesondere die Sinfonien Beethovens, Jazz, vor allem das
Duett Louis Armstrong und Ella Fitzgerald, das Kabarett Starszych
Panów (das Lied Ich verfluche dich) sowie einige Songs der Beatles
aus dem Film Yellow Submarine.
Zu seinem Repertoire, das er nach dem Rasieren sang, gehörten
ukrainische Volkslieder: vom Mädchen, das den Geliebten bespuckt, weil er sie nicht so anschaut, wie es sich gehört, vom Liebsten, den die Cholera als Einzigen im Dorf verschont, oder von
einem anderen Mädchen, das den Geliebten ausgräbt, um ihn vor
der Wiederbestattung einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.
Die Melodie, die die Waschung des Toten beschreibt, war ungewöhnlich leichtfüßig und fröhlich.
Das sowjetische Ja takoi drugoi strany nie snaju, gde tak wolno dyschit tschelowek1, ergänzte das Lemberger Liedgut, das mit sanftem
Bariton und Lemberger Akzent gesungen wurde (...)
Hoch im Kurs stand die Bettelballade von Makary (Es war ein
Kerl namens Makary // Gefräßig man glaubt es kaum), der der armen
Witwe und dem Kind nicht helfen will, sich überfrisst und platzt.
39
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Photo: Mirosław Kasprzyk / Ambermedia
DIE ANDEREN BILDER
MARIA POPRZĘCKA
40
Maria Poprzęcka (geb. 1942), Kunsthistorikerin und Autorin zahlreicher populärwissenschaftlicher Abhandlungen. Für Andere Bilder erhielt sie in diesem
Jahr den renommierten Literaturpreis der Stadt Gdynia.
„Mich interessiert das Unscharfe, das Unklare, das Ungewisse”, signalisiert Maria Poprzęcka in ihrem Vorwort. Das nebelverhangene Bild, das Spiegelbild im Fensterglas, das in der
grellen Sonne verschwimmende wie auch das ins Dunkel gehüllte Bild. Oder das einzig „mit den Augen der Seele” – durch
Künstler wie Betrachter – geschaute Bild. Einen Betrachter,
dem die Verfasserin Der anderen Bilder mit Marcel Duchamp
den Status eines Mitschöpfers zuspricht.
Die anderen Bilder verknüpfen die Geschichte sich wandelnder
Konventionen mit der Rezeptionsgeschichte. Die Autorin hält
sich jedoch an keine chronologische Ordnung und hat nicht den
Anspruch, jede Umbruchserscheinung nachzuzeichnen oder zu
systematisieren. Sie verfolgt das Ziel, Kunst- und Philosophiegeschichte um das Problem der „Weltwahrnehmung” und des
Entzifferns der Bedeutungen des Offenbaren wie des Verborgenen zu fokussieren. Des Verdeckten, vom Licht oder durch
den Blickwinkel Deformierten. Blickwinkel im doppelten Sinne, wörtlich und symbolisch verstanden, denn Poprzęcka koppelt Auge und Vernunft. Daher wirft sie auch einen Blick auf
die theoretischen Arbeiten der Künstler wie ihrer Interpreten,
der Erzähler und Dichter (die ihrer Ansicht nach die besten
Rezipienten sind). In ihrer Arbeit ist also von Kunsttraktaten
und Ekphrasis die Rede. Ebenbürtige Themen der Essays sind
Künstler (u.a. Odilon Redon, Francis Bacon, William Turner,
Andrzej Bielawski, Leon Tarasewicz und der bereits erwähnte
Marcel Duchamp als Schöpfer des „Großen Glases”), Maltechniken, Strömungen der Kunst (insbesondere Impressionismus
zurück zum Inhaltsverzeichnis
und Symbolismus) und der Philosophie, auch die allerneuesten.
All diese Elemente werden vermengt, doch der Übergang vom
Einen zum Andern bereitet dem Leser keine Probleme. Denn
die Essays zeichnen sich, obwohl große Bildung dahintersteht,
durch einen ungewöhnlich klaren Stil aus.
Poprzęcka warnt, das sei kein weiteres Buch, das vorgibt,
„wie man Kunstwerke sehen soll”, doch es könne dabei helfen, ihren Reichtum und die damit einhergehende konzeptuelle Arbeit wahrzunehmen. Die größten Vorzüge Der anderen
Bilder scheinen in der Präsentation des Wesentlichen aus der
„Geschichte des Auges” und der Verbindung von Synthese und
eigenständiger Analyse der beschriebenen Phänomene zu liegen.
Marta Mizuro
SŁOWO/OBRAZ TERYTORIA
CONTACT
MARIA POPRZĘCKA
TRANSLATION RIGHTS
978-83-7453-808-4
ISBN
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
162 × 215, 248 PAGES, HARDCOVER
Francis Bacon steht mit seiner Vorliebe für Bilder hinter Glas
eher alleine. Die meisten Betrachter scheinen die Gefühle Tadeusz
Różewiczs, des Verfassers des angeführten Gedichtfragments, zu
teilen, wenn auch nicht alle so kategorisch reagieren und doch bisweilen wieder den Louvre oder andere Museen besuchen, auch in
dem Wissen, dass sie dort auf Bilder hinter Glas stoßen können.
Jenes Glas, auch wenn es als Überbleibsel alter Ausstellungstechniken allmählich weicht, ist manchmal eine konservatorische Notwendigkeit oder ein Schutz vor den irrsinnigsten Gefahren seitens
des Publikums. Daher das Panzerglas vor den berühmtesten Bildern
der Welt. Als notwendiges Übel betrachtet scheint es unmerklich zu
sein. Und doch erscheint das Glas – worauf schließlich das zitierte
Gedichtfragment hindeutet – auf der Bildoberfläche nicht nur als
ein ärgerliches Hindernis bei dessen Betrachtung.
Glas ist durchsichtig. Wenn es aber einer intransparenten Oberfläche aufliegt, wird es reflektierend. Das Bild – die Leinwand, das
Holz, der Karton, das Papier – fungiert als Beschichtung, dank der
sich das damit unterlegte Glas in einen Spiegel verwandelt. Wenn
wir vor einem Bild hinter Glas stehen, sehen wir darin das Spiegelbild all dessen, was sich davor befindet: die gegenüberliegende
Umgebung, andere Bilder, Betrachter, schließlich uns selbst. Dazu
kommen Lichtreflexe, gleißende Blitzlichter, das Schimmern der
Oberfläche. Ein besseres Beispiel für kognitive Dissonanz lässt
sich kaum finden. Das zu Betrachtende wird beeinträchtigt durch
das Nicht zu Betrachtende. In einer solchen Situation sind wir für
gewöhnlich bemüht, all das auszublenden, was in den Bildraum
eindringt, wir wollen all das ignorieren, ausklammern, was nicht
zum Werk gehört, sondern ihm aufgezwungen wird oder wir ihm
vielmehr selbst aufzwingen, indem wir uns davor stellen und uns
im Glas spiegeln. Wir strengen uns an, dem Bild seine makellose
Gestalt wiederzugeben wie ein Restaurator, der eine Leinwand von
den darüberliegenden Übermalungen und Firnissen reinigt, um
zur ersten, authentischen Schicht des Werks vorzudringen. Diese
Anstrengung ergibt sich aus der für unseren Umgang mit Kunst
grundlegenden Ansicht, ein Bild sei ein autonomes Sein und seine
richtige Rezeption solle kontemplativen Charakter haben. Also gilt
es alles, was diese Autonomie zerstört und der Kontemplation zuwiderläuft, aus der Perzeption zu eliminieren. Das Bild hinter Glas
ist eine besondere Herausforderung an die berufliche Fertigkeit und
rezeptive Selbstbeherrschung, die Fähigkeit des Extrahierens der eigentlichen Botschaft aus dem visuellen Informationsrauschen.
Auf der anderen Seite kann man bemerken, dass alles, was auf
der Oberfläche des verglasten Bildes erscheint, visuell sehr anziehend sein kann. Das Bild ist reglos. (“Gioconda lag bewegungslos
im gläsernen sarg”), dafür regt sich das aufliegende Spiegelbild (Die
Japaner „waren sehr flink”). Es regt sich, also lebt es, während das
hinter Glas beigesetzte Bild tot ist. Es ist unveränderlich, während
das über seine Oberfläche dahinziehende Leben unablässiger Veränderung unterliegt. Über die erstarrte, substantielle Malereigrundie-
WYDAWNICTWO SŁOWO/OBRAZ TERYTORIA, GDAŃSK 2008
Tadeusz Różewicz,
Francis Bacon oder Diego Valezquez im Zahnarztstuhl (Fragment)
Aus dem Polnischen von Karl Dedecius
rung wandern fließende, immaterielle, beiläufige und unerwartete
Formen des Lichts. Das Bild unterliegt, obwohl es subkutan unberührbar ist, unendlichen Metamorphosen, wird fast schon zum
Bildschirm, der passiv die auf ihn projizierten Ansichten aufnimmt.
Mehr noch, die Form des Spiegelbilds hängt in großem Maße von
uns selbst ab, da es mit jeder Bewegung von uns changiert. Paradoxerweise wechseln wir beim Versuch, jene unerwünschten Einflüsse zu entfernen, die Position, wodurch das Bild noch dynamischer
und fesselnder wird. Und wenn wir endlich das Spiegelbild beseitigt
haben, dann haben wir auch das Bild selbst aus den Augen verloren, zumindest in seiner durch große Nähe unverstellten Form. Wir
selbst entscheiden nämlich über die Existenz oder Nichtexistenz des
Spiegelbilds. Es verschwindet letztlich, wenn wir den Reflexionsradius verlassen (normalerweise suchen wir genau so einen Platz). Die
Sache verhält sich wieder wie bei einem Spiegel, wo die Metallbeschichtung von Dauer ist, die auf der Glasoberfläche entstehenden
Bilder jedoch flüchtig, abhängig von unserer Gegenwart und unserem Blick. Die Lichtreflexe, die das Betrachten des Bildes hinter
Glas am stärksten beeinträchtigen, bilden andererseits ein den Blick
in seinen Bann ziehendes, lebhaft changierendes Spiel der Blitzlichter und des Schimmerns. Sie zerstören das Bild, doch sie locken das
Auge. Und was das Wichtigste ist – wir betrachten dort die „interessanteste Oberfläche der Welt”: unser Gesicht.
[…]
Wenn wir vor einem Schaufenster stehen, in dem sich die Straße,
die Passanten und wir selbst spiegeln, pressen wir, um das unerwünschte Bild abzuschütteln, die Nase fast schon auf die Scheibe,
schützen uns mit den Händen vor dem Licht, das das ungewollte
Spiegelbild entstehen lässt. In Galerien, wo ein solches Verhalten
unzulässig ist, bleibt nur, einen Blickpunkt zu suchen, von dem aus
das Spiegelbild relativ gesehen am schwächsten und das, was sich
hinter dem Glas befindet, am besten zu sehen ist. Manchmal, bei
der richtigen Beleuchtung, kann der Betrachter – ohne sich von der
Stelle zu rühren – nach Belieben das eigene Spiegelbild oder das
Bild selbst anschauen.
Doch was tun wir eigentlich, wenn wir uns entscheiden, etwas
um den Preis der Beseitigung von Anderem zu betrachten? fragt
Jonathan Miller, der Kurator einer der Spiegelbildthematik gewidmeten Ausstellung in der Londoner National Gallery, die das Phänomen gerade am Beispiel des Ladenschaufensters ins Bild setzt.
Wie vollzieht sich eine derartige Entscheidung? Diese Frage ähnelt
einem Problem, das in der experimentellen Psychologie als „Cocktailparty-Problem” bezeichnet wird. In einem überfüllten Zimmer
voll redender Gäste bemühen wir uns, jemandem zuzuhören, der
unmittelbar zu uns spricht. Plötzlich hören wir von anderswo ein
Fragment einer interessanteren Konversation. Dann können wir
uns entweder ausklinken und das ferne Gespräch herausfischen
oder andersherum uns von den heranströmenden Stimmen absondern und unsere Aufmerksamkeit auf den nahen Gesprächspartner
konzentrieren. Aber man kann nicht zwei Dinge auf einmal tun.
Die akustische Alternation ist analog zur optischen. In beiden Fällen sieht die Psychologie darin die Folge des Agierens von Willen
und Intellekt, nicht einer Körperbewegung. Wenn wir uns anstrengen, können wir das ferne Gespräch hören, sogar ohne den Kopf
in dessen Richtung zu wenden. Und genauso kann man, ohne den
Kopf zu bewegen, entscheiden, ob wir die Auslage des Ladenschaufensters betrachten oder den Straßenverkehr.
PUBLISHER
Bacon erzählte er habe gern
seine bilder verglast betrachtet
sogar Rembrandt
mag er hinter glas
und ihn stören nicht die zuffäligen passanten
die sich im glas spiegeln
das bild verwischen
und weitergehen
ich
ertrage verglaste bilder schlecht
ich sehe dort mich irgendwann
sah ich ein paar Japaner
aufgetragen auf Mona Lisas lächeln
sie waren sehr flink
Gioconda lag bewegungslos
im gläsernen sarg
nach diesem abenteuer
ging ich nie wieder in den Louvre
41
zurück zum Inhaltsverzeichnis
RUSSLAND UND DIE VÖLKER
WOJCIECH ZAJĄCZKOWSKI
42
Wojciech Zajączkowski (geb.1963), Diplomat und Historiker, Doktor der Philosophie, war an den polnischen Botschaften in Moskau, Kiew und Aşgabad tätig,
zurzeit ist er polnischer Botschafter in Rumänien.
250 Seiten sind nicht viel für eine Geschichte Russlands. Und
doch ist es dem Autor gelungen, zwei – schwer zu vereinbarende – Qualitäten eines historischen Essays miteinander zu verbinden: Weitläufigkeit und Kohärenz. Zajączkowski schildert
die Geschichte Russlands von den Anfängen bis zum Zusammenbruch der UdSSR ebenso kompetent wie spannend.
Der zentrale Gedanke des Buches lautet, dass die Geschichte
Russlands eine Einheit bildet, die nicht in eine Geschichte des
zaristischen Russlands und eine Geschichte der Sowjetunion
getrennt werden darf.
Diese Sicht der russischen Geschichte macht die geistigen Anleihen erkennbar, die die Sowjetunion bei den zaristischen Administratoren und ihrem Ringen mit der Völkervielfalt machte. Ein zentraler Gedanke, den Stalin von seinen zaristischen
Vorgängern übernahm, war das Dogma der „Einheit und Unteilbarkeit Russlands”. Doch die Umsetzung dieses Dogmas
erfolgte mit unterschiedlichen Mitteln: Im zaristischen Russland hatte man sämtliche nichtrussischen Volksgruppen ihrer
Souveränität beraubt, indem man ihnen den Zugang zu wichtigen politischen Ämtern verwehrte; Stalin vertrat zunächst das
Prinzip größtmöglicher Souveränität – indem er den einzelnen
Volksgruppen das Recht auf ethnische Identität zuerkannte
– um in den darauffolgenden Jahren die Voraussetzungen für
eine vollständige Dominanz der russischen Sprache und Kultur zu schaffen. Sein verbrecherisches Meisterstück war es,
die russischen Nationalisten unmittelbar nach der Revolution
gegen sämtliche fremde Elemente aufzuhetzen, anschließend
zurück zum Inhaltsverzeichnis
dieselben Nationalisten mithilfe des Proletariats zu beseitigen
und schließlich die wichtigsten Positionen der neuen Ordnung
mit russischen Kommunisten zu besetzen.
Wie konnte es dann zum Zusammenbruch eines so effizient
verwalteten Molochs kommen? Bei der Antwort auf diese Frage wird zumeist auf den ökonomischen Kollaps oder die Unabhängigkeitsbestrebungen der Sowjetrepubliken hingewiesen.
Zajączkowski vertritt auch in diesem Punkt einen originellen
Standpunkt. Er argumentiert, dass die wirtschaftliche Krise
und die Separationsbestrebungen zwar eine wichtige Rolle gespielt haben, der wichtigste Faktor sei jedoch der nationale
Egoismus der russischen Bevölkerung gewesen. Gegen Ende
der 80er-Jahre waren viele Russen der Ansicht, dass die Republiken eine zu große wirtschaftliche Belastung darstellten und
dass der einzige Weg zur Überwindung der Krise die Trennung
von jeglichem unnötigen Ballast war.
Wenn in einigen Jahrzehnten Aserbaidschaner, Armenier, Tataren, Kirgisen, Tadschiken, Usbeken, Georgier und Kasachen
ihre Autos mit russischem Benzin betanken und ihre Häuser
mit russischem Strom versorgen, und wenn sie abends vor
dem Fernseher sitzen um sich die russische Version von James
Bond oder „Krieg der Sterne“ anzuschauen, dann wird sich
der imperiale Auftrag Russlands erneut verwirklicht haben.
Przemysław Czapliński
WYDAWNICTWO MG
CONTACT
WOJCIECH ZAJĄCZKOWSKI
TRANSLATION RIGHTS
978-83-61297-60-4
ISBN
WYDAWNICTWO MG, WARSAW 2009
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
173 × 240, 256 PAGES, HARDCOVER
Osteuropas und Nordasiens. An dieser Stelle soll keineswegs dem
geografischen Determinismus gehuldigt werden, denn nicht allein
die natürlichen Faktoren waren für die Entwicklung dieser Region
verantwortlich (als ebenso wichtig erwiesen sich wirtschaftliche und
militärische Aspekte). Doch die Analogien zwischen sämtlichen
staatlichen Strukturen, die während der vergangenen zwei Jahrtausende in dieser Region entstanden, sind zu groß, um sie einfach vom
Tisch zu wischen. Die Imperien der Türken, Chasaren, Mongolen
und schließlich der Russen, entwickelten sich unter vergleichbaren
regionalen Bedingungen und hatten mit ähnlichen Problemen zu
kämpfen: Wie konnte man Territorien sichern, die durch keinerlei
natürliche Hindernisse geschützt waren? Wie konnte man sich in
dem rauen Klima ernähren? Nach welchen Regeln sollte man das
innere Leben einer multiethnischen Gesellschaft organisieren, deren Mitglieder über Tausende von Kilometern verstreut waren?
Ein solche Sicht der Geschichte Russlands ist keine Erfindung des
21 Jahrhunderts. In der russischen Geisteswelt manifestierte sie sich
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gestalt des Eurasismus.
Dieser betonte die historisch-geografische Einheit der Region, die
sich zwischen dem Stillen Ozean und den Karpaten erstreckte und
die das nördliche Asien und das östliche Europa umfasste. (…)
Das vorliegende Buch entstand aus dem Gefühl heraus, dass der
bis vor kurzem vorherrschende Blick auf die Vergangenheit Russlands und der UdSSR unzulänglich ist und in vielen Fällen das Verständnis der historischen Entwicklung erschwert. Es stellt jedoch
weder eine Synthese der russischen Geschichte noch eine wissenschaftliche Arbeit dar, sondern vielmehr ein historisches Essay, in
dem versucht werden soll, die nichtrussische Dimension der russischen Geschichte und die Kontinuität der ihr zugrunde liegenden
Prozesse aufzuzeigen. Es soll es keine vollständige Beschreibung
und Analyse der ethnischen Problematik in Russland und ihres
Zusammenhangs mit den geografischen Bedingungen und zivilisatorischen Entwicklungen bieten, sondern lediglich die wichtigsten
Aspekte dieses Themenbereichs aufzeigen. Vielleicht bewirkt dieses
Buch, dass unser Bild der russischen Geschichte an Dimensionalität
und Tiefe gewinnt.
PUBLISHER
DAS
Interesse an Russland – wie an allen großen Imperien – erklärt sich vor allem aus seiner Größe
und aus seiner Wirkung auf die Weltgeschichte. Unwillkürlich stellt sich die Frage nach den Ursachen dieser
Größe und Wirkungskraft. Die Wissenschaft widmet sich diesem
Thema nun schon seit fast 200 Jahren, wenn man das Werk Nikolai
Karamsins als Ausgangspunkt nimmt, doch wir können nicht behaupten, einer Antwort näher gekommen zu sein als die Gelehrten
des neunzehnten Jahrhunderts. Die Schwierigkeit liegt nicht allein
in der Komplexität des Gegenstands, sondern auch in der Tatsache,
dass Russland sich als letztes der großen Weltreiche unablässig verändert und immer neue Facetten offenbart. Das römische Reich, die
Mongolen, die Kolonialmächte Frankreich, Spanien und Großbritannien sind Vergangenheit, Russland nicht.
In der gesamten Historiografie stellt die russische Geschichte ein
nahezu einzigartiges Phänomen dar. Ihre Besonderheit ist die durch
die Geburt und den Zusammenfall der UdSSR markierte Zäsur, die
die russische Vergangenheit in zwei nahezu gänzlich separate Teile
trennt. Russland vor und nach 1917, das sind zwei unterschiedliche Länder, zwei unterschiedliche Welten. Manchmal gewinnt man
den Eindruck, als befänden sich diese Länder auf unterschiedlichen
Kontinenten, in unterschiedlichen Klimazonen, und als habe es nie
eine Verbindung zwischen den sie bewohnenden Menschen gegeben. Das zweite Paradox beruht auf der Tatsache, dass die Geschichte Russlands als Geschichte der Russen verstanden wird, obwohl
die Weltmacht Russland seit jeher ein Vielvölkerreich war, dessen
ethnische Beziehungen zu den kompliziertesten auf der Welt gehörten. Der Anteil der russischen Bevölkerung verringerte sich seit dem
16 Jahrhundert systematisch, bis er nach Erreichen der kritischen
Marke von 50 Prozent kurzfristig wieder anstieg, um schließlich
abermals auf 50 Prozent zu fallen. Die dramatischen Korrekturen
der ethnischen Proportionen fallen ebenfalls auf die Jahre 1917 und
1991. Um die Zusammenhänge zwischen dem ethnischen Gefüge
des Vielvölkerreichs und den großen politischen Umwälzungen zu
verstehen, muss man vor allem die These zweier disparater Russlands
verwerfen. So unterschiedlich diese auch sein mochten – es war dasselbe Land und dieselbe Bevölkerung. Von besonderer Bedeutung
für die Entwicklung Russlands und sämtlicher ihr vorangegangener
Staatsgebilde waren (vor allem bis zum Ende des 19. Jahrhunderts)
die geografischen, klimatischen und biologischen Bedingungen
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NEUE LYRIK AUS POLEN
44
Die Gedichtbände Radiogespinst und Sämtliche Radiosender
der Sowjetunion von Agnieszka Mirahina schlagen in unserem
hiesigen poetischen Blasorchester zweifellos einen Ton an, der
so rein ist, wie der einer Lead-Trompete. Und das ist gut so,
denn zuletzt mangelte es doch ein wenig an deutlichen Tönen,
provokativen Fiorituren und synkopischen Improvisationen,
wie sie Mirahinas Lyrik zweifellos bietet. Mal sehen, was noch
daraus wird. Aber wenigstens haben wir etwas, auf das wir uns
freuen können, denn die ersten Gedichte der Autorin haben
unseren Appetit auf zukünftige herzhafte Mahlzeiten geweckt
(wie sich Tadeusz Pióro ausdrücken würde).
Doch die erste Geige spielte zuletzt (und ich möchte sagen, wie
gewöhnlich) Piotr Sommer mit seinem bemerkenswerten Buch
Tage und Nächte, dem ersten lyrischen Material des Autors
seit Hirtenlied (1999). Und es ist erstklassiges Material. Unter den vielen hervorragenden Gedichten gibt es einige, die mir
besonders gefallen, wie zum Beispiel das wunderschöne Zweite
Hälfte oder Flügge. Doch wie immer gibt es in Sommers Büchern ausschließlich starke Gedichte, und kaum dass wir uns
ihnen zuwenden, oder besser, kaum dass sie sich uns zuwenden,
sind sie uns so vertraut, wie der Wechsel von Tag und Nacht.
Kann man mit Sommers Versen übereinkommen? Ich denke,
ja, und es könnte eine Übereinkunft auf Lebenszeit werden.
Sommers Stimme ist auch aus diesem Grund so wichtig, weil
sie in der Flut von x-beliebigen „poetischen“ Melodien nach
wahrhafter, unverfälschter Musik klingt – und darum geht es,
denn den allgegenwärtigen Glamour haben wir, denke ich, alle
gründlich satt. Man sieht diesen Versen an, dass sie einiges
durchgemacht haben, dass sie, wie es der Autor sagt, langsam
gereift sind. In einem Gespräch mit Wojciech Bonowicz sagte
Sommer so schön:“ (…) Aber es stimmt sicherlich – wenn Du
danach fragst – dass der Abstand zwischen der Lebenserfahrung und der sprachlichen Form, die ihre eigene Geschichte
erzählt, in diesen Versen verhältnismäßig gering ist. Das stört
mich nicht, darüber mache ich mir überhaupt keine Gedanken,
solange ich das Gefühl habe, dass das sprachliche Handlungspotenzial eines Gedichts über den „Plot“ hinausreicht. Die Frage
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lautet für mich also eher: Hat die Sprache etwas Interessantes
erfasst, hat sich etwas in der Sprache ereignet, und nicht: Ist
es mir gelungen, irgendeine „existenzielle“ Neuigkeit – oder
gar etwas existenziell „Wichtiges“ – zu erfassen, denn diese
Unterscheidung – in existenzielle und andere Dinge, oder in
existenziell wichtige und unwichtige Dinge – wurde, so scheint
es mir oft, für jemand anderen erfunden. Recht haben all jene,
die darauf hinweisen, dass die Zeit in den neuen Gedichten
Sommers an Bedeutung gewinnt. Doch es ist vielmehr die Zeit
der geschehenden Sprache als jene kalendarische, sich bis zum
Schmerzhaften wiederholende Zeit. Eben deshalb geht es in
diesen Gedichten auch so feierlich zu. Feierlich nicht im Sinne
billigen Christbaumschmucks oder bemalter Ostereier, sondern
im Sinne der Begegnung mit einer anderen, persönlichen und
zärtlichen Sprache. Und ich denke, dass die Gedichte Sommers, unseres größten poetischen Revolutionärs seit Tadeusz
Różewicz, uns eben deshalb so berühren, weil man mit ihnen
übereinkommen kann, auch wenn er selbst sagt: Schade, man
hätte sich/ gegenseitig helfen können,/ wenigstens ein Stück
weit. Doch wenn man/ so nachlässig spricht,/ kommt nichts
dabei heraus, und alles bleibt/ ungewiss. Schade,/ es sah schon
so aus, als käme man überein – aber denkste!
Und noch etwas. Der intime Ton von Sommers Gedichten bewirkt, dass sie so oft zu einem intimen Erlebnis des Lesers
werden. Und diese flüchtige Schönheit der Sprache, einer
Sprache, die sich nur ein einziges Mal ereignet, ist es, die uns
bis ins Mark trifft.
Konzentration ist eines der wichtigsten Gedichte in Mariusz
Grzebalski neuestem Buch Nichtlieder. Und das aus mehreren
Gründen. Vor allem, weil es jene Begriffe etabliert, die für die
neue Poetik des Lyrikers aus Poznań so zentral sind, die Konzentration und die Nichtliedhaftigkeit. Die Konzentration auf
die fließenden Übergänge von einem Bild zum anderen. Die
Beschränkung der Gedichte auf das Wesentliche. Da ich selbst
in gewisser Weise an der Entstehung dieses Buches beteiligt
war (Mariusz schickte mir die aufeinanderfolgenden Rohfassungen), konnte ich beobachten, wie es sich allmählich heraus-
Frühling, die Komponisten brüten unreflektiert. Wenn der weiße Mann nicht tanzt, muss er Grimassen schneiden, wie ein
Staatsoberhaupt im Museum für Vogelscheuchen. Na gut, wie
ein Bolschewist auf einer Goralenhochzeit. Bis zur Geschlechtlichkeit ist es noch ein weiter Weg. Doch alles andere steht uns
frei.“ (Farsala).
Wir können uns nur freuen, dass Pióro in so ausgezeichneter
Form ist, alles deutet darauf hin, dass uns seine Texte auch
weiterhin viel Freude bereiten werden.
Zu guter Letzt muss ich hinzufügen, dass diese Auswahl selbstverständlich rein subjektiv ist. Wie Sie wissen, besteht ein Orchester aus vielen Instrumenten – manche sind so wichtig, dass
man sie gar nicht erwähnt, andere sind so belanglos, dass man
sie getrost übergehen kann, wie zum Beispiel die Frusta. Diese Frusta war einst eine Peitsche mit einem trockenen Klang.
Heute werden statt der Frusta nur noch Holzlatten verwendet,
die dieses Geräusch imitieren. Und mit diesen Worten überlasse ich alles andere Ihrem Urteil.
Edward Pasewicz
NEUE LYRIK AUS POLEN
kristallisierte und Gestalt gewann – und zwar allein durch das
Mittel der Reduktion. Als ließe sich Grzebalski nur von dem
einen Gedanken leiten: Je einfacher, desto besser. Und in diesem Fall hat die asketische Schlichtheit, der Verzicht auf stilistische Figurationen zugunsten (ich muss es so sagen) saftiger
Akkorde, erstaunliche Effekte erzielt. Diese Sprache klingt
wie das reinste Madrigal, ohne eine einzige überflüssige Note.
Man mag in Grzebalskis neuem Buch etwas Nihilistisches erblicken, eine Negativität, Nichtliedhaftigkeit, doch das ist gut
so, denn in dem Blasorchester unserer polnischen Lyrik wird
eine nüchterne, „cioraneske“ Klarinette dringend benötigt.
Denn soviel ist sicher, die Klarinette harmoniert mit dem übrigen Orchester nur, sofern sie dies wünscht, wenn nicht, dann
spielt sie für sich allein, und wenn du dich auf den Kopf stellst.
Grzebalski hatte schon immer eine charakteristische und markante Stimme, doch jetzt hat diese Stimme einige unverwechselbare Töne hinzugewonnen. Der Minimalismus steht ihm gut
zu Gesicht, weil er ein Dichter ist, der es versteht, die sprachliche Erfahrung auf ihre wesentlichen Elemente zu abstrahieren und diese zu einem neuen Ganzen zusammenzusetzen. Wie
zum Beispiel in dem Gedicht Was machst du, Meer?, in dem
die Subjekt-Objekt-Spaltung auf geradezu buddhistische Weise aufgelöst wird. Ein buddhistisches Lied? Ja, jedoch nicht
auf der Ebene bloßer Erklärungen, sondern einer fast schon
physischen Realisation des Gedichts. Und eben dies macht den
besonderen Wert dieser Lyrik aus.
Dariusz Sośnickis Gedichtband Familie P. war für manche eine
Überraschung und für andere nicht. Über die Bezüge zwischen
diesem Band und Zbigniew Herberts Herr Cogito ist bereits
vieles geschrieben worden. Erstmals bedient sich der Autor
des Mittels der Rollenlyrik. Und wir sollten gleich hinzufügen, dass diese Rollenlyrik, wie alles bei Sośnicki, präzise formuliert, absolut logisch und perfekt konstruiert ist. Mancher
mag in dieser Lyrik etwas „Verstörendes“ erblicken, aber das
haben Sośnickis Bücher so an sich, dass sie einen beim ersten Lesen verstören, abschrecken, aber auch faszinieren. Weil
man es einfach nicht für möglich hält, dass ein Autor seines
Formats ein schlechtes Buch fabrizieren könnte. Und das tut
er auch nicht. Jenen, die Familie P. für eines der schwächeren Bücher Sośnickis halten, möchte ich sagen, dass sie sich
gründlich irren. Dieses Buch ist zweifellos anders, aber sicher
nicht schwächer, ganz sicher nicht.
All jenen, die die saftigen Avantgardehappen eines Nikos
Skalkottas (zur Erinnerung: ein griechischer Komponist des
20. Jahrhunderts) lieben und die sich für den polnischen Futurismus der Zwanziger- und Dreißigerjahre erwärmen, möchte
ich auf die freudige Überraschung hinweisen, die uns Marcin
Sendecki mit seinem Band 22 gemacht hat. Der Geist der
Zwölftonmusik klingt in diesen Oktostichen, die sich nicht nur
vor der Tradition verneigen, sondern vor allem vor ihrer eigenen ungezügelten Freiheit. Denn ein Gedicht muss nicht wie
ein Koffer sein, der irgendeinen Inhalt transportiert, er kann
auch einfach nur ein Koffer sein, schön und kostbar, einfach
weil es ihn gibt. Eben deshalb empfehle ich jedem die Gedichte
von Marcin Sendecki, denn entgegen den Annahmen der modernen Verschwörungstheoretiker ist dies kein Hermetismus,
keine Einführung in die Lehren der Rosenkreuzer und keine
Rosencreutzsche Chymische Hochzeit in Versform. Es ist einfach die Freude am Schreiben. Und selbst wenn manche in
den Gedichten einen spielerischen Umgang mit dem Alltag,
geheime Siegel und eine Tendenz zu freimaurerischen Ritualen
erblicken, wiederhole ich gerne: Sie liegen falsch. Sendeckis
Gedichte sind melodisch, doch es sind keine rührseligen Melodien. Es ist ernste Musik.
Ein weiteres Zeichen dafür, dass es um unser poetisches Orchester nicht zum Schlechtesten steht, ist der neueste Band
von Tadeusz Pióro mit dem Titel Abc. Alles, was man über
die Gedichte von Tadeusz Pióro sagen kann, findet sich in den
Gedichten von Tadeusz Pióro. Dieses Buch ist Pflichtlektüre.
Wie immer versteht es Pióro, zu belustigen und zu belehren,
hier eine Kostprobe: „Madame haben hier nichts zu suchen.
Die Fauna regiert sich selbst, im Herbst sieht es aus wie im
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MARIUSZ GRZEBALSKI
NIEPIOSENKI
ISBN
160 × 220, 52 PAGES, PAPERBACK
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97883-60602-90-4
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GRZEBALSKI
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AGNIESZKA MIRAHINA
RADIOWIDMO
ISBN
160 × 215, 40 PAGES, PAPERBACK
BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009
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97883-60602-95-9
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AGNIESZKA
MIRAHINA
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TADEUSZ PIÓRO
NEUE LYRIK AUS POLEN
ABECADŁO
ISBN
160 × 215, 40 PAGES, PAPERBACK
BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009
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97883-60602-82-9
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TADEUSZ
PIÓRO
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22
WIELKOPOLSKA BIBLIOTEKA POEZJI,
POZNAŃ 2009
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ISBN
978-83-60746-42-4
135 × 210, 32 PAGES, PAPERBACK
MARCIN SENDECKI
TRANSLATION RIGHTS
PIOTR SOMMER
DNI I NOCE
BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009
PUBLISHER
ISBN
97883-60602-79-7
TRANSLATION
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160 × 215, 92 PAGES, PAPERBACK
PIOTR
SOMMER
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BIURO
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DARIUSZ SOŚNICKI
PAŃSTWO P.
PUBLISHER
ISBN
46
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BIURO LITERACKIE, WROCŁAW 2009
97883-60602-79-7
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160 × 215, 64 PAGES, PAPERBACK
DARIUSZ
SOŚNICKI
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Redaktion: Izabella Kaluta, Joanna Czudec, Elżbieta Kalinowska
Übersetzung: Ursula Kiermeier, Joanna Manc, Lisa Palmes,
Heinz Rosenau, Renate Schmidgall, Paulina Schulz, Andreas Volk
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