Sport zwischen Kampf und Spiel : der - Ruhr
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Sport zwischen Kampf und Spiel : der - Ruhr
Sport zwischen Kampf und Spiel – der Sportbegriff in den Werken von Carl Diem Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Sportwissenschaft (Dr. Spowiss.) im Fach Sportpädagogik vorgelegt von Meike Breuer Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Sportwissenschaft im Februar 2008 I Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ......................................................................................... 1 2 Biographische und historische Hintergründe ................................. 12 2.1 Biographie Carl Diems ........................................................................12 2.2 Geschichtlicher Hintergrund mit Schwerpunkt auf das ausgehende Kaiserreich als Jugendphase Diems ...................................................20 2.2.1 Soziale und politische Bedingungen des Kaiserreichs..............................21 2.2.2 Gesellschaftliche Situation der Familie Diem in diesem System ...............27 2.2.3 Gesellschaftliche Tendenz zur Entstehung eines „Freizeitmarkts“............33 2.2.3.1 Berufsweg Diems in Beziehung zum sich entwickelnden „Freizeitmarkt“ ......................................................................................36 2.2.4 Zusammenfassender Überblick................................................................39 3 Kulturpessimistische Grundhaltung Diems als Konstante seines Denkens ............................................................................. 42 3.1 Skizzierung des Kulturpessimismus als Phänomen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ................................................42 3.1.1 Kritik an der Moderne ...............................................................................44 3.1.2 Vergeistigung der Gesellschaft – Kritik am Bildungssystem .....................45 3.1.3 Führerglaube............................................................................................47 3.1.4 Deutsche Kultur........................................................................................47 3.2 Die kulturpessimistische Einstellung Diems in seinen Werken ...........49 3.2.1 Kritik an der Moderne ...............................................................................51 3.2.1.1 Beziehung des Menschen zur Natur.....................................................54 3.2.2 Kritik am Bewegungsverhalten .................................................................55 3.2.3 Vergeistigung der Gesellschaft – Kritik am deutschen Bildungssystem ....61 3.2.3.1 Führerglaube........................................................................................62 3.2.4 Deutsche Kultur........................................................................................63 3.3 Zusammenfassender Überblick ..........................................................64 II 4 Spiel und Kampf – Ergänzung oder Widerspruch?........................ 67 4.1 Basis: Triebhafter Ursprung – Verknüpfung mit dem Sozialdarwinismus ..............................................................................67 4.2 Sport und (Wett-) Kampf .....................................................................70 4.2.1 Der Kampf im Sport..................................................................................70 4.2.2 Der (Erziehungs-) Weg zur Kampfnatur ...................................................74 4.2.3 Stellenwert des Wettkampfs in dieser Erziehung......................................76 4.2.4 Sport und Krieg ........................................................................................78 4.2.4.1 Diems Kriegserfahrungen im Ersten Weltkrieg .....................................83 4.2.5 Die Opferbereitschaft ...............................................................................88 4.2.5.1 Festspiel „Olympische Jugend“ ............................................................93 4.2.5.2 Auftritt in den letzten Kriegstagen.........................................................97 4.2.6 Zusammenfassender Überblick................................................................99 4.3 Sport als Spiel...................................................................................101 4.3.1 Das Spielverständnis von Carl Diem ......................................................101 4.3.2 Schönheit und Spiel ...............................................................................103 4.3.3 Anlehnung an Schillers Spieltheorie .......................................................106 4.3.4 Zwischenfazit .........................................................................................113 4.3.5 Der moderne Sportbegriff bei Volker Gerhardt in Abgrenzung zu Diem..114 4.3.6 Darstellung des Sports nach 1945..........................................................116 4.3.7 Zusammenfassender Überblick..............................................................121 5 Einflüsse des Sportverständnisses auf die Legitimation von Sport, die Ziele des Sports, die Erziehung durch Sport sowie die Struktur des Sportsystems ..................................................... 122 5.1 Legitimationsgründe für den Sport – Warum benötigt eine Gesellschaft den Sport?....................................................................122 5.1.1 Physiologische Begründung ...................................................................123 5.1.2 Besondere Motive während der NS-Zeit.................................................124 5.1.2.1 Die militaristische Legitimation in der NS-Zeit.....................................130 5.1.2.2 Deutsche Vormachtstellung und Deutsche Methode ..........................134 III 5.1.2.3 Opferbereitschaft................................................................................137 5.1.2.4 Zusammenfassender Überblick ..........................................................137 5.2 Ziele des Sports – Entwicklung einer Persönlichkeit, Schulung des Charakters ........................................................................................138 5.2.1 Was soll der Sport erreichen? ................................................................138 5.2.2 Eigenart, Charakter und Persönlichkeit ..................................................140 5.2.3 Charakterschulung durch Sport..............................................................142 5.2.3.1 Sport als „Wetzstein des Willens“ .......................................................142 5.2.3.2 Sport als Stahlbad für die Seele – Prinzip der maximalen Anstrengung.......................................................................................151 5.2.4 Zusammenfassender Überblick..............................................................153 5.3 Erziehung durch Sport ......................................................................154 5.3.1 Bildungsideal..........................................................................................157 5.3.2 Ausgangspunkt: Forderung nach einer ganzheitlichen Erziehung ..........161 5.3.3 Methodik ................................................................................................165 5.3.3.1 Methodisches Prinzip: Erziehung durch Freude oder Erziehung durch Schmerz? ...........................................................................................168 5.3.3.2 Gestaltung von Gemeinschaft ............................................................172 5.3.3.3 Trainings- und Übungsmethoden .......................................................174 5.3.4 Konkrete Ziele der Erziehung .................................................................176 5.3.4.1 Erziehung zum handelnden und selbständigen Menschen .................177 5.3.4.2 Charakter- und Persönlichkeitserziehung ...........................................178 5.3.5 Zusammenfassender Überblick..............................................................180 5.4 Organisation und Struktur eines Sportsystems .................................183 5.4.1 Analyse „Der Läufer von Marathon“........................................................183 5.4.1.1 Der ideale Sportlehrer ........................................................................183 5.4.1.2 Vermittlung des idealen Sportverständnisses durch den Sportlehrer ..186 5.4.1.3 Sport und Gemeinschaft.....................................................................187 5.4.1.4 Der höchste Wert – Opferbereitschaft ................................................190 IV 5.4.1.5 Konsequenzen für Struktur und Organisation von Sport anhand der Erzählung „Der Läufer von Marathon“ ................................................193 5.4.2 Der Amateur- gegenüber dem Berufssport.............................................194 5.4.3 Zusammenfassender Überblick..............................................................199 6 Zusammenfassung und Fazit....................................................... 200 6.1 Sport im Spannungsfeld von Kampf und Spiel..................................200 6.2 Aktualität des Sportbegriffs von Carl Diem........................................206 7 Literaturverzeichnis...................................................................... 212 8 Bildnachweis ................................................................................ 221 1 1 Einleitung Abb. 1: Carl Diem 1936 Carl „Diem hatte in allen wichtigen Bereichen des deutschen Sports zwischen 1900 und 1960 Schlüsselfunktionen inne und aus dieser Position heraus den Sport maßgeblich mitgestaltet: im Bereich der Organisation der Verbände, der Sporterziehung, der Sportwissenschaft, der Olympischen Bewegung und der staatlichen Sportverwaltung“1. Ein kurzer, überblicksartiger biographischer Abriss2 soll einen Einblick in das Leben eines Mannes geben, der den deutschen Sport vor allem in seinen Anfängen im Wesentlichen geprägt und über Jahrzehnte mitgestaltet hat. Mit 17 Jahren gründet Carl Diem 1899 mit dem SC Marcomannia Berlin seine erste Sportvereinigung, 1904 wird Diem Schriftführer bei der „Deutschen Sportbehörde für Athletik“ und gründet den Verband Berliner Athletik-Vereine. 1908 wird er zum Vorsitzenden der deutschen Zentralbehörde. Diese gewinnt darauf folgend stärker an erziehungspolitischem Einfluss im Kaiserreich. Im Jahr 1912 führt Diem die Verleihung des „Reichssportabzeichens“ ein, das bis heute als „Deutsches Sportabzeichen“ seine Gültigkeit besitzt. Von 1913 – 1933 bekleidet Diem das Amt des Generalsekretärs des „Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen“ und er baut das nationale Sportsystem kontinuierlich weiter 1 2 Buss/Nitsch, Carl Diem (1882-1962), S. 310. Ausführlich dazu siehe Kapitel 2.1. 2 auf. In dieser Zeitspanne fallen die auch von Diem geplanten Olympischen Spiele 1916 aufgrund des Ersten Weltkriegs, den Diem als Soldat erlebt, aus. Außerdem finden in diesem Abschnitt (1920) die von ihm ins Leben gerufenen ersten „Reichsjugendwettkämpfe“ in Berlin statt. Diese Veranstaltung ist heute noch als „Bundesjugendwettkämpfe“ existent. 1921 beginnt Diem, den Sport als eine Wissenschaftsdisziplin zu etablieren, er ist Mitbegründer der „Deutschen Hochschule für Leibesübungen“ in Berlin und ihm wird von der dortigen medizinischen Fakultät der Ehrendoktor verliehen. Von 1930 – 1933 lehrt Diem an der gegründeten Hochschule. Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird Diem als politisch unzuverlässig eingestuft und von seiner Tätigkeit offiziell beurlaubt. Zur Organisation der Olympischen Spiele wird Diem wieder in sein Amt eingesetzt. Er bleibt damit weiterhin verantwortlicher Generalsekretär des Organisationskomitees und kann daher auch entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der Spiele ausüben3. Die Olympischen Spiele werden zu einem internationalen Erfolg. Im Anschluss daran übernimmt Diem von 1938 – 1945 die Leitung des Olympischen Instituts in Berlin. Zudem wird er 1939 zum kommissarischen Leiter des „Gaues Ausland im Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen“. In dieser Funktion reist Diem häufig zu den im Ausland stationierten Truppen und hält dort Vorträge. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des nationalsozialistischen Regimes erhält Diem eine Stellung als Lehrbeauftragter an der Universität in Berlin und wird dort Leiter des Instituts für körperliche Erziehung und Schulhygiene. Am 12. April 1947 beginnt Diem seine Arbeit als Rektor der Deutschen Sporthochschule in Köln, die neu gegründet wurde. Die Stellung als Rektor behält er bis zu seinem Tod. Im Jahr 1953 wird ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen und 1956 der Olympische Orden vom Internationalen Olympischen Komitee. Carl Diem stirbt am 17.12.1962. An dieser knapp dargestellten, beeindruckenden Vita ist zu erkennen, dass Diem in vier sehr unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Epochen zu den Spitzenfunktionären des deutschen Sports zählte. Der Anfang der beruflichen Karriere lag in der Monarchie des ausgehenden Kaiserreichs. Dieses war geprägt durch ein Schwanken „zwischen den Extremen einer überaus 3 Zum Beispiel initiiert Diem zum ersten Mal den bis heute üblichen Fackellauf von Olympia zum jeweiligen Austragungsort und er schreibt ein Festspiel „Olympische Jugend“, das bei der Eröffnungsfeier aufgeführt wird. 3 dynamischen Modernisierung und dem strikten Beharren auf längst unzeitgemäßen Traditionen“4. Das Kaiserreich endete mit dem Ersten Weltkrieg. Der zweite zeitgeschichtliche Abschnitt im Leben Diems ist die Zeit der Weimarer Republik. Diese war der erste Versuch in der deutschen Geschichte, eine demokratische Staatsform zu errichten. Nach knapp vierzehn Jahren einer instabilen Republik und großen wirtschaftlichen Krisen scheiterte die Weimarer Republik 1933. Abgelöst wurde die Demokratie durch das totalitäre Regime des Nationalsozialismus mit Adolf Hitler als Reichskanzler und zentraler Führerfigur. Das gesamte gesellschaftliche Leben wurde von nationalsozialistischen (NS) Organisationen durchdrungen, Minderheiten und Juden wurden bewusst ausgegrenzt, verfolgt und ermordet. Die aggressive Politik Hitlers gipfelte in dem Angriff auf Polen am 01. September 1939. Dieses Datum markiert den Beginn des Zweiten Weltkriegs, der sechs Jahre bis zum 07. Mai 1945 andauerte. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in der Bundesrepublik Deutschland die Demokratie als Staatsform. Diese bildet die vierte zeitgeschichtliche Epoche im Leben Diems. Die Bundesrepublik Deutschland wird zu einer parlamentarischen Demokratie, und die Rechte der Bürger werden 1949 im Grundgesetz verankert. Es ist zu erkennen, dass die politischen Bedingungen, unter denen Diem lebte und arbeitete, sehr unterschiedlich waren. Damit unterscheiden sich ebenfalls die Werte und Normen, die für das jeweilige System galten. Kaiserreich, Weimarer Republik bzw. versuchte Demokratie, totalitäres Regime und letztendlich eine gefestigte Demokratie bedingen von den Bürgern jeweils andere Einstellungen und Haltungen. Carl Diem war in allen vier Epochen erfolgreich und einer der führenden Sportfunktionäre sowie anerkannter Sportwissenschaftler. „Diem gilt als Pionier der modernen Sportwissenschaft. Obgleich Autodidakt, hat er sich den Zugang zur Natur- und Geisteswissenschaft erarbeitet. Das wissenschaftliche Werk Diems ist überwiegend unter dem Aspekt der Sportmedizin bewertet worden.“5 Darüber hinaus wird er bis heute als Pädagoge gesehen. Diem selbst sah die Pädagogik als Mutterwissenschaft der Sportwissenschaft an und veröffentliche zahlreiche Artikel zu diesem Bereich6. Er unterhielt Beziehungen zu namhaften Pädagogen 4 5 6 Lemo, Das Kaiserreich, ww.dhm.de/lemo/html/kaiserreich/index.html, Zugriff am 18.12.07 Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 32. Siehe Kapitel 5.3. 4 seiner Zeit, zum Beispiel zu Eduard Spranger7. Spranger widmete Diem das Buch „Der geborene Erzieher“ mit den Worten „Carl Diem – dem Hüter der Olympischen Flamme in dankbarer Freundschaft“8. Es gibt bis heute noch keine umfassende Forschung zu Carl Diem und seinem Werk. Im März 2004 hat der Deutsche Sport Bund, jetzt Deutscher Olympischer Sport Bund, aufgrund dieser Tatsache ein Stipendium zu Carl Diem ausgeschrieben. An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster existiert seitdem ein Forschungsprojekt zum Thema Carl Diem. Vielfach wurde eine solche Untersuchung eingefordert, aber erst mit diesem Projekt wurde begonnen, sie in dieser Form umzusetzen. Bisher scheint die Untersuchung der Person Carl Diem unter den Wissenschaftlern zu polarisieren. Es gibt auf der einen Seite diejenigen Autoren, die das Werk Diems würdigen, allerdings keine kritische Beleuchtung vornehmen. Die Darstellung Diems erscheint ausschließlich positiv. Hier ist auf eine Darstellung von Menze9 zu verweisen, in der Diem nahezu idealisiert wird. Eine sehr kritische Auseinandersetzung mit Carl Diem hat auf der anderen Seite insbesondere in Bezug auf sein Verhältnis zum Nationalsozialismus in der 7 8 9 „Eduard Spranger (1882-1964) war ein unmittelbarer Schüler Diltheys. Er wirkte von 1911 bis 1920 an der Universität Leipzig, von 1920 bis 1945 an der Universität Berlin, und von 1946 bis zu seinem Tode war er in Tübingen als Professor für Philosophie und Pädagogik tätig. Spranger war durch seine zahlreichen Bücher und Aufsätze über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, und zwar durch seine historischen Arbeiten über Wilhelm von Humboldt, Goethe, Schiller, Pestalozzi und Fröbel, noch mehr aber durch seine Schrift „Lebensformen. Eine geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit“ (8. Aufl. 1950) und seine „Psychologie des Jugendalters“ (23. Aufl. 1953).“ (Günther, Hofmann, Hohendorf, König, Schuffenhauer, Geschichte der Erziehung, S. 571) Diem und Spranger haben beide eine ähnliche Grundeinstellung: „Bei Spranger und Diem lassen sich antiintellektualistische Nuancen deutlich nachweisen.“ (Joch, Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich, S. 710) Ebenso berufen sich beide auf das Ideal der Antike, im Besonderen auf das Vorbild Spartas. „Alles zusammengefasst zu einer ewigen Wahrheit könnte man nennen: das ewige Spartanertum, ohne das es in der Welt nun einmal nicht geht.“ (Spranger, Die Persönlichkeit des Turnlehrers, S. 100) Auch haben beide ähnliche Auffassungen von Erziehung, was für Diem im Verlauf der Arbeit gezeigt wird (ausführlich Kapitel 5.3), sei hier mit einem kurzen Zitat von Spranger unterstützt. „Zu sittlicher Erziehung aber gehört Willensformung.“ (Spranger, Der geborene Erzieher, S. 34) Als Überblick über Gemeinsamkeiten zwischen Spranger und Diem soll das genügen. Es sollte lediglich die inhaltliche Nähe der beiden gezeigt werden, so dass es sicherlich kein Zufall ist, dass Spranger schreibt: „Seit der Gründung der Reichssporthochschule – wesentlich durch August Bier – stand ich mit ihm [Diem; MB] in einem freundschaftlichen Verhältnis, das für mich geistig stets fruchtbar geworden ist“. (Spranger, Die Universität nach Kriegsende 1945, S. 298) Spranger, E. (1958). Der geborene Erzieher (4. Aufl.). Heidelberg: Quelle & Meyer. Menze, C. (1982). Körperbildung und Humanismus im Werke von Carl Diem. In Carl-DiemInstitut, DSHS Köln (Hrsg.), 100 Jahre Carl Diem: Beiträge zu seinem Geburtstag am 24.06.1982. Sankt Augustin: Richartz. S. 6-16. 5 sporthistorischen Forschung stattgefunden. Die Arbeiten z.B. von Bernett, Dwertmann, Teichler thematisieren und untersuchen die Einbindung Diems in das System der Nationalsozialisten.10 Der Fokus dieser Betrachtungen liegt darauf, zu prüfen, inwieweit Diem in das System involviert war. Für diese Zeit gibt es eine nahezu lückenlose Aufarbeitung der Tätigkeiten und Positionen Diems. Die Überlegungen sind auf die Person Diem bezogen und betrachten nur den relativ kurzen Abschnitt seines Lebens und Schaffens im Nationalsozialismus. Die dargestellten, sehr konträren Ansichten zur Person Carl Diem verursachen mitunter eine Auseinandersetzung zwischen den Anhängern und Kritikern Diems. Aktuell wird diese Diskussion oft im Zuge der Umbenennung von CarlDiem-Sporthallen oder -Straßen. Diese Arbeit kann den Streit zwischen den gezeichneten Positionen nicht schlichten, aber sie kann ein Desiderat der Forschung klären. Das Werk Diems ist bis jetzt kaum einer analytischen Betrachtung unterzogen worden, weshalb es auf diesem Gebiet einen erheblichen Nachholbedarf gibt. Vor allem gibt es bislang noch keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den sporttheoretischen Schriften Carl Diems aus einer dezidiert sportpädagogischen Sicht. Die Inhalte seiner Schriften haben jedoch das Wirken Diems über mehrere Epochen der Zeitgeschichte sowie der Sportgeschichte mitbestimmt. Unter anderem hat er auf der Basis seines Sportbegriffes die Sportlehrerausbildung an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin sowie nach dem Krieg an der Deutschen Sporthochschule Köln gegründet und aufgebaut. Daher ist dieses Verständnis von Sport, das das Wirken Diems bestimmt hat, ein für die deutsche Sportwissenschaft, zumindest zu Diems Lebzeiten, prägendes. Es ist Ziel dieser Arbeit, Carl Diems Verständnis von Sport im weitesten Sinne, insbesondere in seiner sportpädagogischen Relevanz, anhand seiner Veröffentlichungen herauszuarbeiten und darzustellen. Weiterhin ist zu untersuchen, ob dieses Verständnis im Verlauf der verschiedenen zeitgeschichtlichen Epochen, 10 Zum Beispiel betrachtet Teichler (1987) in dem Artikel „Der Weg Carl Diems vom DRAGeneralsekretär zum kommissarischen Führer des Gaues Ausland“ den Aufstieg Diems im System des NS-Regimes. 6 vom Kaiserreich über Weimarer Republik, Nationalsozialismus bis zur Bundesrepublik Deutschland, Wandlungen oder Brüche erfahren hat oder ob es eine überdauernde Kontinuität im Sportverständnis Diems gibt11. Diese Arbeit ist daher nicht auf die Biographie Diems bezogen. Untersuchungsgegenstand sind die von Diem veröffentlichten Texte. In vielfältiger Weise hat Diem in seinen Veröffentlichungen sein Verständnis von Sport dargestellt. Diese Texte rücken den Sport in eine pädagogische Perspektive. Dies gilt von seinen frühen Schriften (z. B. „Persönlichkeit und Körpererziehung“ von 1924) bis zu den Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts geschriebenen letzten Veröffentlichungen. Diese pädagogische Perspektive Diems wird darin deutlich, dass er durch den Sport zur Erziehung der Jugend beitragen möchte. Darüber hinaus sieht Diem die erzieherische Wirkung des Sports als sehr übergreifend an. Er schreibt dem Sport zu, Werte und Normen vermitteln zu können. Folglich muss der Sport, den er propagiert und sowohl an der Hochschule in Berlin vor und an der deutschen Sporthochschule in Köln nach dem Zweiten Weltkrieg in der Lehre vertritt, Werte enthalten, die ihm wichtig sind. Diese Vermittlung von als wichtig und erstrebenswert erachteten Werten kommt durchgängig in Diems Texten zur Geltung. Da solch eine, aus sportpädagogischer Sicht betriebene, Analyse von Schriften noch nicht vorliegt, ist es Ziel der Arbeit, dies zu leisten und eine inhaltliche Auswertung der Texte vorzunehmen. Das Verfahren, das gewählt wird, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist ein historisch-hermeneutisches. „Den Grundgedanken dieser [in der Geschichte entwickelten; MB] hermeneutischen Ansätze könnte man so skizzieren: Texte, wie alles vom Menschen Hervorgebrachte, sind immer mit subjektiven Bedeutungen, mit Sinn verbunden; eine Analyse der nur äußerlichen Charakteristika führt nicht weiter, wenn man nicht diesen subjektiven Sinn interpretativ herauskristallisieren kann.“12 Das hermeneutische Verfahren sieht vor, auf der Basis der Grundtexte von Diem zunächst ein Gerüst zu erstellen, das den jeweiligen Text gliedert und das argumentative Anliegen klärt. „Related to language, hermeneutic is based on the text interpretation with the aim of grasping life. The analysis of texts and 11 12 Zur Verdeutlichung der jeweiligen Epoche eines Zitats wird in den Fußnoten den Quellen der Zitate Diems die Jahreszahl hinzugefügt. Mayring, Einführung in die Qualitative Sozialforschung, S. 13/14. 7 language merely offers the starting point.”13 Es werden verschiedene Ebenen herausgearbeitet, die in dem jeweiligen Text vorhanden sind. Die Fragen, die der zu bearbeitende Text aufwirft, werden in einem nächsten Schritt herausgestellt. Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen ist es notwendig, Seitenblicke auf andere Zugänge zu werfen. Dies ist vor allem die sozialgeschichtliche Perspektive, die insbesondere helfen kann, Zusammenhänge zu erklären und Aussagen in den richtigen zeitgeschichtlichen Kontext zu rücken. Durch das historisch-hermeneutische Verfahren sollen die Texte zunächst verstanden und in ihrer Systematik nachvollzogen werden. Sie werden auf jeden Fall in den jeweiligen zeitgeschichtlichen Horizont eingeordnet. Nur so sind überhaupt Aussagen inhaltlicher Art zu treffen, die die Objektivität wahren. „In the conception of the hermeneutic method thus [Objektivität; MB] can be achieved on the one hand by the objective mind, on the other hand by the hermeneutic circle, i.e., by a fact ruling human existence (objective mind) and by a technique developed by man (hermeneutic circle).”14 Die Bezüge zur Zeitgeschichte sind augenscheinlich und Diem stellt diese in vielen Texten auch selbst her. Anderen Schriften fehlt diese offensichtliche Verbindung, aber sie ist zum Verständnis ebenso notwendig. Als ein Beispiel sei der Kampfbegriff, wie u.a. in dem Text „Erziehungswerte des Wettkampfes“15 dargestellt, genannt, der eine wesentliche Säule, auf der der Sportbegriff Diems gründet, ist. Anhand der zeitgeschichtlichen Hintergründe ist dies unter anderem damit zu erklären, dass die im 19. Jahrhundert von Charles Darwin in der Biologie entwickelte Theorie des Darwinismus, Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt als Sozialdarwinismus in die Gesellschaft Einzug gefunden und das Gesetz des „survival of the fittest“ viele Anhänger hatte. „‚The objective mind is the expression of a specific cultur at a specific time’ (Lamnek, 1988, p. 77), it is historically determined and thus changeable.”16 13 14 15 16 Beckers, Hermeneutic and Sport Pedagogy, S. 207. Beckers, Hermeneutic and Sport Pedagogy, S. 209. Diem, C. (1927). Erziehungswerte des Wettkampfes. In E. Neuendorff (Hrsg.), Die deutschen Leibesübungen. Großes Handbuch für Turnen, Spiel und Sport (S. 177-188). Berlin: Andermann. Beckers, Hermeneutic and Sport Pedagogy, S. 209. Dazu auch Ricoeur, Hermeneutic & Human Sciences, S. 51: „Hermeneutics thus constitutes the objectified layer of understanding, thanks to the essential structures of the text.” 8 Andere Bezüge, die zum Verständnis und zur Analyse von Texten Diems essentiell sind, liegen in der Geistesgeschichte. Diem sieht seine Vorbilder in der griechischen Antike. Auch der Sport, den er vertritt, gründet sich nach eigenen Aussagen auf Idealen des alten Griechenlands. Oft stellt er diesen Bezug her, um der Öffentlichkeit seine Ansichten zu verdeutlichen. Da keine Werkausgabe vorhanden ist, bezieht sich die Arbeit auf von Diem herausgegebene Werke, die zumeist auch eine große öffentliche Wirkung erzielten und in ihren Aussagen die Einstellung Diems widerspiegeln. Aufgabe der Arbeit kann nicht sein, eine vollständige Übersicht über das Werk Diems zu liefern. Es geht nicht darum, seinen sehr umfangreichen Nachlass zu durchforsten. „Er hinterließ ca. 90.000 Briefe, rund 6.000 Seiten Tagebuch, 3.000 Veröffentlichungen, 50 Monographien und eine Vielzahl von Reden und Vorträgen.“17 Es sollen über exemplarisch ausgewählte Texte die markanten Stationen seines sportpädagogischen Denkens vorgestellt und analysiert werden. Bei den von ihm selbst veröffentlichten Texten kann davon ausgegangen werden, dass der Inhalt und die Aussage Diem wichtig waren und er sie deshalb einem breiten Publikum zugänglich machte. Diese Gegebenheit ist bei in seinem Nachlass zu findenden, unveröffentlichten Schriften nicht gewährt. Die Textpassagen aus den Schriften Diems werden aufgrund ihrer Aussagekraft zum Sportbegriff, den Diem propagiert hat, zitiert. Die Auswahl berücksichtigt die unterschiedlichen Textsorten, die als Quellen vorliegen. Diem hat sehr viele verschiedene Arten von Texten geschrieben und veröffentlicht. Sie lassen sich in drei Gruppen einteilen. Dies sind zum ersten die sportwissenschaftlichen Texte, wie z. B. „Persönlichkeit und Körpererziehung“18, „Theorie der Gymnastik“19 oder „Wesen und Lehre des Sports“20. Hier liegen Texte aus allen zeitgeschichtlichen Epochen seines Lebens vor, die Berücksichtigung finden werden. Innerhalb dieser Schriften befasst Diem sich mit dem Phänomen des Sports, mit unterschiedlichen Sportarten, macht Vorschläge zum Aufbau des Sportsystems etc. Die Aktualität, die einige Themen von Carl Diem immer noch haben, ist in diesen Texten ebenfalls zu erkennen. Zum Beispiel ist das Thema Persönlichkeitsbildung durch Sport heute all17 18 19 20 Kluge, Zum aktuellen Stand in der „Diem-Debatte“, S. 2. Diem, C. (1924). Persönlichkeit und Körpererziehung. Zur Persönlichkeit des Turn- und Sportlehrers. Berlin: Weidmann. Diem, C. (1930). Theorie der Gymnastik. Berlin: Weidmann. Diem, C. (1949). Wesen und Lehre des Sports. Berlin: Weidmann. 9 gegenwärtig und wird unter anderem von der Sportpsychologie eingehend untersucht. Carl Diem hat dies in seinem Buch „Persönlichkeit und Körpererziehung“ bereits 1924 thematisiert. Eine zweite Gruppe seiner Veröffentlichungen hat einen journalistischen Charakter. Es handelt sich hierbei um Schriften, wie sie vor allen Dingen in dem dreibändigen Werk „Die Olympische Flamme“21 gesammelt sind. Diem beschreibt Skitouren, Bergbesteigungen, die Fahrten mit der olympischen Mannschaft und auch Kriegsberichte sowie programmatische Texte und bildungspolitische Artikel sind zu finden. Die dritte große Gruppe der Texte Diems kann mit dem Titel „literarische Texte“ versehen werden. In dieser finden sich Werke wie „Der Läufer von Flandern“22, „Körpererziehung bei Goethe“23 oder „Der Läufer von Marathon“24 wieder. Diem hatte ein großes Interesse daran, die existenzielle Bedeutung von Sport für den „großen Menschen“ darzustellen. Er widmet eigens dafür ein Buch für den Bezug von Goethe zum Sport bzw. zur Leibeserziehung und ein Werk gilt mit der gleichen Intention Alexander dem Großen. Diese Art von Texten können als ein Vorläufer einer sportpädagogischen Biographieforschung angesehen werden. Die Textsorten dokumentieren beeindruckend die Bandbreite des Schaffens von Carl Diem. Daher wird die Auswahl der Texte nicht nur alle zeitgeschichtlichen Epochen im Leben Diems berücksichtigen, sondern es werden auch Werke aus allen Gruppen der beschriebenen Textsorten zur Analyse herangezogen. Hiermit soll gewährleistet werden, dass sich die Arbeit auf ein möglichst großes Spektrum von Werken Diems stützt. Textpassagen aus den vier Epochen seines Schaffens sollen zum einen die Besonderheit der jeweiligen Epoche zeigen, zum anderen sollen aber auch Verbindungen zwischen den jeweiligen Zeitabschnitten dargestellt werden. Der Fokus liegt auf den veröffentlichten Werken Diems. Natürlich spielt auch die Person Diem mit ihren Einstellungen, Werten und Ideen eine Rolle, da die Schriften nicht von der Person zu trennen sind. Allerdings konzentriert sich die Arbeit auf das Werk Diems unabhängig von zum Beispiel Ämtern, Dienst- 21 22 23 24 Diem, C. (1942). Olympische Flamme. Das Buch vom Sport (3 Bände). Berlin: Deutscher Archiv-Verlag. Im Folgenden wird der Titel dieses Buchs mit OF 1-3 abgekürzt. Diem, OF 3, Der Läufer von Flandern, 1918, S. 1580-1582. Diem, C. (1948). Körpererziehung bei Goethe. Frankfurt a. M.: Kramer. Diem, C. (1941). Der Läufer von Marathon. Leipzig: Reclam. 10 positionen etc. Somit wird gewährleistet, dass keine einseitige Perspektive entsteht. Im Einzelnen ist die Arbeit wie folgt aufgebaut. Kapitel 2 befasst sich zunächst mit den biographischen Grundlagen Diems. Es wird ein Überblick über das Leben und das damit verknüpfte Schaffen gegeben. Darauf aufbauend werden die geschichtlichen und sozialgeschichtlichen Hintergründe mit dem Fokus auf das ausgehende Kaiserreich geschildert. Hier werden sowohl politische Tendenzen der Jugendphase Diems beschrieben als auch die vorherrschenden Werte und Normen und die Entwicklung der Schulen bzw. deren Lehrinhalte. Im Laufe der Untersuchung konnte in Diems Werken eine kulturpessimistische Grundhaltung festgestellt werden. Diese wird in Kapitel 3.1 zunächst in einer allgemeineren Form als historisches Konzept, an den Beispielen Lagarde und Langbehn, dargelegt. Es werden die wesentlichen Aspekte dieser Einstellung verdeutlicht. Der Bezug zu dem Werk Carl Diems erfolgt daran anschließend in Kapitel 3.2. Kapitel 4 befasst sich mit den zentralen Begriffen des Sportverständnisses von Carl Diem. Ausgehend von der Basis des Sportbegriffs, die Diem in den menschlichen Trieben begründet sieht, wird anhand von zwei zentralen Prinzipien das Sportverständnis aufgezeigt. Als zentral haben sich die Begriffe des (Wett-) Kampfes und der des Spiels herauskristallisiert. In der Spannbreite dieses Paares entfaltet Diem „seinen“ Sport. Im ersten Teil geht es um die Untersuchung des Werkes mit dem Fokus auf den (Wett-) Kampf. Es wird untersucht, inwieweit der Kampf als leitendes Motiv in den Werken festzustellen ist. Da Diem von einem soldatischen Ethos geprägt ist und sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, spielt die Beziehung zwischen Sport und Krieg ebenfalls eine Rolle und wird in diesem Kapitel ergründet. Daran schließt sich die Untersuchung des Werkes hinsichtlich des Begriffs „Spiel“ an. Auch hier wird, wie im Kapitel des Kampfes, das Werk dahingehend analysiert, welche Aussagen Diem selbst zum Spiel bzw. dem Sport als Spiel trifft, wie diese einzuordnen sind und welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen. Aufbauend auf die Untersuchung der zentralen Gesichtspunkte des Sportverständnisses werden in Kapitel 5 die sich daraus ergebenden Konsequenzen 11 betrachtet. Dies betrifft zum einen die Legitimation des Sports, also welche Begründungszusammenhänge schafft Diem, damit sich ein modernes Phänomen Sport in einer Gesellschaft etabliert. Nachfolgend werden die Ziele des Sports, bezogen auf die Entwicklung einer Persönlichkeit und die Schulung des Charakters, untersucht. Die Erziehung durch Sport wird im nachstehenden Kapitel analysiert. Diems Ziel ist es, durch Sport die Menschen zu erziehen. Der Aufbau, die Inhalte, Methodik etc. dieser Erziehung stehen im Fokus dieses Kapitels. Das Sportverständnis von Carl Diem hat nicht nur auf die Erziehung Auswirkungen, sondern auch auf die Organisation von Sport. Mit der Erzählung „Der Läufer von Marathon“25 hat Diem einen Text geschaffen, in dem er erkennbar seine Idealvorstellung der Verankerung von Sport in einer Gesellschaft schildert. Über die Analyse dieser Erzählung kann auf die strukturellen Vorstellungen Diems geschlossen werden. Die Arbeit endet mit einem Fazit, in dem noch einmal die wesentlichen Aspekte zusammengefasst werden und das Sportverständnis Diems auf seine Aktualität untersucht wird. 25 Diem, C. (1941). Der Läufer von Marathon. Leipzig: Reclam. 12 2 Biographische und historische Hintergründe 2.1 Biographie Carl Diems Carl Diem wurde am 24. Juni 1882 in Würzburg geboren. 1887 zog die Familie Diem aufgrund einiger kaufmännischer Misserfolge des Vaters, der ein Herrenkonfektionsgeschäft betrieben hatte, nach Berlin, um dort ihr Glück zu versuchen. Carl Diem beschrieb seine Jugend später als eher freudlos, da der Vater sich ohne Erfolg versuchte, in Berlin selbständig zu machen.26 Aus Geldnot musste die Familie sämtliche Räume der Wohnung vermieten, so dass für Diem als Schlafplatz meistens das Sofa, oft nur der Küchenboden blieb.27 Ein richtiges Zuhause hat er also in seiner Kindheit und Jugend nicht gehabt. Er selbst sagte einmal, dass sich seine Jugendzeit „wie ein grauer Regentag, den selten die Sonne durchbrach“ gestaltete.28 Als sein Vater nach einer weiteren gescheiterten Firmengründung die Familie ohne Information verließ und nach Amerika auswanderte, war die Familie endgültig zerbrochen. Es verwundert nicht, dass Diem aufgrund dieser häuslichen Verhältnisse kein guter Schüler war. „Diems alles andere als glänzende Berliner schulische Leistungen sind vielfach – vergleichsweise humorvoll auch von ihm selbst – geschildert worden.“29 Er erhielt genügende Noten in den geistigen Fächern und nur in Fächern wie „Singen“, „Zeichnen“ und „Turnen“ gute bzw. sehr gute. Da sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie Diem durch den Weggang des Vaters noch verschlechterten, verließ Carl Diem das Gymnasium gegen den Willen seiner Mutter bereits als „Einjähriger“, um schneller Geld verdienen zu können. Ohne Abitur war ihm daher auch kein ordentliches wissenschaftliches Studium möglich. Da Diem sich aber weiterbilden wollte, schrieb er sich später an der Universität Berlin mit der sogenannten „Kleinen Matrikel“ ein und hörte Vorlesungen in den Fachbereichen Philosophie, Ästhetik, Literatur- 26 27 28 29 Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 21: „Die Bestände wurden dann im Detailladen in der Friedrichstraße verkauft, und meine arme Mutter setzte sich von früh bis abends in den Laden. Das alles erlebte ich zu Hause in Gestalt unaufhörlichen Jammerns.“ Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 21: „Wir lebten, wohnten, aßen, arbeiteten und schliefen schließlich alle zusammen in einem Zimmer, und Schmalhans wurde Küchenmeister.“ Und S. 23: „Wir hatten, um uns zu halten, alles vermietet, so dass wir Kinder stets auf dem Sofa, manchmal auf der Erde und in der Küche schliefen.“ Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 21. Pfeiffer, Carl Diem: Körpererziehung bei Goethe, S. 1. 13 geschichte, Psychologie, Soziologie und Zeitungswesen, ohne einen Hochschulabschluss erwerben zu können. Diem begann stattdessen eine Lehre in einer Metallwarenfabrik, die er aber schnell wieder aufgab. Er beendete danach eine Lehre bei einer Firma für Damenkleiderstoffe erfolgreich, aber auch hier war er sich nach ca. einem Jahr als Angestellter klar, dass eine längerfristige Anstellung in diesem Berufsfeld nicht für ihn in Frage kam. Stattdessen versuchte er, eine berufliche Karriere beim Militär zu begründen. Am 01. Oktober 1904 trat Diem als „Einjährig-Freiwilliger“30 den Dienst an. Dieses Jahr beschrieb Diem rückblickend als die bisher schönste Zeit in seinem Leben.31 Aufgrund seines kaufmännischen Berufes wurde er aber nach diesem Jahr nicht übernommen und schied als Gefreiter aus der Armee aus. Da er keine andere Alternative sah, kehrte er ein letztes Mal in seinen Lehrberuf zurück und arbeitete in der Buchhaltung einer Berliner Kleiderstofffirma. Nach kurzer Zeit kündigte er jedoch das Arbeitsverhältnis wieder. Jetzt widmete er sich ganz der Leidenschaft, die ihn schon seit der Kindheit fasziniert hatte, dem Sport. Mit 14 Jahren hatte er bereits mit Klassenkameraden seinen ersten Sportverein gegründet. Gemeinsam traf man sich nach der Schule, um auf der Eisbahn Schlittschuh zu laufen. Ein Jahr später gründete er einen zweiten Verein mit einer Satzung, einem Vorstand mit Diem als Vorsitzenden, einem Vereinsabzeichen und einer Vereinszeitung. Im Jahre 1904 übernahm Carl Diem den Posten des Schriftführers bei der „Deutschen Sportbehörde für Athletik“. Er sollte den in Deutschland noch recht unbedeutenden Sport mit seinen neuen und zu diesem Zeitpunkt ungewöhnlichen Ideen fördern und publik machen. 30 31 Zum Status des Einjährig-Freiwilligen vgl. Blankertz, Geschichte der Pädagogik, S. 182: „Es war für den Bewerber mit einem hohen Sozialprestige verbunden, wenn er als ‚Einjährig-Freiwilliger’ gedient hatte. Auch im anschließenden Zivilleben hatte er Vorteile: Der Einjährig-Freiwillige wurde am Ende seiner Dienstzeit als Unteroffizier entlassen, errang aber in der Regel durch spätere regelmäßig zu absolvierende militärische Reserveübungen den Rang eines Reserveoffiziers. Dieser Status eines Reserveoffiziers war das eigentliche Ziel des Bewerbers um die Berechtigung als einjährig-freiwilligen Dienstes, denn dieser Titel verschaffte ihm erhebliche zusätzliche Berufs- und Sozialchancen. Mit dem ‚Einjährigen’ erhielt er vor allem auch die Berechtigung zum Eintritt in die mittlere Beamtenlaufbahn in den Verwaltungen sowie zum Besuch bestimmter Fachschulen, wie z.B. der höheren Maschinenbauschulen, von Kunsthochschulen oder landwirtschaftlicher Hochschulen.“ Dazu auch Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 28: „Ich verlebte eine herrliche Soldatenzeit.“ 14 Aufgrund eines immer stärker werdenden Interesses an der Leichtathletik kam es im November 1904 auf Diems Vorschlag hin zur Gründung des Berliner Athletikverbandes, „dem Diem von 1904 bis 1920 vorsteht“32. Diem versuchte mit allen Mitteln, den Sport in Deutschland und zwar ausgehend von Berlin publik und einer breiten Masse zugänglich zu machen. So organisierte er u. a. im Frühjahr 1905 den ersten Crosslauf, 1908 den ersten Staffellauf Potsdam – Berlin und auch 1908 das erste Hallensportfest. Aufgrund seiner erfolgreichen Arbeit im nationalen Sport stieg Diem schnell zu einem der Spitzenfunktionäre auf. Über den Deutschen Sportbund für Athletik kam Diem auch mit der Olympischen Idee in Kontakt und gehörte zu den Mitgliedern der, im Mai 1904 stattgefundenen, Gründungssitzung des „Deutschen Reichsausschusses für Olympische Spiele“ (DRAfOS). Dieser Ausschuss hatte zwei zentrale Ziele: einmal die Einrichtung von „nationalen olympischen Spielen“ in Deutschland, dies war auch ein wesentliches Anliegen von Diem und er verwirklichte es teilweise in den „Deutschen Kampfspielen“, und zum zweiten die Vorbereitung der Beteiligung Deutschlands an den internationalen Olympischen Spielen. 1906 reiste Diem als Mannschaftsbegleiter, finanziert von mehreren Zeitungen, für die er berichtete, zu den Olympischen (Zwischen-) Spielen nach Athen. Er ließ sich von diesen Spielen so begeistern und inspirieren, dass sein weiteres Leben von diesen Erfahrungen stark beeinflusst wurde. „Athen hat auch meine berufliche Zukunft entscheiden mitgeprägt.“33 Nach seiner Rückkehr erhielt er Angebote von führenden Zeitungen34 und stieg schnell zu einem der bedeutendsten Sportjournalisten Deutschlands auf. 1912 reiste Carl Diem als Kapitän der Olympiamannschaft Deutschlands nach Stockholm und führte in dieser Funktion die Mannschaft ins Stadion. Als nach den Spielen bekannt wurde, dass die nächsten Spiele 1916 in Berlin stattfinden würden und am 8. Juni 1913 das neue Berliner Stadion eingeweiht wurde, hatte sich für Diem ein erster olympischer Traum verwirklicht. Im November 1912 wurde Diem auf Vorschlag des Vorsitzenden Viktor von Podbielski35 vom DRAfOS zum Generalsekretär für die Olympischen Spiele 32 33 34 35 Pfeiffer, Carl Diem: Körpererziehung bei Goethe, S. 2. Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 62. Buss/Nitsch, Carl Diem (1882-1962), S. 308: „Es folgte ein erstes Angebot als hauptberuflicher Sportredakteur bei einem Magdeburger Verleger.“ Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 83: „Zu mir habe er Vertrauen, und er bot mir an, die Geschäfte als Generalsekretär des DRA zu übernehmen.“ 15 1916 in Berlin gewählt36. Damit gab Carl Diem seine Arbeit bei der Zeitung auf und wurde zum ersten hauptamtlichen Sportfunktionär Deutschlands mit einem jährlichen Einkommen von 8.000 Reichsmark. Im Zuge der Vorbereitungen der Olympischen Spiele unternahm Diem eine erste Reise nach Amerika, um sich dort Anregungen zu holen, wie auch das deutsche Volk zu sportlichen Höchstleistungen gebracht werden könnte. Er verpflichtete einen vierfachen deutschstämmigen Olympiasieger, mit dessen Hilfe nun die Olympiakandidaten und Übungsleiter ausgebildet werden sollten. Eine andere Idee, die Diem aus Schweden übernommen hatte, setzte er auch 1913 in die Tat um. Er begründete das „Deutsche Sportabzeichen“, das bis heute für besondere athletische Leistungen vergeben wird, und legte als einer der ersten im Herbst 1913 die Prüfung ab. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, meldete sich Diem freiwillig beim Militär und zog an die Front. Gleichzeitig platzte sein olympischer Traum, da aufgrund des anhaltenden Krieges die Olympischen Spiele 1916 abgesagt wurden. In den Kriegsjahren herrschte im Deutschen Reich eine immer stärker zunehmende national-konservative Einstellung der Bevölkerung und vor allem der Elite. Im Zuge dessen wurde im Rahmen der allgemeinen „nationalen Konzentration der Kräfte“ der DRAfOS als „Deutscher Reichsausschuss für Leibesübungen“ (DRAfL) neu konstituiert. Diem unterzeichnete hier einen Vertrag, in dem er sich als selbständiger und einziger Generalsekretär für die nächsten zwölf Jahre dem DRAfL zur Verfügung stellte. In dieser Position setzte er sich für einen kontinuierlichen Aufbau des nationalen Sportwesens ein. Als Inhaber dieser Stelle konzipierte Diem die „Reichsjugendwettkämpfe“, die 1920 erstmals in Berlin stattfanden. Sie sind ein Vorläufer der heutigen Bundesjugendwettkämpfe bzw. -spiele. Im Oktober 1919 beschloss der Vorstand des DRAfL die Gründung einer wissenschaftlichen Hochschule. Am 15. März 1920 erfolgte dann der eigentliche Gründungsakt der „Deutschen Hochschule für Leibesübungen“ (DHfL).37 Diem übernahm als Prorektor die eigentliche Leitung der Hochschule und überzeugte 36 37 Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 83: „Podbielski sagte mir nach Rücksprache mit Lewald die Bedingungen [Vierjahresvertrag, Unterstellung unter Podbielski und des Vorstands, Gehalt aus Reichsmitteln; MB] zu und schlug mich daraufhin der Vollversammlung am 10. November 1912 zur Bestätigung vor. Diese erfolgte einstimmig mit Ausnahme der Fechter.“ Kursivdruck im Original. Pfeiffer, Carl Diem: Körpererziehung bei Goethe, S. 2: „Die Gründung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen 1920 ist vor allem ihm [Carl Diem; MB] zu verdanken.“ 16 zahlreiche renommierte Gelehrte zu einer Lehrtätigkeit an der DHfL. Er selbst bekam 1921 die Ehrendoktorwürde der medizinischen Fakultät der Universität Berlin überreicht und lehrte auch an der DHfL. Diems Plan zu einem nationalen Olympia fand in den Deutschen Kampfspielen als einem Ersatz für die Nichtteilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen 1920 und als einem nationalen Volksfest seinen Niederschlag. Die ersten Kampfspiele fanden 1922 in Berlin statt. Aufgrund des großen Erfolges der deutschen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam beschloss man, sich erneut für die Olympischen Spiele, im Jahre 1936, zu bewerben und hatte damit auch Erfolg. Kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelang es den deutschen Sportfunktionären um Lewald und Diem noch, das Organisationskomitee für die Olympischen Spiele 1936 am 24. Januar 1933 zu gründen. Carl Diem wurde erneut als Generalsekretär des Komitees eingesetzt und war somit hauptverantwortlich für die Organisation der Spiele. Bereits kurz nach der Machtübernahme wurde Diem als „politisch unzuverlässig“ eingestuft und 1933 offiziell von seiner Lehrtätigkeit an der DHfL beurlaubt.38 Dies u. a. auch, weil seine Frau Liselott, eine der ersten Studentinnen der DHfL, die er 1930 geheiratet hatte, als Enkelin einer jüdischen Großmutter eine sogenannte „Vierteljüdin“ war. Diem bot sich der neuen (Sport-) Führung zur Unterstützung und Hilfe an. Obwohl er als „politisch unzuverlässig“ eingestuft worden war, nahm die Führung seine Hilfe an. Bereits am 12. März 1933 erstellte er ein Konzept der Gleichschaltung des Sports in Deutschland, mit dem er bei der Reichsregierung vorstellig wurde. Mit seinen Bemühungen, die Stelle als „Reichssportführer“ für sich zu beanspruchen, scheiterte er allerdings. Diesen Posten übernahm der bis dahin in der Sportwelt völlig unbekannte Hans von Tschammer und Osten, der sich eine gut funktionierende Sportverwaltung zu Eigen machen konnte. Diem bot sich als Generalsekretär des neu gegründeten Reichsführerrings, aus dem dann der Deutsche Reichsbund für Leibesübungen (DRL) hervorging, an und betonte 38 Vgl. Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 142: „Ich suchte ihn [Sauerbruch; MB] sofort auf, wobei er mir nunmehr im Auftrage von Tschammer mitteilte, dass ich mich ‚lediglich zur Beruhigung der Gemüter’ auf ein Semester beurlauben lassen möchte. Ich antwortete ihm, dass ein solcher Antrag meiner unwürdig erschiene, ich gehöre nicht zu den Menschen, die man abwechselnd ein- und ausladen kann. Ich glaubte auch nicht an eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und träte somit von meinem Amte entgültig zurück.“ 17 gegenüber dessen Mitgliedern, dass Tschammer seine Arbeitskraft auch weiterhin verwenden wolle. Die Haupttätigkeit Diems bestand aber in der Organisation und Vorbereitung der Olympischen Spiele 1936, nachdem die Regierung ihr Einverständnis gegeben und finanzielle Unterstützung zugesichert hatte. Die Zusage der NSDAP bzw. Hitlers hatten Lewald und Diem letztlich dadurch erwirken können, dass sie auf die ungeheure Propagandawirkung der Spiele aufmerksam machten. Carl Diem wollte diese Olympischen Spiele zu einer „Lehrolympiade“ für die Welt gestalten, mit der er sich seinen olympischen Traum erfüllen wollte. Bei dieser Planung kam ihm zugute, dass die finanziellen Mittel, die zur Verfügung gestellt wurden, sehr hoch waren und er so aus dem Vollen schöpfen konnte.39 Unter einigen Neuerungen, die Diem bei diesen Spielen einführte und die dann zur Tradition wurden, ist wohl am bekanntesten der erstmals von Olympia bis nach Berlin durchgeführte Staffellauf mit dem Olympischen Feuer. Außerdem sind noch die Olympische Glocke und das Festspiel „Olympische Jugend“ zur Eröffnungsfeier zu nennen. „Kaum deutlicher als hier vermag sich die Ästhetisierung der Politik als eine kalte Kunst der herrschaftlichen Ordnung zu offenbaren, in der Kunst und Sport, Protagonisten und Zuschauer zum Kommandomaterial degradiert werden, über dem der vermeintlich höhere Sinn der Symbole schwebt.“ 40 ebenso unerbittlich körperfern wie nebulös-gleichgültig Generell kann für die Olympischen Spiele 1936 festgehalten wer- den, dass sie im Zeichen und unter massivem Einfluss der NSDAP standen und zu Propagandazwecken missbraucht wurden. Dank Diems sorgfältiger Planung wurden die Spiele 1936 aber zu einem großen Erfolg, wie Diem es prophezeit hatte. Nach Beendigung der Olympischen Spiele kümmerte Diem sich um die wieder aufgenommen Ausgrabungen in und um Olympia. Außerdem leitete er die Einrichtung eines Internationalen Olympischen Institutes ein, dessen Aufgabenbereiche waren: 1. Wissenschaftliche Darstellung aller olympischer Grundfragen und Gedankenaustausch mit den Trägern der Olympischen Idee in der Welt. 39 40 Vgl. Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 159: „Wie anders dann unter Tschammer! Da begann die Verschwendung öffentlicher Mittel und der Groschen der Sportsleute. Die Bonzenwirtschaft setzte nun wirklich ein.“ Hoffmann, Mythos Olympia, S. 39/40. 18 2. Einrichtung eines Olympischen Archivs als internationale Auskunftsstelle der Olympischen Bewegung und der Olympischen Kunst. 3. Herausgabe einer Vierteljahrsschrift „Olympische Rundschau“ als Fortsetzung der von Coubertin gegründeten Olympischen Revue. Diem wurde zum Generalsekretär dieses Institutes ernannt. Er unternahm in der Folgezeit aufgrund seiner Tätigkeiten viele Auslandsreisen. Nach einigen Querelen um die Winterspiele 1940 wurden sie erneut, wie auch 1936, nach Garmisch vergeben. Auch hier wurde Diem wieder zum Generalsekretär ernannt und plante die Spiele in ähnlichem Stil wie die Sommerspiele 1936, u.a. mit einem Tag des Skilaufs, der zu einer einzigen deutschen Propaganda werden sollte. Aufgrund des Zweiten Weltkriegs fielen die Spiele allerdings aus. In der Folgezeit ersuchte Diem um eine ordentliche Professur an der Hochschule in Berlin, die ihm aber letzten Endes verweigert wurde. Dies bedauerte Diem dann Zeit seines Lebens. Im September 1939 wurde Carl Diem mit der kommissarischen Leitung der Auslandsabteilung des Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL, nachfolge des DRL mit Parteianbindung) betraut und kommissarisch zum Führer des Gaues Ausland des NSRL ernannt. Seine Aufgabe bestand darin, den internationalen Sportverkehr aufrecht zu erhalten, deutsche Sportmannschaften ins Ausland zu begleiten und Sportfeste in Deutschland zu organisieren. Die Sportbeziehungen mit Italien wurden aufgrund der gleichfalls faschistischen Führung des Landes intensiviert. Am 24. April 1940 wurde deswegen die Deutsch-Italienische-Gesellschaft (DIG) gegründet, deren Vorsitz von Tschammer und Osten übernahm. Diem wurde zum geschäftsführenden Vizepräsidenten ernannt. Die deutsche Sportführung versuchte unter wesentlicher Mitarbeit von Diem in der Folgezeit die europäische Sportführung zu übernehmen. Diem führte dazu Gespräche in ganz Europa. Dies scheiterte mit der Einstellung des internationalen Sportverkehrs nach der Niederlage von Stalingrad im Februar 1943. Die letzten beiden Kriegsjahre verbrachte Carl Diem mit der Arbeit im Olympischen Institut und er unternahm Vortragsreisen zu den deutschen Truppen, um die Soldaten zu unterhalten und ihnen Mut zuzusprechen. Diese Vorträge rankten oft um den unglaublichen Kampfeswillen der Spartaner und den, laut Diem, heldenhaften Opfertod. „Ferner begann die Wehrmacht von 19 dem Augenblick an, der eine längere Dauer des Krieges voraussehen ließ, mich in ihre Betreuung einzuschalten. Es wurden ganze Trupps und Theatergesellschaften auf die Reise geschickt, um Unterhaltungsabende zu gestalten und außerdem zogen Wanderprediger umher, die für besinnliche Stunden zu sorgen hatten. Zu diesen Vortragenden gehörte ich auch, und zwar, soweit ich erfahren hatte, durch immer wiederkehrende Anregung seitens der Truppen.“41 Diese Reisen zu den deutschen Truppen sind nicht mit der Tätigkeit Diems als Sportfunktionär verknüpft. Er hätte diese Vorträge allein aus dienstlicher Perspektive nicht annehmen müssen. Hier zeigt sich, dass es eine gewisse Identifikation Diems mit den NS-Zielen gab und er diese unterstützte. Als dann der Reichsportführer von Tschammer und Osten im März 1943 starb, bewarb Diem sich erneut um diesen Posten, bekam ihn aber wiederum nicht. Da von Tschammer und Osten versucht hatte, ihn zu unterstützen, war Diem daraufhin in einer sehr schwachen Stellung und es gab im deutschen Sport kaum noch Aufgaben für ihn. Im November 1944 meldete Diem sich freiwillig zum Volkssturm, obwohl er das Pflichtalter von 60 Jahren bereits überschritten hatte. Aufgrund seiner Stellung im NSRL hielt er am 18. März auf dem Reichssportfeld seine letzte flammende Rede der NS-Zeit. Vor Mitgliedern des Volkssturms sprach er, ähnlich wie vor den Soldaten, von Kampfes- und Einsatzwillen und über Opfertod. Durch diese Rede ist Diem in jüngster Zeit wieder in die Kritik geraten, da bei dem Einsatz des Volkssturms in Berlin, der militärisch sinnlos war, kurz darauf mindestens 2.000 Angehörige der Hitler-Jugend ums Leben kamen. Nach dem Krieg gab Diem die Erklärung ab, er wäre nie Mitglied einer Gliederung der NSDAP gewesen und damit war der Weg für ihn frei, sich weiterhin im deutschen Sport zu engagieren. Noch 1945 wurde er zum Direktor für „Körpererziehung und Schulhygiene“ an der Universität Berlin ernannt und übte dieses Amt bis 1947 aus.42 Außerdem beteiligte er sich sehr stark an der Neustrukturierung des deutschen Sports. So war er einer der Mitbegründer der Deutschen Sporthochschule in Köln, deren Rektor er von Anfang an war, des Nationalen Olympischen Komitees und der Deutschen Olympischen Gesellschaft. Von Dezember 1949 bis 1953 wurde ihm zudem die Leitung des 41 42 Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 211. Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 237: „Ich wurde nur mit der ‚Wahrnehmung der Stelle eines außerordentlichen Professors und der Leitung des Instituts’ beauftragt.“ 20 Referats 4 „Wahrung der gesamtdeutschen Interessen auf dem Gebiet des Sports und der Leibesübungen“ vom damaligen Bundesinnenminister Heinemann übertragen. 1956 wurde Diem mit dem „Olympic Diploma of Merit“ vom IOC ausgezeichnet. 1961 eröffnete er in Olympia anlässlich des freigelegten antiken Stadions eine Internationale Akademie und wurde dort sogar zum Ehrenbürger ernannt. Am 17. Dezember 1962 starb Carl Diem im Alter von 80 Jahren in Köln. 2.2 Geschichtlicher Hintergrund mit Schwerpunkt auf das ausgehende Kaiserreich als Jugendphase Diems43 Auf der Grundlage der Biographie sollen nun anhand der Darstellung des historischen Hintergrunds die Hauptmerkmale der Sozialisation Diems gezeigt werden. „Als Prozess ist Sozialisation derjenige Entwicklungszusammenhang, in dem die subjektiven Korrelate einer durch Herrschaft geordneten Gesellschaft hergestellt werden. […] In diesem höchst komplexen Lern- und Bildungsprozess, für den der Begriff Sozialisation steht, erfolgt die soziale Konstitution des Subjekts.“44 Carl Diem wurde 1882 geboren. Seine Kindheit und Jugend verlebte er im Kaiserreich. In diesem Zeitraum erfuhr er auch seine Prägung mit den später für seinen Sportbegriff so charakteristischen Werten.45 „Unzweifelhaft werden die grundlegenden Strukturen der Persönlichkeit auch schon in der Kindheit ausgebildet, doch kommt es durch die charakteristische Umbruchsituation der Jugendphase zu einer Neubestimmung der Persönlichkeitsdynamik, die die vorhergehenden Strukturen erheblich verändert und in ein neuartiges und andersartiges Gesamtgefüge einbettet.“46 Daher wird im Folgenden vornehmlich 43 44 45 46 In diesem Kapitel folge ich bezüglich der historischen Verläufe im Wesentlichen der Argumentation W EHLERS. Bergmann et al. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, S. 16. Dazu auch Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 10/11: „Das [Wichtigkeit der Primärsozialisation; MB] wird ebenfalls von Teichler aufgeführt, indem er das Fundament der Diemschen Verhaltensmotive als in der wilhelminischen Epoche sozialisiertes deutet […]. Welche Werthaltungen hier herausgebildet werden, hat Teichler hinsichtlich der ‚ideologischen Hauptströmungen, die der deutsche Nationalsozialismus in seiner eklektischen Lehre bündelte’, festgehalten: Antisemitismus, Führerkult, Anti-Intellektualismus, Volksgemeinschaftsidee, Glorifizierung von Militär und Staat, Ablehnung von Parteien und Parlament, Nationalismus und Bekämpfung des Marxismus“. Teichler fährt fort, dass „mit Ausnahme des Antisemitismus bei Diem alle der oben erwähnten politischen Denkmuster auftauchen“ (TEICHLER, 1987, 46). […] Die Primärsozialisation Diems im Wilhelminismus kann als Fundament auch seiner späteren Orientierungen bezeichnet werden.“ Und in Teichler, Die Rolle Carl Diems in der Zeit und im zeitlichen Umfeld des NS-Regimes, S. 73: „Zu dieser politischen Sozialisation gehörte auch die Identifikation von Staat und Vaterland, von Herrschaftssystem und Vaterland.“ Hurrelmann, Lebensphase Jugend, S. 51. 21 auf die politische47 und soziale Situation zu Diems Jugendzeiten eingegangen, da sie folglich für die Entwicklung der Persönlichkeit einen enormen Anteil haben48. Jugend ist laut Friebel „eine durch gesellschaftliche Maßnahmen ermöglichte, eine durch gesellschaftliche Strukturprobleme notwendige Lebensphase zur persönlichen Entwicklung und sozialen Platzierung“.49 Was charakterisiert also die Jugend Diems, welche Werte herrschen, welche Orientierungen und gesellschaftlichen Tendenzen gibt es? 2.2.1 Soziale und politische Bedingungen des Kaiserreichs Das Kaiserreich war geprägt durch eine Ambivalenz von Werten. Zum einen ging es darum, mit der Industrialisierung auch alle anderen Bereiche des Lebens zu modernisieren, und auf der anderen Seite wurde an althergebrachten Traditionen, Normen und Werten festgehalten. „In dieser formativen Gründungsperiode prägten sich in dem jungen Staat im Zeichen der eigenartigen Fusion von traditionaler Monarchie, moderner Bürokratie, Bismarcks charismatischer Herrschaft und parlamentarischer Gesetzgebung auch seine langlebig dominierende Machtkonstellation und seine politische Kultur aus.“50 Auch nach seiner Entlassung wirkte sich Bismarcks Charisma auf das deutsche Reich aus, vor allem auch deswegen, weil keiner von den folgenden Kanzlern ein ähnlicher Charakter und ähnlich rigoros und durchsetzungsfähig war wie Bismarck.51 Deutschland war in der glücklichen Lage, dass seine Bevölkerung ausgesprochen jung war, was sich positiv auf die Zukunftssicht auswirkte. „Immerhin ein gutes Drittel der Bevölkerung war damals jünger als sechzehn Jahre. Diese Grundtatsache erzeugte eine eigentümliche Dynamik, einen siegessicheren Zukunftsoptimismus.“52 Dies war also eine gute Basis, auf der Veränderungen hätten stattfinden können, die nicht nur die Industrie betrafen, 47 48 49 50 51 52 Bergmann et al. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, S. 17: „Politische Sozialisation versucht im Rahmen der allgemeinen Sozialisation politisch relevante Motive, Einstellungen und Verhaltensweisen zu erklären.“ Bergmann et al. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, S. 25/26: „Subjekte werden in das historische Selbstverständnis ihrer Bezugspersonen und Bezugsgruppen hineingeboren.“ Friebel in Hurrelmann, Lebensphase Jugend, S. 51. Wehler, Bd. 3, S. 1250, 1251. In der Erinnerung wurde die Figur Bismarck als eine Art Übermensch auch an die Kinder weitergegeben. Doerry, Übergangsmenschen S. 179: „Bismarck geriet in ihrem [gemeint sind die Wilhelminer; MB] Geschichtsbild zu einem politischen Ersatz- und Übervater, ja die gesamte Bismarckzeit wurde pauschal zur Epoche des Aufstiegs erklärt, und alles Folgende galt allgemein als Niedergang in Raten.“ Wehler, Bd. 3, S. 1252, 1253. 22 sondern auch und gerade die Politik. Durch die junge Bevölkerung nahm allerdings auch die Knappheit von Arbeitsplätzen zu. Dadurch und durch die fortschreitende Urbanisierung entstand „eine Massenwanderung im Reich selber“53. Dies betraf auch Familie Diem, die von Würzburg nach Berlin zog. Mit einer vorbildlichen Kommunalpolitik fingen die Städte den Zustrom von Menschen auf und bauten ein umfangreiches Versorgungssystem auf. Dies war ein weiteres Merkmal dieser Zeit. Der Zustrom von Menschen in die Städte war bedingt durch die Industrialisierung und dem damit verbundenen Industriekapitalismus. Da die Industrialisierung in Deutschland im Gegensatz zu anderen westlichen Ländern innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums sich durchsetzte und die traditionellen Werte sehr viel Gewicht hatten, entwickelte Deutschland wiederum im Vergleich einen Sonderweg.54 „Gerade der Vergleich mit England und Amerika lenkt jedoch auf den folgenschweren Unterschied hin, dass in Deutschland die modernste Variante des Produktionskapitalismus in eine noch ungleich traditioneller verfasste Gesellschaft, als sie dort existierte, hineinschoss. Dadurch wurden hochgradige soziale, politische und kulturelle Spannungen erzeugt, so dass sich, trotz aller gemeinsamen Grundzüge dieser sozialökonomischen Umwälzung, gerade mit der auffällig erfolgreichen deutschen Industrialisierung besondere Charakteristika verbunden haben.“55 In diesem Rahmen wird auf Besonderheiten eingegangen, die für die Sozialisation der Person Carl Diem eine Rolle gespielt haben könnten. Aufgrund der Vielfalt können nicht alle Facetten des deutschen „Sonderwegs“ behandelt werden. Während des industriellen Aufschwungs Deutschlands gab es zwei tief einschneidende Depressionen, die erste von 1873 – 1879 und die zweite von 1882 – 1886. Die zweite Depression hatte weniger ökonomische Auswirkungen zur Folge denn gesellschaftliche. „Durch die Wiederholung der Stockungserfahrungen [löste sie; MB] traumatisierende politische und soziale Effekte [aus; MB], die sich zum Beispiel in der imperialistischen Expansion, in der staatlichen Sozialpolitik und im politischen Antisemitismus auswirkten.“56 Diese Tendenzen im Kaiserreich nahmen seitdem bis zu seinem Ende zu. 53 54 55 56 Wehler, Bd. 3, S. 1253. Siehe auch Doerry, Übergangsmenschen, S. 12: „Während die Industrialisierung innerhalb weniger Jahrzehnte die deutsche Gesellschaft von Grund auf neu gliederte und prägte, blieb das politische System unbeweglich.“ Wehler, Bd. 3, S. 1258. Wehler, Bd. 3, S. 1260. 23 An einem anderen Ort werden diese Orientierungen ebenfalls ersichtlich und zwar an den Universitäten. An ihnen fand ein Prozess der „sozialen Öffnung“ statt. Waren vordem die Söhne des Adels, des Bildungs- und des höheren Bürgertums unter sich, so öffneten sich die Universitäten immer mehr den Söhnen und ab 1908 auch den Töchtern anderer Schichten. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass sich neben dem Gymnasium zwei neue Schultypen der höheren Schulen etabliert hatten, deren Abitur endlich auch an den Universitäten zugelassen wurde. Daraus ergab sich eine Durchmischung der Ansichten. „Die politische Mentalität der Studenten ist noch immer ein heftig umstrittener Gegenstand. Die Majorität ging, vermutlich ziemlich a-politisch, ihrem „Brotstudium“ nach. Wissenschaftliche, bündische, dazu im engeren Sinne politische Vereinigungen mit einer Rückbindung an Parteien erreichten nur eine winzige Mitgliederzahl. Einen wahrhaft bedrohlichen Einfluss übten aber die liberalen, nationalistischen, häufig antisemitischen Studenten in den schlagenden Verbindungen der Korporationen und Burschenschaften aus, die namentlich an den mittelgroßen Universitäten häufig zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Prozent der Studenten für sich gewinnen konnten.“57 In diesen Organisationen wurde ein Typ des Akademikers geprägt, der, zukünftig in Leitungspositionen zu finden und damit auch beteiligt an der Meinungsbildung, negative Vorzeichen für die deutsche Gesellschaft erahnen ließ. An den Universitäten war der nationalistische Trend demnach besonders ausgeprägt. Die zumeist bürgerlichen Kinder übertrugen damit Werte des Bürgertums in die Studentenschaft, von der sie positiv aufgenommen und verbreitet wurden. Aufgrund der Stellungen, die die Studenten nach dem absolvierten Studium innehaben würden, war davon auszugehen, dass diese Werte eine weite Verbreitung in der Führungsschicht und der Gesellschaft allgemein erfuhren. Es ist nicht zu leugnen, dass nationalistische, militaristische Werte in der Gesellschaft des Kaiserreichs eine große Rolle spielten. Die Zeit der Herrschaft von Bismarck hatte diese Werte geformt und sie fest in der Gesellschaft verankert. Auch entstand in dieser Zeit eine Gewöhnung an einen dominanten Führer, die für die spätere Zeit sehr prägend sein sollte. „Nur das deutsche Reich [hat; MB] eine derartige Prägung erfahren – und dazu noch über eine so außerordentlich lange Zeitspanne hinweg, dass sie die politische Mentalität und 57 Wehler, Bd. 3, S. 1282. 24 Kultur tief prägen konnte. Die Anfälligkeit für eine herausragende Führungspersönlichkeit, die Sehnsucht nach einem neuen Charismatiker hat sich seither bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gehalten.“58 Darüber hinaus hat sich in der Bismarckzeit ein antidemokratischer Führer- und Erlöserglaube gebildet. Dieser war dermaßen dominant, dass er die durchaus auch im deutschen Nationalismus vorhandene nationaldemokratische Tendenz über eine lange Zeit abgewertet und sogar unterdrückt hat. Im Zusammenhang damit hat die Bismarcksche Führung auch noch darüber hinaus Werte gefestigt, die im späten Kaiserreich eine erhebliche Bedeutung bekamen. „Mit Bismarcks Vorherrschaft aber verband sich ein folgenschweres Syndrom: Antiliberalismus, Antiparlamentarismus, Demokratiefeindschaft haben sich, gedeckt durch seine charismatische Aura, tief eingeschliffen.“59 Gerade in den bürgerlichen Klassen der Gesellschaft spielten diese Tendenzen eine große Rolle. In einer Zeit, in der die Massen der Arbeiter sich zu organisieren begannen, waren die bürgerlichen Stände bedacht, ihren Stand zu wahren und sich gegen andere abzugrenzen. Die oben genannten Tendenzen förderten diese Abgrenzung weitaus mehr als beispielsweise die Zulassung des Parlamentarismus. Ein weiteres Kennzeichen, das die Gesellschaft des deutschen Reichs nachhaltig beeinflusst hat, war die herausragende Stellung des Monarchen, der „sich von allen anderen Fürsten Europas [unterschied; MB], da er in der Tradition des preußischen Militärstaates der „Oberste Kriegsherr“ und Inhaber der ominösen spätfeudalen „Kommandogewalt“ über die Streitkräfte blieb“60. Diese Stellung hinterließ in der Bevölkerung, zumindest in den mittelständischen, bürgerlichen und oberen Klassen, eine Monarchiehörigkeit61. Aus der Sonderposition und aus der charismatischen Person und Führung Bismarcks hat sich eine Untertanenmentalität entwickelt, die weite Teile der Bevölkerung stets an den Kaiser und die Obrigkeit glauben ließ.62 Die herausragende Stellung des Kaisers ist zu vergleichen mit der des Militärs. Nach den Siegen bis 1871 stieg das Ansehen erheblich an.63 Da das Militär 58 59 60 61 62 63 Wehler, Bd. 3, S. 1285. Wehler, Bd. 3, S. 1285. Wehler, Bd. 3, S. 1285. Doerry, Übergangsmenschen, S. 18: „Die Kaiserproklamation von Versailles hatte die nationale Identität fast unlösbar mit dem monarchischen Prinzip verbunden.“ Diese Mentalität ist in der Literatur verewigt in Heinrich Manns „Der Untertan“. Dazu auch Tuchman, Der stolze Turm, S. 394: „Die Deutschen sahen sich als die stärkste Militärmacht der Erde, als die tüchtigsten Kaufleute, die eifrigsten Bankiers; sie durchzogen jeden Kontinent, finanzierten die Türken, bauten eine Eisenbahn von Berlin nach Bagdad, 25 einem „Staat im Staate“ gleich sehr autonom war, konnten die Führer einflussreich Druck auf die Politik ausüben und ignorierten diese teilweise auch ganz. Das hohe Ansehen des Militärs setzte sich in einem Sozialmilitarismus in der Bevölkerung fort. „Und im Bereich der gesellschaftsprägenden Ideologien basierte auch das Unikat des deutschen Sozialmilitarismus auf der unantastbaren Sonderrolle des Militärs. Nirgendwo sonst in einer westlichen Gesellschaft ist im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Militarismus in die Kollektivmentalität, in das Identitätsbewusstsein, in den Nationalismus so tief eingedrungen wie im kaiserlichen Deutschland.“64 Weite Schichten der Bevölkerung identifizierten sich mit diesem Militär und so fand auch die in einem sehr hohen Ausmaß betriebene Aufrüstung der Flotte sehr breiten Zuspruch. „Nirgendwo sonst spielte der Militarismus als Element des Nationalismus eine derartig dominante Rolle.“65 Das Militär nahm in allen Bereichen des öffentlichen Lebens eine enorm hohe Stellung ein. Es hatte mit den Siegen den Status des Kaiserreichs bzw. das Kaiserreich geschaffen und war als Arbeitgeber äußerst attraktiv. „Die Fetischisierung von Uniformen und soldatischem Gehabe wurde […] ebenso häufig untersucht wie belächelt, doch die Wurzeln des enormen Sozialprestiges, von dem das Militär bis 1914 zehren konnte, lagen vielmehr in der ruhmreichen Vergangenheit, in seiner tragenden Rolle bei der Reichsgründung, die im kollektiven Gedächtnis mehrerer Generationen ihre Spuren hinterlassen hatte.“66 Daher wurde das Militär von der Bevölkerung sehr bewundert und nahm eine Sonderstellung ein. Diese Bewunderung sorgte auch dafür, dass militärische Werte in die Gesellschaft übertragen wurden. Durch die Parlamentarisierung war aufgrund einer „liberalen Nationalbewegung“ ein Organ geschaffen worden, das äußerlich demokratische und liberale Züge zeigte. Allerdings setze sich in der Realität der Korporativismus der alten Machteliten durch, so dass die Demokratisierung im Deutschen Reich keine Chance hatte, im Gegenteil wurden Neuerungen oft blockiert, wobei es in Europa kein gewähltes Parlament gab, das „mit einer derart zahnlosen Konfliktscheu dem Streit um die Hegemonie im politischen System so konsequent ausge- 64 65 66 beherrschten den Handel mit Lateinamerika, forderten die Seemacht Großbritannien heraus und organisierten im Bereich der Wissenschaft jedes Gebiet der menschlichen Erkenntnis. Sie waren imstande und hatten es auch verdient, die Welt zu beherrschen.“ Wehler, Bd. 3, S. 1286. Wehler, Bd. 3, S. 1290. Doerry, Übergangsmenschen, S. 46. 26 wichen ist wie der deutsche Reichstag“67. Hier kumulierten dann also die Machtbesessenheit der Elite und die Konfliktscheu der gewählten Parlamentarier zu einem starren System, in dem Neuerungen nur schwerlich zustande kamen. Dies ist umso erstaunlicher bzw. unverständlicher unter dem Gesichtspunkt, dass die SPD in dieser Zeit zur ersten Massenpartei Deutschlands avancierte und zur größten linksliberalen Partei in Europa aufstieg. Mit einem geschickt ausgeklügelten Mehrklassenwahlrecht wurden jedoch die Wahlstimmen ungleich und zugunsten der nationalistischen Zentrumsparteien verteilt. Damit wurde der Einfluss der linksliberalen Parlamentarier auf ein Minimum begrenzt. Die alteingesessenen Machteliten hatten Angst vor der Übernahme der politischen Führung durch die SPD68 und einem damit einhergehenden Prozess der Demokratisierung, bei dem sicherlich ihre Feudalrechte beschnitten worden wären. Deswegen wehrten sie sich mit allen Mitteln gegen alle inneren Bedrohungen, u.a. indem sie diese als Klassenfeinde typisierten. Mehr noch als die Bedrohung von außen fühlte sich die Führungselite, der Adel und das Bürgertum mit ihren nationalistischen Werten von den inneren Feinden bedroht. Damit diese nicht auf dem vorgesehenen Weg des Kaiserreichs an die Spitze der Staaten hinderlich waren und den Prozess störten, mussten sie als Feinde erkannt und öffentlich gemacht werden. Daher war im späten Kaiserreich der leidenschaftliche Antisozialismus von so hoher Intensität wie nirgends. „Sozialdemokraten, Katholiken, schließlich auch Deutsche jüdischer Herkunft sollten mit Hilfe ausnahmerechtlicher Zwangsmittel integriert oder – wie es der radikalnationalistische Antisemitismus früh verlangte – vollends ausgegrenzt […] werden. Bereits nach einem Dutzend Jahren tendierte der Reichnationalismus auch dazu, für Deutschland als Großmacht weltweit ausgreifende Forderungen zu erheben.“69 Durch Erfolge des Imperialismus und durch die gut laufende Industrie bzw. Wirtschaft wurden diese Forderungen untermauert. Die Erfolge der Industrialisierung brachten allerdings auch Prozesse der Modernisierung mit sich, die ebenso als Ursprung des Nationalismus angesehen werden können. Es ist kein einfacher Entwicklungsgang, alten funktionie67 68 69 Wehler, Bd. 3, S. 1287. Doerry, Übergangsmenschen, S. 15: „Zu der gefährlichen außenpolitischen Isolation gesellte sich nun – aus Sicht des konservativ-bürgerlichen Parteienspektrums – eine wachsende innere Bedrohung [gemeint ist die SPD; MB].“ Wehler, Bd. 3, S. 1290. 27 renden Traditionen abzusagen, um sich mit modernen Tendenzen zu befassen. „Dieser extreme Nationalismus lässt sich vermutlich am ehesten als ‚Antwort’ auf die Herausforderung durch vielfältige rapide Modernisierungsprozesse mit ihren schmerzhaften Erfahrungen erklären, denen er mit dem kompensatorischen Angebot nationaler Erfolge, nationaler Größe, nationaler Einzigartigkeit, deutscher Weltmission und deutscher Weltpolitik begegnete.“70 Diese Kompensationsmöglichkeiten sind von weiten Teilen der Bevölkerung begeistert aufgenommen worden. Der Nationalismus breitete sich immer mehr aus und wurde zum Gesellschaftsphänomen im Kaiserreich, welches aus bürgerlichen Schichten entstanden war71. Er war darüber hinaus eine gern gesehene und gewünschte Einstellung, die allerdings den Antiliberalismus und die antidemokratischen Tendenzen zusätzlich förderte. Insgesamt war die Gesellschaft des Kaiserreichs demnach geprägt von Werten wie Nationalismus und Antiliberalismus. Gleichzeitig bildete sich als Opposition dazu eine linksliberale Massenpartei aus, die aber gegen Unterdrückung ankämpfen musste und nie wirklichen Einfluss gewann. Das Militär und der Monarch hatten eine herausragende Stellung und die Macht und der Einfluss des deutschen Reichs wuchsen, so dass daraus eine gewisse Untertanenmentalität der Bevölkerung entstand72. Soziale Einrichtungen wurden in dieser Zeit verstärkt errichtet, vor allem in den wachsenden Städten, dagegen erfuhr der Adel aber einen immensen Imagegewinn. Die Zeit des Kaiserreichs ist also von vielen Gegensätzen gekennzeichnet, die jedoch nicht darüber hinwegsehen lassen, dass der autoritäre Nationalismus eine der wesentlichen Tendenzen dieser Zeit ist. 2.2.2 Gesellschaftliche Situation der Familie Diem in diesem System Das deutsche Reich war in der Zeit des Kaiserreiches, speziell im ausklingenden 19. Jahrhundert gekennzeichnet durch eine starre Einteilung in Schichten. „‚Gläserne Mauern durchziehen von allen Seiten’ die reichsdeutsche Gesellschaft, notierte sich Walther Rathenau zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 70 71 72 Wehler, Bd. 3, S. 1291. Doerry, Übergangsmenschen, S. 14: „Die nationalistische Welle, die zum Fundament imperialistischer Ansprüche wurde, war jedoch nicht zuletzt ein Produkt bildungsbürgerlicher Begeisterung.“ Doerry, Übergangsmenschen, S. 24: „Die scheinbar ins Grenzenlose wachsende Machtposition des Reichs induzierte Selbstbewusstsein und Zuversicht, aber auch Selbstgefälligkeit und kritiklose Unterwerfung unter alle Symptome der Macht.“ 28 ‚durchsichtig’, aber ‚unübersteiglich’ trennten sie die Klassen und Milieus in der wie erstarrt daliegenden Sozialordnung. Jenseits dieser Barrieren, fuhr er fort, ‚liegen Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und Macht. Die Schlüssel des verbotenen Landes aber heißen Bildung und Vermögen, und beide sind erblich.’“73 Dieser Situation sah sich auch Carl Diem konfrontiert. Das deutsche Reich bestand aus Klassen, in die jeder hineingeboren wurde, und ein Aufstieg war lange nicht oder nur sehr schwer und begrenzt möglich. Es wurden „vor allem fünf große ‚soziale Klassen’ im kaiserlichen Deutschland unterschieden: die Arbeiterschaft, das Kleinbürgertum, die ‚Intelligenz und Fachgeschultheit’ einschließlich der Beamten und Angestellten, die Besitzenden und die Bildungsprivilegierten“74. Die Verteilung der Bevölkerung auf die Klassen war sehr unterschiedlich. Den geringsten Anteil stellte mit 0,5 -1% der Adel dar, 25% der Bevölkerung gehörten der Ober- und Mittelschicht an, der Rest, also ca. 74% der Arbeiter- und Unterschicht.75 Die Mutter Diems mit ihren Kindern kann, nach dem Weggang des Vaters, zu der großen Arbeiter- und Unterschicht gezählt werden. Aufgrund der „produktionskapitalistischen Wohlstandssteigerung“ befand sich die Gesellschaft in einem durch die Industrialisierung angestoßenen Aufwärtstrend. „Die Gesellschaft des kaiserlichen Deutschland erlebte einen ‚Fahrstuhleffekt’, der zu einer historisch beispiellosen relativen und absoluten Verbesserung der materiellen Lage ihrer Mitglieder führte.“76 Trotz Zugehörigkeit zu unteren Schichten und ohne materielle Reichtümer ging es Familien vor allem in den Städten mit für die damalige Zeit gut ausgebauten sozialen Netzen besser als noch in der Generation davor. Dies trifft auch auf Familie Diem zu, die zwar aus Geldnot fast alle Räume der Wohnung vermieten und selbst in der Küche leben, aber keine existenzielle Not leiden musste. Die Familie, generell und auch bei Diem, stellte weiterhin den Ausgangspunkt für das weitere Leben der Kinder dar. „Unverändert behielt die Familie als Hort des sozialen und ökonomischen Kapitals ihre zentrale Bedeutung. Sie entschied über Sozialisation und Kompetenzerwerb, Ausbildung und Karriere, Startkapital und Marktkenntnis, Heirat und soziales Netzwerk mithin über jene zahlreichen strategisch wichtigen Vorbedingungen, die den Söhnen ihren Weg 73 74 75 76 Wehler, Bd. 3, S. 700. Wehler, Bd. 3, S. 703. Vgl. Wehler, Bd. 3, S.704. Wehler, Bd. 3, S. 708. 29 in die Berufswelt erleichterten.“77 Als Unternehmerfamilie gehörten die Diems zunächst zumindest zur unteren Schicht der kleinbürgerlichen Welt. Durch die gescheiterte Geschäftsexistenz des Vaters Diem und seiner Auswanderung rutschte die Familie in untere soziale Milieus ab. Dadurch verschlechterten sich die Eintrittschancen in höhere Berufsfelder aufgrund eines sozialen Status für Carl Diem, die er allerdings später durch Ehrgeiz, Diem zeichnete der Wille zur Aspiration aus, und Einsatz wett machte und wodurch er klassenübergreifend aufsteigen konnte. Obwohl Diem kein Abitur machte, erwarb er sich durch seine schulische Bildung eine gute Basis, auf deren Grundlage er seinen Aufstieg verwirklichen konnte. „Angesichts der verschärften Partizipationskrise erwiesen sich die vom Bildungssystem vermittelten kulturellen und politischen Teilhabechancen als folgenreich.“78 Diese Chancen erwarb Carl Diem sich zunächst in der Volksschule in Berlin. Da in den Städten, natürlich auch in Berlin, die sozialistischen und liberalen Tendenzen durch einen erhöhten Prozentsatz an Arbeitern und „Querdenkern“ verstärkt vorhanden waren, wurden „die allgemeinen bildungspolitischen Lernziele der Volksschule […] daher insbesondere auch mit dem Blick auf die Stadtbevölkerung formuliert. Die Erziehung zu Gehorsam, Demut, Opferbereitschaft, Bescheidenheit, Respekt vor dem Militär, Liebe zum angestammten Herrscherhaus, Bereitschaft zum Dienst für den monarchischen Staat – sie charakterisierten den ‚Tugendspiegel’, dessen Elemente die Schulkinder verinnerlichen sollten. Deshalb standen glorreiche Siege und Schlachten, ‚ruhmwürdige Vaterlandshelden und Staatsmänner’, Monarchen mit ihren Leistungen im Mittelpunkt.“79 Dieser Katalog von Haltungen entspricht zu großen Teilen dem, was Diem später selbst propagiert hat. Die in der Volksschule vermittelten Werte haben ihn also durch sein späteres Leben begleitet und auch seine Sicht auf den deutschen Sport geprägt. „Nach 1871 nahm die nationalistische Einfärbung des Unterrichts rasch zu, wie das im Charakter der ‚vaterländischen Erziehung’ in den Religions-, Sprachund Geschichtsstunden zutage trat. Die historischen Verdienste der Hohenzollerndynastie wurden ganz auf der Linie der borussischen Legende ebenso glorifiziert wie das Militär als ‚Wehrmacht’ der Nation. Seit der berüchtigten 77 78 79 Wehler, Bd. 3, S. 716. Wehler, Bd. 3, S. 1192. Wehler, Bd. 3, S. 1196. 30 kaiserlichen Ordre von 1889, die Volksschule noch konsequenter als bisher im Kampf gegen die ‚Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen’, gegen die ‚den göttlichen Geboten’ widersprechenden ‚Lehren der Sozialdemokratie’ einzusetzen, wurde die Instrumentalisierung des Unterrichts zugunsten des autoritären Staats noch einmal verschärft.“80 Da Carl Diem 1882 geboren wurde, hat er die verschärfte nationalistische Tendenz in der Schule erlebt. Auch für ihn galt später der Kommunismus als Hort des Schlechten und Undeutschen. Ebenso war er ein überzeugter Anhänger des Militärs, was sich in vielfältigen Vergleichen, die er in seinen Texten mit dem Militär bringt und in seiner Begeisterung, mit der er freiwillig in den Ersten Weltkrieg zog, widerspiegelt. Da von den zuständigen Stellen die Stadtschulen den Ausschlag für die Festsetzung des Tugendkatalogs gaben, war hier aus Sicht der Oberen erhöhter Handlungsbedarf gegeben, damit die Schüler nicht zu liberal, sondern eher antisozialistisch erzogen wurden. An den Stadtschulen gab es einen im Vergleich zu den ländlichen Gegenden hohen Einfluss von liberalen Lehrern und ebensolchen Eltern. „Zwar wirkte sich auch in den Stadtschulen eine mehr oder minder subtile Disziplinierung aus, aber es wurde doch auch durch die Anleitung zum Verstehen und Begreifen von Problemen die Eigenreflexion gefördert. Die städtische Volksschule war daher keine erfolgreiche Dressurfabrik für widerspruchslos gehorchende Untertanen, vielmehr eine Mischung von strenger Erziehungsanstalt und – auf längere Sicht – auch emanzipierender Institution.“81 Es wurde den Kindern also durchaus in einem gewissen Umfang ein reflektierter Blick auf die zu vermittelnden Dinge gewährt. Wahrscheinlich hat Diem der elterliche Beistand in diesem Punkt gefehlt, durch den auch ein reflektives Umgehen mit Sachverhalten gefördert werden kann. Gerade die im Elternhaus vermittelten Werte sind für ein Kind prägend. Diem, der immer bestrebt war seine Position zu verbessern, hat sicherlich durch die familiäre Situation Werte, wie z.B. aushalten, sich anstrengen gelernt. Hinzu kommt, dass durch die ehemalige bürgerliche Stellung der Familie auch jene Werte wichtig waren, die die Schule vermittelt sehen wollte.82 Diem war extrem 80 81 82 Wehler, Bd. 3, S.1196, 1197. Wehler, Bd. 3, S.1197. Dazu Buss/Nitsch, Carl Diem (1882-1962), S. 311: „Als Bürgersohn aus dem unteren Mittelstand des wilhelminischen Kaiserreichs ließ er sich von deutschnationalen Grundüberzeugungen mit autokratischen und militaristischen Tendenzen leiten.“ 31 ehrgeizig und aufstiegsorientiert und daher waren es die Werte der bürgerlichen Welt, die ihm als Ausrichtung dienten. Die Wertschätzung dieser Tugenden stieg in seiner weiteren Laufbahn an. Auf dem Gymnasium, das sich zwar für andere Schichten öffnete, dominierten dennoch die gehobenen bürgerlichen Schichten. So gesehen war es ein Privileg für Carl Diem, die höhere Schule zu besuchen. „Von hundert Schülern gingen auch nach der Jahrhundertwende durchschnittlich neunzig Prozent nur zur Volksschule, sechs bis sieben Prozent zu einer höheren Schule; zwei bis drei Prozent besuchten sie bis zur Oberprima und zum Abitur; in größeren Städten konnte der Anteil der höheren Schüler bis auf sechzehn bis siebzehn Prozent mit einer Steigerung der „Einjährigen“- und Abiturientenzahl hochklettern. […]; Berlin [kam; MB] auf zwölf Prozent höherer Schüler unter ihrer gesamten Schulpopulation.“83 Diese Differenzierung der Schulformen unterstützte auch das Anspruchsdenken der bürgerlichen Bevölkerung und damit auch das deren Kinder. „Das mittlere Bürgertum wurde durch diese Möglichkeit für die Ausbildung seiner Kinder sozial noch deutlicher vom Proletariat abgehoben.“84 Aufgrund der prozentualen Dominanz der bürgerlichen Kinder auf dem Gymnasium waren deren nationalistische Werte auch prägend für den Schulalltag. Wie in der Volksschule auch, wurde auf dem Gymnasium bzw. auf den höheren Schulen Geschichte als ein sehr wichtiges Schulfach angesehen. Hier wurde dann ebenfalls auf alte nationale Mythen und Erfolgsgeschichten mit nationaler Aussagekraft zurückgegriffen. „Im Geschichtsunterricht herrschte die Unterweisung in Alter Geschichte vor, nach 1871 rückten die deutsche Neuzeitgeschichte und der borussische Aufstiegsmythos weiter nach vorn. Bis zum Untergang des Kaiserreiches konnte sich jedoch die Verklärung der antiken griechischen Polis und der römischen Republik im Mittelpunkt behaupten.“85 Der Deutschunterricht wurde unter der Prämisse der Nationalität ebenso verändert. „Erst seit den sechziger Jahren kam die ‚Nationalliteratur’ im Deutschunterricht nach83 84 85 Wehler, Bd. 3, S.1200. Günther u.a., Geschichte der Erziehung, S. 361. Wehler, Bd. 3, S.1206. Neben dem Bezug auf die Antike und der Aufwertung der deutschen Geschichte sollten die Schulen auch die alten Machteliten wieder festigen und den Sozialismus schwächen. Dazu Günther u.a., Geschichte der Erziehung, S. 361/362: „Die Allgemeinen Bestimmungen sind in dieser Hinsicht [gegen proletarische Demokratie; MB] bereits Vorboten des dann mit dem Erlass Wilhelms II. vom 1. Mai 1889 zur offiziellen Doktrin der preußischen Schulpolitik erhobenen Prinzips gewesen, dass die Schule dem Kampf gegen die Sozialdemokratie zu dienen habe.“ 32 haltiger zur Geltung, führte aber alsbald zu einer öden Kanonisierung der Geistesheroen der „deutschen Klassik“. Diese beiden Fächer, Deutsch und Geschichte, standen im Mittelpunkt der Ausbildung. „Der neue Gymnasiallehrplan von 1892 wertete den Deutsch- und Geschichtsunterricht auf, verringerte die Griechisch- und Lateinstunden, gab dem Sport- und Turnunterricht sein Recht.“86 Für Carl Diem, auf den das neue Curriculum zutraf, war dies eine bedeutende Änderung. Als mäßiger Schüler in den Hauptfächern konnte er vor allem im Sport- bzw. Turnunterricht glänzen. So kam er erst überhaupt in Kontakt mit dem Sport, der sein späteres Leben bestimmen und ausfüllen sollte. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Volksschule und dem Gymnasium stellten die Lehrer dar. Waren sie in der Volksschule oft liberal eingestellt und der Sozialdemokratie gegenüber aufgeschlossen, so änderte sich dieses Bild an den höheren Schulen. „Vor 1914 standen daher die Lehrer an den höheren Schulen als eine konsolidierte, in den Staat fest integrierte, vorzüglich bezahlte, mit den Richtern und höheren Verwaltungsbeamten gleichgestellte, den Ratstitel genießende Berufsklasse von Unterrichtsbeamten da, die in den nationalen Verbänden und Parteien der ‚Sammlungspolitik’ besonders aktiv für den Imperialismus, den Schlachtflottenbau und die Germanisierungspolitik eintraten.“87 Hier wurden die nationalen Werte also nicht nur per Curriculum verordnet, sondern sie entsprachen im Wesentlichen den Wertvorstellungen der Lehrerschaft. Dies muss sich natürlich auch auf die Schüler ausgewirkt haben. Da die Entwicklungsjahre eines Menschen in der Jugendzeit weitaus prägender sind als in Kinderjahren, zumindest in Bezug auf die Übernahmen von Normen und Werten, ist es nur selbstverständlich, dass viele Schüler die Einstellungen übernahmen, die sie von den Lehrern gelehrt und auch vorgelebt bekamen. „So traten im wachsenden Maße […] im deutschen Schulwesen um die Jahrhundertwende antisozialistische, militaristische und nationalistische Werte hervor; die Kinder des Volkes wurden zu arbeitswilligen, staatsbejahenden Untertanen verbildet, die sich zu jedem Dienst – auch kriegerischem – für den aggressiven deutschen Imperialismus bereitfinden sollten.“88 Zu fragen ist, ob die Verinnerlichung dieser Werte auch für Carl Diem zutrifft. Die nationalistische Tendenz an den Universitäten, in den Bünden und Verbindungen belegt, dass die ehemali- 86 87 88 Wehler, Bd. 3, S. 1202. Wehler, Bd. 3, S. 1209. Günther u. a., Geschichte der Erziehung, S. 362/363. 33 gen Schüler diese Einstellungen übernommen haben und sie als Studenten weiterlebten. Carl Diem verließ das Gymnasium ohne Abitur, allerdings als sogenannter „Einjähriger“. Dies ermöglichte ihm einen einjährigen Aufenthalt beim Militär. Nach dem Abschluss seiner Lehre nutzte er diese Möglichkeit auch und meldete sich dort freiwillig. Wie oben bereits genannt, hatte das Militär ein enorm hohes Ansehen in der Bevölkerung, gestützt durch Kriegserfolge, und bildete so einen eigenen „Staat im Staat“. Dieser Dienst war, wie von großen Teilen der männlichen Bevölkerung89, ein großer Wunsch von ihm und so war er zunächst entsetzt, als er abgelehnt werden sollte. „Jedenfalls wollte mich der Stabsarzt des 2. Garderegiments zu Fuß wegen allgemeiner Körperschwäche ablehnen, und erst auf mein erschrockenes Gesicht hin, und weil ein „Einjähriger“ den Staat ja nichts kostete, hat er mich gnädig zugelassen.“90 Hier sah er genau die Werte bestätigt und gelebt, die er als wichtig empfand. Wäre Carl Diem nicht aufgrund seiner kaufmännisch ausgerichteten Ausbildung für nicht kriegsverwendungsfähig erklärt worden, wäre er länger als ein Jahr beim Militär geblieben. 2.2.3 Gesellschaftliche Tendenz zur Entstehung eines „Freizeitmarkts“ Aus dem Militär ausgeschieden, nutzte Diem den neu entstandenen Markt des Sports als Aufstiegsplattform. Im Folgenden sollen die neuen Tendenzen in der Gesellschaft zur Entstehung eines Freizeitmarkts nachgezeichnet und erläutert werden, um zu klären, wie der Aufstieg Diems zu einem führenden Sportfunktionär möglich war. Mit dem Sport entstand ein Phänomen, das den vorherrschenden Fortschritt in anderen gesellschaftlichen Bereichen als der Wirtschaft beschleunigte. „Der Sport wirkte als Motor der Modernisierung, indem er die Anpassung rückständiger Mentalitäten an die wirtschaftlichen Gegebenheiten beschleunigte.“91 Den Bürgern wurde durch die Teilhabe an einer modernen Erscheinung eine moderne Denkweise zuteil. Dennoch wurden Tendenzen der Gesellschaft auch auf das aufkommende Phänomen Sport übertragen. So wurde der Gedanke des 89 90 91 Doerry, Übergangsmenschen, S. 102: „Spätestens nach dem Deutsch-Französischen Krieg mit einem beispiellosen Ansehen ausgestattet, übte es [das Militär; MB] auf fast alle Wilhelminer eine enorme Anziehungskraft aus. […]; Unteroffiziere und Mannschaften rekrutierten sich aus Kleinbürgertum und Unterschichten, und nur die zumeist bürgerlichen Besitzer des Einjährig-Freiwilligen-Privilegs hatten Aussicht auf den Erwerb des als Statussymbol so begehrten Reserveoffizierspatents.“ Diem, Gedanken zur Sportgeschichte, 1965, S. 42. Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger, S. 231. 34 (Sozial-)Darwinismus in den Sport getragen, der allerdings trotzdem eine modernisierende Tendenz beibehielt. „Auf diese Weise [als Motor der Modernisierung; MB] wurde der Sportgedanke nicht nur mit ‚halbverdautem Darwinismus’ (Willy Hellpach) angereichert. Im Unterschied zu England, wo der Sport auch längerfristig ein sich selbst genügendes Vergnügen bleiben sollte, fügte er sich in Deutschland zugleich in den technischen und ökonomischen Fortschritt ein, so dass er unversehens programmatischen Charakter erhielt.“92 Zunächst war allerdings eine andere Bewegung modern, die dem Sport voraus ging. Es handelt sich um die Idee und Bewegung des Wandervogels, die in Berlin ihren Ursprung hatte. Aufgrund der Industrialisierung waren soziale Gefüge zerbrochen, so dass der Beginn dieser Bewegung auch als „die Suche nach ‚heilen’, umfassenden und menschlichen Sozialgebilden inmitten einer parzellierten gesellschaftlichen Zweckhaftigkeit“93 bezeichnet werden kann. Der „Wandervogel“ unterschied sich von allen anderen Jugendorganisationen darin, „als [dass; MB] er eine eigene jugendliche Subkultur mit eigenen Lebensformen und Zielvorstellungen entwickelte“94. Aus einer kleinen Gruppe Berliner Schüler, die Wanderungen95 unternahm, entfaltete sich nach und nach eine Organisation, die neben wochenendlichen Wanderungen auch Fahrten organisierte und die sich reichsweit zusammenschloss und eigene Strukturen, Normen und Werte definierte. „Die Mitglieder des Wandervogels kamen durchweg aus dem mittleren Bürgertum und hier vor allem aus dem Bildungsbürgertum.“96 Sie grenzten sich von der Gesellschaft der Erwachsenen ab und bauten eigene Strukturen auf, allerdings gelang ihnen eine Abgrenzung gegenüber den Erwachsenen nicht komplett, sondern sie orientierten sich doch wieder an alten Werten97. „Jene, die sich zunächst im Wandervogel, später dann in der Jugendbewegung organisierten, flohen aus den Zwängen der modernen Gesellschaft in die scheinbar unberührte Natur. Der Bruch mit den geltenden kulturellen Normen misslang, weil man sich vom idealistischen Weltbild der Väter nicht zu lösen 92 93 94 95 96 97 Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger, S. 232. Giesecke, Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, S. 13. Wehler, Bd. 3, S. 1099. Giesecke, Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, S. 18/19: „Nach den zeitgenössischen Schilderungen muß das Wandern bei den daran Beteiligten tiefe Eindrücke hinterlassen haben. Man entrann auf diese Weise den alltäglichen, sehr engen Sozialkontrollen und genoß das Gefühl persönlicher Freiheit.“ Giesecke, Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, S. 30. Aufmuth zitiert in Giesecke, Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, S. 27: „Das Wachstum der Wandervogelbewegung läuft parallel mit der Anpassung der Bewegung an die Erwartungen und Vorstellungen maßgeblicher Erwachsenengruppen.“ 35 vermochte.“98 Durch die Ablehnung der „formellen Organisation“ war ihre bündische Verfassung „durch ein hochpersonalisiertes Verhältnis von ‚Führer und Gefolgschaft’ bestimmt“99. Dieses Verhältnis ist ebenso ein sehr ausgeprägtes Merkmal des Sportbegriffs von Carl Diem geworden. Er war zunächst Anhänger der Monarchie und kaisertreu. „Für deutsche Verhältnisse schien mir die konstitutionelle Monarchie als die glücklichste Lösung, und ich habe immer voller Neid festgestellt, wie klug und besonnen die Engländer diese Staatsform zu gebrauchen wissen.“100 Dieses Zitat aus der Retrospektive zeigt, dass Diem die Monarchie durchgängig als beste Staatsform für Deutschland bzw. das Deutsche Reich sieht und ihr nachhängt. Auch in der Weimarer Republik stand er in den Reihen derer, die die Monarchie zurückforderten. In der Zeit des NS hinterfragte er die Führerpersönlichkeit nicht bzw. zog keine Konsequenzen und folgte bis zum Ende. Auch andere Ideale Carl Diems sind in der „Wandervogel“-Bewegung zu finden. Sie lehnte ebenso wie er die Demokratie ab101, wertete das Deutschtum deutlich auf, maß der Gemeinschaft einen großen Wert zu und die Mitglieder wähnten sich einer Elite zugehörig. „Durch ihre Volkstumsverklärung gerieten die ‚Bündischen’ in eine fatale Nähe zum völkischen Nationalismus, durch ihre Utopie vom ‚natürlichen Führertum’ und von der Elite des ‚neuen Menschen’ in die verhängnisvolle Nachbarschaft derjenigen politischen Theorie, wie sie insbesondere unter der ‚neuen Rechten’ der radikalnationalistischen Verbände im Schwange war.“102 Wie viele Bürgerliche, die, wie Carl Diem auch, nach 1918 die Demokratie als Staatsform ablehnten, war auch der „Wandervogel“ dem Nationalsozialismus erlegen. „Das Führer- und Gefolgschaftsprinzip, der Elitendünkel und die Demokratieverachtung, die Aufwertung des ‚Deutschtums’ und des ‚deutschen Volkstums’, das fehlende Verständnis für pragmatische Politik im Alltag, das vage Verlangen nach umfassender Veränderung, die Hoffnung auf den ‚neuen Menschen’ und die Früchte der Lebensreform – das alles hat viele Mitglieder der bündischen Jugend […] für den Nationalsozialismus anfällig gemacht. Von dieser Bewegung eines charismatischen ‚Führers’, der Gefolgschaft verlangte, die Partei der ‚Jungen’ repräsentierte, 98 99 100 101 Doerry, Übergangsmenschen, S. 26. Wehler, Bd. 3, S. 1100. Diem, Ein Leben für den Sport, 1974, S. 133. Doerry, Übergangsmenschen, S. 19: „Streng hierarchisch, und keineswegs demokratisch, war auch die Struktur dieser Verbände.“ 102 Wehler, Bd. 3, S. 1103. 36 den Sieg des ‚deutschen Volkstums’ prophezeite, das ‚Großdeutschland’ aller Deutschsprachigen anvisierte, den ‚Aufbruch der Nation’ und den ‚neuen Menschen’ verhieß, strahlte auch auf sie eine fatale Anziehungskraft aus. Damit war nicht von vornherein eine Billigung der totalitären Diktatur, des radikalen Antisemitismus, der Kriegspolitik verbunden, sehr wohl aber eine spezifische Wehrlosigkeit gegenüber dieser politischen Bewegung, die so viel von dem aufzugreifen schien, was den ‚Bündischen’ schon so lange als Ideal vorgeschwebt hatte.“ 103 Da die „Wandervogel“-Bewegung populär war bzw. groß geworden ist, bevor das deutsche Sportsystem unter Diem zu expandieren begann, stellt sich die Frage, ob die Werte der bündischen Jugend Carl Diem beeinflusst und geprägt haben. Die dargestellten Ideale des „Wandervogels“ spiegeln allerdings zeitgemäße Werte wider. Ähnliche Werte wie sie im Zusammenhang mit der Jugendorganisation „Wandervogel“ zu finden sind, lassen sich auch in den Turn- und Sportvereinen der Zeit, Diem war seit seiner Jugendzeit Mitglied in Vereinen, erkennen. Im Gegensatz zum „Wandervogel“ zeichneten sich die Turn- und Sportvereine im Kaiserreich durch ein überwiegend erwachsenes Publikum aus. Die Mitglieder stammten allerdings aus den gleichen Schichten wie die des „Wandervogels“, aus bürgerlichen und bürgernahen, so dass eine Ähnlichkeit der Werte in diesen beiden Organisationen durchaus nicht verwunderlich ist. Deren Einfluss auf das Sportverständnis Diems wird zu untersuchen sein. 2.2.3.1 Berufsweg Diems in Beziehung zum sich entwickelnden „Freizeitmarkt“ In der Freizeit widmete sich Carl Diem dem Sport, im Beruf erfüllte ihn seine Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter nicht bzw. war ihm eher verhasst, daher versuchte er sich weiter zu bilden. Er hatte kein Abitur gemacht und konnte aufgrund dieser Tatsache auch nicht als ordentlicher Student die Universität besuchen. Es blieb ihm allerdings die Möglichkeit, sich mit der sogenannten „kleinen Matrikel“ an der Hochschule einzuschreiben und als Gasthörer Veranstaltungen zu besuchen. Von dieser Option machte er Gebrauch und besuchte die philosophische Fakultät an der Universität Berlin. Hier fanden die bürgerlichen Werte des Gymnasiums eine Fortsetzung, da ein Großteil der Studenten aus dem Bürgertum und von ihnen wiederum eine hohe Anzahl aus dem Bildungsbürgertum stammte. „An denjenigen Universitäten, die vom Bil- 103 Wehler, Bd. 3, S. 1104. 37 dungsbürgertum traditionell bevorzugt wurden, wie etwa Berlin und Leipzig, Bonn und Tübingen, behauptete es [das Bildungsbürgertum; MB] mit gewissen Schwankungen im Grunde in einem erstaunlichen Maße bis 1914 einen Anteil von fast einem Drittel aller Studenten.“104 Auch aufgrund der vielen bürgerlichen studentischen Verbindungen ist davon auszugehen, dass die Werte der Studenten, an denen sie sich orientierten, denen gleich waren, die sie in ihrem Elternhaus kennen gelernt haben. Die politische Orientierung der Verbindungen spricht auch dafür. Die zentralen Werte in den schlagenden Verbindungen, den Burschen- und Turnerschaften sind sehr ähnlich. Sie orientierten sich an den bürgerlichen Idealwerten. Die Mitglieder trugen sehr deutlich durch Mensur zur Schau, dass sie einem elitären Zirkel angehörten. In ihren Ansichten waren die Mitglieder studentischer Verbindungen, ob Korps, Turner- oder Burschenschaft oft sehr extrem, unter anderem war der Antisemitismus weit verbreitet, und schlossen Minderheiten aus ihrem Kreis aus. „Übrigens schlossen die Korps generell seit den achtziger Jahren, die Burschenschaften seit 1896 jüdische Mitglieder aus. […] So viele unabhängige, freie Köpfe oder passive ‚Brotstudenten’ es auch geben mochte – es sollte sich als fatal erweisen, in welchem Ausmaß viele Studenten dem Radikalnationalismus und Antisemitismus, dem Imperialismus und Antisozialismus anhingen.“105 Die Chance für Carl Diem, seinen ungeliebten Beruf als kaufmännischer Angestellter zu verlassen und sich ganz seiner Leidenschaft, dem Sport zu widmen und daraus einen Beruf zu machen, mit dem er sowohl seine Existenz sichern als auch seine Aufstiegschancen innerhalb der Gesellschaft erhöhen konnte, ergab sich zunächst aus dem Aufschwung der Presse, der aus dem zunehmend größer werdenden Leserkreis resultierte. „Mit dem Wachstum der Bevölkerung und der Urbanisierung dehnte sich die Masse der wichtigsten Adressaten: das städtische Lesepublikum, in einem ungeahnte Umfang aus. Die Nachfrage nach Unterhaltung und Information schnellte hoch, und sie wurde marktkonform befriedigt. Das Angebot passte sich mit einer Diversifizierung den Käuferwünschen an.“106 Da auch der Sport einen immer wichtiger werdenden Stellenwert in der Unterhaltung bzw. in der Gesellschaft insgesamt bekam, 104 Wehler, Bd. 3, S. 1213. 105 Wehler, Bd. 3, S. 1217. 106 Wehler, Bd. 3, S. 1232. 38 richteten die Zeitungen Sportseiten ein und so kam auch Diem in die glückliche Lage, als Sportreporter bei einer Zeitung tätig zu werden. Als Schüler war er bereits als Sportjournalist tätig. Auch wenn er diese Tätigkeit zunächst nur als Hobby betrieb, eröffnete sie ihm weitergehende Möglichkeiten im Sport. 1906 erhielt er die Chance, als Berichterstatter an den Olympischen Zwischenspielen in Athen teilzunehmen. So konnte er zum einen seinen ungeliebten Beruf als Kaufmann verlassen, und zum anderen sich im Sport etablieren.107 Diems Olympia-Berichte gefielen, so dass er nach seiner Rückkehr bei der gerade auf den Markt gekommenen Allgemeinen Sportzeitung des Magdeburger Fabrikanten Louis Stein für 150, kurz darauf für 200 Mark monatlich fest angestellt wurde. 1907 wechselte Diem dann, mit dem Ruf eines fachgerechten Redakteurs zum Scherl-Verlag. Die Zeitungen, in denen er Berichte über aktuelle Sportereignisse Themen des Sports veröffentlichte, waren ‚Sport im Bild’, ‚Sport im Wort’ und der ‚Berliner Lokalanzeiger’. Neben der journalistischen Tätigkeit besuchte er Vorlesungen an der Universität und der Handelshochschule. Die neu entstandenen Zeitungen boten an politischen Meinungen eine breite Palette. Es war keineswegs so, dass bürgerlich nationalistische Zeitungen den Markt dominierten und die Leser zu beeinflussen suchten. Im Gegenteil gab es eher ein Übergewicht an liberal orientierter Presse. „Es wäre falsch, mit dem autoritären politischen System des Kaiserreichs die Hegemonie einer konservativen öffentlichen Meinung zu verbinden. Im Gegenteil, der Vorrang der liberalen Presse konnte trotz aller verbissenen Anstrengungen der Gegenseite nicht beseitigt werden. Die parteipolitischen konservativen Blätter blieben sogar immer eine Minderheit mit einer relativ geringen Ausstrahlung, einer geringen Auflagenhöhe, einem geringen Publikum.“108 Die Wirkung der liberalen Presse auf die radikalen Tendenzen im Kaiserreich blieb allerdings sehr begrenzt und eher schwach. „Während ein radikaler Nationalismus und rabiater Militarismus zunehmend Anhänger gewannen, kam die konservative Presse über den zweiten Rang nicht hinaus. Dagegen blieb im Vergleich mit ihr die liberale Presse kräftiger, konnte aber die verhängnisvollen Tendenzen der Zeit dennoch nicht wirkungsvoll genug eindämmen. Sie nutzte das konstitutionell verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit energisch aus, vermochte jedoch machtvolle Ideologien 107 Vgl. Buss/Nitsch, Carl Diem (1882-1962), S. 308. 108 Wehler, Bd. 3, S. 1243. 39 nicht zu zähmen, geschweige denn folgenreiche Entscheidungsprozesse des Machtkartells zu beeinflussen. Vor der Bastion des Herrschaftssystems erfuhr der liberale Protest letztlich seine politische Ohnmacht.“109 Es stand also jedem Bürger frei, sich zu informieren und dies auch von allen politischen Blickwinkeln aus. Trotzdem gewannen Werte wie Demokratie und Liberalismus keinen so großen Einfluss, als dass sie in den entscheidenden Schichten einen Wertewandel hervorrufen konnten. In der bürgerlichen Welt blieben die traditionellen Werte bestehen und wurden zur Abgrenzung von und aus Angst vor „unteren“ Schichten sogar noch radikalisiert. Durch seine Arbeit für Zeitungen war Diem ab 1906 einer der führenden Sportjournalisten und gewann somit Zugang zu den bildungsbürgerlichen Schichten. Später als Sportfunktionär konnte Diem seine Stellung in dieser elitären Schicht festigen. Dort waren, wie oben dargestellt, nationalistische und militaristische Einstellungen sehr verankert, so dass Carl Diem die ihm wichtigen Werte dort festigen konnte. Er orientierte sich bei seinem Weg in das Bildungsbürgertum an den Werten, die die erfolgreiche Schicht repräsentierte. Liberal und sozialdemokratisch Eingestellte fanden sich zumeist auf den unteren Stufen der Erfolgsleiter wieder und die wollte Carl Diem mit seinem ehrgeizigen Streben auf jeden Fall hinter sich lassen. 2.2.4 Zusammenfassender Überblick Durch die in der Gesellschaft und vor allem in den Institutionen herrschenden Werte sowie durch die sozioökonomischen Bedingungen des Kaiserreichs wurde Diem geprägt. Zudem waren es seine individuellen Entscheidungen vor diesem Hintergrund, die ihn in eine bestimmte Richtung führten und ihn formten. Er erfuhr die Militärzeit als eine der schönsten Zeiten seines Lebens, so dass es nicht verwundert, wenn er sich auch nachfolgend an diesen Werten orientierte. Als „Unternehmerfamilie“ waren die Diems zunächst tendenziell der kleinbürgerlichen Schicht zugehörig. Nach dem Weggang des Vaters, der für ein Kind sicherlich ein traumatisches Erlebnis darstellt und die individuelle Entwicklung durchaus beeinflusst, rutschten sie sozial ab. Diese Tatsache verhinderte aber nicht die bürgerliche Sozialisation Diems. Diesen Status galt es für Diem wieder zu erlangen, so dass er mit allem Ehrgeiz an seinem beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg arbeitete. 109 Wehler, Bd. 3, S. 1249. 40 Er war ein Kind seiner Zeit, das sich am Erfolg bzw. den Normen und Werten des Erfolgs ausrichtete und sie sehr enthusiastisch übernahm. „Schul- und Militärzeit festigten die angelegte Autoritätsfixierung und förderten die Übernahme traditioneller Leitbilder.“110 In seiner Kinder- und Jugendzeit erfuhr er zu Hause eine Aufstiegsorientierung der Eltern, die durch den Konkurs des Vaters zunichte gemacht wurde.111 Auch Diem wollte aufsteigen. Zunächst schien es jedoch, als gelänge ihm dies nicht. Das Gymnasium verließ er mit dem sogenannten „Einjährigen“, was heute in etwa dem Realschulabschluss entspricht. „An der Berliner Universität konnte er sich daher später während seiner Commis-Zeit, der Zeit einer Art von Bildungshunger, nur mit der ‚Kleinen Matrikel’ einschreiben. Ein Hochschulabschluss blieb ihm ebenso wie das Abitur verwehrt.“112 Als Weg um die gewünschte Anerkennung doch zu bekommen und einen gesellschaftlichen Aufstieg zu erreichen, versuchte Diem im Militär Fuß zu fassen.113 „Doch auch dieses Modell war bald blockiert: Als Reserveoffiziersanwärter wurde er wegen seines kaufmännischen Berufs nicht angenommen.“114 Damit waren ihm Aufstiegsmöglichkeiten in zwei Systemen verwehrt, die ihm wichtig waren, zum einen in der Bildung und zum anderen beim Militär. Seine Hinwendung zum Sport brachte ihn dann allerdings doch dazu, das gesellschaftliche Emporkommen zu bewirken. „Diem hatte schnell erkannt, dass der Sport ihm Entwicklungsmöglichkeiten bot, aus der tristen, kleinbürgerlichen Laufbahn eines angestellten Kaufmanns herauszukommen und den erhofften Aufstieg zu realisieren.“115 Der Sport war noch nicht institutionalisiert, so dass Diem in einem ganz neuen Feld zu arbeiten begann. Er hatte sich die Kenntnisse über Vereins- und Verbandswesen autodidaktisch angeeignet, durch Gründung von Vereinen, dem Berliner Athletikverband und der Organisation von Sportveranstaltungen wie dem Staffellauf Potsdam – Berlin, um nur einige Tätigkeiten zu nennen. Durch den Aufstieg in die110 Doerry, Übergangsmenschen, S. 102. 111 Doerry, Übergangsmenschen, S. 102: „Die wirtschaftliche Gefährdung und soziale Verunsicherung weiter Bevölkerungskreise – im Elternhaus oder zu Beginn des eigenen Berufslebens erfahren – belebte die aggressiven Muster, unterstützt noch durch die militärische Sozialisation.“ 112 Pfeiffer, Carl Diem: Körpererziehung bei Goethe, S. 1. 113 Pfeiffer, Carl Diem: Körpererziehung bei Goethe, S. 1/2: „Die erfahrungs-, ja für Diem wohl genussintensive Mischung aus physischer Leistung, sozialer Disziplin und Anerkennung mag ein prägendes Gegenmodell zur Labilität und den enttäuschenden, wenn auch vielleicht psychisch abhärtenden Entbehrungen des vorhergehenden Lebens eröffnet haben.“ 114 Pfeiffer, Carl Diem: Körpererziehung bei Goethe, S. 2. 115 Buss/Nitsch, Carl Diem (1882-1962), S. 308/309. 41 sem sich durch gesellschaftliche Tendenzen entwickelnden Feld gelang es ihm auch wieder Einfluss auf die beiden Systeme zu nehmen, in denen er gescheitert war. Von großem Ehrgeiz getrieben veröffentlichte Diem viele Texte zum Sport, die u.a. Einfluss in die Lehre der ersten Hochschule für Leibesübungen in Berlin fanden, zu deren Gründern Diem zählte und die er von 1920 bis 1933 als Prorektor mit leitete. Für das Militär wurde Diem insofern wichtiger, als dass er in verschiedenen Publikationen die positive Wirkung des Sports auf den Soldaten darlegte und damit die positive Wirkung zur Wehrertüchtigung zeigte. Innerhalb der Tätigkeit für den Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen unternahm er dann auch als Leiter des Gaues Ausland einige Reisen zu den deutschen Truppen, um sie während des Zweiten Weltkriegs durch Reden zu unterstützen bzw. sie zu motivieren. Diem hat es also durch den Sport und dessen gerade erst beginnende Institutionalisierung erreicht, den angestrebten Aufstieg in der Gesellschaft zu realisieren. Als Sportfunktionär war er bald ein angesehener und international bekannter Mann. Der Sport war Diems Leben, er war leidenschaftlicher Sportler und ihm lag die Verbreitung des Sports am Herzen. Allerdings war er für ihn auch ein Mittel, um die von ihm angestrebte gesellschaftliche Beförderung zu realisieren. Durch seine Stellung im Sport war es ihm dann auch wieder möglich, auf die beiden Systeme Einfluss zu nehmen, in denen er gescheitert war, die ihm aber nach wie vor sehr wichtig waren. „Ein ähnliches [von kommerziellen Interessen geleitetes, MB] Kalkül verriet die 1912 veröffentlichte Begründung des Berufsfunktionärs und Journalisten Carl Diem für seine Initiative, ein Sportabzeichen einzuführen, das ‚als regelrechter Orden auf dem Waffenrock wie auf dem Frack’ getragen werden könnte: Beim Militär wird dem Besitzer der Medaille ein gewisses Vertrauen entgegengebracht werden, der Arbeitgeber, der Bürochef wird bei der Anstellung dem körperlich rüstigen den Vorzug geben, und ‚Sie’ wird ganz bestimmt ihr Lockenköpfchen lieber an die sportordengeschmückte Jünglingsbrust als an ein paar kümmerliche Rippen legen.“116 Die Prägungen, die Diem während des Aufwachsens und im weiteren Leben erhielt, werden in seinen Schriften gezeigt und erläutert. 116 Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger, S. 247. 42 3 Kulturpessimistische Grundhaltung Diems als Konstante seines Denkens 3.1 Skizzierung des Kulturpessimismus als Phänomen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Der Begriff Kulturpessimismus war ursprünglich auf die Kultur als Gesellschaftsordnung bezogen und sollte einen Gegenpol zum Fortschrittsglauben und dem Kulturoptimismus beschreiben. Er stellt jedoch auch die Ansichten, Einstellungen und Orientierungen einer bürgerlichen Schicht in Deutschland dar, die massive Kritik an Fortschritt und Materialismus übt, in einer Zeit, Mitte bis Ende des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert, die geprägt ist durch Verstädterung, technischen Fortschritt und zunehmenden Materialismus (siehe Kapitel 2.2). Diese bürgerliche Schicht, im speziellen das Bildungsbürgertum, sieht sich durch die Industrialisierung bedroht und benachteiligt. „Das akademisch gebildete Bürgertum, einst in der Offensive gegen die alten herrschenden Schichten, dann zu einer gewissen Mitherrschaft mit ihnen vereinigt und zum Teil verschmolzen, fühlte sich nunmehr in der Defensive gegenüber allen denjenigen Schichten, die durch den Übergang von Agrar- zu Industriestaat entstanden sind.“117 Es entsteht „der neue kulturelle Typ des entfremdeten Intellektuellen in der modernen Welt“118. Durch die entstandene Unsicherheit in der Gesellschaft setzt eine „Suche nach neuer kultureller Stabilisierung, nach neuer Sinnstiftung, nach neuem Religionsersatz ein“119. Die Orientierung dieser Suche ist keineswegs zukunftsgerichtet, sondern sehr vergangenheitsorientiert. Daher nennt man diesen Versuch, alte Traditionen wiederaufleben zu lassen, auch die „konservative Revolution“. Dies bezeichnet „den ideologischen Angriff auf die Modernität, auf den ganzen Komplex von Ideen und Einrichtungen, in dem sich unsere liberale, weltliche, industrielle Zivilisation verkörpert“120. Alte Normen und Werte sollen wieder eingeführt werden und an Gewicht gewinnen. „Durchweg ging es um eine schwärmerisch verklärte Rückbesinnung auf gefährdete natio- 117 Meinecke zitiert in Wehler, Bd. 3, S. 745. Dazu auch Giesecke, Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, S. 13: „Je mehr der Status dieser Gruppe [Bildungsbürgertum; MB] gefährdet war, um so nachhaltiger bezog sie ihr Selbstbewusstsein aus dem Geist der Bildung und aus der Verachtung des schnöden Mammon und der kalten Technik.“ 118 Westfr, Krisen und Kulturpessimismus am Ende des 19. Jahrhunderts, www.westfr.de/nsliteratur/kulturpessimismus.htm, Zugriff am 15.10.2007. 119 Wehler, Bd. 3, S. 745. 120 Stern, Kulturpessimismus, S. 8. 43 nale Kulturwerte.“121 Da diese aber so kostbar sind, dürfen sie nicht fallengelassen werden. Mit diesen hohen Werten wurde zudem auch der Anspruch auf den Imperialismus begründet. „Die volkstümliche Begründung eines deutschen Weltherrschaftsanspruchs berief sich stets auf die Überlegenheit der deutschen Kultur.“122 Die Kritik der Mitglieder der in dieser Absicht gegründeten Verbände und Bünde, wie z.B. Dürerbund, Wagner-Vereine, Bündische Jugend, richtet sich u.a. gegen das Bildungssystem, das die Schüler nur auf geistiger Ebene anspricht, gegen die Entfernung des Menschen von der Natur, gegen den Materialismus und den daraus entstandenen Wohlstand123 sowie gegen den technischen Fortschritt, in dem der Arbeiter degradiert würde. Zudem gibt es durchaus auch militante Verbände, wie z.B. den Hammer-Bund, der in seiner Ausrichtung antisemitisch ist und das „deutsche“ Leben insgesamt bedroht sieht. Allen Vereinen, Verbänden und Bünden gemein ist die nationalistische Ausrichtung ihrer Positionen. Es soll im Folgenden auf die zwei „Kritiker der kulturellen Krise“124, Paul de Lagarde und Julius Langbehn, eingegangen werden, da sie diese Strömung wesentlich beeinflussten. Mit dieser Zugriffsweise können Hauptmerkmale des Kulturpessimismus verdeutlicht werden. Die Gliederung berücksichtigt in diesem Kapitel dieselben Gesichtspunkte wie im folgenden Kapitel, das sich unter diesem Fokus den Texten Diems widmet. Die Hauptkritikpunkte des Kulturpessimismus bilden jeweils die Unterpunkte in den beiden Kapiteln. Wie weit diese Aspekte des Kulturpessimismus Niederschlag bei Diem gefunden haben, wird im Anschluss an das folgende Kapitel gezeigt. 121 Wehler, Bd. 3, S. 747. Siehe auch Westfr, Krisen und Kulturpessimismus am Ende des 19. Jahrhunderts, www.westfr.de/ns-literatur/kulturpessimismus.htm, Zugriff am 15.10.2007: „Mit ihrem Kampf gegen die Großstadt und ihren Bemühungen um eine ständisch gegliederte Volksgemeinschaft tritt sie [die Heimatkunst; MB] ‚in aller Schärfe für eine durchgreifende Restaurierung der vorindustriellen Zustände ein’.“ 122 Stern, Kulturpessimismus, S. 209. 123 Dazu Giesecke, Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, S. 15: „Hinzu komme [laut Friederich Paulsen] ‚das im letzten Menschenalter gesteigerte Wohlleben’. Es hat in den oberen Schichten der Gesellschaft, und nicht hier allein, zu einer Verweichlichung auch der Jugenderziehung geführt, die mit einer Willensschwäche gebüßt wird, gebüßt von den so Erzogenen.“ 124 Stern, Kulturpessimismus, S. 1. 44 3.1.1 Kritik an der Moderne Vor allem moderne Lebensformen stehen im Zentrum der Kulturkritik, „Großstadt wird zum Zentrum aller ablehnenswerten Erscheinungsformen der modernen Industriegesellschaft“.125 Langbehn formuliert in seinem Buch „Rembrandt als Erzieher“ folgendermaßen: „So gibt es auch einen ‚Teufel der Deutschen’; er wohnt im modernen Paris und kehrt gern in Berlin ein.“126 Dieser Ausspruch beinhaltet drei Kritikpunkte. Zunächst richtet sich die Kritik gegen jegliches Moderne allgemein und im Weiteren gegen die Großstädte, die als Zentrum dieser verachtenswerten Modernisierungstendenzen angesehen werden. Darüber hinaus richtet sich die Aussage gegen Frankreich und die Franzosen, die seit jeher als Feinde der Deutschen gesehen und damit auch mit negativen Attributen belegt werden. Der durch die Industrialisierung zunehmend gestiegene Wohlstand und der dadurch entstandene Materialismus sind Erscheinungen, die den Prozess der positiven Entwicklung des deutschen Volks stören. „Lagarde glaubte, dass das deutsche Wesen im Materialismus untergehen werde, denn nur Widrigkeiten brächten den Menschen vorwärts, nur im beständigen Kampf könne er wachsen.“127 Diese Lebenshaltung sollte nach dem Ersten Weltkrieg wiederkehren. Ein anderer Vertreter der Kulturkritik ist der oben zitierte Julius Langbehn, der, schon von Lagarde beeinflusst, dessen Gedanken weiterführt. „Mit einem Konglomerat historischer Skizzen und exotischer Interpretationen deutscher ‚Kulturschöpfungen’ verfolgte er sein Ziel, eine ‚praktische Philosophie’ zur Orientierung in der deutschen Gegenwart zu bieten.“128 Seine Veröffentlichungen gelten „als vollendeter Ausdruck der pessimistischen Kulturkritik als auch eines beschwörenden Appells zur nationalromantischen Kulturerneuerung“129. Durch das erste Buch Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ versucht der Autor mittels Rembrandt, der als Idealtyp des angestrebten Menschen dargestellt wird, erzieherisch gegen den Missstand130 zu wirken. „Rembrandt sollte den Weg zu einer Wiederherstellung aller lebensbejahenden Werte für Mensch und Gesell125 Westfr, Krisen und Kulturpessimismus am Ende des 19. Jahrhunderts, www.westfr.de/nsliteratur/kulturpessimismus.htm, Zugriff am 15.10.2007. 126 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 380. 127 Stern, Kulturpessimismus, S. 60. 128 Wehler, Bd. 3, S. 748. 129 Wehler, Bd. 3, S. 748. 130 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 45: „Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimnis geworden, dass das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, einige meinen auch des rapiden Verfalls befindet.“ 45 schaft aufzeigen: diese Werte waren Einfachheit, Natürlichkeit und Intuition.“131 Die Grundlage einer solchen Erziehung bzw. ihrer Notwendigkeit sieht Langbehn, der dies im Buch durch das Beispiel Rembrandt verkündet, in eben der modernen Welt, die dem Menschen mehr schadet als nützt. „Keinen Zweifel ließ der ‚Rembrandtdeutsche’ an der Tatsache, dass er die Revolution von 1848 und jede Form von Fortschrittsglauben oder demokratischer Partizipation ablehnte.“132 Auch an der Wissenschaft gibt es Kritik. „Das Gefühl für den direkten Zusammenhang der einzelnen und einzelnsten natürlichen wie menschlichen Erscheinungen mit dem großen und einheitlich ausstrahlenden Weltganzen ist der heutigen Wissenschaft durchgängig verloren gegangen.“133 Diese Kritik findet sich häufig auch an modernen Arbeitsprozessen. Der einzelne Arbeiter ist nur noch Teil des Ganzen, sieht den Arbeitsprozess nicht mehr als Gesamtes und wird dadurch degradiert. Allerdings ist diese Kritik am modernen Arbeitsprozess nicht gleichzusetzen mit der Kritik der Sozialisten bzw. Kommunisten. Die Kulturkritiker grenzen sich von den politisch linken Strömungen deutlich ab und sind dem national-konservativem Lager zuzuordnen. 3.1.2 Vergeistigung der Gesellschaft – Kritik am Bildungssystem „Der Geist der deutschen Bildung kann erst wieder lebendig werden, wenn er wieder deutsches Blut in sich aufnimmt.“134 Dies ist ein weiterer Aspekt des Kulturpessimismus: die Kritik am Bildungs- bzw. Schulsystem. Die Lösung, die Langbehn fordert, liegt in der Ausmerzung alles Fremden. Auch Lagarde bietet hier ein anschauliches Beispiel für die allgemeine Meinung. „Der Reformator […] wetterte gegen die Schulen, aus denen nur seelenlose Roboter hervorgingen, von armseligen Lehrern angeleitet, durch falsches Wissen verdorben, auf ein falsches Leben vorbereitet.“135 Der Pädagoge Friedrich Paulsen vertritt nach dem Tot von Lagarde eine ähnliche Meinung. Mit Bezug auf Lagarde schreibt er: „Drei Dinge sind der Ertrag unserer Bildung: schlechte Augen, gähnender Ekel vor allem, was war und die Unfähigkeit zur Zukunft.“136 Das Bildungssystem ist also nicht fähig, die Schüler zu einer Per- 131 132 133 134 135 136 Stern, Kulturpessimismus, S. 169. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 297. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 113. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 317. Stern, Kulturpessimismus, S. 115. Paulsen zitiert in Sieg, Deutschlands Prophet, S. 310. 46 sönlichkeit zu erziehen, die stolz auf die Geschichte und in der Lage sind, die neue Zukunft des Deutschen Reichs zu gestalten. Zusammenfassend schreibt Stern: „Sich auf Lagarde zu berufen bedeutete in jenen Jahren, patriotischen Idealismus zu bekunden, Hass auf alles Undeutsche, Volksfremde zu beweisen, die positiven irrationalen, schöpferischen Kräfte der Kultur gegenüber der Verneinung und dem Materialismus eines bloßen Intellektualismus zu verteidigen.“137 Die Kritik am deutschen Bildungssystem, festgemacht am Intellektualismus, ist ebenso eine Kritik an der Lernschule des Herbatianismus138. Diese rein auf kognitives Lernen ausgerichtete Auffassung von Schule fördere den Intellektualismus und bilde die Schüler nur einseitig aus, so dass sie zu Taten und Handlungen nicht mehr im Stande sind. Auch eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff fehlt in dieser Schulform, so dass Schüler nicht zu einer reflexiven Beschäftigung mit Themen angeleitet werden. Zur Bildung äußert Langbehn sich in ähnlicher Weise wie Lagarde und kritisiert die Art des Unterrichts und die Inhalte. „Die eigentliche Gefahr für Deutschland sei eine überzüchtete Bildung, neben der Gesundheit und körperliche Ertüchtigung vernachlässigt würden. Charakter und Widerstandskraft, die sich im Kampf mit der Natur gebildet hätten, würden die Jugend lebenstauglicher machen als Bücherwissen.“139 Langbehn schließt sich damit der weit verbreiteten Kritik gegen den Intellektualismus an. Er fordert die Einbeziehung des ganzen Menschen am Erziehungs- und Bildungsprozess. „Aber es ist ein Zeichen von sittlicher wie geistiger Altersschwäche, wenn der Kopf das Herz ignorieren will.“140 137 Stern, Kulturpessimismus, S. 128. 138 Günther u.a., Geschichte der Erziehung, S. 378: „Zweifellos war es ein Verdienst der Herbartianer, dass sie den Unterrichtsprozess sorgsam durchdacht und gegliedert haben. Aber durch das einseitige Bemühen, möglichst jede Unterrichtsstunde oder zumindest jede Unterrichtseinheit nach dem Schema der formalen Stufen ablaufen zu lassen, kam es zu einer Erstarrung des Unterrichts besonders in der deutschen Volksschule. Der Schematismus und Formalismus des Unterrichts hemmte die Initiative des Lehrers sowie die Entwicklung der kindlichen Fähigkeiten und behinderte die selbständige Auseinandersetzung der Schüler mit dem Unterrichtsstoff.“ 139 Stern, Kulturpessimismus, S. 181. 140 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 120. Und S. 265: „In der Tat ist etwas Hohles in der preußischen Geistesbildung; sie hat sich mehr von außen nach innen, als von innen nach außen entwickelt.“ 47 3.1.3 Führerglaube Den Weg zu einer Vormachstellung sollen Menschen gestalten, die dazu auserkoren sind, anderen diesen Weg zu weisen. Diese Tendenz zu einem Ruf nach Führern ist ebenfalls typisch für Vertreter des Kulturpessimismus. Mit Besinnung auf eine Organisation, die durch einen Führer und eine Gefolgschaft geprägt ist, soll dann ebenfalls die, nach Meinung der genannten Kulturkritiker, dem deutschen Volk bestimmte Aufgabe erfüllt werden. Diese soll, für Lagarde und Anhänger „in der Kolonisierung Mitteleuropas“141 gipfeln. Der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, fordert in einer unter einem Pseudonym verfassten Streitschrift „Wenn ich Kaiser wär’“ eine kulturell und rassisch homogene Nation. „Im Geiste Lagardes ersehnte er einen starken Führer, hinter dem sich die Elite des Volkes sammeln solle.“142 Auch Langbehn widmet sich den Fragen der Suche nach einem Führer. Imperialismus des deutschen Reichs und Bildung sind Antworten von Langbehn, da diese die Suche nach einem Führer unterstützen. Er sieht die Monarchie mit einem Führer als die Staatsform des Deutschen Volks an, die passend und für Staat und Bürger am sinnvollsten ist. „Der monarchische Beruf des deutschen Volkes wird durch das Wort Volk – folk – selbst ausgedrückt; denn dieses bedeutet ursprünglich Gefolge; zu einem Gefolge aber gehört notwendig ein Führer.“143 Die Berufung des Deutschen Volkes ist es demnach, einem Führer zu folgen. Auch war er Vertreter der verbreiteten Meinung, dass dem Deutschen Reich die Herrschaft über andere Völker gehöre. Er geht soweit, die Weltherrschaft zu beanspruchen: „‚Der Beste soll Herr sein’ auch unter den Völkern – daher ist der Deutsche zur Weltherrschaft berufen.“144 3.1.4 Deutsche Kultur Lagarde „war Patriot, und doch wetterte er unaufhörlich gegen den sittlichen Verfall des deutschen Volkes und verkündete dessen Untergang. […] die große Leidenschaft seines Lebens war es, eine neue Gemeinschaft, eine glaubens141 Stern, Kulturpessimismus, S. 61. Darüber hinaus Stern, Kulturpessimismus, S. 94: „Deutschlands Sendung, so verkündete Lagarde, war die Kolonisierung aller nichtdeutschen Länder innerhalb der österreichischen Monarchie.“ Und Stern, Kulturpessimismus, S. 106: „Von der Jahrhundertmitte an war er ein eifriger Imperialist und behauptete, die Kolonisierung des Ostens sei die gottgewollte Aufgabe.“ 142 Sieg, Deutschlands Prophet, S. 315. 143 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 175. 144 Langbehn zitiert in Stern, Kulturpessimismus, S. 209. 48 treue deutsche Nation zu finden.“145 Darüber hinaus soll durch diese Gemeinschaft erreicht werden, den Glauben daran zu festigen, dass dem Deutschen Reich eine entscheidende Rolle in der Weltpolitik146 zusteht und es damit auch der Erlösung der Menschheit dienen soll. „Lagarde [war; MB] davon überzeugt, dass dem deutschen Volk eine besondere metaphysische Aufgabe bei der Erlösung der Menschheit zukomme“.147 Diese Aufgabe ist dem Deutschen Volk quasi vorbestimmt, und damit trifft er den Nerv der Zeit. Auch die steigende Zahl der Antisemiten Ende des 19. Jahrhunderts bedient sich seiner Aussagen über eine erhöhte Stellung des Deutschen Reichs. „Seine vehemente Staatskritik stieß bei den Antisemiten ebenso sehr auf Gegenliebe wie seine Überhöhung des deutschen Volks.“148 Es sind also nicht nur die ausgewiesenen Kulturkritiker und -pessimisten, die sich der Kulturkritik und dem Kulturpessimismus anschließen, sondern diese Auffassung gibt auch den extremen Gruppen Argumente, ihre z.B. judenfeindliche Propaganda auszudehnen. Damit die neue, geforderte Gemeinschaft und die Erfüllung der vorbestimmten Aufgabe ermöglicht werden kann, muss alles Bestehende verändert und eine Orientierung an alten Werten stattfinden. Langbehn sieht es ebenfalls als gegeben an, dass die Deutschen ein Volk von großem Charakter und führend in Europa149 sind. Allerdings sei diese Eigenschaft in der modernen Gesellschaft verloren gegangen und müsse wieder hervorgebracht werden. „‚Charakterhaben und deutsch sein, ist ohne Frage gleichbedeutend,’ sagt Fichte. Zu dieser ihm angeborenen, jedoch im Laufe der Zeit vielfach verlorengegangenen Eigenschaft muss der Deutsche zurückerzogen werden.“150 Die Forderung Langbehns geht demzufolge auch dahin, sich wieder auf die Werte der Vergangenheit zu besinnen und die Menschen wieder in diesem Sinne zu erziehen. Dann werde aus den Deutschen auch wieder ein Volk mit gebührendem Charakter, „aber immer wird es der Blick in die Vergangenheit, in die von handelnden Männern erfüllte Vergangenheit sein, welcher als 145 Stern, Kulturpessimismus, S. 29. 146 Dazu musste sich allerdings auch das politische System des Deutschen Reichs ändern: „Der geistigen Neugeburt unseres Vaterlandes, […], muss dessen politische Neugeburt vorausgehen.“ In Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 168. 147 Sieg, Deutschlands Prophet, S. 293. 148 Sieg, Deutschlands Prophet, S. 304. 149 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 98: „Deutsche Lieder sind mehr wert als französische Liederlichkeit.“ Und S. 380: „Deutsche Ehrlichkeit ist mehr als französische Eitelkeit und deutscher Geist mehr als französischer Ungeist.“ 150 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 49. 49 Norm für die Zukunft dienen kann“151. Die Überhöhung der deutschen Nation findet sich in vielen Textpassagen von Langbehn wieder. Das folgende Zitat gibt nur ein Beispiel. „Die Farbe des Eisens, welches alle Völker befreite, ist – schwarz; schwarz ist auch die Farbe der Erde, welche der Bauer pflügt und welcher der vaterländische Künstler seine besten Kräfte verdankt. Fügt man dies dunkelste aller Elemente zu jenen beiden andern, zu Blut und Gold: so hat man die Farben des einstigen idealen Deutschlands – Schwarz, Roth, Gold.“152 Damit wurde ein kurzer Überblick über den Kulturpessimismus geschaffen. Die maßgeblichen Themen wie Vergeistigung, Kritik am Bildungssystem und generell an der Moderne, am Nationalismus und der Imperialismus sind genannt worden. Weiterhin wurden die diskutierten Lösungsvorschläge wie die Suche nach Führern und ein Zurück zu den, für die Autoren, urdeutschen Werten vorgestellt. Das Phänomen Kulturpessimismus war nicht nur eine Randerscheinung in einigen Zirkeln des Bildungsbürgertums, sondern hatte eine enorme Breitenwirkung in der gesamten Gesellschaft. Dabei wurde es nahezu zu einem Grundgefühl einer Epoche. Ausdruck war ein Unbehagen, das vielen nicht deutlich bewusst wurde, aber doch unterbewusst mit schwang, da die Gegenwart oft als dekadent und sittenlos empfunden wurde. Es artikulierte sich ein Ressentiment gegenüber der Moderne, das im Zeitalter der imperialistischen Aufteilung der Welt (Kolonialismus) für Deutschland Ansprüche erhob und die mangelnde „Weltgeltung“ auch einer Bildung anlastete, die als intellektualistisch diffamiert wurde, u.a. weil diese Bildung Skrupel weckte gegenüber der aggressiven Expansionspolitik der Kulturkritiker. Vorhandene Schwächen des Bildungssystems wurden als Aufhänger genutzt, diese Bildungspolitik zu kritisieren und eigene Ideale vorzustellen bzw. einzubringen. 3.2 Die kulturpessimistische Einstellung Diems in seinen Werken Nachfolgend sollen, aufbauend auf dieser kurzen Skizzierung, die kulturpessimistischen Tendenzen, die in den Werken Diems über seine gesamte Schaffenszeit hinweg zu finden sind, aufgezeigt werden. Die oben dargestellten maßgeblichen Themen des Kulturpessimismus werden im Folgenden wieder aufgegriffen und den Betrachtungsweisen Diems gegenübergestellt. Darüber 151 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 52. 152 Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 220. 50 hinaus werden noch die Aspekte „Beziehung des Menschen zur Natur“ und „Kritik am Bewegungsverhalten“ aufgenommen. Diem ist ein sehr kritischer Betrachter der jeweiligen Gesellschaftsform seiner Zeit in der Hinsicht, dass er seine Ideale, die er hat, mit dem jeweiligen Zustand, in Bezug auf z.B. das Bildungssystem und die Staatsform, vergleicht. Zudem steht er Neuerungen im technischen Bereich, die eine Veränderung des Arbeitsprozesses mit sich bringen, sehr skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüber. Auch die Form von Schule ist stets seiner Kritik unterzogen. An Monarchie gewöhnt und ihr nachhängend ist die darauffolgende Demokratie der Weimarer Republik einer dauerhaften Kritik ausgesetzt. Die Häufigkeit der negativen Äußerungen über Staat, Gesellschaft etc. ist in den Werken der Weimarer Republik auffällig. Seine Kritik richtet sich hier gegen nahezu alles, was das Leben ausmacht: die Schulen und ihren Lehrplan, die Universitäten und auch dort die Art und Weise des Lehrens, gegen die Industrialisierung mit der fortschreitenden Spezialisierung der Arbeitsplätze, die Technik, da sie den Menschen zu viel in seiner Bewegung einengt und ihn faul und träge werden lässt etc. Er sieht darin eine Gefahr, die auf das deutsche Volk zukommen könnte. Zur Zeit des Nationalsozialismus ist die Kritik an Politik und Gesellschaft weniger zu finden. Das mag zum einen an der Gefahr gelegen haben, der sich generell Regime-Kritiker durchaus ausgesetzt hätten, wobei Diem auch nicht zu den Regime-Kritikern zu zählen ist. Zum anderen kamen die Stellung und Aufwertung des Sports innerhalb des NS-Erziehungssystems und die vom Regime propagierten Werte, wie zum Beispiel Härte, Siegeswille, die u.a. durch den Sport vermittelt werden sollten, den Auffassungen Diems sehr nahe, wie noch gezeigt wird. Darüber hinaus bekleidete er innerhalb der Sportorganisation ein hohes Amt. Er ist kommissarischer Leiter des Gaues Ausland im NSRL, und da ist es der Karriere sicherlich förderlich, negativ-kritische Worte zu vermeiden. Nach dem Zweiten Weltkrieg nehmen die kritischen Anmerkungen wieder zu. Diese beziehen sich auf gesellschaftliche Tendenzen, die vor allem in der Jugend zu finden sind und die, aus der Sicht Diems, einem regelmäßigen Sporttreiben entgegenstehen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es sich bei dieser tendenziell kulturpessimistischen Denkweise um eine Grundeinstellung Diems handelt. Er war Anhänger einer „konservativen Revolution“. Zu den extremen Vertretern der Linie des Kulturpessimismus, wie es z.B. Langbehn und Lagarde waren, ist 51 Diem nicht zu zählen. Allerdings lassen sich Tendenzen dieser Weltanschauung in jedem zeithistorischen Abschnitt seines Lebens finden. Das Kaiserreich war, wie in Kapitel 2 gezeigt, die Kultur, die ihn geprägt hat und an deren Normen und Werten er sich lebenslang festhielt.153 Auch hier finden sich Aussagen Diems, die sich gegen Modernisierung und Technisierung richten und in denen er deutlich macht, dass er durch „seine Sache“, den Sport, das Volk gesunden möchte. 3.2.1 Kritik an der Moderne Das moderne Leben steht im Fokus der Kulturkritiker, so auch in dem von Diem. Festgemacht werden dessen negativen Auswirkungen oft an den Prozessen der Arbeitswelt. Die Kritik Diems richtet sich im Kaiserreich bereits gegen dieses moderne Arbeitsleben. „Unsere heutige arbeitende Welt hat die Neigung, sich bei aller Vorsorge, Fürsorge, bei allem Organisieren, ihr wichtigstes Menschenrecht verkümmern zu lassen, ihre freie Fortentwicklung, und mit der verringerten Möglichkeit des Fortentwickelns sinkt auch die Strebsamkeit, mit dem Schwinden aber aller Ziele sinkt das Glück.“154 In der fortschreitenden Technisierung der Arbeitswelt mit der damit verbundenen Spezialisierung der Arbeitsplätze auf bestimmte Prozesse sieht Diem die Gefahr, dass der Arbeiter eingeschränkt wird und deshalb unmotivierter (ohne „Strebsamkeit“) arbeitet. Dies verallgemeinert Diem noch, indem er durch diesen Prozess ein „Schwinden aller Ziele“ prognostiziert und dadurch das Glück des Menschen in Gefahr sieht. Diese Konklusionen im Zitat sind für Diem typisch und man findet in seinen Texten oft Kritiken, die sich an kleinen Ausschnitten festmachen und im Fortgang des Zitats auf komplexe Zusammenhänge bezogen werden. Sport kann, nach Diem, diesen Missständen, die durch Arbeit hervorgerufen werden, also bedingt durch den modernen Arbeitsprozess, erfolgreich Abhilfe schaffen. „Die vom Reichstag erbetenen Mittel dienen also durchaus nur der gesunden körperlichen Ausbildung der gesamten Jugend. Hierfür muß aber gemäß der allgemeinen Überzeugung, die auch von seiten des Reichstags in einer Resolution ausgesprochen ist, noch mehr getan werden, um den körperlichen Schädigungen des modernen Erwerbslebens ein Gegengewicht zu bie153 Teichler, Vom „Deutschen“ zum „Großdeutschen“ Olympia, S. 85: „Und seiner politischen Einstellung, die er selbst als ... national und kaisertreu bis in die Knochen...“ (DIEM 1974, 24) beschrieben hat.“ 154 Diem, OF 1, Des echten Mannes wahre Feier ist die Tat, 1913, S. 84. 52 ten.“155 Mit Sport bzw. Leibesübung soll demnach der Schaden, der das Arbeiten in modernen, technisierten Prozessen anrichtet, ausgeglichen werden. Für Diem ist folglich Sport, als körperliche Bildung, ein sehr hoher Wert in der Gesellschaft. „Das Bildungsbürgertum […] betrachtete die klassische Bildung als einen verbindlichen ‚Wert an sich’, als ein fundamentales Stück der eigenen Identität.“156 Das Bildungsbürgertum versteht Bildung des Menschen einseitig als Teilhabe an Kulturgütern, entsprechend ist die Schule des Herbartianismus eine Lernschule, deren vorrangige Aufgabe die Vermittlung von Wissen ist. Diem favorisiert die körperliche Bildung, im Gegensatz zu der Mehrheit des Bildungsbürgertums, das sich auf die geistige Bildung bezieht bzw. in dieser den Weg zur Bildung sieht. Die rein geistige Bildung wird von den Kulturkritikern als Intellektualismus dargestellt. Hier steht Diem mit der Forderung nach einer ganzheitlichen, körperorientierten Bildung in der Linie der Kulturkritiker. Die Forderung nach einer Bildung durch Bewegung ist zur Zeit der Weimarer Republik häufig zu finden, da zu dieser Zeit auch die Kritik Diems am technischen Fortschritt und damit auch am modernen Arbeitsleben massiv ist. „Durch schlechte Lebensverhältnisse und erlebnisarme Arbeit verkümmern die Menschen, ihnen müssen unzufriedene, neiderfüllte Anschauungen entquellen. Wer körperlich frisch und spannkräftig ist, wird Herrn Raffke, der im blinkenden Auto vorüberfährt, höchstens ein Lächeln nachsenden, wer sich bedrückt und müde fühlt, schimpft hinter ihm her. Aus Körperarmut entsteht der Durchschnitt des radikalen Genossen, […].“157 Wer also einen gut ausgebildeten Körper hat, hat auch eine bessere Gesinnung in Diems Sinne. Sport gibt dem Menschen eine innere Zufriedenheit und lässt ihn äußere bzw. materielle Werte (hier: Auto) geringer schätzen als ideelle. Er garantiert auch die politische Einstellung. Wenn Diem allerdings von einem „radikalen Genossen“ spricht, ist fraglich, welche politische Richtung er damit meint. Da das Zitat aus dem Jahr 1924 stammt, bezieht sich die Kritik sicherlich auf die sozialistischen Tendenzen der Zeit. Dafür spricht auch, dass Diems national-konservative Haltung einer politischen Rechten zuzuordnen ist. Dies zeigt sich ebenso darin, dass Diem sich zehn Jahre später zur Zeit des Nationalsozialismus mit den Machthabern arrangiert hat und einige der Werte, die Diem im Sport als wichtig erachtet, mit der NS- 155 Diem, OF 1, Das Ergebnis des Pariser Sportkongresses, 1914, S. 356. 156 Giesecke, Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, S. 13. 157 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 19. 53 Ideologie kompatibel sind158. Da bleibt dem „radikalen Genossen“ dann nur noch der sehr extrem rechte oder der linke politische Flügel. Der linke Flügel ist insoweit wahrscheinlich, als Diem oft die Linken kritisiert, gerade auch die Kommunisten. „Noch sicherer ist mir die körperliche Ursache geistiger Massenerscheinungen bei kommunistischen Zusammenkünften aufgefallen. Wer eine größere Gruppe von Kommunisten sieht, wird ebenfalls sofort wissen, warum sie ihren politischen Denkweisen unterliegen und warum sie keine anderen vertreten können.“159 Diem verknüpft die politische Einstellung mit dem körperlichen Bild. Er schreibt den Kommunisten generell eine schlechte körperliche Ausbildung zu. Der Kommunismus ist eine politische Haltung, die Diem als schlecht und minderwertig ansieht. Daher zieht er den für ihn logischen Schluss, dass die körperlich schlecht ausgebildeten Menschen auch nur eine geistige Haltung haben können, die ebenfalls als schlecht bzw. als nicht zu akzeptieren angesehen werden muss. Im Umkehrschluss kann es dann heißen, dass mit einer körperlich guten Verfassung ebenso eine richtige, in Diems Sinne, Geisteshaltung einher geht. Diese Haltung ist der der NS-Ideologie sehr nahe. Generell soll hier der Sport einspringen und eine radikale politische Einstellung wie zum Beispiel den Kommunismus zu verhindern versuchen. Diem möchte den Menschen wieder zurückbringen zu einem ganzheitlichen Arbeitsprozess, den er von Anfang bis Ende ausführt. Er wehrt sich gegen den Fortschritt, der es dem Menschen ermöglicht, eine spezialisierte Arbeit auszuführen. Aufgrund der Tatsache, dass er nur ein Teil des Ganzen produziert, verliert er den Bezug zu seinem Produkt. Der Erwachsene verliert mit dieser Lebensweise das „Auf-Sich-Selbst-Gestelltsein beim Naturmenschen“160. Mit pathetischen Worten wie: „Solches Leben ist ein Massengrab aller Persönlichkeitswerte“161, attackiert er diese Lebensweise. All den Begleiterscheinungen und Folgen der Industrialisierung will er mit der Erziehung durch Sport entgegenwirken. Die Ansicht über den modernen Arbeitsprozess überträgt er auf die 158 Bahlke/Bockrath/Franke (Der moralische Wiederaufbau des deutschen Sports nach 1945, S. 265, Hervorhebung im Original) sehen eine generelle Parallele zwischen Nationalsozialismus und organisiertem Sport: „Beide Diskurse leben von den Widersprüchen der bürgerlichen Weltauffassung, bewegen sich sprachlich im Alltagsbereich und vor allem im Nahbereich von Körperlichkeit (dem Organismus des Sportlers entspricht dabei der Organismus des Volkes) und Natürlichkeit. Beiden gemein ist ferner die Harmonisierung des „Innenbereichs“ durch Formulierung von Außengrenzen (Volksgemeinschaft – Nicht-zum-VolkGehöriger / Sportler – Nicht-Sportler).“ 159 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 19. 160 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 183. 161 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 184. 54 Allgemeinheit. „Der Mensch wehrt sich dagegen, im Werkverlauf ein kleines unpersönliches Rädchen zu sein. Er will nicht nur als Maschine wirken.“162 Es scheint, als wolle Diem das Rad der Zeit zurückdrehen und die technischen Neuerungen, die im Zuge der Industrialisierung geschaffen wurden, rückgängig machen. Diese Tendenz deckt sich ebenfalls, wie oben beschrieben, mit der Einstellung der Anhänger des Kulturpessimismus. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ist diese Kritik noch nicht verhallt. Sport erhält die Funktion der „Selbsthygiene der im technisierten Zeitalter ihrer normalen Körperbewegung beraubten Menschheit“163. Das Wort „beraubt“ macht die Missbilligung dieses Zustands durch Diem deutlich. 3.2.1.1 Beziehung des Menschen zur Natur Die Technisierung des alltäglichen Lebens birgt viele Probleme. Dazu gehört die zunehmend vergrößerte Distanz zwischen dem Menschen und der Natur. Das Erleben in der Natur bringt der Sport zurück, da die technischen Errungenschaften sowie die Einrichtungen der Freizeit den Menschen von der Natur fernhalten und ihn in geschlossenen Räumen halten, wogegen er sich allerdings nicht aktiv wehrt. „Sport ist ein Kind der Natur, oder besser eine Auflehnung gegen die Zivilisation, gegen die Staubluft der Schreibstuben, gegen das Einerlei der Maschinenarbeit, gegen den Stumpfsinn der Bierbank, der Kinos, des Tanzbodens, gegen die Versumpfung und die Frühreife.“164 Dieses Zitat aus dem Jahr 1920 beginnt mit einer positiven Eigenschaft des Sports und wird im weiteren Verlauf zu einer Generalabrechnung mit der Gesellschaft und deren Charakteristika. Diem nimmt den Sport als Aufhänger, um die Technisierung des Arbeitsmarktes und die Freizeitaktivitäten, die nicht Sport sind, anzuprangern. Sport als Gegengewicht zur Arbeit ist ein Ansatz, der auch heute noch aktuell ist und durch weitere Einschränkung der Bewegung im Arbeitsprozess immer aktueller wird. Allerdings weitet Diem die Wirkung des Sports auch auf den Freizeitsektor und die generelle „Versumpfung“ der Menschen in der Weimarer Republik aus. Kino, Stammtisch und Tanz geben die Menschen demzufolge dem Stumpfsinn preis, als sinnerfüllte Freizeit gilt Diem nur der Sport. Zudem wirkt dieser auch gegen die als negativ bewertete Frühreife. Der immer frühere Beginn der Pubertät ist allerdings ein Prozess, der sich den sich 162 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 20. 163 Diem, SAR, Sport, 1953, S. 8. 164 Diem, Sport, 1920, S. 9. 55 wandelnden Bedingungen des Aufwachsens anpasst und gegen den Sport nicht eingesetzt werden kann, da er ein natürlicher, biologisch bedingter und nicht reversibler ist. 3.2.2 Kritik am Bewegungsverhalten Kritisch werden Diems Worte zumeist an Stellen, an denen er ein Versäumnis in der körperlichen Ausbildung der Jugend sieht. Der Schwerpunkt der Kritik liegt in der Weimarer Republik, allerdings ist das Thema Sport und „Volksgesundheit“ eine zeitübergreifende Konstante, wie die Zitate aus den Jahren 1926 bis 1955 zeigen. „Wenn da nicht der nötige Entwicklungsreiz nach der Breite gegeben wird, wenn da nicht kräftig Turnen und Sport getrieben wird, bekommen wir den zu lang aufgeschossenen, den zu wenig kräftigen Typ des Schwindsuchtskandidaten, der eine schwere Belastung der Volksgesundheit darstellt.“165 Diem befürchtet, dass bei einem Andauern dieser Entwicklung, die Jugend körperlich nicht gut auszubilden, in Zukunft, wenn aus den Jungen Männer werden, das Volk nachhaltig geschwächt wird. Dies beeinträchtigt zum einen die gesamte Volksgesundheit und hat damit nachhaltigen Einfluss auf die Volkskraft. Ebenso wird natürlich die Wehrhaftigkeit Deutschlands, die ihm sehr wichtig ist, ebenfalls geschwächt. Die Wichtigkeit der Wehrfähigkeit unterstreicht Diem an vielen Stellen, z.B.: „Ich selbst stehe auf dem Standpunkt, dass die Wehrfähigkeit des Mannes das Hochziel aller gesunden Völker war und bleiben wird“166. Ausführlich wird auf das Ziel der Wehrfähigkeit noch in folgenden Kapiteln eingegangen. Seine Folgerung aus diesem geschilderten Missstand lautet: „Es ist also eine nationale Pflicht, von 10 bis 17 Jahren die ganze Jugend heranzuziehen.“167 Diem überlässt die körperliche Entfaltung demnach nicht der Entwicklung der Zeit, sondern erhebt die Aufgabe direkt in 165 Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 10. An anderen Stellen findet sich ein gleiches Argument: Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 290: „Und wenn nun, angesichts der heutigen Lebensweise in Schule oder Lehre, nicht die nötige intensive Bewegung genossen wird, schießen diese Wachstumskräfte ungehemmt, gewissermaßen treibhausartig, in die Höhe ohne einen angemessenen Teil an Breitenwachstum.“ Und in Diem, Zur Neugestaltung der Körpererziehung, 1923b, S. 13: „Körpermessungen, […], haben die interessante Tatsache ergeben, dass die REICHSHAUPTSTÄDTER immer größer, d.h. länger, dafür aber immer schmalbrüstiger werden.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg: Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 14: „Und wir wissen, dass der Sport immer notwendiger werden wird mit dem Wandel der Jugend, mit der Verfrühung der Pubertät, mit dem Schlankhochwuchs, dem disharmonischen Wachstum, […], dass noch immer die Jugend immer größer, aber leider immer schmalbrüstiger wird.“ 166 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 95. 167 Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 10. 56 höchste, auch politische, Kreise. Es geht nach seiner Meinung jeden etwas an, ob das Volk gesund ist oder nicht und demzufolge hat auch jeder dazu beizutragen, diesem Problem zu begegnen. Diese Forderung ist häufig zu finden. Von den Pädagogen der Zeit wurden allerdings die verschiedensten Lösungsmöglichkeiten gefordert, ein Weg sollte, nur um ein Beispiel zu geben, die Kunsterziehung sein. Diem sieht allerdings die Sporterziehung als Lösung an. Daher sollen Sportplätze entstehen, die einen hohen Aufforderungscharakter haben, „dass sie die Jugend geradezu zur Benutzung verführen“168. Diese Aufforderung soll laut Diem vor allem denjenigen gelten, die diese Plätze sonst eher meiden würden, „vor allen Dingen die Schwachen, die Unentschlossenen, die Halben in ihr [der Jugend; MB], denn die anderen kommen von selbst“169. Damit versucht er, seinem Anspruch, die ganze Jugend zu erreichen, nachzukommen. Die körperlichen Übel sind allerdings nicht allein auf die Jugend beschränkt. Zur Zeit der Weimarer Republik sieht Diem das ganze Volk als nicht genügend körperlich gebildet und drückt seine Abneigung dagegen aus. „Wie verweichlicht und verzogen ist unser Geschlecht, das bei jedem wehenden Atem, bei jeder schlagenden Brust und bei jedem schweißbedeckten Antlitz schon in Wehklagen und in Bedauern ausbricht.“170 Sport hat zu der Zeit, 1923, noch keine sehr große Lobby und die Allgemeinheit ist noch nicht überzeugt von einer positiven Wirkung des Sports. In den zwanziger Jahren ist Sport noch kein Massenphänomen. Daher ist der Vorwurf, dass die Bevölkerung sportliche Anstrengungen scheue, nicht realitätsnah, insofern, als nicht jeder die Möglichkeit hatte, Sport zu treiben und das Wissen um Sport noch nicht weit verbreitet war. Diem attestiert hier dem Volk Verweichlichung und Verzogenheit. Diesen Zustand sieht er nicht als den vom Volk gewollten an. „Noch heute [1937; MB] überkommt von Zeit zu Zeit Völker, die der Weichheit nachgegeben haben, eine Sehnsucht nach Spartanertum.“171 Dieses Sehnen, das er im Nationalsozialismus auf andere Völker bezieht, ist bei Diem in der Weimarer Republik besonders groß, wie seine Kritik an der Erziehung, der Jugend und dem generellen Zustand des Volks deutlich macht, zur Zeit des Nationalsozialismus allerdings 168 Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 80. 169 Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 81. 170 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 48. Etwas erweitert ist dieser Artikel 1941 erneut veröffentlicht worden in „Leibesübungen in der Ostmark“ in Diem, OF 3, 1941, 1391 ff. 171 Diem, Olympische Reise,1937, S. 40/41. 57 sieht er die Sehnsucht befriedigt. „Unsere neue Zeit ist erfüllt von einem Geiste, der der besten Zeit Spartas entspricht.“172 Die von Kulturpessimisten und -kritikern geforderte Besinnung auf Werte wie Einfachheit und Natürlichkeit wurde im Nationalsozialismus teilweise erfüllt. Der Kulturpessimismus war eine „Ideologie, die nicht nur dem Nationalsozialismus ähnlich ist, sondern sogar von den Nationalsozialisten selbst als wesentlicher Bestandteil ihres politischkulturellen Erbes anerkannt wurde“173. Aus dieser Perspektive ist zu verstehen, dass die gesellschaftliche Kritik Diems zur Zeit des Nationalsozialismus schwächer ist. Auch in der Aussage: „Von 30 bis 40, wo der Bauchumfang bereits den Brustumfang zu übersteigen beginnt“174 ist eine, zwar versteckte, aber dennoch sehr deutliche Kritik am Bewegungsverhalten der Männer dieses Alters zu erkennen. Hier sieht Diem im Bewegungsverhalten der Bevölkerung einiges negativ. Er will Anreize schaffen, Spiel- und Sportplätze aktiv zu benutzen, damit die Volksgesundheit erhalten bzw. wieder hergestellt wird. Eine mögliche Aufforderung ist die, eine Sportplatzgebühr zu erheben, allerdings von den Personen, die diese Anlagen nicht benutzen: „Grundsatz: Gebühren für Turnhallen, Schwimmbahnen und Spielplätze sollen von denen erhoben werden, die draußen bleiben“.175 Diese Ausbildung der Jugend, zum einen körperlich und zum anderen geistig, was Diem auch durch Sport erreichen möchte (siehe Kapitel 5.3), bedingt dann wiederum eine Verfestigung der deutschen Kultur bei den Jugendlichen, „so dass sich wirklich ernste deutsche Kultur in ihnen aufbaut“176. Hier findet wieder eine Befrachtung des Sports mit erzieherischen Wirkungen statt, mit dem, was Sport leisten soll. Eine Belegung des Sports mit Zielen in Zusammenhang mit der Erziehung von Kindern und Jugendlichen ist generell nicht problematisch. Die Kritik richtet sich auf die Instrumentalisierung des Sports im Sinne Diems, der mit dem Sport, z.B. die Wehrfähigkeit der Jugend zu verbessern sucht. Weitergehend möchte Diem „so den Menschen der deutschen Zukunft schaffen, der geistig und körperlich rüstig genug ist, um die großen Aufgaben auf seine Schultern zu laden, die unserem Volke bevorstehen“.177 Im Unklaren bleibt, was 172 173 174 175 176 177 Diem, Olympische Reise,1937, S. 40/41. Stern, Kulturpessimismus, S. 5/6. Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 10. Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 21. Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 81. Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 81. 58 diese großen Aufgaben sind, da Diem aber mit der Stellung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg, das Zitat ist aus dem Jahr 1926, nicht zufrieden ist, wie viele andere auch, kann dies durchaus bedeuten, Deutschland wieder zu einer Vormachtstellung zu führen, was er auch in anderen Texten andeutet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirft er der Jugend ebenfalls eine schlechte Freizeitgestaltung vor, die dem aktiven Sporttreiben, und damit einem gesunden Lebensstil im Wege steht. „Diese Erscheinung trifft heute auch schon auf Jugendliche zu, die ja naturgemäß geneigt sind, dem Beispiel des Alters zu folgen, und wer kann sich da wundern, dass sie sie wie beim schlechten Beispiel des Alters im Rauchen und Saufen auch beim Sportzuschauen und Randalieren mittun.“178 Diem ist also die gesamte Gesellschaft zu passiv und anscheinend zu oft Rauschmitteln ergeben, anstelle sich selber aktiv zu bewegen. Dies sind ähnliche Vorwürfe, wie er sie bereits zur Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik äußerte. Er macht der Jugend nur einen indirekten Vorwurf, da sie dem schlechten Beispiel der älteren Generation folgt. Die Hauptkritik geht demnach gegen die Erwachsenen, die lieber zuschauen als selbst Sport zu treiben und sich dann auch noch dem Genuss von Tabak und Alkohol hingeben. Nach Diem sollte es genau anders herum sein. Die Älteren sollten die Jüngeren auf den Sportplätzen anleiten, richtig und gut Sport zu treiben. Die Ursache für diese Passivität sieht Diem wiederum in der Gesellschaft, da sie die Menschen enttäuscht, und durch Technik ist die Vergnügungsindustrie mittlerweile soweit, dass sie den Menschen Fluchten aus dem Alltag anbieten kann. Zudem entwickelte sich seit der Weimarer Republik erst ein wesentlich breiteres Angebot zur Freizeitgestaltung179, so dass auch durch mehr zur Verfügung stehende Zeit die Menschen begannen, diese zu nutzen. „Zugleich schufen diese Medien neue soziale Räume und Geselligkeitsformen, sie eröffneten Millionen den Zugang zu neuen Freizeitpräferenzen und einer veränderten Zeitplanung.“180 Auch hier steht Diem nicht alleine mit seiner Kritik, sondern eine negative Bewertung dieser Tendenz ist in höheren Bevölkerungskreisen gängig. „Das strittige Wort von der ‚Massenkultur’ gewann nicht nur einen neuen Klang, sondern einen neuartigen Realitätsgehalt. Die Kritik sah in ihr nur die Zerstö- 178 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 52. 179 Vgl. Wehler, Bd. 4, S. 473. 180 Wehler, Bd. 4, S. 474. 59 rung der herkömmlichen hochkulturellen Standards, allenfalls die gehaltlose Zerstreuung und das seichte Amüsement.“181 Diem erkennt, dass es nicht nur die Menschen sind, die von sich aus zu träge sind, einen Sportplatz zu besuchen, sondern, dass es auch die äußeren Umstände182 sind, die den Gesundheits- und vor allem den Bewegungszustand verschlechtern. Er sieht Sport, Turnen und Gymnastik als Ausgleich für Bewegungsarmut im täglichen Leben. „Hier hat sie [die Gymnastik; MB] in erster Linie einen Fehler auszugleichen, den uns das tägliche Leben aufzwingt. Das übermäßig viele Sitzen oder zur-Handarbeit-an-der-Maschine stehen, wie es auch Stunden des Tages von einer großen Zahl der Volksgenossen geübt wird, bringt vom ersten Tag auf der Schulbank an mit erschütternder Selbstverständlichkeit eine Verkümmerung des Brustkorbs mit sich.“183 Sport, hier im speziellen die Gymnastik, sollen also sowohl körperlich als auch geistig die negativen Erscheinungen der Zeit ausmerzen und, wie oben geschildert, den Menschen zu einer hohen Kultur führen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg geht diese Kritik weiter. Zur Unterstützung beruft er sich auf andere Autoren aus Pädagogik und Philosophie. Er bezieht sich z.B. auf Spranger, nennt allerdings keine Quelle der Aussage. „Die Kultur sei so weit fortgeschritten – so begründete er den verborgenen Sinn, dass die Menschen in Gefahr seien, ganz Geist zu werden und ‚vital’, nämlich in der Dreieinigkeit der Grundkräfte: des Körpers, des Geistes, der Seele, abzusterben.“184 In dieser Aussage steckt erneut der Vorwurf an die Technik, dem Menschen das Bewegungsleben abzunehmen. Durch die fortschreitende Verbesserung der technischen Möglichkeiten am Arbeitsplatz, in der Fortbewegung, im Haushalt und in der Freizeit wird der Mensch zunehmend dazu aufgefordert zu denken, um die neuen Technologien zu beherrschen. Das aktive Bewegen allerdings tritt in den Hintergrund. Diem möchte durch den Verweis auf andere 181 Wehler, Bd. 4, S. 474. 182 Mit seiner allgemeinen Kritik am Fortschritt steht Diem nicht alleine, große Teile des Bildungsbürgertums sehen das so. Wehler, Bd. 4, S. 297: „Vielmehr erblicken sie [Mitglieder des Bildungsbürgertums der Weimarer Republik; MB] darin [in der Erosion überkommener Standards aufgrund u.a. eines hochgradig arbeitsteiligen Sozialsystems; MB] die Auswirkungen einer seelenlosen, materialistischen, klassenzerrissenen, besitzegoistischen, industriekapitalistischen Gesellschaft, die durch neue Gemeinschaftsformen, wie etwa die sozialharmonische ‚Volksgemeinschaft’, überwunden werden müsse. […] Bis dahin aber regierte ein dumpfer Groll gegen das Weimarer ‚System’.“ 183 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 185. 184 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 13. 60 Größen seine Thesen untermauern und seinen Worten somit mehr Gewicht verleihen. Zusammengefasst schreibt Diem: „Sport ist also eine Gegenwirkung gegen die Technisierung des Daseins, Kompensation des in der Technik ungesund eingeschränkten motorischen Bedürfnisses und der im technisierten Arbeitsprozess sich ausbreitenden Seelenarmut. Sport ist Erneuerung aus kosmischer Lebenskraft.“185 Die ausgleichende Wirkung des Sports darf sich demnach nicht nur auf die körperlichen Belange konzentrieren, sondern umfasst auch noch die Komponente der Seele. Dass Diem dem Sport viele positive Auswirkungen zuschreibt, wird an anderen Stellen ausführlich behandelt.186 Da er ein ganzheitliches Menschenbild vertritt, ist es konsequent in Diems Anschauung, dass auch in diesem Kontext nicht nur ein Teil des Menschen angesprochen wird. Unklar bleibt hier allerdings, was genau mit „kosmischer Lebenskraft“ gemeint ist. Es könnte allerdings sein, dass Diem sich hier an das biologische und medizinische Konzept der Lebenskraft anlehnt, das die Lebenskraft als Grundlage aller Lebensvorgänge und als Selbsterhaltungsprinzip des Organismus ansieht. Darüber hinaus kritisiert Diem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, dass das Freizeitverhalten der Bevölkerung geprägt ist vom passiven Genuss. „Wir müssen uns gestehen, ein großer Teil der Menschheit ist vom Dasein so enttäuscht, vom Reizüberfluss entnervt, dass er sich immerzu auf der Flucht vor dem Ernst des Lebens befindet. Daher diese Neigung zu passivem Genuss, zum SichUnterhalten-lassen, […], des Zuschauens vor dem Ausüben; und eine kapitalkräftige, gerissene Vergnügungsindustrie weiß dies auszumünzen.“187 Dieser Text von Diem stammt aus dem Jahr 1955, also aus der Zeit des „Wirtschaftswunders“. Die Menschen hatten wieder mehr Geld zur Verfügung und die Vergnügungsindustrie hatte einiges zu bieten. Nach langen Kriegs- und Notjahren ist es dann durchaus natürlich, dass auch die passiven Freizeitangebote verstärkt genutzt wurden, um sich etwas zu gönnen und freie Zeit unbeschwert zu genießen. 185 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 14. Dazu auch Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 31: „Die neu entstandene Sportbewegung war eine triebhafte hygienische Schutzwehr gegen die ungesunden Einflüsse neuer Wirtschaftsformen, sie entstand daher im ersten Industrieland der Welt, in England.“ 186 Siehe unter anderem Kapitel 5.3. 187 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 53. 61 Deutlich wird die zeitüberdauernde Ansicht Diems, dass viele der Bürger im alltäglichen Leben nicht genug Bewegung haben und durch moderne gesellschaftliche Tendenzen dazu verleitet werden, in ihrer Freizeit ebenfalls die Bewegung zu vernachlässigen. Den Sport sieht Diem hier als durchgängige Möglichkeit, diesem Missstand entgegen zu wirken und einen Beitrag zur „Volksgesundheit“ zu leisten. 3.2.3 Vergeistigung der Gesellschaft – Kritik am deutschen Bildungssystem Die Kritik an der Höherstellung des Geists gegenüber dem Körper stammt nicht erst aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch in dem ersten Versuch einer Demokratie in Deutschland, der Weimarer Republik, beklagt Diem eine zu hohe Bewertung des Geistigen. „Das ist ja unser Unglück, dass sich in unserem Gehirn die Unabhängigkeit des Geistes festgesetzt hat. Der Körper erscheint wie ein Diener, der mit diesen Hausgenossen sogar gewisse plumpe Vertraulichkeit bei gar zu langer Dienstzeit gemein hat.“188 Diem beklagt hier nicht nur eine Überbewertung des Geistes, sondern zudem noch die Trennung von Körper und Geist. Der Mensch wird nicht mehr als eine Einheit gesehen. Dies ist das Gegenteil von seinem Erziehungsideal des harmonisch ausgebildeten Menschen, der die Einheit von Körper, Geist und Seele erreicht hat. Zudem bekümmert es Diem zu dieser Zeit, dass Sport bzw. Leibesübungen und Turnen nicht die Lobby haben, die sie seiner Meinung nach verdienten und, dass es demzufolge auch keine Möglichkeit gibt, um die Leibesübungen verstärkt in die Schule einzufließen zu lassen. Es gibt zwar die Ideale der ganzheitlichen Entfaltung der Menschen, gehandelt wird jedoch ganz anders bzw. gar nicht. „So wie wir seit langem mit schönen Worten theoretisch die Forderung der ‚harmonischen’ Ausbildung von Körper und Geist zugegeben, aber auch nicht im entferntesten danach gehandelt haben! Noch immer verkümmert unsere Jugend annähernd 36 Stunden in der Woche auf den Schulbänken und turnt derer kümmerliche drei.“189 Gerade in der Demokratie der Weimarer Republik ist Diem 188 Diem, Sport, 1920, S. 5. 189 Diem, Sport, 1920, S. 6. Diem unterstreicht seine Kritik mit einem Zitat seines Freundes Rahn, das genau in seiner Linie liegt. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 77: „Denn wie an den Minderjährigen in unseren Tagen gesündigt wird, das muss jedem völkisch fühlenden Manne die Schamröte ins Gesicht treiben. Erst raubt man den Buben und Mägdlein durch die Großstadtverhältnisse und die unnatürliche Frauenarbeit ihr goldenes Kinderland, dann peinigt man die jungen Seelen in einem mechanisierten Erziehungsgang, füllt ihr Hirn mit verstaubtem Gedächtniskram, schablonisiert, wo das Eigene das Lebendige ist, zieht 62 gefangen in einem System, das er nicht akzeptiert.190 Mit seinen Mitteln beabsichtigt er, ein Bewusstsein zu bilden, aus dem das deutsche Volk gesund werden und gleichzeitig auch das für ihn falsche System überwinden könne. Der Sport soll, vor allem in der Weimarer Republik, übernehmen, was Staat und vor allem Schule nach Diems Meinung versäumen. „Wir aber schickten unsere Jungen in die Schule und ließen sie lernen, lernen, fütterten sie mit Wissensstoff und ließen die Willenskraft sich höchstens durch die Bewältigung dieser oft unliebenswürdigen Speise üben. Und wurde der so Misshandelte dann einmal vor die Notwendigkeit einer Tat gestellt, dann war die Triebsicherheit unter dem Wust gelehrter Bildung erstickt. Das ist die Folge unserer Lernschulen ohne die Charakterschule der Leibesübungen.“191 Diem benutzt in seiner Kritik sehr deutliche Worte, z.B. „der so Misshandelte“ und bringt damit seine Verachtung gegenüber dem System zum Ausdruck. Er befürchtet, dass durch ein Zuviel an theoretischem Lernstoff die urhaften Triebe verloren gehen könnten und der Deutsche sich in die Gegenrichtung zu der von ihm gewünschten entwickelt. 3.2.3.1 Führerglaube Zur Lösung der anstehenden Aufgaben wünschen sich breite Bevölkerungsschichten einen geeigneten Führer. Der Glaube an einen Führer ist ein weiterer Aspekt des Kulturpessimismus. So ist auch die Ansicht Langbehns: „Es bedürfe schwindsüchtige, krummrückige, kurz richtige Streber- und Krämerseelen groß und sperrt schließlich die aufschießenden Burschen in moderne Betriebe, wo ihre Arbeitskraft raubbaugleich ‚genützt’ wird, schlägt durch den früh beginnenden Klassenkampf und die folgende politische Verhetzung ihre Ideale tot und staunt schließlich, wenn sie dem drückenden Zwange der ‚segensreichen’ Fortbildungsschule, die dem nach Bewegung hungernden Körper Steine statt Brot gibt, entlaufen und im Gift reichender Schmöker oder in dunklen Schenken bei Weibern und Alkohol Erholung suchen, sich endlich einmal ausleben wollen.“ Die im Zitat angesprochenen Kritikpunkte am Bildungssystem und darüber hinaus an Aspekten der modernen Gesellschaft unterstreichen, dass Carl Diem mit seiner Ansicht keineswegs ein Einzelfall ist, sondern Teile der Bevölkerung, vor allem im sogenannten Bildungsbürgertum diese unterstützen. 190 Wehler, Bd. 4, S. 296: „Das Ergebnis [der Folgen des Ersten Weltkriegs] ist, auf Ganze gesehen, nicht etwa gewesen, dass das Bildungsbürgertum, ernüchtert und realitätsaufgeschlossen, von den Exzessen seines Nationalismus beschämt Abschied genommen hätte. Vielmehr hat das Bedürfnis nach Kompensation seiner psychischen Verletzung und demütigenden Kränkung die Extremisierung seines Nationalismus weiter in Gang gehalten. Erneut erwies sich, wie tief im Verlaufe seiner kollektiven Habitusformierung das Weltbild des Nationalismus in ihm verankert worden war. […] Jetzt aber schob sich der extreme Nationalismus, von der Konstellation nach dem verlorenen Weltkrieg und der Demütigung des soeben noch auf exorbitante Kriegsziele eingeschworenen Bildungsbürgertums getragen, gebieterisch in den Vordergrund.“ 191 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 182. 63 eines neuen Führers, der ‚die toten Massen in Bewegung zu setzen weiß; ihm gebührt die Herrschaft’.“192 Diesem Führerglauben hängt auch Diem an. Er sieht diese Sehnsucht allerdings auch im deutschen Volk bestätigt. „Durch unser Volk geht das Sehnen nach einem Führer.“193 Er verallgemeinert, was eine zwar relativ große Gruppe National-Konservativer wünscht, aber nicht unbedingt die Meinung der Mehrheit des deutschen Volkes ist, vor allem nicht die der sozialdemokratisch-wählenden Bürger, die Rückkehr zu einer Staatsform ähnlich der Monarchie: ein verantwortlicher Führer und das Volk als Untertanen gehorchend. Auch das Sportsystem im Sinne Diems funktioniert durch leitende Personen und diesen nachfolgende. Hier wird im Kleinen das gefordert und durchgeführt, was Diem auch im Großen, also für den Staat fordert. 3.2.4 Deutsche Kultur Die deutsche Kultur, die basierend auf einem monarchischen System jedem Menschen seinen Platz zuordnet und geprägt ist von traditionellen Werten, sieht Diem, wie auch andere Kulturkritiker, gleich der antiken griechischen, als ein sehr hohes Gut an. Im Jahre 1926 schreibt er, bezugnehmend auf die Jahrtausendausstellung 1925 in Köln: „Wer im Jahre 1925 das Glück gehabt hat, die Jahrtausendausstellung in Köln zu sehen, den wird gleich mir die dort gezeigte deutsche Kulturleistung mit Bewunderung, Ehrfurcht und Stolz erfüllen“.194 Sicherlich entspringt diese Bewunderung dem der bürgerlichen Schicht bzw. weiten Bevölkerungsteilen in dieser Zeit eigenen Patriotismus. Doch diese Hochstilisierung findet sich in Diems Werken durchgängig. Er ist zudem Anhänger der Theorie, dass dem deutschen Volk eine gewisse Herrschaft zustehe und zwar mindestens in Europa, wenn nicht der Welt. Bezugnehmend auf diese Ausstellung spricht er den „rheinischen Städten [zu; MB], gewissermaßen […] Bollwerke deutscher Kultur nach Westen hin“195 zu sein. Diem ist demzufolge der Ansicht, dass Deutschland sich abgrenzen müsse, um die Kultur zu bewahren. Im Westen lauert der Erbfeind Frankreich, vor dem es sich zu schützen gilt. Da die deutsche Kultur eine so hoch entwickelte ist, muss sie vor fremden Einflüssen generell und vor französischen im Besonderen verteidigt werden. Sobald Diem Deutschland nach außen zu vertreten hat, wie zum Beispiel auf internationalen 192 193 194 195 Langbehn zitiert in Stern, Kulturpessimismus, S. 208. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 1. Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 7. Diem, Die Anlage von Spiel- und Sportplätzen, 1926, S. 7. 64 Sportfesten, in Gremien etc., verstummt aber alle Kritik, die er innerhalb Deutschlands, in seinen vielen Veröffentlichungen übt. Die Vorbilder Diems in Bezug auf die Kultur sind stets die Menschen des antiken Griechenlands. Er sieht Deutschland als kulturellen Nachfahr dieser Gesellschaft und fordert die Fortführung ihrer Gedanken, dies vor allem in der Erziehung (siehe Kapitel 5.3). Dennoch soll eine deutliche Abgrenzung zu erkennen sein. Das typisch Deutsche muss erhalten werden. „Keine Vergriechung des Deutschen! Vielmehr: die Griechen der Antike unsere großen geistigen Gegenspieler! Wir werden ihrem Vermächtnis gerecht, wenn wir so deutsch sind, wie wir können. Zu ewigen Gesetzen haben sie aufgeblickt, auch wir werden diese für uns erfüllen. Mittler ist dabei eine gute Zucht des Körpers und eine zielbewusste Schule des Willens.“196 Diem möchte dem „Vermächtnis gerecht“ werden. Dies zeigt, dass er das Deutsche Reich in unmittelbarer Tradition der antiken griechischen Hochkultur sieht. Als Zukunftsaufgabe sieht er die Erfüllung von „ewigen Gesetzen“. Es bleibt undeutlich, was genau dies bedeuten soll. Allerdings ist die Idee eines tausendjährigen Reichs hochstilisiert worden zu einem höheren Gesetz. Als Medium, mit dem dieses erreicht werden sollt, nennt Diem den Sport, der zum einen den Körper züchtigen und zum anderen Einstellungen und Werte transportieren soll. Die „Zucht“ des Körpers macht deutlich, dass der Körper instrumentalisiert wird und als Mittel zum Zweck der Erreichung einer Vormachtstellung, zumindest während der NS-Zeit, das Zitat stammt aus dem Jahr 1937, dient. 3.3 Zusammenfassender Überblick Der Kulturpessimismus als Phänomen Mitte bis Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist eine umfassende Kritik von bürgerlichen Schichten an den Errungenschaften der Industrialisierung und den daraus folgenden gesellschaftlichen Entwicklungen. Es findet eine vergangenheitsorientierte Besinnung auf alte, nationale Werte statt. Die Kulturkritik richtet sich sowohl gegen die Moderne und deren, aus der Sichtweise der Kritiker, negative Auswirkungen als auch gegen das Bildungssystem. Durch die Orientierung an alten Werten soll die Gesellschaft verbessert und Deutschland in eine führende Stellung in Europa bzw. der Welt gebracht werden. 196 Diem, Olympische Reise, 1937, S. 80. 65 Die Aspekte der Kritik der Kulturpessimisten, an den Beispielen Langbehn und Lagarde verdeutlicht, sind auch in den Texten Diems zu finden. Diese kulturpessimistische Einstellung ist in allen Epochen seines Schaffens vorhanden und kann daher als eine Konstante seiner Haltung angesehen werden. Den Sport sieht Diem als eine Möglichkeit an, den Missständen entgegenzuwirken und stellt ihn daher immer wieder in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Er versucht, durch ihn auf die Gesellschaft einzuwirken. Diem nutzt den Sportboom der Zeit, um durch den Sport auch gesellschaftliche Verbesserungen in seinem Sinne anzustoßen. Er hat zudem eine sehr enge Vorstellung von seinen Idealen. Dies trifft zum einen auf das Bildungssystem als auch auf die Staatsform zu. In der Weimarer Republik liegen Realität und Idealität in Bezug auf Bildungssystem und Staatsform seiner Meinung nach sehr weit auseinander, so weit wie in den anderen Regierungsformen, unter denen er lebte, sonst nicht. Im Verlauf der Weimarer Republik intensiviert Diem die Forderung nach einer Erziehung durch Sport und insbesondere zur Wehrtüchtigkeit durch Sport. Das Bedürfnis nach einer solchen Erziehung, vor allem als Ersatz zum Wehrdienst, wird in dieser Zeit allgemein lauter, so dass Diem sich mit seinen Werten des Sports bestätigt sieht. Er versucht, ihn verstärkt in den Mittelpunkt zu rücken. Zur Zeit der BRD hat Diem sich dem Staat besser unter- bzw. eingeordnet und ihn nicht kritisiert. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass Diem mit allzu öffentlicher Kritik am politischen System, wie er sie zur Zeit der Weimarer Republik äußerte, negative Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte, gerade von den Besatzungsmächten, und so seine hohe Position im Sport nach dem Zweiten Weltkrieg nicht hätte wahren bzw. einnehmen können. Allerdings gibt es auch innerhalb des Sport- und Turnsystems durchaus Dinge, die von Diem kritisiert werden. Diese sind jedoch meist auf Einzelfälle beschränkt oder sind Probleme, die der jeweiligen Zeit entspringen. Die Zeit der Weimarer Republik als Versuch der Demokratie brachte viele Neuerungen mit sich und einiges wurde entgegen der alten Ordnung erprobt. Diem ist durchaus kein Fanatiker alter Ordnungsübungen, doch ist sein Ideal des Sportlers bzw. Turners auch von Ordnung geprägt. Er ist zudem Gegner der Vergnügungsveranstaltungen, denen sich die Jugend der Zeit gerne hingibt und, wie Diem meint, dass sie von denen schlecht beeinflusst wird. Daher fordert er ein gewis- 66 ses Maß an Ordnung in der Ausbildung. „Wir wollen keine gemütlichen Haufen, sondern eine straffe geschlossene Gruppe mit Zucht und Liebe zur Ordnung.“197 Insgesamt sind diese innersportlichen Kritiken jedoch zu vernachlässigen, da sie an Umfang und Intensität, auch in Bezug auf die Sprache, der allgemeineren Gesellschaftskritik Diems weit nachstehen. Es lassen sich viele Parallelen von Diems Kritik an der Gesellschaft zu der des Kulturpessimismus finden. Diese sind in Ansichten zu dem angeblich untauglichen Erziehungs- und Bildungssystem des Deutschen Reiches verdeutlicht durch die Kritik an der Schule, zum technischen Fortschritt, der den Menschen u.a. von der Natur entfremdet, zu der Vormachtstellung Deutschlands in der Welt, zu der Suche nach Führern, zum modernen Leben, das der Einfachheit und Natürlichkeit beraubt ist, und in der Ablehnung der Demokratie als Staatsform, zu erkennen. Vergleichbare Äußerungen finden sich in Werken Diems aus allen Epochen seines Schaffens, so dass durchaus gesagt werden kann, dass er ein Anhänger und Verfechter der Ideologie des Kulturpessimismus war. Das Ziel aller dem Kulturpessimismus Anhängenden war die Erhöhung der deutschen Volkskraft und damit verbunden das Weiterkommen des deutschen Volkes. 197 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 179. 67 4 Spiel und Kampf – Ergänzung oder Widerspruch? 4.1 Basis: Triebhafter Ursprung – Verknüpfung mit dem Sozialdarwinismus Für Diem ist die Ursache des Sports in jeglicher Form auf Trieben begründet. Sport ist die planvolle, zielgerichtete Weiterentwicklung des Spiels und Spielen liegt laut Diem in den Wurzeln der Menschheit. „Wir haben es im Spiel mit einem Trieb zu tun, also mit einer Lebenserscheinung an sich, die wir nicht weiter erklären können, die wir aber bei allen höheren Lebewesen, also nicht nur beim Menschen, vorfinden.“198 Diem spricht demnach nicht nur den Menschen sondern alle „höheren Lebewesen“ an. Somit ist Spiel etwas, das durch die Evolution begünstigt von hoch entwickelten Lebewesen, Menschen und Tieren hervorgebracht wurde bzw. ihnen eigen ist. Ebenso wie bei Tieren ist das Spiel beim Menschen als ein angeborener Trieb zu erklären. Ein Trieb also, der, wie z. B. Nahrungsaufnahme oder Sexualität, unreflektiert ausgelebt wird und existentiell ist. Er stellt damit den spielenden bzw. sporttreibenden Menschen auf eine animalische Ebene. Sport entspricht demzufolge nach Diem nicht der Eigenart des höchst entwickelten Lebewesens, des Menschen. Davon ausgehend folgert Diem, dass alles, was triebhaft verankert ist, auf einen Urzustand zurückgeht. Folgerichtig wird sich der Mensch gegen alles wehren, was nicht mehr diesem Urzustand entspricht. Auf diesem Gedanken fußt auch die Kulturkritik Diems, wie die folgenden Aussagen bestätigen. „[…]; denn in gewisser Beziehung ist der Sport eine Abwehr gegen das Aufgehen im Technischen, eine Äußerung innerer naturkräftiger Triebe.“199 „Sport ist Urtrieb, eine Abwehr gegen die Einflüsse des Stadtlebens und eine neue Form im Gemeinschaftsleben.“200 Diem hat mit der zitierten Aussage über das Gemeinschaftsleben Recht, dass der Sport eine Erscheinung ist, die erst als „Massenbewegung“ auftrat, als die Menschen aufgrund der Industrialisierung mehr Freizeit hatten und neben der Arbeit neuen Zeitvertreib suchten. Im Sport aber eine „Abwehr“ gegen die Technisierung zu sehen, ist ein durchgängiges Muster in den Texten Diems und daher häufig in seinen Texten zu finden, da er oft die Urzustände der Mensch198 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 110. 199 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 111. 200 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1221. 68 heit als Beispiele anführt. Den Ursprung für die Betätigung vieler Menschen im Feld Sport sieht Diem nicht in der während der Industrialisierung gewachsenen Freizeit der Menschen, sondern in eben diesen Trieben begründet Die hohe Bewertung der Triebe, die Diem bei der Analyse des Spiels vornimmt, ist sicherlich mit darin zu sehen, dass in der Prägezeit Diems der Ansatz des Sozialdarwinismus sehr weit verbreitet war, den Diem übernommen hat und der demzufolge in seinen Ansichten oft zu finden ist. Der Kampfgedanke spielt auch hier eine wesentliche Rolle. „Der Sport ist eine solche Spielform des Menschengeschlechts, um den körperlichen Bestand zu sichern. Vom gleichen Triebe veranlasst, wenden wir auch die Kräfte des Verstandes an, und auch hier wieder rein aus Freude an der Verstandesleistung ohne jeden unmittelbaren praktischen Zweck.“201 Diem sieht demnach („um körperlichen Bestand zu sichern“) das Spiel als eine abgemilderte Form des Kampfes um das Dasein an. Dies ist ein darwinistisch geprägter Ansatz, der den Kräftigeren, besser körperlich Ausgebildeten eine größere Chance zum Weitertransport ihres Erbguts und damit auch der Triebe einräumt. Der Ausdruck „survival of the fittest!” wurde durch Spencer, einem Vorgänger Darwins, geprägt.202 Innerhalb der Denkweise des Sozialdarwinismus werden „die Begriffe „natürliche Auslese“ und das „Überleben der Tauglichsten“ als zentrale Kategorien auf das Leben der menschlichen Gesellschaften anzuwenden versucht“.203 Diem hat von dem Sozialdarwinismus den Gedanken übernommen, dass „die menschliche Gesellschaft […] ein Teil der Natur“ ist und „folglich […] auf sie auch die Gesetze der Natur Anwendung“204 finden. Der Maßstab für Diem sind die Grundsätze der Natur und der Sport sollte sich danach richten. Der Sport „führt uns zur Natur zurück. […] Wir werten jeden Sport unbewusst nach dem Maßstab, wie weit er naturnahe ist.“205 Deshalb fordert Diem immer wieder den Menschen auf, zu seinem Urzustand, das heißt zu seinen Wurzeln, die in Bewegung und Natürlichkeit liegen, zurückzukehren, da der Sport „eine Rückkehr zur Natur und damit zur gottgewollten 201 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 114. 202 dtv Atlas zur Biologie, S. 491: „[Der] ‚Kampf ums Dasein’ als planlos züchtende Macht vernichtet die meisten minder geeigneten Jungindividuen, während die tauglicheren eine größere Chance haben, ihr Erbgut in die nächste Generation der Population einzubringen.“ 203 Mühlmann, Sozialdarwinismus, S. 951. 204 Mühlmann, Sozialdarwinismus, S. 951/952. 205 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1229/1230. 69 Ordnung“206 ist. Aus diesem Ansatz kann ebenso abgeleitet werden, dass Diem auch im Spiel immer fordert, dass sich der Mensch zu etwas höherem entwickeln solle. Die von Natur aus gegebene Überlegenheit der deutschen Rasse könnte so noch verstärkt und gefördert werden.207 Hier kann die Ansicht Diems, Triebe und damit auch Aggressivität im Sport erhalten bzw. ausleben zu können, mit der Theorie des Forschers Konrad Lorenz verknüpft werden. Dieser entwickelt die These, dass sich der Trieb der Aggressivität in hochtechnisierten Gesellschaften zurückbildet bzw. dass Mechanismen entwickelt werden, die die Auslebung dieses Triebes hemmen. „Ich glaube keineswegs, dass die großen Konstrukteure des Artenwandels das Problem der Menschheit dadurch lösen werden, dass sie deren intraspezifische Aggression ganz abbauen. […] Wenn ein Trieb beginnt, in einer bestimmten, neu auftretenden Lebenslage Schaden zu stiften, so wird er nie als Ganzes beseitigt, […]. Es wird vielmehr stets ein besonderer Hemmungsmechanismus geschaffen, der, an jene neue Situation angepasst, die schädliche Auswirkung des Triebes verhindert.“208 Diese Hemmungsmechanismen sind nicht in Diems Sinne, der den Kampf im Sport als wesentlich ansieht, wie noch genauer zu zeigen sein wird. Der Sport bietet ein Feld, in dem die Triebe ausgelebt werden können und die Menschen daher auch vor den schlechten Einflüssen, die Diem in der Moderne sieht, bewahren. Die Auslebung dieses Triebes ist damit die beste Erziehung, die man der Jugend bieten kann, und sollte deshalb auch zur Pflicht der Ausbildung insgesamt und im speziellen der Sportausbildung gemacht werden. Für Diem gibt es demnach Wurzeln des Spiels, die klar zu erkennen und zu erklären sind und diese liegen nicht in der Philosophie oder anderen geistigen Wissenschaften, sondern in der Biologie. 206 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 55. 207 Wehler, Bd., 3, S. 1083/1084: „Er [der Sozialdarwinismus; MB] rechtfertigte den kapitalistischen Konkurrenzkampf und die imperialistische Expansion, er gab dem nationalistischen Selbstbewusstsein und rassistischen Überlegenheitsgefühl die naturgesetzliche Weihe.“ Zur Überlegenheit der Deutschen: Diem, OF 3, Der Durchbruch durch die Engländer, 1918, S. 1592: „Erst auf der Höhe von Bullecourt, als sich das ganze grauenvolle Stellungskampfgelände vor unseren Augen auftat, in diesem Meere von Verwüstung, umwehte uns wieder der eisige Hauch des fürchterlichen Krieges, in welchen uns der Neid der Franzosen und die Habgier der Engländer gezwungen und der uns nun zum mitleidlosen Arzte gemacht hat, durch dessen scharfen Messerschnitt die Welt am deutschen Wesen wieder genesen wird, wie es ein in die Zukunft schauender Dichter vorausgesagt.“ 208 Lorenz, Das sogenannte Böse, S. 367. 70 4.2 Sport und (Wett-) Kampf In diesem Kapitel werden die wichtigsten Pfeiler des Sportverständnisses von Diem untersucht, der Wettkampf und als Weiterführung der Kampf im Krieg. Es soll gezeigt werden, wie wichtig der Kampfgedanke für Diem ist und wie er diesen in sein Verständnis von Sport mit einbringt. 4.2.1 Der Kampf im Sport „Sport ist Kampf! – Fröhlich und doch ernst, viel besungen und viel gescholten – aber zweifellos gehört der turnerisch-sportliche Wettkampf zu den Grundlagen, auf denen unser Turn- und Sportwesen ruht.“209 Der Sporthistoriker Bernett schreibt dazu: „‚Sport ist Kampf!’ Diese These ist Diems unumstößlicher Kardinalsatz.“210 Der Wettkampf bildet für Diem die Grundlage, auf der die gesamte Sportbewegung aufbaut. „Das Wesentliche war der Geist, aus dem der Sport entstand, und der alle diese Gebiete [die verschiedenen Sportarten; MB] ganz unabhängig voneinander und ohne Berührung miteinander gleichmäßig erfüllte. Das war der Geist des Wettkampfs. Die Freude an Stählung des Körpers, an der Verfeinerung der Technik, der Steigerung der Leistung, der Stolz des Siegs.“211 Damit wird deutlich, wie elementar dieser Gedanke für Diem ist. Er sieht im Sport immer den Wettkampf bzw. die Meisterschaft. Obwohl auch schon der Leistungsfortschritt den Sportler mit Freude erfüllt, ist doch der Sieg in einem Wettkampf das Ziel, das wirklich zählt und das es zu erreichen gilt.212 Für ihn ist die Verbindung von Sport und Wettkampf zwingend. Wettkampf ist für Diem das Erziehungsmedium des Sports. Ohne den Wettkampf wird die Jugend, um die es ihm hauptsächlich geht, nicht vollwertig erzogen. Wenn Sport ohne Wettkampf getrieben wird, fehlt ein entscheidender Sinngehalt des Ganzen. Zudem sieht er das Wettkämpfen als ein natürlich menschliches 209 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 177. 210 Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 35. 211 Diem, Sport, 1920, S. 16. Dazu ebenso in Diem, Sport, 1920, S. 28: „Der Wettkampf ist die Seele des Sports.“ Und in Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b: „Schon die Tatsache, dass ich nicht etwa an irgendeinem Widerstande ziehe, sondern den Gegner und die wettkampfmäßige Form wähle, beweist, dass mir das Körperbildende allein nicht genügt, sondern ich die Freude dieses betreffenden Wettkampfes genießen möchte.“ S. 127. 212 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 13: „Und als die letzte Staffel erreicht, - Der wackere Gegner geschlagen weicht, - Wir fünfzig vom Eichenkranz geschmückt… - Da ist unser Herz beglückt - und selig. - Wir haben, wir haben gesiegt!“ 71 Phänomen, das in jedem Menschen liegt und um das es auch jedem Sportler geht, er will sich mit anderen messen, das sei ein Hauptmotiv des Sporttreibens. „Innerlich verbunden mit dem Streben nach Vervollkommnung ist die Freude am Vergleich. So wie es einen jeden gelüstet, sein Können zu steigern, so will er es auch an dem Können der anderen messen. Dieser Wunsch ist so alt wie die Menschheit selbst.“213 Daher sind die Kampfspiele, die ein nationales Olympia darstellen sollten, in dieser Tradition entstanden. „Die deutschen Kampfspiele sind als solche ein Menschheitsgedanke.“214 Sie bieten den Sportlern genau das, was sie suchen: den Leistungsvergleich untereinander. Außerdem unterstellt er, dass man seinen Körper planmäßiger und vollkommener erzieht und ausbildet, wenn man auf einen Wettkampf hinarbeitet. „[…]Wettkampf [ist; MB] das wirksamste Mittel der Körpererziehung[…]. Denn er ist in der Regel Abschluss einer planmäßigen, längere Zeit hindurch betriebenen Übung und Härtung, die wir Training nennen.“215 Diem begründet seine Forderung nach dem Wettkampf auch noch aus medizinischer Sicht. Seines Erachtens bringt nur die Höchstanstrengung Entwicklungsreize für die Organe, die im Training aber nicht erreicht werden. Dies bewirkt nur der Wettkampf. Da im Wettkampf die Leistungen der Teilnehmer annähernd gleich sind, müssen die Sportler Höchstleistungen erzielen, um eine Chance auf den Sieg zu haben. In diesem Zusammenhang ist auch Diems Theorie der Idealentwicklung, nach der es jedem Menschen möglich ist, aus dem Körper ein Ideal zu formen, zu sehen, die es für jeden anzustreben gilt. „Demzufolge müsste es für jeden Menschen eine gewisse Idealentwicklung geben, die in der ungehemmten Entfaltung aller ihm mitgegebenen Anlagen bestände.“216 Die Steigerung des Wettkampfes liegt in der Meisterschaft. „Meisterschaft in dieser Hinsicht ist für jeden einzelnen Sportsmann derjenige Kampf, der ihm am meisten am Herzen liegt.“217 Die Meisterschaft bekommt also eine zentrale Stellung im Sportlerdasein. Hier werden die Leistungen gemessen und gewertet. „Im Rekord erfüllt sich der jugendliche Drang nach Meisterschaft.“218 Dies mag für Wettkampfsportler, die sich für Meisterschaften qualifizieren oder an solchen 213 214 215 216 217 218 Diem, Sport, 1920, S. 7. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 30. Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 178. Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 178. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 61. Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 18. 72 teilnehmen, sicherlich zutreffen, aber auch in der Weimarer Republik gibt es bereits Gesundheits- und Sozial-Sportler, auf die dies nicht zutrifft. Ebenfalls ist diese Sichtweise in Bezug auf den Frauensport, in dem Wettkämpfe bzw. Meisterschaften zu der Zeit als verpönt gelten, nicht zutreffend. Die Hinsicht, die Diem auf dieses Thema hat, nennt er eine pädagogische. „Der Begriff ‚Meisterschaft’ ist ein pädagogischer, ja man kann außerdem sagen ein moralischer. Pädagogisch im Sinne, dass man seine körperliche Arbeit auf ein Ziel einstellt, und nun danach genau abgemessen seinen Körper bildet, damit er am Tage, auf den es ankommt, seine Höchstleistung zu zeigen imstande ist.“219 Der pädagogische Prozess besteht demnach aus der Trainingsperiodisierung und einer konsequenten Verfolgung des Wettkampfziels. Allein das Sich-Einlassen auf einem sportlichen Ziel gewidmete Freizeitgestaltung hat für Diem bereits erzieherischen Wert. Er geht davon aus, dass ein gesteuertes, regelmäßiges Training auf eine Meisterschaft hin den Athleten formt. Hieraus resultiert dann auch die moralische Bedeutung, die er der Meisterschaft zuschreibt. „Der Begriff der Meisterschaft umschließt auch eine moralische Forderung. Er zwingt den Menschen zur Entbehrung, zur Durchführung gesteigerter körperlicher Arbeit nach einem vorbedachten Plan, ist also eine Bildungsschule des Willens und Charakters, wie wir sie uns nur wünschen können.“220 Diem sieht den gesteigerten Wert des Wettkampfs bzw. der Meisterschaft in der über das Körperliche hinaus gehenden Wirkung auf den Charakter und Willen des Menschen. „Für Diem ist körperliche Ertüchtigung, die zum Wettkampf befähigt, keine leichte, spielerische, ja mit Lust verbundene Aktivität. Kennzeichen des Wettkampfstrainings ist vielmehr die Askese, es ist Selbstüberwindung erforderlich.“221 Die für Diem wichtigen Werte scheinen durch eine Ausrichtung des Sports auf ein Ziel gefördert zu werden. Sportler, die einen solchen Plan verfolgen, müssen diszipliniert arbeiten, viel Zeit dafür aufbringen, die für andere Beschäftigungen dann nicht zur Verfügung steht, und dieses Ziel auch selbst erreichen wollen, da man es nur intrinsisch motiviert erreichen kann. Im Gegensatz dazu sieht Diem in anderen Texten den Sieg an erster Stelle, allerdings immer unter Einhaltung der geltenden Regeln. „Kämpfe, denn Du musst siegen!“222 Es reicht 219 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 61. 220 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 61. 221 Schmidt-Millard, Ist eine „Pädagogik des Wettkampfs“ pädagogisch vertretbar?, S. 238 (Hervorhebung i. Original). 222 Diem, Sport, 1920, S. 8 und 28. 73 dann demnach nicht nur auf ein Ziel hin zu trainieren, sondern dieses Ziel findet erst im erfolgreichen Bestehen eines Wettkampfs seinen Sinn. Bernett geht sogar davon aus, dass „Leisten, Kämpfen und Siegen in Diems Sportethos eine fest gefügte Trias“ bilden. „‚Immer der Erste sein und voranzuleuchten den andern’ – diese Homer-Sentenz gilt auch für den modernen Sportler. Es beruht wohl auf sportlicher Selbsterfahrung und auf dem Selbstverständnis des Sportorganisators, dass Diem dem Kämpfen und Siegen eine hohe Erlebnisqualität zuspricht.“223 Diem erkennt sowohl den Prozess des Trainings als auch den Sieg selbst und die Erfahrung einer Meisterschaft als wichtige Bausteine an. „Es braucht also nicht notwendigerweise bei ihm [dem Sportler; MB] wirklich der MeisterschaftsTitel ausgeschrieben zu sein.“224 Dennoch ist das höchste Ziel im Sieg einer Meisterschaft zu sehen. „Aus allen diesen Gründen windet der Sportsmann bewusst oder unbewusst den Kranz der Meisterschaftsehren, und darum gilt der Sieg an einem Meisterschaftstage besonders hoch und wird mit Recht in den Meisterschaftslisten für alle Zeiten verewigt. Daher: Auf zu den Meisterschaften!“225 Mit der hohen Bewertung von Wettkampf und Meisterschaft folgt Diem konsequent seinem erzieherischen Bild vom Sport. Er misst allein schon einem Trainingsplan eine bildende Funktion zu. Sicherlich ist das Training auf eine Meisterschaft hin ein langer und schwieriger Prozess, der vom Athleten viel an Disziplin und Willensstärke fordert, doch allein durch Training wird nicht generell ein Bildungsprozess eingeleitet, der zwangsläufig zu einer Persönlichkeits- bzw. Charakteränderung führen muss. Diese hohe Schätzung stammt von Diems These, dass der Sport in den Trieben des Menschen verankert ist und damit auch der Kampf. Für ihn ist der Wettkampf ein immanenter Aspekt im Sport, so dass die logische Folge dann auch die hohe Bewertung von Meisterschaften, also öffentlichen Wettkämpfen, ist. Diese sind in der Realität unter Umständen nicht für jeden Athleten zugänglich, da sie einen Kampf auf höherem Niveau darstellen und nur dem Vergleich der jeweiligen Elite, sei es auf Stadt-, Landesoder Bundesebene, dienen. Darüber hinaus ist sicherlich auch nicht jeder Sportler gewillt, sich auf öffentliche Wettkämpfe einzulassen. 223 Beide Zitate aus Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 35. 224 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 61. Dazu auch Diem, Sport, 1920, S. 30: „Nicht nach dem Titel, nach der Sache strebe man, am Tage der Prüfung seinen Mann zu stehen, und dessen soll man sich auch freuen.“ 225 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 62. 74 4.2.2 Der (Erziehungs-) Weg zur Kampfnatur Die dargestellte Entwicklung zur Höchstleistung und die Bemühung, eine Idealentwicklung anzustreben, sind aber nur nebensächliche Argumente Diems. In der Hauptsache geht es ihm darum, den Jugendlichen und sogar schon das männliche Kind mit dem Wettkampf vertraut zu machen, damit er für den Ernstfall lernt, nämlich für den Krieg. „Mit Gesundheitsturnen ist es nicht getan. Stahl will in Feuer gehärtet sein! Jugend bewährt sich im Kampf.“226 Dieses Zitat von 1948 zeigt, dass Diem auch nach dem Zweiten Weltkrieg an dieser Einstellung festhält. Der Sport benötigt für dieses Ziel Lehrer und Übungsleiter, die die Schüler von der Sache überzeugen können und denen die Schüler gerne folgen. Das Idealbild eines guten Soldaten, das für ihn auch leitend ist bei der sportlichen Ausbildung, wie im Folgenden dargestellt wird, ist für Diem, dass er im Ernstfall die richtigen Entscheidungen fällt und mutig sich dem Feind stellt. Er fordert die Erziehung zum Führer, da dieser die anderen Soldaten mit seinen Entscheidungen und Taten mitreißen soll227, ihm nachzufolgen: „Wir brauchen die Erziehung zum Führer. Uns kommt es auf Männer an mit heißer Vaterlandsliebe und warmem Herzen unter einem klaren und nüchternen Kopf, Männer mit weitem Blick und hohen Zielen und mit der Kraft, sie unentwegt anzustreben.“228 Da Diem mit dem Gedanken des Sozialdarwinismus229 verbunden ist, geht er davon aus, dass die Menschen sich von vornherein in die Rollen des Führers und der Nachfolgenden einfinden. Die Führertauglichen müssen dann allerdings speziell erzogen werden. Diem möchte also eine Art Übermensch230 erziehen, der, in jeder Lebenslage, immer situationsspezifisch richtig handelt. Dieser Anspruch ist sehr hoch gesetzt, da gerade im Falle eines Krieges eine Ausnahmesituation herrscht, auf 226 Diem, Ewiges Olympia, 1948a, S. 287. 227 Siehe auch Diem, OF 1, Persönlichkeit, 1932, S. 57: „Der Erfolg des Heeres besteht darin, dass der Führer richtige Entschlüsse fasst und der Soldat sie ausführt.“ 228 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 182. 229 Siehe, Kapitel 4.1, Mühlmann (Sozialdarwinismus, S. 952.): „Die Menschen sind von Natur aus ungleich, daher spiegelt auch die gesellschaftliche Hierarchie diese Ungleichheit. Auch diese Entsprechung gehört zur Ökonomie der Natur: - (Dieser Gedanke war dazu bestimmt, ein Krisenelement für die Idee der Demokratie zu werden, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch – und noch mehr – in Deutschland.)“ 230 Siehe dazu Diem, Sport, 1920, S. 6. In dem Gedicht „Aufforderung!“ schildert Diem die Auswirkungen des Sports auf den Körper bzw. den Sportler. Das Gedicht schließt mit der Zeile: „Werde zum Held du, starkwillig und kühn“. Auch die Schilderung des Miltiades, in „Der Läufer von Marathon“, als Idealbild von Diem, zeigt, dass der Mensch, zu dem Diem erziehen möchte, auf den wichtigen Gebieten des Lebens, Sport und Militär, vollkommene Fähigkeiten besitzt. 75 die man letztlich nicht vorbereitet werden kann und in der es sehr schwer ist, stets exakt die richtige Entscheidung zu fällen. Er projiziert sein Erziehungsideal des Sports somit auf das gesamte öffentliche Leben, ist sich aber dieser Überfrachtung des Sports mit Zielen nicht bewusst, sondern eher im Gegenteil der Ansicht, dass der Sport sehr viel dazu beitragen kann, dem Deutschen Reich wieder zur Stärke zu verhelfen. Da die von ihm geforderten Führer-Typen wesentlich durch die Erziehung geprägt werden sollen231, versucht er diese Erziehung im Sport zu verankern. „Eine Führerpersönlichkeit bildet sich durch Taten.“232 Das ist sein Credo. Diem geht in seiner ganzen Anschauung immer von der Einheit von Körper und Seele sowie Willen und Wissen aus. Damit rechtfertigt er auch die Forderung nach einer stärker körperbetonten Ausbildung der Kinder und Jugendlichen. Nur wer auch einen gut, am besten perfekt ausgebildeten Körper hat, der ist ein „wahrer“ Mann im Sinne von Diem, und er kümmert sich hauptsächlich um den Mann. Die Frau soll durch den Sport lediglich auf ihre Rolle als Mutter vorbereitet werden bzw. der Sport soll die Gebärfähigkeit unterstützen helfen. „Uns gilt als Maßstab, wie weit er [der Sport; MB] den Mann wehrtüchtig und die Frau gebärtüchtig macht.“233 Durch den Sport will er somit vor allem den Charakter gebildet sehen. Der perfekt ausgebildete Körper und die geforderten Charaktereigenschaften summieren sich dann in einem wahren Führer im Sinne Diems. 231 Mit dem Aspekt der Ausbildung von Führertypen ist eine Nähe zu den Vorstellungen des Dichters und Schriftstellers Stefan George zu erkennen. Auch dieser sieht nach verlorenem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik, die er als Staatsform ebenso wie Diem ablehnt, die Notwendigkeit pädagogisch wirken zu müssen. Das Ziel Georges ist die Schaffung eines neuen Deutschlands, das durch klassisch-aristokratische und damit autoritäre und antidemokratische Ideale geprägt sein soll. Im George-Kreis sieht er den Ursprung dazu. An der Spitze dieses „neuen Reichs“ soll ein geistiger Führer stehen. Aufgrund der für George wichtigen Werte der Nachahmung und Nachfolge wird in der NS-Zeit versucht, seine Ansichten zu Propagandazwecken zu missbrauchen. George entzieht sich diesen Versuchen und begibt sich 1933 in die Schweiz. Ebenso sollen kurz die Parallelen zu Nietzsches Theorie eines Übermenschen erwähnt werden. Dieser ist eine Weiterentwicklung des Menschen und ergibt sich aus dem unbändigen Willen zur Macht. Der Übermensch soll über die Normalmenschen herrschen. Die Nationalsozialisten nutzten diese Ansichten als Beleg ihrer Rassetheorien und der daraus abgeleiteten Vormachtstellung der arischen Rasse. Diems Ansichten zeigen demnach eine Nähe zu populären philosophischen Theorien der Zeit auf. Eine intensivere Auswertung dieser ist allerdings nicht Gegenstand dieser Arbeit. 232 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 182. 233 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S.1230. 76 4.2.3 Stellenwert des Wettkampfs in dieser Erziehung Der Wettkampf soll auf dem Weg der Erziehung ein entscheidender Faktor sein, denn „Wettkampf ist Stahlbad des Charakters, Wetzstein des Willens“.234 Durch viele Wettkämpfe will er die Jugendlichen zum Handeln animieren. Diese Handlungen sollen punktgenau abgerufen werden. Dies zu erreichen ist ein weiteres Ziel der Wettkämpfe, da es dort auch nicht zählt, ob ein Athlet gute Trainingsleistungen vollbracht hat, sondern welche Leistung er im Wettkampf abrufen kann. Zudem ist bei einem Wettkampf die direkte Auseinandersetzung mit Konkurrenten gegeben, so dass auch hier die Lebensnähe vorhanden ist. „Auf den Sieg im Getümmel kommt es an, nicht auf die Destillation von Leistungen im Experimentiersaal. So wollen wir es halten, das gibt brauchbare Jugend und kampfbereite Bürger. Hic Rhodus, hic salta!“235 Ganz deutlich ist hier erneut der Bezug zur Wehrhaftigkeit, die Diem als Ziel sieht. Diem beruft sich dabei auch immer wieder auf andere Pädagogen, deren Aussagen er allerdings teilweise auf die von ihm gewünschte Zielrichtung reduziert. So bringt er zum Beispiel eine Aussage von Herbart: „Charakterbildung ist nur dadurch möglich, dass man den Jüngling, ja schon den Knaben, früh in Handlung setze“236 in sein Konzept ein, vernachlässigt aber, dass es Herbart als allgemeinen Pädagogen nicht nur, wie Diem, um das Handeln geht, sondern auch um Urteilskraft und dadurch um reflektiertes, verantwortliches Handeln. Diem reduziert diese Aussage auf die selbständige Tat und negiert die Reflexion. Diem sieht den Kampf als etwas essentiell Menschliches: „Kampf – wir fühlen heute noch, wie er im tiefsten Grunde des Menschen verankert ist.“237 Außerdem sei er „das einzige Mittel, durch das sich der ‚Wille zur Macht’, meistens sich als Ehrgeiz äußernd, befriedigen kann“.238 Die Grundeinstellung Diems beruht darauf, dass aller Fortschritt, der die Menschheit weiterbringt bzw. gebracht hat, aus kriegerischen Handlungen entstanden sei. Er beruft sich wie des öfteren in seinen Schriften bei der Belegung dieser Thesen auf die griechischen Philosophen, so z.B. auf Heraklit, der gesagt hat: „Der Kampf ist der Vater aller Dinge“.239 Diem stützt sich auf das Zitat des griechischen Philosophen, ohne Berücksichtigung der zeitgeschichtlichen 234 235 236 237 238 239 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S.182. Diem, Olympische Reise, 1937, S. 33. Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 182. Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 183. Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S.183. Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S.183. 77 Zusammenhänge, für die aktuelle Zeit. „Bei uns zivilisierten Europäern ist der handhafte Kampf nicht mehr angängig, aber doch haben wir die alten Instinkte geerbt und uns mit ihnen in den Sport gerettet.“240 Diem räumt ein, dass der existenzielle Kampf nicht mehr vorhanden ist. Er wertet positiv, dass der Kampf im Sport noch existent ist bzw. in den Sport „gerettet“ werden konnte und so seine gewünschte Erziehungswirkung verrichten kann. „Sport ist Kampf, der Kampf, der da genossen wird, wo ihn uns das moderne Leben nicht mehr bietet. Sport ist also mehr als nur Körperübung, weil er im Kampfe den Mann im Jüngling erstehen lässt, weil er nicht nur die körperlichen, sondern auch die intellektuellen und seelischen Eigenschaften zur Entwicklung bringt.“241 Diem geht davon aus, dass die Idee des Kampfes den Menschen als Trieb verinnerlicht ist, da der Mensch sich lange Zeit nur über Kämpfe seine Existenz sichern konnte. „Der Trieb zu kämpfen und sich zu vergleichen, wohnt jedem gesunden Menschen inne, dem Manne naturgemäß ausgeprägter als dem Weibe.“242 Hier kommt wieder deutlich die anthropologische Sicht Diems vom Sport als Kampf zum Vorschein, die er als Kompensation des nicht mehr vorhandenen „Kampfes um das Dasein“ begründet. Die Verteilung der Geschlechter auf kampfgeprägte bzw. nicht-kampfgeprägte Sportarten ist bei Diem traditionell, der Mann ist das für den Kampf gemachte Geschlecht. Frauen haben eventuelle Tendenzen, sich in Wettkämpfen zu messen, jedoch bildet das eher die Ausnahme. Der Kampf dient in der Ansicht Diems nicht nur der männlichen Jugend, sondern auch den erwachsenen Männern. Der (Wett-)Kampf unterstützt die Erziehung, wie der Sport grundsätzlich auch, in der Schulung des Willens, des Selbstbewusstseins, der Selbstbeherrschung, der Gemeinschaft und der Gerechtigkeit und Ritterlichkeit und fördert die disziplinierte Arbeit auf ein Ziel hin. Dies zeigt deutlich die Reduzierung des Sportbegriffs auf den (Wett-) Kampfcharakter. Immer wieder geht Diem auf die militärische Komponente ein und bringt Beispiele aus dem Bereich der Armee: 240 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S.183. 241 Diem, Sport, 1920, S. 6. 242 Diem, Sport, 1920, S. 28. Dazu auch Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 287: „Bei der Mischung der geschlechtlichen Kräfte, die wir wohl bei allen Lebewesen beobachten können, darf man sagen, dass je mehr männliche Hormone im Blute kreisen, desto mehr Neigung für Kampf und Sport, je mehr weibliche, desto mehr Neigung für Tanz und Gymnastik vorhanden sein wird.“ 78 „Der erprobte Wettkämpfer geht schließlich im Bewusstsein seines Könnens mit Gelassenheit zum Start, ebenso wie der alte Soldat ins Gefecht“.243 4.2.4 Sport und Krieg In den Bänden der „Olympischen Flamme“244 und weiteren Texten (wie z.B. in „Sport ist Kampf“245) wird deutlich, dass Diem Krieg und Sport generell als verwandt ansieht. Er nimmt sehr viele Kriegsberichte sowohl aus dem Ersten als auch aus dem Zweiten Weltkrieg in diese Sammlung von Veröffentlichungen auf. Die Berichte aus dem Ersten Weltkrieg sind zum Teil aus seinem „Kriegstagebuch“ entnommen, das Diem beim Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Die Berichte zum Zweiten Weltkrieg sind geprägt von der Einstellung Diems, dass er sich untätig und damit unzufrieden in der Heimat zurückgelassen sieht. Da die „Olympische Flamme“ 1942 erschienen ist, stammen die Artikel zum Zweiten Weltkrieg noch aus einer Phase der deutschen militärischen Erfolge und für diese macht Diem den Sport mitverantwortlich. Diem sieht sie in der systematischen Aufbauarbeit begründet, die der Sport in Deutschland seit Jahren leistet. Nach verlorenem Ersten Weltkrieg ist das Hauptanliegen Diems, die deutsche Bevölkerung aus dem „körperlichen Niedergang“ herauszuholen und sie mit dem Mittel des Sports wieder stark zu machen. Ihm liegt daran, die Schmach des Ersten Weltkriegs vergessen zu machen und das deutsche Volk zu einer führenden Rolle in Europa zu bringen. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens folgt ein Zitat von Diem aus dem Jahr 1920, das noch einmal zusammenfasst, welche Wirkung Diem dem Sport und insbesondere dem Kampf beimisst. „Jedoch gestehen wir uns: Der im Kampfe entwickelte Mann, der starkgliedrige, der mutige, der vornehm denkende, nur der kann Träger vorwärtsschreitender Kultur werden. Also nicht allein der gesunde Leib, nein, der gestählte Leib, der mit einem feurigen Geiste verbunden und von edel gerichteter Seele gebändigt ist, der bringt uns das Geschlecht, das aus dem Dunklen ins Helle dringt, das immer strebend sich bemüht, das uns auch in jedem Überschwang nur Größe zeugt. Darum lasst die Knaben nicht nur sich beugen und strecken, damit der Leib gesund blei243 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 186. 244 Diem, C. (1942). Olympische Flamme. Das Buch vom Sport (3 Bände). Berlin: Deutscher Archiv-Verlag. 245 Diem, C. (1923). Sport ist Kampf. Berlin: Weidmann. 79 be, sondern lasst sie tollen, spielen, sich schlagen und bekämpfen, ringen und reiten und die Kraft ihrer Schenkel messen, wer von ihnen der Schnellste sei. Nichts Großes in dieser Welt ohne einen großen Willen! Den vor allem müssen sie in steter Übung gewinnen. Dann werden die jungen Sprossen mitwirken, der Menschheit Mission zu vollenden, eben Kultur zu schaffen, d.h. wie es Schiller nennt, den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen; denn der Mensch ist das Wesen, welches will.“ 246 Dieser Ausspruch spiegelt die Ideologie247 Diems wider. Er geht, davon aus, dass das deutsche Volk eine Vormachtstellung mindestens in Europa innehaben sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg ist diese Stellung in weite Ferne gerückt. Der Krieg hat viele Opfer gefordert, unter ihnen auch viele derjenigen, die Diem als „Führerpersönlichkeiten“ bezeichnet hat. Es gilt also für das Deutsche Reich aus einer im Abseits liegenden Stellung wieder in eine zentrale Position zu rücken. Um das zu erreichen, also ein „Geschlecht, das aus dem Dunklen ins Helle dringt“, besteht ein Weg in der Erziehung durch Sport und damit auch der Erziehung durch den Kampf. Die Sätze Diems bekommen durch ihre Wortwahl einen pathetischen Ausdruck. Er benutzt sehr bildhafte Adjektive, wie gestählt, feurig, etc, die beim Leser direkt Eindruck hinterlassen. Da es der allgemeine Wille ist, das Deutsche Reich wieder zu einer wichtigen politischen sowie kulturellen Position zu führen248, trifft Diem mit diesen markigen Worten den Kern der Zeit. Diem spekuliert, dass eventuell mit einer sportlichen Ausbildung der Soldaten vor dem Ersten Weltkrieg die kriegerischen Handlungen für das Deutsche Reich erfolgreicher verlaufen wären als mit der sehr drillorientierten militärischen Schulung. „Aber nicht nur Freude und Spannkraft, auch militärische Ausbildung brachte der Sport mit sich, und manches wäre vielleicht besser gegangen, wenn ein Teil der bisherigen im Drill erstarrten körperlichen Ausbildung in sportlichen Übungen bestanden hätte.“249 Die Richtigkeit seiner These sieht Diem darin bestätigt, dass in der Vorschrift zur militärischen Ausbildung nach dem 246 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 6. Dieses Zitat steht wortgenau ebenso in dem Buch „Sport“, S. 6/7 von 1920. 247 Ideologie wird hier verstanden als ein System von Ideen, Vorstellungen und Werturteilen, als Synonym ist der Begriff Weltanschauung zu sehen. 248 Dazu Wehler, Bd. 4, S.298: Das Oppositionslager, „das sich in seiner Fundamentalkritik am Weimarer und Versailler ‚System’ einig war“, hielt an dem Ziel fest, „dass der Wiederaufbau eines mächtigen, zur Hegemonie in Europa befähigten deutschen Nationalstaats unverrückbar Primat besitze, stimmte es auch in seinem extremen Nationalismus überein“. 249 Diem, Sport, 1920, S. 21. 80 Krieg der Sport seinen Platz bekommt. „Im neuen Heer der Zukunft dürfte der Sport eine wichtige Rolle spielen. Die neue Vorschrift über die Pflege der Leibesübungen im Heer vom 1. Mai 1919 gibt ihm sein volles Recht.“250 Er sieht es 1942 als gelungen an, durch den Sport bzw. die sportliche Ausbildung der Soldaten die Qualität der Ausbildung zu verbessern251, da dies die militärischen Erfolge zu diesem Zeitpunkt scheinbar beweisen. Den Stolz auf sein Werk kann man im folgenden Zitat erkennen. „Die fröhliche Begeisterung, die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wettkampf empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen, und in Ehrfurcht, und mit einem inneren Herzbeben, in das etwas von jener fröhlichen Begeisterung hineinklingt, stehen wir staunend vor den Taten des Heeres. In ihnen zeigt sich, was der Deutsche kann, in ihnen wächst der Deutsche von heute über alles frühere und über sich selbst hinaus. […] Senken wir einmal die prüfende Sonde in das Entstehen dieser neuen Lebenshaltung. Suchen wir einmal den Pulsschlag dieser neuen Jugend zu erfassen ... im Sport ist sie groß geworden; Anstrengung im Wettkampf war ihr eine Lust.“252 Diem bewertet die Aufgaben und Taten des Heeres sehr positiv. Dieser Eindruck wird durch Worte wie „fröhliche Begeisterung“, „staunend“, „Anstrengung […] eine Lust“ erweckt. Diem ist stolz, seine Erziehung in dem Ernstfall wirken zu sehen, auf den er hingearbeitet hat. Damit hat Diem sein Hauptziel erreicht, das er immer wieder gefordert hat: die Wehrfähigkeit des deutschen Volkes wieder herzustellen. Damit dies auch so bleibt, soll der Sport in der Kriegszeit weitergeführt werden. „So erlebten wir im frischen Novemberwind ein fröhliches Sporttreiben und einen prachtvollen soldatischen Geist.“253 Die Worte „prachtvollen soldatischen Geist“ bestätigen noch einmal, dass Diem sein Erziehungsziel, im Sport für den Ernstfall üben zu lassen, erfüllt sieht. 250 Diem, Sport, 1920, S. 21. 251 Bereits 1912, 1916, 1919 und 1932 machte Diem Eingaben zur Einführung einer Sportpflicht, darüber hinaus legte er 1933 einen Entwurf einem Reichskommissariat vor, der „Sport und Leibesübungen als Mittel zur ‚Wehr- und Nationalerziehung’ anpries[…]“. Auch weiterhin versucht er, Einfluss auf das Militär auszuüben. „Diem lag mit seinem Vorschlag, ‚Sportregimenter’ zu schaffen, zwar auf der Linie des Reichssportführers, […], stieß aber – wenn auch mit mehr als einem Jahr Verspätung – auf den Widerspruch der SA-Führung.“ (Beide Zitate aus Teichler, Der Weg Carl Diems vom DRA-Generalsekretär zum kommissarischen Führer des Gaues Ausland im NSRL, S. 57 bzw. S. 55) 252 Diem, OF 1, Sturmlauf durch Frankreich, 1940, S. 124. 253 Diem, OF 3, Auf den Spuren des Sieges, Von der Westreise des Reichssportführers, 1940, S. 1616 81 Der Sport kann zudem den Soldaten wichtige Unterstützung, neue Kraft und Hilfen geben.254 „Sport ist der Büchsenspanner des Soldaten, in ihm wächst neue Frische und neue Lust zu.“255 Ein weiteres Zitat zeigt, dass Diem die positiven Eigenschaften des Sports bei Soldaten bestätigt sieht. „Dabei war er [der Sport; MB] uns immer treu, immer unentwegter Diener geblieben und hat uns schweigend geholfen, wenn bei der ersten Ausbildung die Ausdauer zu versagen drohte, wenn bei den langen Übungsmärschen die Kräfte schwanden, wenn das „Sprung – auf – marsch – marsch!“ den letzten Herzschlag forderte ... man lässt sich doch nicht ..., man wird doch nicht ..., gibt′s ja gar nicht ..., man hat ja früher auch nicht aufgegeben, bevor die Brust das Zielband berührte, bevor der Ball im Netze saß ..., und so hielt man durch, im Sport gestählt. Da war er also mit uns, der alte Freudebringer und Helfer, da dachte man wieder an ihn, den Sport, und seine Folgen für Körper und Geist ... Oder später, als der blutige Ernst des Kampfes Herz und Nieren prüfte, als die böse Winterzeit in der schlammerweichten Champagne einen bei lebendigem Leibe zu vermodern schien, als es im Argonnerwald hetzend Tal auf, Tal ab ging, da waren die gefestigten Nerven, die abgehärtete Haut, die geweiteten Lungen, im Sport und Frieden erworben, im Ernst und Krieg gar gute Dinge. Da lachte man in sich hinein ...: Wir 256 Sportsleute halten aus!“ Diem nimmt den vorhandenen morbiden Charakter der Situation zwar wahr, schildert ihn auch („bei lebendigem Leibe zu vermodern“), zieht aber nicht die Folgerung daraus, dass dies ein schrecklicher Krieg ist. Im Gegenteil, ihm entlockt diese Situation sogar etwas Freudiges („Da lachte man in sich hinein“). Als Sportler müsse man diese Situation aushalten. Es scheint, als sähe Diem nur die Fakten der Anstrengung, die man Dank Sport besser durchsteht, und verdränge die psychische und emotionale Ebene der Grausamkeit, die jeder Krieg 254 Dies bestätigt auch Wirkus (Der Krieg ist der vornehmste Sport..., S. 409.), ein Schüler Diems: „Mit COUBERTIN war Carl DIEM der Meinung, dass der Sport dem Soldaten nützlich sein könne.“ 255 Diem, OF 1, Sport ist der Büchsenspanner des Soldaten, 1939, S. 129. Teichler (Vom “Deutschen“ zum “Großdeutschen“ Olympia, S. 99.) sagt hierzu: „Bekanntermaßen beließ es Diem nicht bei jener Sinngebung des Sports, die auf die spartanischen und preußischen Ideale des Muts, der Hingabe an das Ganze, der Bereitschaft zu Kampf und Tod zurückgriff. Er unterbreitete öffentlich auch praktische Vorschläge für den unmittelbaren Fronteinsatz der Sportler im 2. Weltkrieg und ließ sich als Propagandist noch im Endkampf um Berlin missbrauchen.“ 256 Diem, OF 3, Sport und Vaterland, Im Felde für einen Freund geschrieben, veröffentlicht im Fußball-Jahrbuch, 1915, S. 1618. 82 mit sich bringt. Krieg hat für Diem scheinbar keine abschreckende, sondern eher stimulierende Wirkung.257 Dies ist für ihn der Beweis, wie wichtig der Sport ist. Er gibt über die Sondersituation Krieg dem Sport eine Legitimation und eine Aufgabe auch für Friedenszeiten. Diems Auffassung besagt, dass alle Neuerungen durch Krieg entstanden sind und demzufolge immer wieder ein Krieg stattfinden muss, um die Menschheit weiter zu entwickeln. Folgt man dieser Argumentation, ist es nur logisch, dass man den Sport fördern muss, um gute Soldaten zu erziehen. Er sieht ihn als politische Lösung und überträgt die wichtigsten Eigenschaften, die einen guten Soldaten ausmachen, auf den Sport. Mit Soldaten, die in diesem Sport ausgebildet wurden, soll dann auch der Zweite Weltkrieg gewonnen werden. „Der Krieg ist der vornehmste, ursprünglichste Sport, der Sport par excellence und die Quelle aller anderen Sportarten [...].“258 Dieses Zitat zeigt zusammenfassend sehr deutlich den Stellenwert, den Diem dem Krieg zuspricht. Er sieht ihn als „vornehmsten, ursprünglichsten Sport“ an. Im Krieg findet ein Kampf um Leben und Tod statt, diesen Kampf erkennt Diem demnach als den Sport schlechthin an. Krieg wird hier gerechtfertigt als Basis des Sports. Es erfolgt keine kritische Auseinandersetzung mit dem Wesen eines Krieges, der auch immer zu Lasten der Zivilbevölkerung geht und viele Opfer fordert. Er wird reduziert auf den Kampf Mann gegen Mann oder Armee gegen Armee, was für Diem als Sport anzusehen ist. Der Zusammenhang mit dem Sport verdeutlicht 257 Ein ganz anderes, viel emotionaleres, die morbide Stimmung deutlich darstellendes Bild vom ersten Weltkrieg vermittelt dagegen Remarque in seinem Roman „Im Westen nichts Neues“: „Noch eine Nacht. Wir sind jetzt stumpf vor Spannung. Es ist eine tödliche Spannung, die wie ein schartiges Messer unser Rückenmark entlang kratzt. Die Beine wollen nicht mehr, die Hände zittern, der Körper ist eine dünne Haut über mühsam unterdrücktem Wahnsinn, über einem gleich hemmungslos ausbrechenden Gebrüll ohne Ende. Wir haben kein Fleisch und keine Muskeln mehr, wir können uns nicht mehr ansehen aus Furcht vor etwas Unberechenbarem. So pressen wir die Lippen aufeinander – es wird vorübergehen – es wird vorübergehen – , vielleicht kommen wir durch.“, S. 76. Diese Schilderung spiegelt den Schrecken des Krieges wider. Sie hat nichts von dem Aufforderungscharakter, den Diem im Krieg sieht, sondern stellt als einzige Hoffnung dar, dass es vorübergehen wird. Die teilnehmenden Soldaten sind für ihr weiteres Leben geprägt von diesen Erfahrungen: „Albert spricht es aus. ‚Der Krieg hat uns alle verdorben.’ Er hat recht. Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben, wir mussten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran. Wir glauben an den Krieg.“, S. 62. Es könnten noch mehr Beispiele angeführt werden, zur Verdeutlichung soll das aber genügen. 258 Diem, OF 1, Wehrhaftigkeit, Aus einem Vortrag vor der Heeresschule für Leibesübungen in Wünsdorf, 1931, S. 86. 83 die Übertragung von kriegerischen bzw. militärischen Werten auf den Sport durch Diem. Auf der Grundlage dieser Werte, des Kampfes um Leben und Tod und des Kampfes um bzw. für eine Sache, für die die Soldaten einstehen, steht der Begriff Sport. Aus dem Krieg konnten nach Diem auch erst die differenzierten Sportarten entstehen. Diese sind demnach eine Entwicklung aus kriegerischen Handlungen und bilden den Krieg im Sport ab. 4.2.4.1 Diems Kriegserfahrungen im Ersten Weltkrieg Carl Diem meldete sich freiwillig als Offizier der Reserve zum Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg. Eingesetzt war Diem zunächst an der Front, später dann und damit den überwiegenden Teil in der Heimat. Über seine Kriegserlebnisse berichtet Diem zum einen in der „Olympischen Flamme“259 und auch in dem Buch „Sport ist Kampf“ aus dem Jahr 1923 ist ein längerer Artikel über seinen Kriegseinsatz und die Erfahrungen enthalten. Nach Schilderungen über die anfängliche Angst der Soldaten, die er aus der zeitlichen Distanz fast etwas zu belächeln scheint, gehen die Beschreibungen über zu Berichten über den Kriegsalltag. Diese klingen, ganz im Gegensatz zu den Schilderungen Remarques in dem Roman „Im Westen nichts Neues“, nicht schrecklich, sondern eher sehr neutral, den Schrecken des Krieges ausblendend. „Doch die Erregung des Neulings gibt sich. Mit der Dauer des Krieges stellt sich vor allem für den Feldsoldaten die Erfahrung ein. […] Wo der Anfänger sich ängstlich duckt, geht der alte Krieger gleichmütig seines Weges.“260 Da die Art des Krieges, als erster industrialisierter Krieg, anders ist als alle vorherigen, und damit auch extrem hohe Verlustraten auftreten, sind die Soldaten einer völlig anderen Situation an der Front ausgesetzt, als die Propaganda in Deutschland es suggeriert hatte. „Jeder erlebe, schrieb ein freiwillig ‚zu den Fahnen’ geeilter ehemaliger Student von der Westfront, anstelle des erwarteten ritterlichen Kampfes Mann gegen Mann ein ‚gewerbsmäßiges Massenschlachten’.“261 Die Differenz zwischen der dargestellten Realität des Ersten Weltkriegs und der verharmlosenden Darstellung wird hier deutlich. Den Schilderungen Diems ist nicht zu entnehmen, welche Schrecken sich mit Krieg verbinden, sondern sie beschränken sich auf ein heroisierendes Bild. 259 S. Diem, OF 3, Kapitel XLIX, Aus meinem Kriegstagebuch, 1914-1918, S. 1551-1607. 260 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 118. 261 Wehler, Bd. 4, S. 103. 84 Einige Aspekte innerhalb der Kriegsbeschreibungen Diems gehen jedoch über die genannte allgemeine und glorifizierende Darstellung hinaus und beschreiben Vorfälle zum Teil sehr detailliert. Er berichtet über die körperliche und geistige Abstumpfung und das „Aufzehren der Kräfte“262. Er geht auf die Freude der Ablösung ein und schildert einige Vorfälle des Krieges. Ausgehend von der Darstellung eines Vorfalls der Massenpanik263, der eigentlich nicht vorkommen darf und nur laut Diem einen der wenigen Einzelfälle ausmacht („Gesunde Menschen zittern nicht um ihr Leben. Sie zucken wohl manchmal, wenn ein harter Schlag in die Nähe geht, aber auch das gewöhnt man sich in Selbstzucht des guten Beispiels willen ab.“264), geht Diem auf die Bewältigungsstrategien ein, die einem Soldaten helfen, nicht in einen Angstzustand zu verfallen. Die aktive Handlung preist Diem als die Lösung aus der Angst. „Das beste Mittel aber ist die Tat. Sobald man selbst sich zu betätigen hat, sobald das tatenlose Warten aufhört, verschwindet auch die Schreckwirkung, und die bange Sorge ums Leben löst sich in den Gedanken an das zu vollbringende Werk auf.“265 Hier lassen sich Parallelen zu Diems Einstellung zum Sport ziehen. Die eigene Tat steht für ihn stets an erster Stelle, z.B. bezeichnet er den Zuschauer nur als „Gaffer“.266 Diejenigen, die in der Handlung sind, vergessen das, was rings um sie passiert. Das gleiche Prinzip macht Diem hier für den Krieg geltend.267 Durch die Tat wird der Zustand „Krieg“ laut Diem ausgeblendet bzw. zumindest verharmlost. „Da die Tat also dem Kriege seinen schrecklichsten Schrecken nimmt, wird man auch die beste Stimmung bei der tätigsten Truppe finden.“268 Generell ist die Berichterstattung Diems über den Krieg geprägt von den positiven Erlebnissen von Zusammengehörigkeit, militärischen Erfolgen und Erzählungen über Kriegshelden. Die überwiegende negative Seite, mit Verlusten, Niederlagen, Toten und Verletzten, wird, wenn überhaupt, nur kurz angespro262 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 119. 263 Dazu Wehler, Bd. 4, S. 105: „Die desolate Verfassung des gemeinen Soldaten wurde verstärkt durch die Massenhysterie während des Trommelfeuers, die Panik beim Gasangriff oder Überfall durch nächtliche Stoßtrupps, durch die Verstümmelung und den Tod von Kameraden. Allmählich lösten sich die für Friedenszeiten verinnerlichten Stabilitätsstützen auf.“ 264 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 120. 265 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 120. 266 Diem, Sport, 1920, S. 8: „Dass Gaffer und Zuschauer auf Sportplätzen nicht den Ehrennamen ‚Sportsmann’ verdienen, sei hier mit dieser Erwähnung abgetan.“ 267 Dazu auch Diem, OF 3, O.J. [zwischen 1914 und 1918; MB], S. 1552: „Auch diese Schlacht brachte uns keine großen kriegerischen Lorbeeren. Wir bekamen zwar verschiedentlich Feuer, hatten aber keine Gelegenheit, selbst anzugreifen, sondern mussten dies unsern glücklicheren Brigadekameraden überlassen.“ 268 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 120. 85 chen, meist jedoch nicht erwähnt. Angst ist ein Zustand, den der Soldat nicht kennen darf, zumindest nicht, wenn er an vorderster Front steht. Aus seinen Beschreibungen könnte man schließen, dass dieser Zustand bei den Soldaten dort auch nicht vorhanden ist. „Nüchtern, mit einem stillen Lächeln für die Küchenparolen, ohne Verständnis für die Hassgedichte und das Parteigeschrei, lebt der Soldat seiner Soldatenehre: ich stehe, bis ich falle.“269 Hier übersieht Diem, dass gerade bei den eingezogenen Soldaten, die sich nicht freiwillig zum Krieg gemeldet haben, und bei den jungen Soldaten Angst ein sehr alltäglicher Zustand ist und gerade der Erste Weltkrieg viele Soldaten mit Traumata hinterlassen hat. „Außer der Todesgefahr, die jederzeit vom feindlichen Militär ausgehen konnte, nahm das schleichende Werk der psychischen Unterminierung und Zerstörung seinen Fortgang. Es mündete in eine tiefe Traumatisierung der Überlebenden, obwohl nur 313000 formell als neurologische ‚Fälle’ in Kliniken behandelt wurden.“270 Des Weiteren sind die Berichte über Kriegsgeschehnisse voll von Schilderungen über herausragende Führer des Militärs. An Einzelfällen zeigt Diem auf, welche Eigenschaften ein guter Offizier bzw. Führer einer Soldatengruppe haben sollte. „Was könnte ich alles von ihnen erzählen! Von dem 20jährigen Kompagnie-Führer, der, ebenso noch Junge wie schon Mann, der seine Kompagnie lächeln, lachen und schließlich weinen machte, der seine Kompagnie bemutterte, wie sie ihn bemutterte, und der sie doch eisern in der Hand hatte vom jüngsten Kriegsfreiwilligen bis zum ältesten Landwehrmann.“271 Diese Schilderungen klingen sehr positiv, bewundernd und verehrend. Diese „Führertypen“ sind in Diems Sinne diejenigen, die das Volk nach vorne bringen. Dies gilt für das Militär genauso wie für den Sport. In vielen Texten aus der Zeit der Weimarer Republik beklagt Diem einen Mangel an solchen Persönlichkeiten. Auch der Eingangssatz („Was könnte ich alles von ihnen erzählen!“) vermittelt bereits eine gewisse Euphorie, die Diem diesem Thema entgegenbringt. Diem schließt seine Schilderungen über den Ersten Weltkrieg in dem Buch „Sport ist Kampf“ mit dem Satz: „Nach 14 Tagen Ruhe aber ist der härteste Großkampf vergessen, die Lücken in den Reihen sind ausgefüllt, die müden Glieder im Schlaf erquickt, die hageren Falten aus den Gesichtern verschwunden, die blei- 269 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 120/121. 270 Wehler, Bd. 4, S. 104. 271 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 121. 86 che Farbe in kräftiges Braun verwandelt, und die Nerven, die gemarterten Frontnerven sind wieder fest wie Drahttaue geworden.“272 Wüsste man als Leser nicht, dass es sich um eine Schilderung von Soldaten, die in den Krieg ziehen müssen, handelt, könnte er auch meinen, es handele sich um eine Schilderung von Sportlern, die nach z.B. einem harten und wichtigen Fußballspiel, sich körperlich und geistig erholen und eine Spielpause hatten. Auch suggeriert diese Schilderung, dass es für Soldaten nichts Schöneres gibt, als nach einer Zeit im Urlaub wieder an die Front zu kommen, um weiter zu kämpfen. Dass dies nicht so ist, belegen viele Quellen (z.B. Wehler273 oder Keegan, J.: Der 1. Weltkrieg – eine europäische Tragödie). Diese Verharmlosung des Kriegs ist, in allen Beschreibungen Diems zu finden, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Auf der anderen Seite sind Schilderungen des Sports oft mit einem Vokabular gestaltet, das aus dem Militär stammt und Sportereignisse fast wie Kriege dargestellt werden. „Der deutsche Sport ist im internationalen Kampfe, wie 1912 zu Stockholm, so auch jetzt zu Göteborg, in breitester Schlachtreihe aufmarschiert, und man kann sagen, gegen 1912 vorgerückt. […] Die Expedition hat alle Hoffnungen erfüllt und Deutschlands Stellung im internationalen Sportverkehr wiedererobert.“274 Im Gegensatz zu der Beschreibung der zur Front zurückkehrenden Soldaten klingt diese Beschreibung, die von den „Schwedischen Kampfspielen“ 1923 in Göteborg stammt, wie eine einen Stellungskrieg darstellende Aufzeichnung, wie an den Worten „Kampfe“, „breite Schlachtreihe“, „aufmarschiert“ „vorrücken“ und „wiedererobert“ deutlich wird. Die enge Verknüpfung Diems zwischen Sport und Kampf bzw. Krieg wird hier nochmals explizit deutlich.275 272 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 122. 273 Wehler, Bd. 4, S. 105: „Die Kampfmoral war seit Verdun und der Somme-Schlacht [Verdun: Ende Februar bis Ende Juli, Somme: bis November 1916] schwer angeschlagen; sie wurde zudem durch die stumpfsinnige Monotonie des tödlichen Stellungskrieges einer beharrlichen Erosion ausgesetzt.“ 274 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 43, 44. 275 Der Historiker Teichler bringt noch ein anderes Beispiel. Teichler, Der Weg Carl Diems vom DRA-Generalsekretär zum kommissarischen Leiter des Gaues Ausland im NSRL, S. 57: „Der soldatisch gesinnte, durch das Fronterlebnis des 1. Weltkrieges geprägte Carl Diem drückte in diesem Bereich der Verbandspolitik des DRA seinen persönlichen Stempel auf. Interessante Rückschlüsse auf die persönliche Einstellung Diems zu diesem Themenkomplex könnten durch systematische Untersuchung seines Sprachgebrauchs gewonnen werden. Noch als 70jähriger bezeichnete er seine Feld-Uniform als „Löwenhaut“ (DIEM 1974,98), seine olympischen Reiseerlebnisse 1932 publizierte er unter dem Titel: „Aus dem Kriegstagebuch von Los Angeles“ (OF 1, 368). Nach der Rückkehr aus Los Angeles polemisierte Diem gegen die Olympiakritik in Deutschland im Stile eines Kriegsberichterstatters: „Wie soll man dies den Patrioten in der Heimat einhämmern, dass es draußen eine Front gibt und dass wir ein Stoßtrupp waren“ (DIEM 1932, 446). Auch unter Berücksich- 87 Die Kriegsbeschreibungen, -berichte oder auch der vielfältige Gebrauch von Kriegsmetaphern macht den hohen Stellenwert des Krieges deutlich, den Diem ihm beimisst. Allerdings wirken, wie oben gezeigt, gerade seine Berichte über Kriegsgeschehnisse kriegsverherrlichend. Die Darstellung z.B. eines sinnlosen Massentötens wird darauf reduziert, wie gut der Soldat durch eigenes Handeln damit umzugehen weiß. Diem verzichtet auf eine alle Seiten des Kriegs beleuchtende Darstellung und bei einigen Schilderungen wird der Eindruck erweckt, es handele sich eher um eine Sportveranstaltung, die kommentiert wird, denn um eine Kriegsschlacht, in der es für den einzelnen Soldaten um Leben und Tod geht. Der Sport dient nicht nur zu einer guten Vorbereitung auf den Krieg, auch während des Krieges war er eine Ablenkung für die Soldaten. In einer Passage aus dem Buch „Olympische Reise“ beschreibt Diem eine Sportaktivität der Griechen und vergleicht diese mit denen der Deutschen im Ersten Weltkrieg. „Langweilten sich die hellumschienten Achaier im Schützengraben-Kriege um Troja und veranstalteten – wie wir das auch im Weltkriege gemacht haben – Wettläufe. Achilleus stiftete einen schönen und wertvollen Pokal, setzte die Ausschreibung fest und spielte den Starter. Drei Läufer nahmen teil, so dass Vorläufe entfielen. Es starteten Ajas, Antilochos und Odysseus. Ajas kam am besten ab, Odysseus hinterher.“276 Die nachfolgenden Verse stammen aus Homers Ilias, XXIII. Gesang, 760 – 764. Entgegen Diems Behauptung, die sportlichen Wettkämpfe seien aus der Langeweile des Krieges entstanden, fanden sie, von Achilleus ausgerufen, zu Ehren des gefallenen Patroklos statt.277 Nutzten auch die Deutschen den Sport zur Überbrückung von Kriegspausen, zur Ablenkung etc., so ist hier der Bezug zu bzw. der Verweis auf die Praxis der Griechen, deren Vorbild Diem sich oft bedient, nicht richtig. Von Diem ganz ausgeklammert bleibt die Frage nach der Rechtfertigung des Ersten sowie Zweiten Weltkriegs. Deutschland hat als Aggressor beide Weltkriege ausgelöst. Dieses Bewusstsein war allerdings in der Bevölkerung vor allem nach dem Ersten Weltkrieg nicht vorhanden. Vor allem die Versailler Vertigung der ironischen Diktion vieler seiner Notizen bekräftigt der Symbolgehalt solcher Äußerungen die bereits an anderer Stelle nachgewiesene Disposition Diems für alles Soldatische.“ 276 Diem, Olympische Reise, 1937, S.25. 277 Vgl. Homer, Ilias, XXIII. Gesang, S. 257 ff. 88 träge von 1919 wurden massiv kritisiert. „Moralische Empörung rief bei den Deutschen die Bestimmung hervor, dass Deutschland die Verantwortung für Reparationen in unbestimmter Höhe übernehmen sollte, zum Ausgleich aller Schäden, welche den Alliierten durch die Deutsche Aggression entstanden waren.“278 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte erst mit der vollständigen Kapitulation ein Schuldbewusstein ein. Die Bevölkerung stand zunächst noch unter dem Schock des Krieges, wurde allerdings nach Beendigung mit der Schuldfrage konfrontiert. „Innerhalb von nur zwölf Jahren hatten sie [die Deutschen; MB] und ihre Naziführer eine ganze Welt zerstört, und ihnen war nur eine nicht abzuwerfende Bürde der Schuld und Verantwortung geblieben.“279 Auch in der Retrospektive nimmt Diem keine Stellung zu der Frage der Schuld. Ebenso stellt er sich nicht dem Problem der Sinnhaftigkeit eines Krieges. Seine Darstellungen beschränken sich allein auf die die Handlungen im Krieg. Er blendet die politische Ebene eines Krieges aus und nimmt damit eine Perspektive ein, die sehr beengt nur auf die Aspekte des Kampfes fokussiert ist. 4.2.5 Die Opferbereitschaft Ein weiterer wichtiger Punkt der Sporterziehung ist für Diem die Erziehung zur Opferbereitschaft. Da der Dienst am Vaterland das Höchste für Diem ist, möchte er dies auch der breiten Masse der Sporttreibenden vermitteln. Er versucht, durch den Sport die Menschen dahingehend zu erziehen, dass sie dem Vaterland den höchsten Stellenwert geben und es sich lohnt, sein Leben dafür hinzugeben. Diese Einstellung kommt auch daher, dass die Wurzeln Diems in der Kaiserzeit liegen. Diem hat sich die Untertanenmentalität der Zeit zu Eigen gemacht. Diese Einstellung thematisiert auch Heinrich Mann in seinem Werk „Der Untertan“. Folgendes Mann-Zitat beschreibt die monarchische, antidemokratische Gesinnung, die auch Diem zu Eigen ist. „Wer nicht gedient hat, den gehen Majestätsbeleidigungen anderer Leute den Teufel an. Majestät legt keinen Wert auf nicht gediente Herrschaften […].“280 Ein Mann, der nicht gedient hatte und somit seine Liebe und Opferbereitschaft für das Vaterland nicht bewiesen hatte, galt nicht als richtiger Mann und war im öffentlichen Leben nicht angesehen. Diem hatte gedient und war freiwillig in den 278 Stern, Fünf Deutschland und ein Leben, S. 76. 279 Stern, Fünf Deutschland und ein Leben, S. 215. 280 Mann, Der Untertan, S. 185. 89 Ersten Weltkrieg gezogen. Für ihn war die Militärzeit eine der schönsten in seinem Leben. Diese Grundeinstellung versucht er dann auch den Jugendlichen und allen, die er durch seinen Sport erziehen will, mit seinem Sportbild zu vermitteln. Als Konsequenz ist es für Diem selbstverständlich, dass er, wenn es von ihm verlangt worden wäre, sein Leben für sein Vaterland hingegeben hätte. Systematisch, wie er seinen Sport aufbaut, führt er auch zur Opferbereitschaft und nennt diese an vielen Stellen als höchstes Ziel, das es zu erreichen gilt. Unberücksichtigt bleibt von Diem, dass die Zeiten, wie in der Weimarer Republik, sich ändern könnten und die Jugend, die er zu seinen Idealen führen möchte, aufgrund einer anderen Sozialisation ebenso andere Ideale bevorzugen könnte. Ebenso wie Diem die politische Legitimation des Krieges nicht hinterfragt, propagiert er unreflektiert diesen für ihn höchsten Wert der Opferbereitschaft. Diese Tugend ist für Diem jedoch über alles zu stellen. Diem erkennt die Möglichkeit einer Implementierung einer mit militärischen Werten belegten Erziehung durch Sport darin, dass das Volk nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg verunsichert ist, insbesondere durch den gravierenden Wechsel der Staatsform von der Monarchie zur Demokratie. Die Verfassungswirklichkeit der Kaiserzeit war geprägt durch eine konstitutionelle Monarchie und einen hegemonialen Föderalismus und sollte dann zu einer Demokratie gewandelt werden. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gab es viele, die wie Diem dachten, und so kann er auch seinen höchsten Wert, die Opferbereitschaft, schon früh propagieren. Diese Opferbereitschaft hat das deutsche Heer schon im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet und damit ein Zeichen gesetzt zur Nachahmung: „‚Deutschland, Deutschland über alles’ singend zogen sie aus, und mit diesem Gesang auf den Lippen haben sie Langemarck gestürmt, vergeblich und doch nicht vergeblich, ein schwerer Verlust für das deutsche Heer, ein grausames Geschick für sie und doch ein gnädiges Geschick für das deutsche Volk, denn an diesem unerschütterlichen Mut, an dieser singend stürmenden, siegenden und sterbenden Jugend werden sich noch in Jahrhunderten deutsche Knaben und Männer aufrichten und, wenn dereinst nach Fertigstellung des Reichssportfeldes in der Ehrenhalle Erde aus Langemarck eingemauert wird, dann wird es Erde sein, die dem deut- 90 schen Volk, aber auch dem deutschen Sport gehört, weil das Herzblut dieser unseren Getreuen dareingeflossen ist.“281 Hier wird nochmals deutlich, dass Diem den Tod als eine Option mit einbezieht, er aber dessen Schrecken nicht darstellen und nicht anerkennen will. Wichtig ist, dass dieser Tod nicht umsonst war, da besonders an den in Langemarck gefallenen Soldaten das deutsche Volk sich orientieren soll und mit diesem Vorbild vor Augen die Wiedererstarkung beginnen kann. Es entstand ein Mythos um diese Schlacht, der das Opfer zum höheren Sinn emporhebt.282 Die Schlacht von Langemarck symbolisiert in der Geschichte des Ersten Weltkriegs entgegen dem entstandenen Mythos und Diems ruhmreichen Beschreibungen allerdings das Grauen und die Sinnlosigkeit dieser Kämpfe. „Auf dem Soldatenfriedhof von Langemarck liegen hinter einem mit den Insignien jeder deutschen Universität geschmückten Torbogen 25.000 gefallene Studenten in einem Massengrab. Andere liegen zu dritt oder viert unter Grabsteinen mit einer Aufschrift wie ‚Freiwilliger Schmidt’ oder ‚Musketier Braun’. […] Sie stehen für Zehntausende bürgerlicher Deutscher, die durch diese Phase der Schlacht – den ‚Kindermord bei Ypern’ – den Glauben verloren, der Krieg würde kurz, leicht zu gewinnen und ruhmreich sein, und stattdessen die Realität von Zermürbung, Massensterben und schwindender Siegeshoffnung zu Kenntnis nehmen mussten.“ 283 Der Tod bekommt für Diem eine andere Bedeutung, wenn er für das Vaterland gegeben wird. Er verliert in diesem Fall seine Endgültigkeit, da aus dem Tod etwas Neues, Besseres entsteht. Aus einem englischen Kriegsbericht geht hervor, dass der von Diem geförderte nationale Wille und der Glaube an die Obrigkeit, Tugenden, die vor allem im Kaiserreich den Menschen als Einstellungen anerzogen wurden, in Langemarck ins Verderben führt. Zudem waren die Freiwilligen schlecht ausgebildet. 281 Diem, OF 3, Weihe des Ehrenmals, 1935, S.1612. Siehe auch Alkemeyer, Gewalt und Opfer im Ritual der Olympischen Spiele 1936, S. 61/62: „Die Anklage verklärt den sinnlosen Kriegstod zum heroischen Opfertod für den modernen Platzhalter der religiösen Gottheit: das Vaterland. […] Diese Totenehrung ist gleichzeitig Initiation, die Nachwachsenden werden rituell integriert in die verpflichtende Tradition heroischen Blutvergießens und in die Kontinuität der sich als ewig und göttlich darstellenden Prinzipien.“ 282 Krockow, Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990: „Einzig im Selbstopfer erfüllt sich das Leben, noch bevor es wirklich gelebt wurde, denn der Tod ist sein Sinn: Dies und nichts sonst scheint der Mythos zu sagen. „Die Freiwilligen des Regiments List haben vielleicht nicht recht kämpfen gelernt, allein zu sterben wussten sie wie alte Soldaten“, schrieb einer der dabei war und überlebte – bis zu seinem Selbstmord um dreißig Jahre und sechs Monate später.“ 283 Keegan, Der Erste Weltkrieg, S. 193/194. 91 „[Sie] stürmten in der Begeisterung des Krieges von damals unter dem Gesang des Deutschlandliedes gegen die englischen Linien und wurden reihenweise hingemäht. Ganze Kompanien sanken unter dem Maschinengewehrfeuer der Engländer zusammen. Der englische Heeresbericht meldete: ‚Diese Knaben von siebzehn Jahren stellten sich unseren Kanonen entgegen, marschierten unbeirrt gegen die Läufe unserer Gewehre und fanden furchtlos scharenweise den Tod. Das ist die Frucht eines Jahrhunderts nationaler Disziplin.’ […] Die deutsche Führungsschicht, die den Krieg weiterhin hätte tragen müssen, wurde dahingeopfert von unfähigen Generalen, die nach einem kalten und dürren Schema handelten und für die Deutschlands sterbende Jugend nur als ein Bleistiftstrich auf der Landkarte in Erscheinung trat.“ 284 Die Verherrlichung der Schlacht von Langemarck täuscht somit über eine Kriegsaktion hinweg, in der Menschen zu Tausenden geopfert wurden. Der Mythos entstand, bevor die Sinnlosigkeit dieses Einsatzes erkannt werden konnte und es war für die Heeresleitung sicherlich auch propagandistisch geschickter die Opfer als Helden anstelle von „Kanonenfutter“ darzustellen, um den Kriegswillen zu erhalten. Im nächsten Zitat wird ebenfalls deutlich, dass der Tod im Feld für Diem seine Grausamkeit verliert. „Nicht wahr, mein liebes Vaterland, diese deine Söhne haben mutig gekämpft und sind in Jugendfrische wacker gestorben.“285 Wer „in Jugendfrische wacker“ stirbt, für den scheint dies eine gültige und in Kauf genommene Option zu sein. Dieser Tod für das Vaterland wird von Diem als sehr hoch angesehen. In einem Artikel über den Läufer Hanns Braun schreibt er: „Im Kriege stellt er sich sofort freiwillig, ging zur Fliegertruppe, und starb als Fliegerleutnant am 9. Oktober 1918, von einem Flugzeug seines Kampfgeschwaders angefahren, den Heldentod.“286 Der freiwillige Kriegseinsatz ist allein schon eine Handlung, die Diem sehr hoch schätzt. Er selbst meldete sich auch freiwillig. Der gehuldigte „Heldentod“ macht einen Soldaten dann zu einer Persönlichkeit, die für das Vaterland gedient und gestorben, höchste Ehren verdient. Diem verfolgt die Erziehung zur Opferbereitschaft seine ganze Schaffenszeit über, nach dem Zweiten Weltkrieg kommt dies zwar nur noch unterschwellig durch und nicht mehr so deutlich wie vorher, aber der Aspekt ist vorhanden und 284 Freund, Deutsche Geschichte, S. 929/930. 285 Diem, OF 3, Sport und Vaterland, Im Felde für einen Freund geschrieben, veröffentlicht im Fußball-Jahrbuch, 1915, S. 1618. 286 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 68. 92 zieht sich somit durch seine gesamte Schaffenszeit. Er hat also seine Werke den jeweiligen politischen Gegebenheiten angepasst. Während der Weimarer Republik schreibt er seine Forderungen explizit auf, er weiß eine Gruppe Gleichgesinnter hinter sich, während der NS-Zeit nähern sich seine Ideologie und die des Regimes stark an, daher verstärkt er den kriegerischen, soldatischen Gesichtspunkt noch und während der Zeit der Bundesrepublik mäßigt er seine Worte, da nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg in der Demokratie Werte wie Freiheit, individuelle Lebensgestaltung etc. im Vordergrund stehen. In einem Gedicht für seinen gefallenen Freund Alfred Rahn wird noch einmal die Einstellung Diems zum Krieg und Opfertod deutlich. Es wird zur Verdeutlichung ganz zitiert. „Kamerad – Zum Gedächtnis Alfred Rahns, gefallen 25. Oktober 1914 bei Dirmuiden. Kamerad, Bist im Tode vorausgegangen. Hattest wie wir am Leben gehangen. Doch galt es die Tat! Da bist du jubelnd hineingesprungen, Hast „Deutschland über alles“ gesungen. Ran an den Feind, Bis dein junges Herze gebrochen - Haben’s erfahren nach zwanzig Wochen, Haben geweint. – Haben dann unsere Waffen geschwungen, Haben dein Liedlein weiter gesungen, Singen es, bis es zur Wahrheit geworden, Denken deiner beim Kämpfen und Morden, Denken deiner beim Spähen und Wachen, Denken deiner beim Siegerlachen, Denken deiner in allen Stunden, Bis wir uns einstens wiedergefunden. Vielleicht schon beim nächsten Kampfgetümmel Fährt unsere Seele wie deine zum Himmel. Blick auf uns nieder – Wir sehen uns wieder. Jetzt oder einst. Im Argonnenwald 1915“ 287 287 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 80. 93 Diem lobt zunächst die Einstellung Rahns, euphorisch in den Krieg gezogen zu sein. Siegesgewiss hat sowohl Rahn als auch Diem die deutsche Nationalhymne gesungen. Diem glaubt fest an einen deutschen Sieg und damit an die Vormachtstellung in Europa. Dies entspricht auch seiner grundsätzlichen Ansicht, dass das deutsche Volk gegenüber anderen Völkern überlegen sei. Die zu vollbringende Tat wird von Diem deutlich über das einzelne Menschenleben gesetzt. Zwar ist der Verlust eines Menschen schmerzhaft, da er jedoch für das Vaterland und dessen Krieg gestorben ist, mildert diese Tatsache den Verlust ab. Das Gedenken an den Toten ist bei allen Kampfhandlungen präsent. Das Opfer wird als selbstverständlich hingenommen und der Krieg weiter geführt. Diem denkt keinen Augenblick über die Sinnlosigkeit eines solchen Krieges nach, sondern ergibt sich wieder seiner Aufgabe, die u.a. aus „Kämpfen und Morden“ besteht, die er bis zum „Siegerlachen“ weiter erfüllen will. Auch er nimmt allerdings den Kriegstod in Kauf. Da er den Opfertod als einen sehr würdigen Tod empfindet, nimmt er ihm den Schrecken. Er sieht den Tod hier als Möglichkeit, seinen Freund wiederzusehen und nicht als endgültiges Scheiden von dieser Welt. In der Option einen Freund wieder zu treffen, liegt ein positiver Aspekt, so dass hier der Tod nicht mehr im Vordergrund steht, sondern eher das mögliche Treffen. Insgesamt spiegelt das Gedicht Diems Sicht auf Krieg und Tod wider. Auch er hat den Ersten Weltkrieg begrüßt und ist freiwillig in den Krieg gezogen. Dieser Dienst für das Vaterland ist für ihn selbstverständlich. Da, in Anlehnung an die antiken Griechen, der Tod für das Vaterland am schönsten sei, verliert hier ein einzelner Tod den Schrecken und wird als notwendiges Opfer für Krieg und Sieg gesehen. 4.2.5.1 Festspiel „Olympische Jugend“ Diesen Gedanken des Opfertods bringt Diem mit dem Festspiel „Olympische Jugend“, das er zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin schrieb, sogar auf die Bühne. Neben der hohen Bedeutung des Opfertods zeigt dieses Stück auch, wie eng die Symbolik der Olympischen Spiele 1936 mit der Ideologie der Nationalsozialisten zusammenhing. Die Bilder des Bühnenstücks der Eröffnungsfeier eines im ursprünglichen Sinne Friedensfestes entwickeln sich vom ersten Bild „Kindliches Spiel“ über „Anmut der Mädchen“, „Jünglinge in Spiel und Ernst“ zum Bild „Heldenkampf und 94 Totenklage“ und enden mit dem Schlussbild „Olympischer Hymnus“. Diem sagt über das Festspiel, dass die Jugend sich in ihm selbst spiele.288 Geht es in den ersten beiden Bildern noch um harmloses Spiel von Kindern, wird es im dritten Bild ernst. Dieser Ernst bezieht sich keineswegs auf den „normalen“ Lebensernst, in den man als junger Mensch zwangsläufig einmal hineintritt, sondern direkt auf Kampf und Krieg: „Kampf der Kräfte, Kampf der Künste, Kampf um Ehre, Vaterland, Friede, Freude, Fest der Jugend, Fest der Völker, Fest der Tugend, Ewiges Olympia.“289 Diem verknüpft also Olympia, dieses eigentliche Friedensfest, mit dem entgegengesetzten Extrem Kampf und im erweiterten Sinn Krieg. Gesteigert wird dies dann durch das letzte Bild, in dem ein Waffentanz dargestellt wird und dieser mit dem Tod aller Beteiligten endet. Der Text, der dieses Bild290 begleitet, lautet: „Allen Spiels heil′ger Sinn: Vaterlandes Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot In der Not: Opfertod!“ Dann erfolgte der Waffentanz und abschließend vor der Totenklage: „Denkt der Toten, dankt den Toten, die vollendet ihren Kreis. Ihnen aller Ehren allerhöchsten Siegerpreis.“ 291 Dieses Festspiel ist, auch wenn es nur für sich alleine stehen würde, schon eine herausragende Kriegs- und Opfertodpropaganda. Das Leben wird hier so dargestellt, dass nach dem Spiel der Kinder der Jugendliche zwangsläufig in die Pflicht hereinwächst, für sein Vaterland zu kämpfen und zu sterben. Wenn man es aber vor dem Hintergrund betrachtet, dass es am Abend der Eröffnung der 288 Vgl. Diem, Gedanken zur Sportgeschichte, 1965, S. 22. 289 Diem, Olympische Jugend. Festspiel, 1936a, Drittes Bild. 290 Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 22: „Das ‚vierte Bild: […]’ beginnt dabei mit jenem von Diem häufig wiedergegebenen Bekenntnis, das sein Verhaftetsein in einer bornierten Volkstumsideologie bezeugt.“ 291 Diem, Olympische Jugend. Festspiel, 1936a, Viertes Bild. 95 Olympischen Spiele aufgeführt wurde, führt es die eigentlichen Werte der Olympischen Spiele ad absurdum.292 Ein Friedensfest, das dem sportlichen Wettkampf und der Völkerverständigung dienen soll, mit einer solchen Kriegsverherrlichung zu beginnen, macht deutlich, dass Diem sich mit der aggressiven, kriegsorientierten Politik Hitlers identifizieren kann und diese Gelegenheit nutzt, um zumindest die ihm wichtigen Werte, des Kampfes und Opfertods, die auch dem Regime wichtig sind, zu unterstützen. Auch wenn das vierte Bild durch das Schlussbild mit Schillers „Lied an die Freude“ aufgelöst wird, bleibt doch dieser Totenkult293, den Diem aufbaut, in Erinnerung. Mittelpunkt der Darstellung ist wieder das Vaterland, für das es zu sterben sich lohnt. Dieses Vaterland gibt den Jungen und Mädchen Zeit zum Spielen, ermöglicht ihnen eine sorgenfreie Kindheit und fordert dann, zu gegebener Zeit, seinen Einsatz zurück, indem die Jungen zu Soldaten werden und die Mädchen als Frauen möglichst viele gesunde Kinder zur Welt bringen, um das deutsche Volk zu erhalten. Damit verliert der Sport seine Distanz zum Krieg und dieser scheint logische Folge des Sports zu sein. „In gewisser Weise bedeutet dies, die große kulturelle Leistung, die in der historischen Entfernung des modernen Sports von der Sphäre des Krieges und Todes liegt, wieder rückgängig zu machen.“294 Diem spielt auch die Tragik eines frühen Todes herunter mit der Aussage: „[…] dankt den Toten, die vollendet ihren Kreis.“295 Ein Mensch, der seinen Kreis vollendet hat, kann nicht mehr in dem Alter sein, in dem man als Soldat benötigt wird. Dieses Bild des Lebenskreises steht für ein langes erfülltes Leben, welches ohne Kriegsfolgen bzw. äußere Einwirkungen und damit im Gegensatz zu Diems Bild zu Ende geht.296 Außerdem erhält der einzelne „Ehre“ und einen „al292 Dazu auch Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, S. 125 und 135: „Denn die Historiker sind sich heute darin einig, dass die glanzvollen Olympischen Spiele von 1936 der ganzen Welt ein falsches und trügerisches Bild eines olympischen Friedensfestes vorgemacht haben. […] Die Olympischen Spiele von 1936 sind ein Musterbeispiel für die Inanspruchnahme des Sports durch die Mächtigen; […]. […] Diese Umdeutung der Symbolik Olympischer Spiele in nationalsozialistischen Toten- und Opferkult hatte mit der Idee von Olympia als einem Fest des Friedens, der Freundschaft und der Völkerverständigung nichts mehr zu tun.“ 293 Dazu Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 17: „TEICHLER hatte 1984 (71) durchaus festgehalten, dass das ‚Organisationstalent’ Diem die Spiele als ‚’Gesamtkunstwerk’ konzipierte’ und dabei eine ‚Annäherung an kultische Elemente aus dem Repertoire des NS-Fest- und Feierregie – einschließlich ihres Totenkults –’ vollzog.“ 294 Alkemeyer, Körper, Kult und Politik, S. 294. 295 Diem, Olympische Jugend. Festspiel, 1936a, Viertes Bild. 296 Alkemeyer (Gewalt und Opfer im Ritual der Olympischen Spiele 1936, S.71) beschreibt dies so: „Durch das symbolisch ausgedrückte Umschlagen vom Tod ins Leben erhält der kriegerische Zweikampf eine Bedeutung, die an der religiös-mythischen Sinnhaftigkeit jedes Opfers teilhat: Der im Tod endende ‚Dienst’ am Vaterland wird innerhalb der sakralen 96 lerhöchsten Siegerpreis“. Der Tod wird belohnt und geehrt, damit verherrlicht. Das Festspiel transportiert demnach dem NS-Regime enorm wichtige Werte. Die Erziehung zu Härte, Kampf und Krieg war wesentlich in den Jahren des Nationalsozialismus. Auch die Identifizierung mit dem Vaterland und die Einordnung der eigenen Person unter die Ziele, und seien es kriegerische, galt als hohes Gut. „Die eigene Person sollte ‚in den Dienst einer größeren, insbesondere der nationalen Sache’ gestellt werden.“297 In den Betrachtungen aus zeitlicher Distanz sieht Diem jedoch die Olympischen Spiele 1936 immer noch als das, was sie nach der olympischen Idee hätten sein sollen, Friedensspiele mit einer Chancengleichheit für alle Beteiligten. Diem strebt in seinen Texten eine Verteidigung „seiner“ Spiele gegenüber aller Kritik an und schafft es nicht, Fakten anzuerkennen und eventuelle Fehler zuzugestehen. Die Olympischen Spiele 1936 sind entgegen Diems Behauptungen massiv von der NSDAP beeinflusst worden. Die Propaganda des Regimes während der Spiele war enorm und allgegenwärtig. Darüber hinaus wurden im eigenen Land Juden konsequent von der Möglichkeit ausgeschlossen, sich für die Olympiamannschaft zu qualifizieren. „Vor dem Hintergrund einer umfangreichen Legendenbildung durch die olympischen Gralshüter (Diem, Brundage, IOC-Bulletins usw.) müssen auch letzte Zweifel an der ausschließlich politisch begründeten Nicht-Nominierung [von Juden; MB] ausgeschlossen werden.“298 Damit war die von Diem genannte Rassefreiheit nicht vorhanden. „Angesichts der nur kurzfristigen und oberflächlichen Unterbrechung der nationalsozialistischen Judenpolitik […] erscheint DIEMS Bewertung der Olympischen Spiele 1936 als ‚Oase der Rassengleichheit’ (1948, 277) als euphemistisch und betriebsblind, wenn man die Betrachtungen über die Mauern der Stadien ausweitet.“299 Durch das öffentliche Bild, das die Nationalsozialisten während der Atmosphäre des Stadions auf eine Stufe gestellt mit den kultischen Opfern jahrtausendealter Tradition. Der Sinn des (Selbst-)Opfers stellt sich damit doppelt her: als Bedingung der Stabilität des Vaterlandes, der Zusammengehörigkeit der nationalen Gemeinschaft einerseits wie als überzeitlicher, ewiger Wert andererseits. Der neue Mythos macht die Welt unbeweglich, er lässt die Leiden und den Tod ertragen, er verklärt die grauenvolle Realität des (Kriegs-)Todes und schafft die psychische Dispositionen, die den Übergang von der symbolischen Handlungsform zur realen Gewalt ermöglichen.“ 297 Joch, Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich, S. 710. 298 Teichler, 1936 – ein olympisches Trauma, S. 60. 299 Teichler, 1936 – ein olympisches Trauma, S. 64. Dazu in Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 19: „Die Olympischen Spiele 1936 sind keine ‚Oase der Freiheit in der Zwangsherrschaft’ und keine ‚Oase der Rassengleichberechtigung’ gewesen, wie von Diem behauptet. Vielmehr zeugt die Diemsche Aussage von der Langzeitwirkung der NS-Propaganda in den Verdrängungszirkeln der deutschen Sportbewegung, nämlich der Verharmlosung der Alltagsrepression des NS-Regime. Zudem zeigt die Aus- 97 Spiele präsentierten, das darauf ausgerichtet war, sich als friedliebend darzustellen, erreichten die Machthaber zwei Ziele: zum einen eine positive Außendarstellung und zum anderen eine Festigung des Nationalsozialismus im Innern. Es ist heute unbestritten, dass die Olympischen Spiele 1936 vom nationalsozialistischen Regime für politische Zwecke missbraucht wurden. 4.2.5.2 Auftritt in den letzten Kriegstagen Gesteigert wird die These von der Opferbereitschaft noch durch eine Rede Diems, die er am 18. März 1945 im Kuppelsaal der Sportakademie300 des Reichssportfeldes Berlin vor den dort stationierten Einheiten des Volkssturms und der Hitlerjugend hielt. Er wollte alle noch zur Verfügung stehenden Kräfte mobilisieren und die drohende Übernahme Berlins durch die russische Armee verhindern. Auch hier sprach er laut dem Bericht des Augenzeugen Appel301 viel von Opfertod und von seinen antiken griechischen Vorbildern. Die Einheiten, vor denen er sprach, wurden noch im April zur Verteidigung Berlins eingesetzt und ein Großteil von ihnen, ca. 1.500 bis 2.000 (je nach Quelle) meist Minderjährige, ist, im Nachhinein betrachtet, völlig sinnlos gestorben, da die Niederlage aufgrund der Übermacht der alliierten Streitkräfte nicht mehr zu verhindern war. Damit ist dann auch das vierte Bild des Festspiels „Olympische Jugend“ grausame Wirklichkeit geworden. Dies bestätigt auch der Historiker Krüger. Er schreibt zu dieser Rede: „Auf demselben Schauplatz, auf dem 1936 Carl Diem sein Weihespiel mit dem heldischen Opfertod inszeniert hatte, wurde noch im März 1945 eine Division der Hitlerjugend für den Volkssturm gegen russische Panzer versammelt. Carl Diem hielt vor diesen Jungen eine flammende Rede, in der viel von Opfertod und Sparta vorgekommen sein soll, und rief sie zum sage den Blickwinkel Diems an: die systemische Innensicht des Organisators aus der ‚Reichssportfeld’-Perspektive. ‚Nahezu zeitgleich mit den Olympischen Spielen wurde in Oranienburg, vor den Toren Berlins, das Konzentrationslager Sachsenhausen errichtet. Es war das erste große Lager neuen Typs’ (RÜRUP, 1996, 131).“ 300 Vgl. Laude, Leben und Wirken Carl Diems in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, S. 151. 301 Sendung „Monitor“ vom 26.10.1995, Thema: „Carl Diem“, O-Ton Reinhard Appel, ehem. ZDF-Chefredakteur: „Er hat zu uns gesprochen, es war ja eine Feierstunde. Und das Ganze endete in einem flammenden Appell an uns, für Führer, Volk und Vaterland zu sterben, gerade in der Situation, wo Berlin bedroht sei. Er berief sich auf das „tapfere Volk von Spartha (sic!)“ und forderte uns auf, wie dieses Volk, den Opfertod nicht zu scheuen und wie Helden zu sterben, denn es ist schön, für das Vaterland zu sterben. Obwohl er ja wissen musste, als 62jähriger Mann, der in der Welt rumgekommen war, wie es um Deutschland in der Zeit bestellt war. Und obwohl er sicher tieferen Einblick über die Hitler´sche Politik hatte als wir jungen Menschen. Ich bin hier mit 17 Jahren gewesen. […] Damals haben wir uns durch diesen Idealismus, den er predigte anstecken lassen. Und insofern ist er, meine ich, mitschuldig, dass sinnlos hier Menschenleben, junge Menschen geopfert wurden, in einer Situation, die ja bereits ausweglos war.“ 98 siegreichen Endkampf gegen die deutschen Feinde auf. Aus dem Schauspiel war tödlicher Ernst geworden.“302 Mit Sparta bedient Diem sich eines seiner Vorbilder, er verwendet damit ein Bild, das auch von den Nationalsozialisten genutzt wurde. „In der historischen Forschung ist das Wissen darum, dass das ‚Antike-Motiv’ ein ‚Hauptmotiv der NS-Propaganda’ darstellt, mittlerweile bis in die populärwissenschaftliche Literatur hinabgesunkenes Allgemeinwissen. […] Diem stellt sich also gerade nicht in Gegensatz zur NS-Propaganda, sondern er wiederholt deren Hauptmotiv.“303 Allerdings ist der Bezug auf Sparta bei Diem in allen Epochen zu finden, so dass dies nicht unbedingt als ein Zeichen seiner Unterordnung in das NS-System gelten kann, jedoch hätte Diem um die Bedeutung des Motivs Sparta wissen müssen. Diem selbst meldet sich, obwohl er nicht muss, noch freiwillig304 zum Volkssturm und würde auch das von ihm propagierte Opfer, sein Leben, wie er es im Ersten Weltkrieg auch getan hätte, für das Vaterland geben. Dies ist der Ernstfall, für den es im Sport zu trainieren galt, für Diem ist es nur konsequent, dass er sich freiwillig zum Einsatz meldet.305 Diese Rede Diems wird sehr kontrovers diskutiert. Diem-Anhänger sehen sie als harmlos an bzw. verharmlosen sie.306 „Die März-Rede, so Carl-Jürgen Diem, 302 Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, S. 135. Kursivdruck im Original. Mit dem Bezug auf Sparta bedient Diem sich eines besonders kriegsfreundlichen Volks als Vorbild. Günther u.a., Geschichte der Erziehung, S. 58: „Krieg war in Sparta Selbstzweck, Frieden nur eine Vorübung für den Krieg.“ 303 Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 39 und S. 40: „Das salbungsvoll religiöse Pathos nationaler Überhöhung, das sich in den Aussagen zeigt, [liegt; MB] zwischen Diemschen und nationalsozialistischen Orientierungen.“ 304 Dazu Diem, Ein Leben für den Sport, S. 216: „Meine Frau beschwor mich, diese Dummheit [Beteiligung am Volkssturm; MB] nicht mitzumachen, aber welcher Mann würde in solcher Stunde zurückbleiben […] Ich zog also in den Krieg.“ 305 Dies bestätigt auch Teichler (1936 – ein olympisches Trauma, S. 76): „Somit fiel ihm [von Halt] in der Agonie des NS-Regimes im Kampf um Berlin die zweifelhafte Ehre zu, ein auf dem Reichssportfeld aufgestelltes Volkssturmbataillon in den aussichtslosen Kampf zu führen, in dem auch Carl Diem und Guido von Megden, […] den Ernstfall des Krieges miterleben mussten – einen Ernstfall, den diese Propagandisten einer ‚leibestüchtigen’ Nation stets in ihre Sporttheorie einbezogen hatten.“ 306 Dazu Bausch, Bis zum letzten Hauch: „Verteidiger der Ehre Diems gibt es viele, wie Karl Lennartz, den Leiter des Carl und Liselott Diem-Archivs an der Deutschen Sporthochschule, oder deren ehemaliger Rektor Dietrich Reiner Quanz. Sie führen stets an, man müsse Diems Handeln aus seiner Zeit heraus verstehen. Jenes Handeln, zu dem nicht nur diese Rede gehört. Seinen Kriegseinsatz beschreibt Diem kurz nach Kriegsende in einem Brief so: „Ich habe noch einmal harte Kämpfe im Rahmen des Volkssturm-Bataillons durchgemacht, die an die tollsten Stunden der Durchbruchsschlacht des Jahres 1918 erinnerten.“ Diem hat die fanatisierte und verführte Hitlerjugend auf den Opfertod und das Töten vorbereitet und selbst mitgemacht. Später nahm er nie dazu Stellung. Wie soll man diesen Verlust an Humanität „aus der damaligen Zeit heraus“ heute verstehen, vor allem jetzt, nach dem 11. September 2001?“, http://sportunterricht.de/lksport/diem.html, Zugriff am 23.09.2003 99 sei lediglich ‚eine Pflichtrede in den Wirren und im Überlebenskampf der letzten Kriegstage’ gewesen. Sein Vater habe nicht ‚die allgemein üblichen Begriffe Führer, Volk und Vaterland gebrauchen’ wollen – sondern eben von den ‚tapferen Spartanern’ gesprochen. Tot waren viele Kinder wenig später gleichwohl.“307 Der Sohn Diems verklagte 2002 zwei Funktionäre des DLV, die in einer Begründung zur Umbenennung des Carl-Diem-Schilds in DLV-Ehrenschild sich u.a. auf diese Rede beriefen, diese Beschuldigungen sollten laut Klage unterlassen werden. Das Gericht gab dem Kläger allerdings nicht recht, da „der Stichwortzettel und Augenzeugenberichte keinen Zweifel daran [ließen; MB], ‚dass er vor den Volkssturm-Pimpfen geäußert hat, es sei verdienstvoll, für das Vaterland zu sterben’“. „Auch wenn dieses Zitat nicht wörtlich gefallen sei, könne die Rede in dieser Weise gewertet werden.“308 Den Verteidigern Diem liegt es daran, Diem in seinem makellosen Ruf zu belassen, der nach seinem Tod aufgebaut wurde. Allerdings lassen sie außer Acht, dass eine kritische Betrachtung Diems sein Werk weder abwertet noch die Person Diem diffamiert. Es geht lediglich darum, eine wahrheitsgerechte Aufarbeitung seines Schaffens zu erreichen, um sein Werk vor diesem Hintergrund einordnen und natürlich auch würdigen zu können. 4.2.6 Zusammenfassender Überblick Man kann zusammenfassend sagen, dass der Kampf immer einen sehr hohen Stellenwert in der Lehre Diems und in seinem Verständnis vom Sport hat. Dies zeigt sich an seinen Aussagen, die er im Ersten Weltkrieg macht, an Aussagen in der Weimarer Republik („Die Erziehung zur Opfertätigkeit ist eine ernste Sache. Darauf beruht die Kraft einer jeden Nation. Wo die Opferfähigkeit aufhört, hört auch das Vaterland auf!“)309 bis zu der oben genannten Rede im Reichssportfeld („Schön ist der Tod, wenn der edle Krieger für das Vaterland ficht, für das Vaterland stirbt.“310). 307 Spiegel online, Schickte Carl Diem Kinder in den sicheren Tod?, S. 3 www.spiegel.de/sport/sonst/o,1518,175980,00.html, Zugriff am 14.07.2003 308 Beide Zitate Spiegel online, Diem schickte Jugendliche in den Tod, www.spiegel.de/sport/sonst/o,1518,177588,00.html, Zugriff am 14.07.2003 309 Diem, OF 1, Zum Amateurbegriff, 1926, S. 182. 310 Bausch, Bis zum letzten Hauch, http://sportunterricht.de/lksport/diem.html, Zugriff am 10.11.2009. Dieses Zitat steh auch in der Erzählung „Der Läufer von Marathon“ (1941, S. 60, siehe dazu Kapitel 5.4.1.4): „‚Der Tod ist schön, wenn ein Mann ihn als Held erleidet, als Held im Tod fürs Vaterland.’“ 100 Auch in Werken, die er zur Zeit der Bundesrepublik verfasst, kann man unterschwellig den Wert des Kampfes erkennen. Diem nennt ihn aber nicht mehr so häufig und explizit wie in früheren Veröffentlichungen. Der Kampf stellt im Sport demnach ein zentrales Element dar. Bezogen auf den Krieg bedeutet das für Diem, dass es keine höhere Auszeichnung gibt, als sich kämpfend für das Vaterland einzusetzen. Wie oben beschrieben, verliert in den Schilderungen Diems der Krieg allerdings deutlich an den eigentlichen Schrecken und diese muten eher wie Sportberichterstattungen denn Kriegsberichte an. Mit dem Auftritt am 18. März 1945 zeigt Diem, wie verinnerlicht er diese Verherrlichung des Kampfes und Todes für das Vaterland hat, da er nicht in der Lage ist, sich ein objektives Bild der Situation zu machen und die Sinnlosigkeit einer weiteren Verteidigung Berlins zu erkennen. In Bezug auf die Ideale, die Diem im Zusammenhang mit Sport und Krieg vertritt, ist diese Rede allerdings die konsequente Weiterführung seiner Gedanken, jedoch ungeachtet der realen Situation. 101 4.3 Sport als Spiel Sport als Spiel, das möglichst zweckfrei ist, ist zumindest im heutigen Sportverständnis ein wesentlicher Gesichtspunkt zur Erklärung des Phänomens Sport. Wie sah das bei Carl Diem aus? Es soll untersucht werden, ob Diems kampfbetonter Sport auch noch Freiraum lässt für das Spielerische und ob Diem dieses Verständnis beibehalten hat. Seine Anhänger, u. a. Clemens Menze, sehen diesen Gedanken im Sport Diems bestätigt: „Sport in der Form des gesteigerten Spiels ist ein Medium der von äußeren Zwecken freien Selbstdarstellung des Menschen“.311 Dies ist allerdings eine generalisierende These, die den Bezug zu Diem nicht direkt verdeutlicht. Ob diese These auf das Spielverständnis von Carl Diem zutrifft, ist zu untersuchen. 4.3.1 Das Spielverständnis von Carl Diem Diem beschäftigt sich im Gegensatz zu anderen Charakteristika des Sports nur sehr wenig mit dem Spielgedanken im Sport. Dies mag zum einen daran liegen, dass er den Sport nicht als eine selbstlose Tätigkeit ansieht, sondern ihn mit Erziehungszielen befrachtet312 und zum anderen die Ursprünge des Sports in Trieben verwurzelt sieht. Außerdem sind die sozialen Probleme in der jeweiligen Gesellschaft der Kaiserzeit und vor allem in der Weimarer Republik so groß, dass es sich – mit Ausnahme der Oberschicht – kaum jemand leisten kann, irgendetwas zum Selbstzweck zu betreiben. In der NS-Zeit gibt es keine individuellen Freiräume mehr, sondern jede gesellschaftliche Tätigkeit ist zielgerichtet und im wesentlichen dazu bestimmt, die Vormachtstellung der Deutschen in der Welt zu erreichen. Erst in seinem ersten Werk nach dem zweiten Weltkrieg, „Wesen und Lehre des Sports“ und darauffolgend noch in weiteren Texten wie z.B. in „Spätlese am Rhein“, widmet Diem sich etwas ausführlicher dem Spielgedanken im Sport. In diesen neueren Texten versucht Diem durchaus seine alten Werte, wie die Ausrichtung auf den Kampf, die Erziehung zu einem bestimmten Ideal, die Schulung des Charakters und des Willens zu vermitteln. Allerdings nimmt er 311 Menze, Körperbildung und Humanismus im Werke von Carl Diem, S. 8. 312 Generell ist eine Belegung des Sport bzw. der Erziehung durch Sport, wie oben bereits erwähnt, nicht negativ zu sehen, die Instrumentalisierung des Sports im Blick auf eine Erziehung zur Wehrfähigkeit zum Beispiel ist allerdings zu kritisieren. 102 den Spielgedanken auf und diskutiert ihn. Insgesamt sind es also sehr wenige Texte, die sich mit dem Sport als Spiel beschäftigen. Diem sieht das Spiel als einen Urtrieb der Menschheit an. Dieser Trieb verbindet Menschen und Tiere, allerdings gibt es auch einen wesentlichen Unterschied, da beim Tier das Spiel auf die Kindheit begrenzt zu sein scheint, „beim Menschen allerdings zeigt sich der Spieltrieb auch, wenn er erwachsen ist.“313 Diem ist also davon überzeugt, dass das Spiel auch auf Trieben beruht. Er geht sogar soweit, dass er diesem Trieb die Funktion der Lebenstüchtigkeit des Menschen zuschreibt. „So müssen wir den Sport unserer Zeit als eine biologische Erscheinung ansehen, als ein Mittel der Natur, das Lebewesen durch die Begabung mit einem Spieltrieb lebenstüchtig zu machen.“314 Er nennt hier konkret die biologischen Wurzeln, in denen er den Sport begründet sieht. Zudem nimmt er an, dass „die Sportleidenschaft unserer Zeit […] aus dem gesunden Selbsterhaltungstriebe entstanden sei, als eine Art Selbsthygiene gegenüber dem beschränkten Bewegungsleben des technisierten Zeitalters.“315 Er gesteht diesem Trieb nicht die alleinige Urheberschaft des Sports zu, aber zumindest einen nicht unerheblichen Teil. Den Sport sieht Diem als eine Sonderart des Spiels: „Sport ist […] ein wertgehaltenes, ernstgenommenes, mit Hingabe betriebenes, genau geregeltes, vereinheitlichtes und verfeinertes, zu höchster Leistung strebendes Spiel.“316 Trotz des triebhaften Ursprungs des Spiels, der das Leben insgesamt betrifft, erkennt Diem die Unterscheidung von Sport und anderen Lebensbereichen an. „Es handelt sich beim Sport in all seinen verschiedenen Anwendungen nicht um Tagewerk, nicht um Arbeit.“317 Darüber hinaus sieht er die Arbeit, die nach seiner Ansicht eine Art der Erhöhung des Lebens darstellt, als eine Basis des Spiels an. „Erst seit wir wissen, dass Arbeit adelt und ein nicht der Arbeit gewidmetes Leben Drohnendasein bedeutet, erst seit dieser Zeit wissen wir um den Sinn des Spiels.“318 313 Diem, SAR, Sport, 1953, S. 7. 314 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 13: 315 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 48. An anderer Stelle nennt er ähnliche Gründe, allerdings bereits 1930 in Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 182: „Die plötzliche Entstehung des Laufsports und der Laufspiele ist also gar nicht zufällig, sondern sicher eine Art unbewusster, triebhafter Selbsthilfe der Menschen unserer Zeit, zeitgerecht mit der Industrialisierung […].“ 316 Diem, SAR, Sport, 1953, S. 8. Kursivdruck im Original. 317 Diem, SAR, Sport, 1953, S. 6. Kursivdruck im Original. 318 Diem in ADL, Das Spiel, S. 161. 103 Diem sieht die Ursprünge des Spiels also in triebhaften Quellen begründet. Er trennt es aber strikt von dem Lebensbereich der Arbeit und räumt ihm damit eine Sonderstellung ein.319 Der Gedanke des Kampfes spielt bei Diems Spiel- wie auch bei seinem Sportbegriff eine große Rolle. Diem sieht es als positiv, den Kampf in das Spiel bzw. den Sport hinübergerettet zu haben, da der existentielle Kampf um das tägliche Dasein nicht mehr notwendig ist. „Bei uns zivilisierten Europäern ist der handhafte Kampf nicht mehr angängig, aber doch haben wir die alten Instinkte geerbt und uns mit ihnen in den Sport gerettet.“320 Das Wort „retten“, das Diem in diesem Zusammenhang nutzt, macht deutlich, dass er Kampf als einen essentiellen Bestandteil der Menschheit ansieht („die alten Instinkte geerbt“) und dieser im Sport verwirklicht wird. Spiel als Bestandteil von Sport basiert somit nach Diem auf dem Kampf321. Diem nennt ebenso die Freude, die im Spiel zu Tage kommt. Er spricht der Freude einen elementaren Grund am Spiel zu: „die Freude ist der Urgrund.“322. Diese im Spiel entstehende Freude verknüpft Diem mit den triebhaften Ursprüngen des Spiels. Mit einem Verweis auf eine Strophe in Schillers „Lied an die Freude“323, sieht er in dieser „den Hinweis auf den frohen Urtrieb des Sports“324. Den Bezug zu Schiller bringt Diem in Zusammenhang mit der Untersuchung des Spiels sehr häufig. Insbesondere belegt er seine Aussagen mit den Ausführungen Schillers, die dieser in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ darstellt.325 4.3.2 Schönheit und Spiel Diem greift wie Schiller die schönheitsbildenden Aspekte des Spiels auf. Da Diem durch Sport eine Erziehung des Menschen erreichen möchte, liegt es ihm 319 Bernett (Sport zwischen Kampf, Spiel und Arbeit, S. 180.) zitiert zu diesem Thema Ommo Grupe: „Ohne die Vielfalt des Sports zu verkennen, plädierte Grupe […] für den Vorrang seiner „Funktion als Spiel“ im „Gegenbereich“ zur Arbeit.“ 320 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 183. 321 In dem Beitrag „Gewaltprävention durch Sporterziehung?“ hat Schmidt-Millard gezeigt, dass dieser Sportbegriff nicht geeignet ist, um damit Sport als Medium der Gewaltprävention einzusetzen. 322 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 50: Nach Zitaten von Goethe, Paul, Humboldt und Schiller „Die Freude ist der Urgrund.“ 323 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 14: „Froh, wie seine Sonnen fliegen – Durch des Himmels prächtgen Plan, - Wandelt, Brüder, eure Bahn, - Freudig wie ein Held zum Siegen.“ 324 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 14. 325 Siehe dazu Kapitel 4.3.3 104 auch nahe, dies nicht nur durch Vermittlung der ihm wichtigen Werte und Normen zu tun, sondern ebenso die physische Gestalt zu ändern. Er beschreibt an einigen Stellen den Sportlehrer als Bildhauer, der der prometheischen Aufgabe gleich nach seinem Schönheitsideal den Schüler formt326. Beide Aspekte machen für ihn Schönheit aus. Zudem bezieht er sich, auf Schiller berufend, auf die Schönheit, die im und durch Spiel entsteht. „SCHILLER sagt, man werde niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nämlichen Wege suche, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt.“327 Dieser Aspekt lässt sich, auch über Schillers Theorie hinausgehend, bestätigen. Auch Huizinga sieht diesen Aspekt in seiner Spieltheorie als gegeben. „Die Schönheit des bewegten menschlichen Körpers findet ihren höchsten Ausdruck im Spiel. […] Vielfältige und enge Band verbinden Spiel und Schönheit.“328 Was macht diese Schönheit aus? Darauf geht auch Diem ein. Zum einen sieht er in Schönheit einen schönen Körper zum anderen erkennt er aber auch, wieder in Anlehnung an Schiller, die Schönheit der Bewegung. „Der Spieltrieb solle zu 'lebender Gestalt’ führen…, ‚was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt’.“329 Diem beschreibt diese Schönheit folgendermaßen: „Durch das Mitgerissensein im Spiel lösen sich die Glieder, und die gelöste, von innerem Schwung getragene Ausführung einer Körperbewegung bildet ihre Schönheit, die jede Stilisierung übertrifft. Wahrscheinlich hat Schiller daran gedacht, als er den Satz aufstellte, dass das Ideal des Spieltriebes durch das Ideal der Schönheit gegeben sei.“330 Diem bezieht sich damit auf oben genanntes Schiller-Zitat (328). Der Verweis ist in diesem Zusammenhang auf der einen Seite gerechtfertigt, da auch für Schiller Schönheit mit aktiver Bewegung in Verbindung steht331, auf der anderen Seite allerdings nicht. Schiller nennt zwar auch das Wort Trieb als Ursprung des Spiels, nur hat der Trieb bei ihm nicht biologische 326 Vgl. Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 100. Dazu auch Schmidt-Millard, Prometheus als Leitfigur, S. 195/196: „Was aber befremdet an Diems Anlehnung an den Prometheus-Mythos? Noch vor aller inhaltlichen Bestimmung des Ziels der Erziehung ist es doch die Gott-gleiche Stellung des Erziehers, der hier selbst zum entscheidenden Maßstab der Formung wird, denn es ist ja, wie Diem formuliert, ‚sein Bild’, das zum Kriterium jener ‚Schönheitssuche’ wird.“ 327 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 15. 328 Huizinga, Homo Ludens, S. 15. 329 Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S.83. Kursivdruck im Original. 330 Diem, OF 1, Das Spiel – eine Welt, Festrede für den Bundestag des Deutschen FußballBundes Dresden, 1930, S. 83. 331 Pieper, Schillers Projekt eines ‚menschlichen Menschen’, S. 199: „Wahre Schönheit im Sinne Schillers bedarf v.a. der entsprechenden, spielerischen Aktivität der Subjekte.“ Kursivdruck im Original. 105 Bedeutung wie bei Diem, sondern er „ist Antrieb zur Wesensverwirklichung“332 und ist damit losgelöst von der existentiellen Ebene Diems. Das Spiel kann sich somit abtrennen von den alltäglichen Dingen. Schiller „hebt das Sein des Spiels gegen den ‚doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals’ ab. […] Im Aufscheinen der Idee ‚verliert alles Wirkliche seinen Ernst, weil es klein wird’.“333 Das Spiel dient bei Diem, wie gezeigt dem Leben. Schillers Idee vom Spiel ist darauf ausgerichtet, dass der Mensch, losgelöst von der alltäglichen Lebensrealität, in einem dem Alltag nicht verbundenen Raum, zu sich selber findet und sich verwirklichen kann. „Spiel im Zusammenhang mit Schönheit ist so wenig Divertissement und ein Zeitvertreib, welcher den Menschen zerstreut, dass dieser vielmehr erst im Spiel ganz zu sich selbst versammeln wird.“334 Schiller weist den Menschen an, er „soll nur mit der Schönheit spielen“335, also ist Schönheit für Schiller eine dem zweckfreien Spiel immanente Bedingung und nicht wie bei Diem ein Ziel. Schiller rechtfertigt diese Voraussetzung damit, dass „nur im Spiel und im rechten Verhältnis zum Schönen […] der Mensch ganz das [ist; MB], was er sein soll, nämlich Mensch“.336 Auch der Aspekt der Freiheit kommt in diesem Zusammenhang wieder zum tragen. „Schönheit ist für ihn [Schiller; MB] ‚Vollkommenheit mit Freiheit’.“337 Diems Auslegung dieses Gedankens ist dagegen wieder seinem funktionalen Sportverständnis verhaftet. „Mit diesem Gedankenblitz, dass Schönheit Freiheit in Vollkommenheit sie, erhellt sich uns auch das Streben des Sports bis zum Rekord; […]. Im Rekord also erfüllen wir den Sinn des Spiels: Vollkommenheit in Freiheit.“338 Die Zweckfreiheit des Spiels hebt sich hier durch ein Streben nach Rekord auf und Diem verkürzt den Aspekt der Freiheit auf einen sehr seltenen Augenblick, das Erreichen eines Rekords im Sport. Die Auslegung der Schiller Zitate bzw. des gesamten Ansatzes dient demnach wiederum nur dazu, die Sicht Diems zu untermauern und nicht die Schillers dem Leser näher zu bringen.339 Ebenso kann für Diem Schönheit erlangt werden durch ein „Mitgerissensein“ im Spiel. Dies bedeutet, dass man ganz im Spiel aufgeht, ohne über sein Tun zu 332 333 334 335 336 337 338 339 Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 443. Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 452, 453. Kursivdruck im Original. Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 453. Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 453. Kursivdruck im Original. Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben, S. 453. Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S. 84. Kursivdruck im Original. Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S. 84. In Kapitel 4.3.3 wird genauer auf den Ansatz Schillers eingegangen. 106 reflektieren. Dies ist ein Ansatz, den auch Kleist bei seinem Text „Über das Marionettentheater“ wählt, in dem er sagt, dass wahre Anmut und Schönheit im Tanz, also in Bewegung nur entstehen können, wenn der sich Bewegende dies nicht reflektiert und sich ganz im Tanz versunken befindet. Diesen Ansatz findet man bei Diem sehr selten, üblicherweise dominiert der Kampfgedanke. Weiterhin erwähnt Diem kurz, fast nebenbei, dass das Spiel das fördert, „[…], was wir Menschlichkeit nennen“.340 Da diese Werte in der Zeit des Nationalsozialismus nicht so dominierend sind, berücksichtigt Diem sie in Texten dieser Zeit nicht mehr oder weniger intensiv. Allerdings kommt dieser Aspekt auch in Schriften nach 1945 nur am Rande zur Geltung. 4.3.3 Anlehnung an Schillers Spieltheorie Da Diem sich in seinen Ausführungen zum Spiel sehr häufig auf Schiller bezieht, wird im Folgenden untersucht, wie Diem die Theorie Schillers nutzt und ob diese Verknüpfung gerechtfertigt ist. Zur besseren Einordnung des Spielbegriffs von Diem und dessen Verweise auf Schiller soll im Folgenden kurz das Spielverständnis Schillers aufgezeigt werden. Grundsätzlich geht Schiller von zwei Trieben aus, die den Menschen bestimmen, den Form- und den Stofftrieb. Diese beiden Triebe stehen in Wechselwirkung zueinander, wobei sie tendenziell gegensätzlich sind.341 „Aufgrund dieser ‚Entgegensetzung’ gegen beide Grundtriebe macht Schiller den Spieltrieb als eigenständigen, ‚neuen Trieb’ geltend, obwohl er kein dritter Grundtrieb ist. In seiner Übernahme der Anliegen der Grundtriebe und der Aufhebung ihres nötigenden Charakters lässt sich eine ihm eigene, von jenen unterscheidbare Tendenz erkennen, insofern er nämlich weder sinnliche noch vernünftige Interessen verfolgt, sondern deren Vereinbarung: ‚Der Spieltrieb würde also dahin gerichtet sein, … Werden mit absolutem Sein, Veränderungen mit Identität zu vereinbaren’.“ 342 340 Diem, OF 1, Das Spiel – eine Welt, Festrede für den Bundestag des Deutschen FußballBundes Dresden, 1930, S. 84. 341 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 58: „Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt L e b e n, in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt G e s t a l t, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formale Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt.“ 342 Pieper, Schillers Projekt eines ‚menschlichen Menschen’, S. 199 und Pieper, S. 118/119. Kursivdruck im Original. 107 Dieser Spieltrieb wird von Schiller direkt mit der Schönheit verknüpft. „Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also l e b e n d e G e s t a l t heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte, dem, was man in weitester Bedeutung S c h ö n h e i t nennt, zur Bezeichnung dient.“343 Die Schönheit ist für Schiller das Objekt des Spieltriebs. „Für SCHILLER hat Schönheit die Funktion, ein Reich des Schönen Scheins neben der empirischen Notwendigkeit zu etablieren. Ziel ist einen innere Freiheit, die keine Auswirkungen auf Realität anstrebt.“344 Spiel ist demnach frei von jedem Zweck und nicht mit den alltäglichen Dingen verknüpft. Schönheit und Spiel sind nach Schiller untrennbar verbunden. Zur Darstellung des Kontextes des oft gebrauchten Spiel-Zitats von Schiller wird folgend eine längere Passage aus dem 15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen zitiert. „Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nehmlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edlern Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns auf diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen. Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit seyn, indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert. Mithin thut sie auch den Ausspruch: der Mensch soll mit der Schönheit n u r s p i e l e n, und er soll n u r m i t d e r S c h ö n h e i t spielen. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und e r i s t n u r d a g a n z M e n s c h, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen seyn werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; […]. Aber dieser Satz ist auch nur in der Wissenschaft unerwartet; längst schon lebte und wirkte er in der Kunst und in dem Gefühle der Griechen, ih343 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 58. Hervorhebung im Original. 344 Beckers, Ästhetische Erziehung, S. 88. 108 rer vornehmsten Meister; nur daß sie in den Olympus versetzten, was auf der Erde sollte ausgeführt werden. Von der Wahrheit desselben geleitet ließen sie sowohl den Ernst und die Arbeit, welche die Wangen der Sterblichen furchen, als die nichtige Lust, die das leere Angesicht glättet, aus der Stirne der seligen Götter verschwinden, gaben die ewig zufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge frey, und machten den M ü s s i g g a n g und die G l e i c hg ü l t i g k e i t zum beneideten Loose des Götterstandes: ein bloß menschlicherer Name für das freyeste und erhabenste Seyn. Sowohl der materielle Zwang der Naturgesetze, als der geistige Zwang der Sittengesetze verlor sich in ihrem höchsten Begriff von Nothwendigkeit, der beyde Welten zugleich umfaßte, und aus der Einheit jener beyden Nothwendigkeiten gieng ihnen erst die wahre Freyheit hervor.“ 345 Diese Textpassage Schillers verdeutlicht den Kontext des oft benutzten Zitats: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Es wird, wie oben erwähnt, klar, dass Schiller Spiel als etwas völlig Zweckfreies ansieht. Der Bezug zu den Göttern, die befreit sind von Zweck, Pflicht und Sorgen verdeutlicht, dass diese Freiheit die Voraussetzung zum Spielen im Sinne Schillers und damit auch zum „ganz Mensch sein“ ist.346 Dennoch ist es nicht nur den Göttern vorbehalten, diesen Zustand zu erreichen. Sie bilden lediglich das Vorbild, an dem es sich zu orientieren gilt. Da es Menschen nicht möglich ist, sich generell von Pflichten zu befreien, bietet das Spiel einen Raum, in dem der Mensch mit entsprechender Geisteshaltung, sich auf sich selbst konzentrieren kann. In diesem Moment ist er frei aller Zwänge, die sonst sein Leben beherrschen. Die Nutzung dieser Möglichkeit wirkt sich dann wiederum auf die Persönlichkeit des einzelnen im Lebensalltag aus. „Indem sich der Mensch des Spiels bedient, steigt er in eine höhere Sphäre des Daseins auf. Im Sinne des Spiels liegt sein Freisein von dinglichen Zwecken. Ich spiele das Spiel um des Spiels halber, d.h. ich hebe mich mit diesem Beginnen über des Lebens Notdurft hinaus. Wenn ich sonst noch so ein armer Tagewerker, ein Sklave der Arbeit bin, in dem Augenblick, in dem ich mich zum Spiel entschließe, bin ich frei, so frei, wie nur irgendeiner in der Welt, und selbst der Gefangene, 345 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 62/63. Hervorhebung im Original. 346 Pott, Die Schöne Freiheit, S. 95: „Die ‚fröhlichen Verhältnisse’ Griechenlands lassen einen Begriff unentfremdeten Daseins anschaulich werden. […] Die Negation entfremdeten Daseins – Zweckfreiheit, Sorgenfreiheit, Pflichtfreiheit – haben ihre Positivität in dem Müßiggang und der Gleichgültigkeit der Götter, menschliche Namen „für das freieste und erhabenste Sein.“ (15, 618)“ 109 der in einer Pause zum spielen kommt, hebt sich dadurch für diese Zeit wenigstens über seine Lage hinaus. Dieses Sichbefreien durch das Spiel ist gewissermaßen die unterste Stufe, über die hinweg der Mensch aus dem Zustande des reinen Arbeitstieres in die Luft der Freiheit tritt. Beklagenswert der Mensch, der nicht zu spielen weiß. Je mehr er dieses Spiel nach guten Regeln, in vornehmem Geist und mit höherer Sinngebung treibt, um so mehr steigert er den Wert des Spiels und sich selbst. Es eröffnet sich ihm eine höhere, man mag sagen eine adlige Welt.“ 347 Dieses Zitat Diems kann man einer humanistischen Einstellung zuordnen, der er sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch für die vergangene Zeit nachträglich verschreibt. Hier geht Diem auf das Grundbedürfnis des Menschen ein, sich spielend betätigen zu wollen neben der Arbeit und dem Alltag. Dadurch, dass Diem die Freiheit anspricht, spielt er auf die „Briefe über die ästhetische Erziehung der Menschen“, speziell den oben zitierten fünfzehnten Brief, von Schiller an. In vielen seiner Texte, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind, bezieht Diem sich auf das Schiller-Zitat: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“348. In den meisten Fällen des Gebrauchs dieses Zitats stellt Diem nicht den Zusammenhang dar349, der notwendig ist, um dieses Zitat einzuordnen und richtig zu verstehen.350 Die beiden Texte, „Der Sinn des Sports“ und „Friedrich von Schiller – Zum 150. Todestag“351 versuchen, den Schillerschen Ausspruch zu erörtern und liefern Erklärungen. Diem geht es im Sport, wie an anderen Stellen deutlich gemacht, darum, den Menschen zu verbessern und ein Volk, das Europa beherrschen kann, durch Sport zu erziehen und zur Vormachtstellung zu bringen. Neben den erzieherischen Aspekten, die er dem Sport zuschreibt, argumentiert er zudem noch mit der von Schiller angesprochene Freiheit als Voraussetzung, überhaupt spielen zu können. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch wo er spielt, hat SCHILLER gesagt, und wer die ‚Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen’ nachliest, 347 Diem, OF 1, Das Spiel – eine Welt, Festrede für den Bundestag des Deutschen FußballBundes Dresden, 1930, S. 82. 348 Z.B. in Diem, SAR, Sport, 1953, S. 10, Diem, OF 1, S. 84, Originalquelle Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief. 349 Stepina, Das Spiel als Inbegriff des Menschen?, S. 1: „Dieses Zitat ist aber Mitte, und nicht Schlusspunkt weitreichender Überlegungen, die der im Ansatz schon durchaus materialistische Denker über ein Modell des ästhetischen Menschen in einer von bürokratischen Zwängen befreiten Gesellschaft anstellt.“ 350 Z.B. in Diem, SAR, Sport, 1953, S. 10 als er den Begriff „sportsman“ erklärt und zur Erklärung „vollmenschlicher“ Überlegenheit dieses Zitat ohne Erklärung hinzuzieht. 351 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 12-19 und Friedrich von Schiller, 1955, S. 8285. 110 wird sehen, dass er darin die Freiheit versteht, die den Menschen herrscherlich macht, die ihn über die Not des Daseins erhaben werden lässt.“352 Auch hier schreibt Diem erneut von dem Unterschied bzw. der klaren Abgrenzung zwischen Alltag und Spiel, sein Ansatz verknüpft jedoch Alltag und Spiel, als Beispiele seien die Erziehung zum „tüchtigen Bürger“ oder darauf aufbauend zum guten Soldaten genannt. Er erkennt die Voraussetzung der Freiheit des Menschen, um spielen zu können. Diese Voraussetzung in einem Sport zu realisieren, der, vor allem zur Zeit des NS, mit politischen und ideologischen Zielen befrachtet ist, scheint jedoch unwahrscheinlich. Zudem verknüpft Diem den Sport explizit mit Alltagssituationen, so dass die Distanz vom Alltag zu einem auf Freiheit basierendem Spiel nicht gewahrt werden kann. An anderer Stelle nennt Diem annähernd das ganze Zitat353, allerdings nicht im Gesamtkontext. Im Zusammenhang mit Schillers „Ästhetischen Briefen“ bringt Diem auch noch andere Zitate aus den Briefen und verknüpft sie so, dass sein Ziel, die Weiterbildung des Menschen mit dem von Schiller übereinstimmt.354 Er nutzt die Worte Schillers, um sie in seinen Kontext zu stellen, berücksichtigt dabei aber nicht den Zusammenhang, der bei Schiller zu Grunde liegt. Dieser bezieht sich auf das „Mensch-Werden“, was natürlich auch einen fortschreitenden Prozess impliziert, Diem betont ebenso sehr häufig das Streben nach mehr. Ihm geht es dabei aber nicht nur um einen inneren Prozess, sondern es sollen äußerlich sichtbare bzw. messbare Verbesserungen eintreten. Diese orientieren sich zum einen an der quantifizierbaren Leistung und zum anderen an Werten, die, über den Sport transportiert, den Menschen verbessern. Der individuelle Prozess der Formung der Persönlichkeit spielt dabei zwar eine Rolle, jedoch eher eine untergeordnete. Das Spiel leiste nach Schiller „Veränderung und doch Bewahrung der Identität, also Schutz des eigenen Wesens und dabei nicht Stillstand, sondern Werden 352 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 15. Kursivdruck im Original. 353 Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S. 83: „… denn … der Mensch spiele nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt!“ 354 Pieper, Schillers Projekt eines ‚menschlichen Menschen’, S. 185: „Nur wenn der Mensch sein Vermögen vorübergehend in der der Idee seines Seins analogen Weise – in der Wechselwirkung von Vernunft und Sinnlichkeit im Spiel – betätigt, ist er in der Lage vernünftige Handlungen zu vollbringen und sich selbst als Person zu verwirklichen.“ Und S. 196: „Erst der Durchgang durch das Spiel versetzt den Menschen in die Lage, sein Leben – sowohl dessen natürliche als auch dessen moralische Anforderungen in dem bei Schiller weiten Sinn des Wortes – vernünftig zu bewältigen. Damit wäre immerhin nachgewiesen, dass die Ästhetik in Schillers Konzeption einen wesentlichen und unverzichtbaren Beitrag für die Sphäre des Ernstes zu leisten hat […].“ 111 und Wachsen nach eigenem Gesetz, nach persönlichen Antrieben.“355 Dies ist eine der wenigen Stellen356, an der Diem nur das persönliche Weiterkommen des Menschen betrachtet und die Entwicklung von Verein, Stadt und Vaterland vernachlässigt. In der Folge holt er dies allerdings umso deutlicher nach, da er dem Spielen in Schillers Sinne zuschreibt, „die Lebensaufgabe einer höheren Weltordnung ganz zu lösen“357. Die Entwicklungen zu der „ästhetischen Erziehung des Menschen“ sind bei Schiller eingebunden in Vorstellungen über einen politischen Staat, der diese Erziehung ermöglichen soll. Im Nachklang der Französischen Revolution ist das politische Problem, das er lösen möchte, zentriert auf das Ideal, als freier Bürger in einem freien Staat leben zu können. Da „der Wille des Menschen […] völlig frey [steht; MB] zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nöthigung greifen“358. Auf der Grundlage des Versuchs, Sinnlichkeit und Vernunft zusammen zu bringen, soll dieser Staat stehen. Schiller nennt den „ästhetischen Staat“, der alle Bürger als gleichberechtigt anerkennt. „In dem ästhetischen Staate ist alles – auch das dienende Werkzeug ein freyer Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, […]. Hier also in dem Reiche des ästhetischen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt.“359 In diesem Staat kann sich jeder Bürger frei entfalten, das Ästhetische ist dazu die Notwendigkeit. Ein Bereich des Ästhetischen bildet laut Schiller das Spiel360. Zu den Vorstellungen Diems ist eine deutliche Differenz zu erkennen. Die Vorstellungen über einen idealen Staat sind bei Diem geprägt von der Idee einer totalitären Form. Der prägende Grundzug dieses Staats basiert auf der Annahme von Führer und Gefolgschaft. In diesem System, das ganz klar hierarchisch geordnet ist, findet keine Gleichheit statt. Es sind demnach konträre Ziele, die Diem und Schiller verfolgen. In der Staatsvorstellung von Schiller hat jeder Bürger das Recht, sich selbst zu entfalten. Diems Erziehung ist auf eine 355 Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S. 83. 356 Eine weitere ist in Bezug auf Schiller in Diem in ADL, Das Spiel, S. 163: „Es blieb Schiller vorbehalten, die Bedeutung des Spiels fürs menschliche Leben anzudeuten […] jenes dem Spiel immanente Streben nach Selbsterfüllung und Selbstvollendung und dabei den ebenso immanenten Weg zur Hochsinnigkeit zu beschreiten.“ Kursivdruck im Original. 357 Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S. 83. 358 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 14. 359 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 122/123. 360 Stepina, Das Spiel als Inbegriff des Menschen?, S. 2: „Schiller hat den Spielbegriff innerhalb einer ästhetischen Realutopie eingebettet gesehen, in welcher die Antithese von Sinnlichkeit und Vernunft in einem Tertium, dem Spiel, aufgehoben werden soll.“ 112 Reihe von Werten, die möglichst jeder verinnerlichen soll, und auf ein ganz enges Bild vom „tüchtigen Bürger“ beschränkt. Somit nutzt Diem diese Zitate von Schiller, um sie in seine Zusammenhänge einer Erziehung durch Sport einzuordnen, obwohl er dies bestreitet.361 An anderer Stelle wird deutlich, dass er die Freiheit in einem anderen Zusammenhang mit dem Spiel sieht als Schiller. Er erkennt sich nicht als Voraussetzung zum Spielen an, sondern als Folge: „Wenn wir spielen, sichern wir unsere Freiheit, auf dass wir weiterspielen wollen und können.“362 Damit kehrt er den Argumentationszusammenhang Schillers um, der die Freiheit als Voraussetzung nennt, um spielen zu können, Diem setzt das Spiel an die erste Stelle, durch das Freiheit erlangt werden soll. Diem erkennt zwar die Idee der Zwecklosigkeit und der Freiheit, kann sie aber nicht umsetzten und auf seinen Spielbegriff anwenden. Daher ist der Spiel- ebenso wie der Sportbegriff weiter mit den Zielen versehen, die er bereits im ausgehenden Kaiserreich und in der frühen Weimarer Republik geprägt hat. In einem Punkt ist Diem nicht der Auffassung von Schiller und attestiert diesem auch, den eigentlichen Wert des Spiels nicht erkannt zu haben. Schiller aber „schließt ausdrücklich ‚Spiel und Scherz’ aus dieser Betrachtung aus, dagegen behandelt er das ‚Spielen um zu arbeiten’, d.h., nur als zweckhafte Erholung von der Arbeit, er hat also die wahre Beschaffenheit des Spiels verfehlt.“363 Schiller sieht das Spiel nicht als eine Erholung von der Arbeit an, sondern er schreibt dem Spiel auch ernsthafte Grundlagen zu, so bekommt es nicht eine zweckhafte Erholungsfunktion, wie Diem es sieht, es findet eine Verflechtung des Spiels mit Ernst statt.364 Jedoch ist diese Verknüpfung spielerisch, also nicht auf den Alltag bezogen, wohingegen das Spiel für Diem auf den Alltag ernste Auswirkungen haben soll. Voraussetzung, um das Spiel durchführen zu können ist allerdings der ästhetische Zustand, den Schiller als Basis zu Grunde legt.365 In diesem ästhetischen Zustand ist der Mensch „frei von den Bedürfnissen des 361 Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S. 85: „Wir legen nichts in die Gedanken SCHILLERS hinein, was nicht in ihnen angelegt ist, wir fassen gewissermaßen nur ihren Strahl zu einem Glanz, der unsere Tage erleuchten soll.“ 362 Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S. 85. 363 Diem in ADL, Das Spiel, S. 160 364 Pieper, Schillers Projekt eines ‚menschlichen Menschen’, S. 184: „Im ästhetischen Zustand darf das ernste Problem nur als Spielmaterial behandelt werden; keine der ersonnenen möglichen Bestimmungen darf bereits als ‚richtige’ und als ‚aktive Bestimmung zu erwählende hervorgehoben werden, sondern innerhalb des Spiels bleiben alle gleich-gültig.“ 365 Vgl. Pieper, Schillers Projekt eines ‚menschlichen Menschen’, S. 180 ff. 113 materiellen Daseins und vom Zwang der Gesetze“366 und insofern findet hier keine, wie von Diem vermutete, Verknüpfung von Alltag und Spiel statt. Diese Tatsache findet bei Diem keine Berücksichtigung. Aufgrund der Annahme von unterschiedlichen Voraussetzungen ist es nicht möglich, den Ansatz Diems mit dem Schillers zu verbinden. Diem beruft sich dennoch zu Unrecht auf den Spielbegriff Schillers. Die Perspektive des Spielens um des Scherzes Willen ist allerdings für Diem auch neu und in seinen Veröffentlichungen sehr selten. In allen anderen Fällen sieht Diem auch im Spiel immer den Ernst. Er belädt das Spiel mit Sinngebungen und spricht ihm Wirkungen zu, so dass von einem Spiel zum Scherz nicht mehr gesprochen werden kann (siehe Kapitel 3.5.2). Damit die aufgeführten Eigenschaften des Spiels zur Entfaltung kommen können, müssen Rahmenbedingungen erfüllt werden, die bei einem Spiel nur aus Scherz nicht vorhanden sein müssen. Bezugnehmend auf das Eingangszitat ist zu sagen, dass er auch hier nicht die Zwecklosigkeit des Spiels bestehen lassen kann, sondern das Spiel, das angereichert ist durch Sinngebungen, auf eine höhere Stufe hebt als das einfache, nur zum Spaß betriebene. Der Sportphilosoph Gerhardt verneint die Notwendigkeit, dass man zum Spiele einen Sinn, gar einen höheren Sinn benötigt: „Man braucht keinen Zweck zum Spielen“.367 Wenn in diesem Zusammenhang wieder auf triebhaften Wurzeln des Spiels in Betracht gezogen werden, dann scheint der Ansatz Diems, dem Spiel einen Selbstzweck zugestehen zu wollen, eher als eine Ausnahme. 4.3.4 Zwischenfazit Diem verknüpft das Spiel mit Eigenschaften wie „wertgehalten“, „geregelt“ etc. Damit belegt Diem das Spiel mit Attributen, die es einschränken, und verknüpft es, als einen Teil des Sports bzw. von ihm auch als Synonym gebraucht, mit dem Kampf. Zudem ist dargestellt worden, dass Diem den Ursprung des Spiels, wie den des Kampfes auch, auf Trieben basiert sieht und damit wird das Spiel, wie bereits in Kapitel 4.1 erläutert auf eine Ebene gestellt mit anderen, lebenserhaltenden Trieben, die sowohl Menschen als auch Tiere auszeichnen. Auf der anderen Seite trennt Diem klar zwischen Arbeit und Sport. Diems Auffassung 366 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 231. 367 Gerhardt, Die Moral des Sports, S. 133. 114 von Sport bzw. Spiel als ein Teil von Sport ist nicht durchgängig einheitlich. Für Diem ist dieser Uneinheitlichkeit allerdings nicht offensichtlich. In Bezug auf das Spiel beruft sich Diem stets auf Schiller. Dieser sieht zwar auch einen Trieb, allerdings nicht im biologischen Sinn wie Diem, als Ursache des Spiels, den Spieltrieb, der jedoch nicht mit Selbsterhaltung etc. verknüpft ist, sondern im Gegenteil alle Unfreiheiten aufhebt und dem Menschen möglich macht, mit „seinem Trieb und dessen Wünschen zu spielen; er hat es nicht nötig ihn zu ‚beherrschen’“368. Der Vergleich mit den Erörterungen Schillers über das Spiel hat zudem gezeigt, dass die Anlehnung Diems an Schiller zur Verfestigung seiner Thesen nicht berechtigt ist. Die Zweckfreiheit, die Schiller als Grundlage des Spiels anerkennt, ist bei Diem nicht gegeben. 4.3.5 Der moderne Sportbegriff bei Volker Gerhardt in Abgrenzung zu Diem Die Ansicht, Sport bzw. Spiel beruhe auf Trieben kollidiert mit anderen Spieltheorien, wie z.B. die von Sutton-Smith, Huizinga und Gerhardt. Auch das Einbringen des Kampfgedankens in das Spiel steht im Gegensatz zu anderen Ansätzen. Exemplarisch wird auf den Sportbegriff von Volker Gerhardt zum Vergleich zurückgegriffen, da hier auch explizit der Zusammenhang von Spiel und Sport thematisiert wird.369 Diesem Gedanken folgt Diem ebenfalls. Die Gegensätze, die sich im Vergleich der beiden Ansätze ergeben, werden hier bewusst kontrastierend aufgezeigt und erläutert. Gerhardt trennt im Gegensatz zu Diem ganz deutlich zwischen dem existentiellen Kampf und Spiel bzw. Sport. „Das erste liegt in dem konstitutiven Unterschied des Sports zur erfahrenen Lebenssicherung durch Arbeit und existentiellen Kampf. Sport ist Spiel.“370 Die Ansicht, Sport gehöre zum Gegenstandsbereich des Spiels, teilen Diem und Gerhardt. Diem unterteilt zwar wie Gerhardt in Sport bzw. Spiel auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite, aber für Gerhardt ist der existenzielle Kampf einzig in der Arbeit zu finden. Diem dagegen ist es wichtig, den Kampf im Spiel und Sport aufrecht zu erhalten, da dieser weder in der Arbeits- noch in der übrigen Lebenswelt des modernen Menschen zu finden ist. Gerhardt spricht vom Spiel als der „sich selbst genügenden Tätigkeit, in 368 Pieper, Schillers Projekt eines ‚menschlichen Menschen’, S. 199. 369 Diesen Ansatz verfolgen auch andere Autoren, wie z.B. Sutton-Smith (Die Dialektik des Spiels) oder Huizinga (Homo Ludens). Als Beispiel wurde hier jedoch vorrangig der Ansatz von Volker Gerhardt ausgewählt. 370 Gerhardt, Die Moral des Sports, S. 133. Kursivdruck im Original. 115 der es nicht um Existenzerhaltung, sondern um die Freude, an der unmittelbaren Auslassung der eigenen Kräfte geht“ und der Vorrangigkeit des „im Sport so wichtigen Selbstgenuss“371. Auch der Spieltheoretiker Huizinga, um einen weiteren Beleg zu nennen, bestätigt diese Ansicht: „Spiel ist nicht das ‚gewöhnliche’ oder ‚eigentliche’ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz.“ 372 Diem belädt das Spiel, damit es als Sport gilt, jedoch mit Attributen wie wertgehalten, ernstgenommen, mit Hingabe betrieben, zu höchster Leistung strebend. Bei dieser Definition scheint die Zweckfreiheit, die Gerhardts Theorie zufolge jeglichem Spiel zugrunde liegt, unter den Attributen, die das Spiel für Diem zu erfüllen hat, jedoch zu ersticken.373 Für Gerhardt liegt „der Sinn des Spiels […] ganz und gar in seinem Vollzug“.374 Das Spiel benötigt also keinen Zweck und nur das Spiel bildet den Sinn. Die Zweckfreiheit, die Diem auch nennt, kann man ihm daher nicht abnehmen, wenn man, wie oben dargestellt, den Ursprung in Trieben sieht, die auch für die Lebenserhaltung sorgen. Allerdings ist diese Zweckfreiheit Voraussetzung eines gelungenen Spiels. Sogar auf der Ebene des Wettkampfs muss diese gegeben sein. „Wie jedes andere Spiel muss man den Wettkampf als bis zu einem gewissen Grade zwecklos bezeichnen. Das will heißen: er läuft in sich selber ab, und sein Ausgang ist nicht an dem notwendigen Lebensprozess der Gruppe beteiligt.“375 Hier liegt demnach eine große Diskrepanz zwischen Diems Ansicht und der anderer Autoren, hier am Beispiel Gerhardt und Huizinga. Ein weiterer Unterschied in der Auffassung von Spiel zwischen Diem und Gerhardt liegt darin, dass Gerhardt Sport als einen „von Not und elementarem Bedürfnisdruck befreiten Luxus“376 ansieht. Diese Trennung kann bei Diem nicht gegeben sein, da er den Sport als einen jedem Menschen eingepflanzten Trieb ansieht. Triebe sind grundsätzlich auf das engste mit dem existentiellen Kampf 371 Alle Gerhardt-Zitate, Die Moral des Sports, S. 133, 134. Kursivdruck im Original. 372 Huizinga, Homo Ludens, S. 16. Kursivdruck im Original. 373 An anderer Stelle bestätigt sich dies: Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 126: „Irrational, d.h. triebhaft, ist nur das Spiel und zwar zunächst das Spiel des Kindes, und auch in dieses Spiel dringt nur zu bald eine vernunftgemäße Zwecksetzung ein, in dem Augenblick nämlich, in dem es geregelt und organisiert wird.“ 374 Gerhardt, Die Moral des Sports, S. 134. 375 Huizinga, Homo Ludens, S. 60. Kursivdruck im Original. 376 Gerhardt, Die Moral des Sports, S. 133. Auch hier bestätigt wiederum Huizinga die Ansicht Gerhardts, indem er formuliert: Das Spiel „das nicht das ‚gewöhnliche’ Leben ist, steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozess“. (Huizinga, Homo Ludens, S. 17, Kursivdruck im Original) 116 verbunden (z. B. Nahrungsaufnahme, Sexualtrieb) und somit, wie schon genannt, der Lebenserhaltung dienen und damit befriedigen Sportler im Vollzug des Spiels elementare Bedürfnisse. Aus den dargelegten Gründen ist auch der Stellenwert der Freude in den beiden Ansätzen unterschiedlich. Diem spricht von der Freude, die im Spiel zu Tage kommt. Da er das Spiel mit vielen Attributen belegt, ist es schwer vorstellbar, dass im ernstgenommenen, zu höchster Leistung strebenden Spiel dieselbe Art der Freude entsteht wie in dem rein zum Selbstgenuss betriebenen Spiel. Diem spricht der Freude einen elementaren Grund am Spiel zu377. Diesen Aspekt von außen zu bewerten, gestaltet sich als sehr schwierig bzw. nicht möglich, da das Empfinden von Freude sehr individuell geprägt ist und ebenso von der Art der Inszenierung des Sport bzw. Spiels abhängt. Diem möchte durch den Sport und das Spiel immer erzieherische Wirkung ausüben und schon allein dies widerspricht einem Selbstzweck. Diese erzieherischen Gedanken beziehen sich auch auf die Vermittlung der Regeln (z.B. Erziehung zur Ritterlichkeit) durch Spiel und Sport. Die große Bedeutung der Regeln und deren Beachtung ist eine Gemeinsamkeit der Ansätze Diems und Gerhardts, nur ist die Fairness bei Gerhardt genuin mit Sport verbunden, Diem möchte sie erst durch Sport vermitteln.378 4.3.6 Darstellung des Sports nach 1945 Diem widmet sich in seinem ersten großen Werk nach 1945 „Wesen und Lehre des Sports“ zwei Kapitel lang dem Spiel und dem Sport als Spiel.379 Viel Neues sagt er nicht. Im Großen und Ganzen ist das, was in diesen Kapiteln steht auch Inhalt der 1930 und 1933 erschienen Artikel „Das Spiel eine Welt“ und „Wesen und Wert des Sports“, denen ein Teil der obigen Zitate entnommen sind. Die Ausführungen sind allerdings ausführlicher und stellen mehr die jetzt „neu“- 377 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 50: Im Anschluss an eine Reihe von Zitaten von Goethe, Paul, Humboldt und Schiller nennt Diem die Freude als Antrieb zum spielen: „Die Freude ist der Urgrund.“ 378 Schmidt-Millard, Gewaltprävention durch Sporterziehung?, S. 17: Fairness erscheint aus Gerhardts Sicht „nicht als eine kulturelle Überformung eines sonst gewalttätigen Kampfes, sondern sie entspringt der Situation selbst, weil das sportliche Wettkampf-Spiel nur solange Spiel bleibt, wie die Spieler einander wechselseitig als Mitspieler achten“. 379 Dazu Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 35: „Im Alter hat Diem sich darum bemüht, seine Sportethik zu sublimieren, den agonalen Grundzug zu mildern und den Sport an das Spielprinzip zu binden.“ 117 gewonnenen Werte wie Freiheit, Selbstfindung und Individualität380 in den Vordergrund. „Im Spiel steckt ein hoher Freiheitsgehalt. […] Schon hier erkennen wir blitzartig, was wir zu erzielen vermögen, wenn wir das Spiel richtig einsetzen, d. h. Menschen ganz zu sich selber führen.“381 Hier stellt Diem in den Vordergrund, dass im Spiel ein möglicher Selbstfindungsprozess angelegt ist. Dieser funktioniert nicht mit dem sonst propagierten planmäßigen und sinnbeladenen Sport, sondern nur, wenn das Spiel sich selbst überlassen wird. Dies ist ein Ansatz, den man von Diem bisher nicht kennt, da er eine genaue Planung und geregelte Ausübung des Sports vertritt, und damit dem Sport und Spiel nur sehr wenig offene Anteile zugesteht, wie es hier Voraussetzung sein müsste. „Er [der Mensch] spielt, um sich zu erlösen – […] und so besitzt jedes Spiel und im Bereich des Spiels jeder Sport seine ihm eigene, dem Vorstellungsbild des Spielers vorschwebende Schönheit.“382 Auch in anderen Texten klingt diese Perspektive an, z. B. in „Friedrich von Schiller zum 150. Todestag“ aus dem Jahr 1955. Hier ebenso geht es ihm in Anlehnung an Schiller um Selbstfindung, zu der er schreibt, dass es nicht immer nur um Leistung gehe, „sondern die Erfüllung von uns selbst ist, beweist wieder SCHILLER, denn wir spielen in Richtung auf unser Schönheitsideal.“383 Es kommt also auch wieder der Schönheitsbegriff zur Anwendung. Diem gebraucht ihn meistens im Zusammenhang mit seinen griechischen Idealen oder wie hier im Zusammenhang des Spiels und der Spielauffassung Schillers. Schönheit, der man sich allerdings nicht bewusst sein darf, entsteht für Diem auch hier durch unreflektiertes Bewegen. Dieses Bewegen zählt Diem zum Spiel, dennoch kann nicht jedes Spiel auch Sport sein. In seinem Werk „Wesen und Lehre des Sports“ zieht er, im Gegensatz zu anderen Texten384, eine sehr klare Grenze zwischen Spiel und Sport. Das Spiel muss ganz bestimmte Kriterien erfüllen, um in den, für Diem höher380 Dazu Bahlke/Bockrath/Franke, Der moralische Wiederaufbau des deutschen Sports nach 1945, S. 260: „Wer sich als ungebunden präsentierte, konnte glauben, sich nicht nur situationsgerecht, sondern auch progressiv zu verhalten. […] Neben der Kirche schien der Sport einer jener wenigen Bereiche zu sein, in dem ein Neuanfang auf der Basis traditioneller Sozialwerte und ‚moderner’ Selbstverwirklichungswerte möglich war.“ 381 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 11. 382 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 12. 383 Diem, SAR, Friedrich von Schiller, 1955, S. 84. 384 Z. B. in: Diem, SAR, Sport, 1953, S. 7: „Als Spiel bezeichnen wir eine Tätigkeit, die man nicht eines praktischen Zweckes willen, sondern nur zum Zeitvertreib, zur Unterhaltung und zum Vergnügen übt, damit genau, was die Anwendung des Wortes ‚Sport’ kennzeichnet.“ 118 wertigen, Bereich des Sports aufgenommen zu werden. Hier nennt Diem dann wieder explizit die von ihm oft zitierten und dem Sport zugeschriebenen, bewährten Werte wie Zielstrebigkeit, Planmäßigkeit, das Beachten von Regeln und die Fairness und Achtung vor dem Gegner. „Sport wird ein Spiel erst dann, wenn wir es planmäßig betreiben. […] Sport ist also ernst genommenes, geregeltes und steigerbares Spiel.“385 Dieses Zitat steht an dieser Stelle für eine klare Abgrenzung zwischen Spiel und Sport. An anderer Stelle, in „Spätlese am Rhein“, steht das gleiche Zitat386 nicht in klarer Abgrenzung zum Sport. Diem schreibt dem sportlichen Spiel die selben Eigenschaften zu wie oben, zieht aber keine klare Grenze zwischen Spiel und Sport. Die Begriffe werden demnach nicht eindeutig definiert. Verfolgt man die Kontinuität, mit der er seinen Sportbegriff über die Jahre propagiert, liegt die Intention in „Wesen und Lehre des Sports“ auf der Linie, die er seit dem Kaiserreich verfolgt hat. Spiel als Sport muss das Kriterium des geregelten Spiels erfüllen. Die Beachtung der Regeln ist für Diem durchgängig ein Aspekt, den er für sehr wichtig hält. Durch die Befolgung von Regeln verfolgt er das Erziehungsziel der Ritterlichkeit. Dieses Ziel ist im Sport auch heute bedeutsam, der Begriff Ritterlichkeit ist allerdings dem der Fairness gewichen. „Über der Beachtung der Regeln steht aber noch das Gebot sportlicher Ritterlichkeit. Es bedeutet: auf zufällige Vorteile verzichten, wenn sie das Gleichgewicht des Kampfes stören. Es ist eine Veredlung menschlicher Beziehung untereinander schlechthin und auch wieder ein Ausdruck der Verfeinerungskraft und Idealität des Sportlichen, höchste Erscheinung des allgemeinen Vervollkommnungstriebes, in dem der Sport seine Jugendstufe darstellt. […] Aber dann die Rechtlichkeit über den Erfolg zu setzen, ist der wahre Gehalt sportlicher Gesinnung.“387 Diem möchte diese Werte durch das Spiel vermitteln. Dies steht im Gegensatz zu z.B. Gerhardts Ansatz (siehe Kapitel 4.5.6), der diese „Ritterlichkeit“ als Grundvoraussetzung sieht, um spielen zu können.388 385 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 14. 386 Diem, SAR, Sport, 1953, S. 8: „Sport ist demnach ein wertgehaltenes, ernstgenommenes, mit Hingabe betriebenes, genau geregeltes, vereinheitlichtes und verfeinertes, zu höchster Leistung strebendes Spiel.“ Kursivdruck im Original. 387 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 18. 388 Gerhardt, Die Moral des Sports, S. 135: „Man darf aber nicht übersehen, dass alle äußeren Kontroll- und Sanktionsmechanismen stets auf einer Voraussetzung basieren, nämlich der, dass sich der einzelne Spieler tatsächlich auch von sich aus an die Regeln halten kann.“ Kursivdruck im Original. 119 Ein Aspekt der Ritterlichkeit ist die Achtung des Gegners, der nicht als persönlicher Gegner angesehen werden soll. „Der sportliche Gegner ist nicht Gegner in Person, sondern vielmehr der Träger der vergleichbaren Leistung, an der sich die eigene misst.“389 Diem stellt in diesem Zusammenhang die Werte Fairness und Achtung des Gegners in den Vordergrund. In der weitern und näheren Erläuterung des Fairness-Gedanken spricht er zudem vom „Vervollkommnungstrieb“, der den Menschen zu diesen hohen Idealen der Ritterlichkeit und Achtung des Gegners führt. Auch hier stellt er wieder den Bezug zu Trieben als Wurzeln des Spiels her. Allerdings bezieht er sich ebenso wie auf triebhafte Wurzeln auch auf den Gedanken Schillers, indem er schreibt: „Im SichVollenden um der Vollendung willen wird der Jugendliche erst Mensch: „er ist nur da ganz Mensch wo er spielt“ (SCHILLER)“.390 Diem nimmt den Selbstvollendungsgedanken in seinen Sinnkanon des Sports auf, die anderen Werte des Sports bleiben allerdings bestehen. Man kann nicht von einem Wandel seines Sportbegriffs bei den eigentlichen Werten des Sports sprechen. Kontinuierlich über seine Schaffenszeit hinweg bleibt der Sportbegriff gleich, es gibt nur zeitgemäße Tendenzen, die den Werten der jeweiligen Gesellschaft Rechnung tragen. Dies ist auch an den ,im Anschluss an die zwei Spiel-Kapitel in „Wesen und Lehre des Sports“ stehenden „Zehn Geboten Des Sports“ zu erkennen, die hier komplett genannt werden, um zu zeigen, dass der Sportbegriff Diems, den er propagiert, sich nicht geändert hat, wenn er auch nicht mehr so deutlich das Thema Kampf etc. anspricht. „1. Treibe Sport um des Sports willen, ohne Eigennutz und Ehrsucht, treu den Regeln und treu deinen Freunden; stark-sein gehört zu gut-sein. 2. Übe folgsam, beharrlich, pflichtbewusst und freudig; so lange du lebst, bist du übungsfähig. 3. Setze im Sport deine ganze Kraft ein, aber lasse den Sport Begleitmelodie und nicht Inhalt des Lebens bleiben. 4. Gebe niemals auf, nicht im Training und nicht im Kampfe, aber aller Sport ist nicht eine Stunde Kranksein wert. 389 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 17. 390 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 45. Kursivdruck im Original. 120 5. Weiche keinem Kampfe aus – verzichte ritterlich auf jeden zufälligen Vorteil – erstrebe statt des Beifalls der Zuschauer das Lob deines Gewissens 6. Suche den stärksten Gegner und achte ihn als deinen Freund; der Gast hat immer recht. 7. Siege mit Stolz ohne Prahlen, verliere mit Würde ohne Entschuldigung oder Murren; wichtiger als der Sieg ist die Haltung. 8. Folge wortlos dem Schiedsrichter, auch wenn er zu irren scheint. 9. Der erste Glückwunsch gelte deinem Besieger – der erste Dank dem Unterlegenen; für dich oder deine Mannschaft darf es nur einen Wunsch geben: möge immer der Bessere gewinnen! 10. Halte dich rein an Körper, Geist und Gesinnung; leg Ehre ein für dich, deinen Verein und dein Land.“ 391 Bei genauer Betrachtung dieser zehn Gebote fällt auf, dass man nicht viel Freiraum hat, in dem man seinen Sport gestalten kann. Diem legt viele Dinge fest. Der Sportler hat einen regelrechten Kanon zu erfüllen, um im Sinne Diems Sport zu treiben. Festgelegt sind die Werte, die es gilt im Sport aufrecht zu erhalten. Es erscheint als nicht gerade einfach, sich an alle Gebote zu halten, da gerade jede Emotion, die sich gerade im Wettkampf bei nahezu jeder Sportart aufbaut, unterdrückt werden sollte. Dem Stolz über einen unverhofften Sieg steht die Würde gegenüber, die Diem als Haltung sehr wichtig ist. Auch ungerechtfertigte Schiedsrichterentscheidungen, die zwangsläufig einen gewissen Ärger hervorbringen, müssen ohne weiteres akzeptiert werden. In den 10 Geboten fehlen gegenüber früheren Äußerungen Worte wie „Vaterland“, „Kamerad“, „Wehrfähigkeit“ etc., sie sind ersetzt worden durch ein abgeschwächtes „Land“, „Freund“ und „stark- und gut-sein“. Darüber hinaus ist der ganze Bereich des Spiels nicht in den neuen Geboten enthalten. Diem beschäftigt sich zwar sehr ausführlich mit dem Spiel nach dem Zweiten Weltkrieg, nimmt es aber in den Kern seines Sportbegriffs nicht auf. Er propagiert demnach weiterhin den Sport wie in früheren Schriften, den er mit Zielen und Werten belädt. Seine Ausführungen über Freiheit, den Weg zu sich selbst, das Spiel und einen individuellen Sport finden in diesen Regeln keinen Niederschlag. Auch der Spielgedanke wird nicht explizit in die Ausführungen mit aufgenommen. Demnach erkennt Diem dem Spiel die Berechtigung als Rander- 391 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 21-22 121 scheinung des Sports zwar an, sieht den Sport aber weiterhin losgelöst vom Spielgedanken als das übergeordnete Gebäude an, das er als nicht zweckfrei sieht. In Ausführungen, die den Sport auf einer allgemeinen Ebene betrachten, versucht Diem Ansichten darzulegen, die sich z. B. mit dem Spielbegriff Schillers beschäftigen und damit von dem kampfgeprägten Sportbegriff abweichen, wenn es allerdings zu einer expliziten Empfehlung kommt, wie denn Sport zu betreiben und welche Werte dabei zu beachten seien, dann orientiert er sich an seinen „alten Werten“, die er selbst auch als richtig und gut erfahren hat. 4.3.7 Zusammenfassender Überblick Man kann festhalten, dass Diem das Spiel zwar als Wurzel allen Sporttreibens durchaus anerkennt. Diese Wurzel gründet er aber auf Trieben. Auf dieser Grundlage kann, wie dargestellt, kein zweckfreies Spiel entstehen und das Spiel in seinem eigentlichen Erlebniswert nicht vollzogen werden. Die Belegung des zweckfreien Spiels mit Zielen und Idealen zeigt, dass Diem sich zwar mit dem Spiel auseinandersetzt, es aber stark einengt und es im Gegensatz zu anderen Ansätzen (Schiller, Gerhardt) weiterer Möglichkeiten beraubt. Damit bleibt auch die zu Beginn genannte Menze-These („Sport in der Form des gesteigerten Spiels ist ein Medium der von äußeren Zwecken freien Selbstdarstellung des Menschen.“) nur in der Allgemeingültigkeit, in der sie richtig ist, bestehen, kann aber nicht speziell auf das wertebehangene Spielverständnis von Diem bezogen werden. Eine Theorie des Spiels entwirft Diem nicht. Er sammelt Aussagen anderer, wenn er über das Spiel schreibt, füllt diesen Begriff, entwickelt jedoch keine umfassende Theorie. In diesem Kontext lehnt Diem sich häufig an Schillers Spielbegriff an. Indem Diem nur Aussagen Schillers in seinen Kontext einbaut, versucht er darzustellen, Schillers Spielbegriff sei dem seinen ähnlich. Dies ist, wie oben gezeigt, nicht so. Diem nimmt Schillers Ansichten aus ihrem Kontext heraus und fügt sie in seine Argumentation ein, so dass dem Leser suggeriert wird, beider Ansichten seien ähnlich und dass Diems Auffassungen auf dem Spielverständnis von Schiller gründen. 122 5 Einflüsse des Sportverständnisses auf die Legitimation von Sport, die Ziele des Sports, die Erziehung durch Sport sowie die Struktur des Sportsystems Nachdem in Kapitel 4 die beiden prägnanten Begriffe des Sportverständnisses von Diem untersucht wurden, soll es in diesem Kapitel um die Konsequenzen aus dem oben dargestellten Sportbegriff gehen. Es werden Aspekte behandelt, die für ein umfassendes Verständnis des Sportbegriffs Diems notwendig sind. So werden in Kapitel 5.1 die Legitimationsgründe des Sports betrachtet unter den Gesichtspunkten, wie Diem dieses Phänomen Sport in der Gesellschaft verankern wollte bzw. welche Begründungen er dafür angibt. Daran anschließend werden die Ziele des Sports in Bezug auf die Entwicklung einer Persönlichkeit und die Schulung des Willens vorgestellt. Das Kapitel 5.3 klärt die Konsequenzen des vorgestellten Sportbilds auf eine von Diem intendierte Erziehung durch Sport. Hier werden wesentliche Aspekte herausgearbeitet, auf welche Weise diese Erziehung stattfinden soll, welches Menschenbild hier im Hintergrund steht und welche konkreten Ziele erreicht werden sollen. Abschließend steht der Aspekt der Organisation von Sport im Fokus. Es soll geklärt werden, wie Sport organisiert werden muss, um die von Diem intendierten Ziele zu erreichen. Die klaren Vorstellungen Diems zu diesem Thema werden anhand des Textes „Der Läufer von Marathon“ dargestellt und analysiert. 5.1 Legitimationsgründe für den Sport – Warum benötigt eine Gesellschaft den Sport? Dieses Kapitel soll klären, mit welchen Begründungen Diem ein in den Anfängen mit Misstrauen bedachtes Phänomen Sport in der Gesellschaft implementieren möchte. Es geht hier nicht darum, das untersuchte Sportbild weiter zu vertiefen. Oben genannte Aspekte werden hier wieder aufgenommen, allerdings lediglich unter der Perspektive der Legitimation des Sports gegenüber seinen Kritikern. 123 5.1.1 Physiologische Begründung „Aber Ärzte und Patienten damals wie heute nehmen gern alle Methoden der Heilung in Anspruch, nur nicht die der Selbstheilung durch ausreichende Bewegung.“392 Für Diem steht in den Anfängen des Sports mehr der medizinische Aspekt und nicht so sehr die erzieherische Seite im Vordergrund. Er schildert den Sport, im Besonderen zunächst den Waldlauf und andere Ausdauersportarten, als eine Art Allheilmittel393, aber auch als eine Sucht, der jeder verfiel, der einmal an einem Ausdauertraining wie Waldlauf etc. teilgenommen hatte. In seinen gewohnt klaren Worten berichtet er z. B. von einem „Dicken“, den diese Sucht auch ergreift. „Und am siebten Tage, siehe, da fährt er [der Dicke; MB] doch wieder hinaus zum Waldlaufstartplatz.“394 Für Diem ist Sport nur sehr selten ein zweckfreies Tun, wie dies bereits in Kapitel 4.3 deutlich gemacht wurde. Er gibt dem Sport nach und nach Sinngebungen, wie z. B., dass Sport immer zielgerichtet, zweckmäßig und planvoll betrieben werden sollte. Der Ursprung jedoch liegt für Diem in der medizinischen Zielsetzung. Er stellt die zu trainierende Organkraft über alles und preist den Sport als eine Art Heilmittel für allerlei Krankheitsbilder. Dies ist damals schon durch Sportmediziner bewiesen oder im Nachhinein belegt worden. In der Kaiserzeit entwickeln sich dann die Grundlagen des kampfgeprägten Sportverständnisses von Diem. Die politische Situation ist geprägt durch ein expandierendes Machtstreben.395 Der Sporthistoriker Bernett charakterisiert das Sportverständnis dieser Zeit so: „Das sportliche Leitmotiv des Kämpfens und Siegens kann als Analogon zum politischen Machtstreben verstanden werden. […] ‚Pro patria est dum ludere videmur’396 – mit diesem Glaubenssatz verpflichtete sich die Spiel- und Sportbewegung der Kaiserzeit einem militanten Patriotismus. […] Die populäre Theorie des Sports reflektierte eine typische Männerwelt.“397 392 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 63. 393 Diem, OF 2, Olympische Reise, 1937, S. 958: „Körperübung war damals [in der griechischen Antike; MB] ein sehr naheliegendes Heilverfahren, und wir sind heute in seiner Anwendung noch weit zurück. Wieviel Leiden entstehen durch zu wenig Bewegung, und wie viel Beschwerden sind durch mehr Bewegung und richtige Bewegung leicht und billig zu heilen.“, 1936. 394 Diem, OF 3, Der Dicke beim Waldlauf, 1912, S. 1395. 395 Siehe Kapitel 2.2.1 396 „Es ist zum Wohl/Schutz für das Vaterland, wenn man uns nur spielen sieht.“ 397 Bernett, Sport zwischen Kampf, Spiel und Arbeit, S. 165-168. 124 Diem passt sich aus Überzeugung den Gedanken der Zeit an und fördert sie durch den Sport. 5.1.2 Besondere Motive während der NS-Zeit Diem sieht den Sport als ein Mittel an, den Menschen zu mehr Gesundheit zu verhelfen. Dies möchte er für möglichst alle Bürger erreichen; er fordert daher einen „Sport für alle“. In diesem Kapitel soll es darum gehen, die Legitimationsgründe für den Sport in besonderem Bezug auf die NS-Zeit zu klären, da Diem in dieser Phase etliche seiner angestrebten Ziele umgesetzt und verwirklicht sieht. „Entgegen der Deutung des Nationalsozialismus als Episode in der deutschen Geschichte ist hier festzuhalten, wofür in der zeithistorischen Forschung – […] diese Phase deutscher Geschichte steht: für den ‚Zusammenbruch der Zivilisation’ (ELIAS), für das größte im Namen des deutschen Volkes begangene Verbrechen, das die Weltgeschichte kennt: Auschwitz.“398 Aufgrund der Tatsache, dass dieser Abschnitt deutscher Zeitgeschichte eine besondere Stellung einnimmt und als der dunkelste Abschnitt bezeichnet wird, soll untersucht werden, welche Motive während dieser Zeit eventuell für Diem verstärkt wichtig waren, hinzugekommen sind, etc. Es soll und kann nicht darum gehen, sein Engagement in dieser Zeit zu bewerten oder seine Rolle im System detailliert darzustellen. In die Zeit des Nationalsozialismus fiel Diems finale Organisation der Olympischen Spiele 1936, zudem war er ab dem 22.9.1939 „kommissarischer Leiter des Gaues Ausland im NSRL“ und wurde zum „Führer des Gaues Ausland im NSRL“ ernannt.399 In dem Buch „Gedanken zur Sportgeschichte“, zu dessen Redaktionsausschuss u.a. Diems Frau Lieselott zählt, die auch zusammen mit Johannes Zeidler das Vorwort geschrieben hat und eigentlich die Position ihres Mannes während der NS-Zeit gekannt haben muss, fehlt in einem Lebenslauf, der seine gesamten sonstigen Posten und Aktivitäten berücksichtigt, genau diese Tätigkeit. Zudem gab Carl Diem nach dem Zweiten Weltkrieg auf Nachfrage an, nicht für das NS-Regime gearbeitet zu haben. Das allerdings dürfte durch seine Position als „Führer des Gaues Ausland“ in der NS-Organisation NSRL widerlegt sein, da sämtliche Organisationen unter strenger Kontrolle des Führungsstabes standen. Generell wirkt dieses Buch sehr ausgesucht, was die 398 Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 7. 399 Vgl. u.a. Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 28. 125 Zeit des Nationalsozialismus betrifft. Die Texte, aus dieser Zeit von 1933 bis 1945, die u.a. in der „Olympischen Flamme“ zu finden sind, berühren kaum Themen wie Erziehung zur Wehrhaftigkeit, Opferbereitschaft etc., sondern sind auffällig neutral gewählt. Aufgewachsen im Kaiserreich lernte Diem, wie in Kapitel 2 ausführlich dargestellt, Untertan zu sein und der Obrigkeit zu dienen. Dadurch entwickelte sich bei Diem eine ausgeprägte Liebe zum Vaterland, die er auch immer wieder zur Legitimation seines militaristischen Sports heraufbeschwört. „‚Das höchste Gut des Mannes ist sein Volk’, singt Felix Dahn, ‚doch dieses Volk ist formlos, rechtlos, schutzlos, dem Feind, dem Nachbarn hilflos preisgegeben, dem Volk Gestalt und Schutz gibt erst der Staat, drum ist das höchste Gut des Volks der Staat.’“400 Eine weitere Legitimation für den Sport, wie Diem ihn aufbauen möchte, ist die Schulung zur Wehrhaftigkeit insgesamt. Zu Beginn mag Diem diese Legitimationsgründe benötigt haben, doch auch lange nachdem aus dem Sport schon ein „Selbstläufer“ geworden ist, hält er diesen Grund und dieses Ziel aufrecht. Das zeigt, dass Diem es nicht nur zur Legitimation benutzt, sondern die Wehrhaftigkeit eines seiner Credos (siehe Kapitel 4.2) ist. Unter dieser Überschrift lassen sich dann auch seine Ausführungen über Charakter und (Führer-) Persönlichkeiten gut einfügen, denn „das Heer trägt die Verantwortung auch in unserem Volksstaat“.401 Es soll hier auf die Motive Diems während der Zeit der deutschen Geschichte eingegangen werden, die mit „Hitlers ‚Führerstaat’ den denkbar tiefsten Bruch mit dem Verfassung und Rechtsstaat, mit jeder legal-rationalen Staatsherrschaft“402 darstellt. Neben den dargestellten wächst ein ganz anderes Motiv bei Diem im Laufe der Weimarer Republik heran und gibt dann auch den entscheidenden Ausschlag für die Zustimmung der NSDAP zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin. Diem erkennt nach und nach die ungeheure Propagandawirkung, die der Sport auf die Massen hat. Dadurch ist es möglich, den Sport der „breiten Masse“ zu- 400 Diem, OF 1, Germanen, Rede zur Reichsgründung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, 1932, S. 39. 401 Diem, OF 1, Wehrhaftigkeit, Aus einem Vortrag vor der Heeresschule für Leibesübungen in Wünsdorf, 1931, S. 97. 402 Wehler, Bd. 4, S. 593. 126 gänglich zu machen. Mit dieser Erkenntnis macht er den Sport zum Politikum.403 Immerhin war Diem daran beteiligt, dass Propagandaminister Göbbels auf die enorme Wirkung des Sports hingewiesen wurde, wenn auch nur, um sich seinen schon einmal 1916 geplatzten olympischen Traum zu erfüllen und nicht aufgrund der politischen Propaganda, die Diem allerdings billigend in Kauf genommen hat.404 Sport hat in der NS-Zeit seinen Platz in der Gesellschaft gefunden, er ist akzeptiert.405 Ein wesentlicher Grund dafür ist allerdings, dass das Regime den Sport unterstützt und die körperliche Ausbildung in die Gesamtausbildung der Menschen zielgerichtet mit aufnimmt. „Heute ist es [das Turnen; MB] ein ‚grundlegender und untrennbarer Bestandteil der nationalsozialistischen Gesamterziehung’, ihm kommt entscheidende Bedeutung zu.“406 Den hohen Stellenwert sieht Diem auch aufgrund der Verankerung des Sports in der Politik. „Über dem Ganzen steht der Staat. Die Körpererziehung ist als wichtige Staatsaufgabe anerkannt. Federführend ist das Reichsministerium des Innern, das hierfür eine besondere Abteilung hat.“407 Diem berichtet dies nicht ohne Stolz und sieht es auch als einen Erfolg seiner Arbeit an. Der Sport und damit auch der Sportlehrer408 hat die Stellung in der Gesellschaft eingenommen, die Diem sich gewünscht und für die er gearbeitet hat. „Die Aufwertung des Sports, der hohe Stellenwert von Leibesübungen und körperlicher Ausbildung wurde besonders deutlich im Bereich der nationalsozialistischen Erziehung. Die Erziehung des Menschen für den neuen, den 403 Bernett (Sport zwischen Kampf, Spiel und Arbeit, S. 171/172.) bestätigt die Politisierung des Sports und dessen Aufgehen im neuen System ebenfalls am Beispiel der Gleichschaltung der deutschen Sportverbände: „Die Führungen der Verbände beriefen sich jedoch auf ihre nationale Gesinnung und bekundeten politische Solidarität. […] Das Prinzip der freien Selbstverwaltung wurde dem zentralistisch organisierten Staatssport zum Opfer gebracht. Die Vielstimmigkeit der Meinungen wich dem Unisono einer Ideologie, die in planmäßiger Schulung propagandistisch verbreitet wurde.“ 404 Hierzu Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, S. 127: „Die Angriffe [der Presse auf Diem und Lewald; MB] wurden eingestellt, nachdem es Diem und Lewald gelungen war, Hitler und seine Propagandaabteilung, […], von der „ungeheuren Propagandawirkung“ der Spiele zu überzeugen.“ Kursivdruck im Original. Dies sieht auch Joch (Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich, S. 727.) so: Die Olympsichen Spiele 1936 in Berlin „waren hochwillkommen als Mittel der Propaganda.“ 405 Joch, Sport und Leibeserziehung im dritten Reich, S. 703: „Nun wurde also „dem Leiblichen in der Erziehung ... eine Bedeutung wie noch zu keinem Zeitpunkt in der deutschen Geschichte beigemessen“.“ 406 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1224. 407 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1225. 408 Den hohen Stellenwert, den Sport in der Erziehung im Nationalsozialismus einnimmt, wird allein durch die Erhöhung der Stundenanzahl für Sport- bzw. Turnunterricht belegt: „ab 1935 gab es drei und ab 1937 fünf Stunden Turnen in allen Schulgattungen“. (Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, Band 3, S. 142) 127 nationalsozialistischen Staat, sollte beim Leibe beginnen.“409 Die sportliche Betätigung war ein wesentlicher Bestandteil der Erziehung und auch eine Folge des Anti-Intellektualismus dieser Zeit. „Der Sport soll dem Leben dienen und nicht das Leben dem Sport!, und zwar dienen nicht nur dem Leben schlechthin, sondern dem Leben als einer nationalen Pflicht.“410 Diese oft wiederholte Forderung stellt Diem stets in einen nationalen Kontext. Ihm ist es wichtig, dass der Sport nicht zum alleinigen Lebensinhalt wird und spricht sich auch gegen jedwede Art von professionellem Sport aus (siehe Kapitel 5.4.2). Damit dieses Ziel erreicht wird, gehört der Sport in die Stellung, die er zur NS-Zeit erreicht hat. Dies ist Diems volle Überzeugung in seiner anti-demokratisch und nationalen Grundeinstellung. In einem Vortrag auf dem Kongress für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936 nennt Diem sehr ausführlich die Freude am Sport als Antrieb. Dies kommt zwar auch in früheren Werken vor, aber häufig nur als Nebenaspekt. „Alles muss Freude machen, die Seelenantenne muss gewissermaßen dauernd geerdet sein.“411 Die Hauptforderungen und Ziele, die Diem mit seinem Sport verfolgt, bleiben allerdings gleich. Auch jetzt fordert er die Erziehung durch (Höchst-) Anstrengung. „Um es einmal so auszudrücken, nur schweißtreibende Übungen nutzen.“412 Zur Untermauerung der These sieht er diese Theorie auch bei Coubertin. „Coubertin war von der Richtigkeit des sportlichen Prinzips in der Körpererziehung voll überzeugt: die Höchstleistung des einzelnen war ihm persönliches Recht und allgemeine Pflicht zugleich.“413 In Anlehnung an sein großes Vorbild Coubertin414 lassen sich diese Ziele auch in Textpassagen Diems finden: 409 Joch, Sport und Leibeserziehung im dritten Reich, S. 703. 410 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1229. 411 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele Berlin 1936, 1936, S. 76. Siehe Kapitel 5.3.3.2. 412 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele Berlin 1936, 1936, S. 75. 413 Diem, Gedanken zur Sportgeschichte, 1965, S. 13. 414 Zwischen den Ansichten von Diem und Coubertin lassen sich durchaus Verbindungslinien finden. Auch Coubertin sieht wie Diem die körperliche Erziehung als eine der wichtigsten Säulen an und ist überzeugt, entsprechend der Ansicht Diems in Bezug auf Deutschland, dass eine bessere körperliche Erziehung Frankreich wieder an eine Vormachtstellung in Europa zurückführen kann. Er ist ebenso der Ansicht, dass die Schulen schuld an der körperlichen Verfassung der Jugend sind und, dass die geistigen Fächer überbewertet werden. Ein Auszug aus dem Artikel „Die Olympischen Spiele von 1896“ (S. 11/12) von Coubertin verdeutlicht dies: „Ich 128 „Leibesübung führt überall zu vollem Menschentum und richtet sich nach den großen Werten: Familie, Vaterland, Menschlichkeit.“415 Diese für 1936 doch recht gemäßigte Aussage Diems – er hat seine Ziele, die er mit dem deutschen Volk erreichen möchte in der NS-Zeit vor nationalem Publikum deutlicher formuliert – rührt daher, dass sie auf dem Kongress der Olympischen Spiele 1936 in Berlin getätigt wurde, und man sich der Welt als ein friedvolles Volk präsentieren wollte. Trotzdem kommen die typischen Werte Diems durch und zumindest „Vaterland“ nennt er explizit. An anderer Stelle macht Diem deutlich, dass die Rolle von Militär und Patriotismus im deutschen Volk historisch begründet ist und auf Preußen zurückgeht. „Lassen wir es also dabei, dass es im Bauplan der Welt einer Auslese dieses Volkes der Dorier beschieden war, für die Vaterlandstreue und das Soldatentum eine ähnliche Rolle zu geben wie später den Preußen.“416 Mit dem Vergleich der Werte Spartas und Preußens setzt Diem die beiden Staaten annähernd gleich. Er überlässt allerdings dem Leser den eventuellen Schluss, dass auch Preußen und damit das deutsche Reich „eine Auslese im Bauplan der Welt“ ist. Diese Entwicklung des Patriotismus ist nicht neu in der NS-Zeit, sondern, wie auch an anderer Stelle (Kapitel 4.2) gezeigt, ist sie ein für Diem wichtiges Ziel des Sports. 1920 schreibt Diem: „Schließlich entsteht ganz von selbst ein nationales Interesse, und von ihm zur bewussten Förderung des Vaterlandsliebe ist nur ein Schritt. […] Auch der Sport hat seinem Vaterlande gegenüber den schönen Wahlspruch: ‚Ich dien’!“417 Die Erziehung zum Nationalbewusstsein ist demnach nicht etwas dem aktuellen [Coubertin] habe eine Reihe von Jahren damit zugebracht, die Schuljugend Englands und Amerikas zu studieren. Man kann vielfach über den Unterricht, wie er in den Volksschulen Englands erteilt wird, abfällig urteilen; aber es unterliegt keinem Zweifel, dass die Erziehung in denselben eine kräftige und mannhafte ist. Den Verdiensten dieser Erziehung muss man zum größten Teil die ungeheure Ausdehnung des Britischen Reiches und die hohe Machtentwicklung zuschreiben, welche die Engländer unter der Regierung der Königin Viktoria erreicht haben. Es ist interessant festzustellen, dass diese Fortschritte mit der pädagogischen Reform zusammenfallen, welche in dem Vereinigten Königreich um das Jahr 1840 vorgenommen wurde. In dieser Reform nimmt die körperliche Übung in gewissem Grade die erste Stelle ein, man macht sie dem sittlichen Erziehungswerk dienstbar. Darin liegt – natürlich unter Berücksichtigung der heutigen Bedürfnisse – die Wiederbelebung einer der hervorstechendsten Besonderheiten der griechischen Kultur: die Teilnahme der Muskeln an dem Werk der sittlichen Ausbildung. In Frankreich betrachtete man im Gegenteil bis vor kurzem noch die körperliche Untätigkeit als ein unvermeidliches Ergebnis der Verstandesbildung, es galt als ausgemacht, dass das Spiel dem Studium schädlich sei. Hinsichtlich des Charakters hatte man keine Ahnung, dass irgend ein Band zwischen Körper und Wille bestehen könne.“ 415 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele Berlin 1936, 1936, S. 78. 416 Diem, Olympische Reise, 1937, S.42. 417 Diem, Sport, 1920, S. 11/12. 129 Regime angepasstes, sondern ein zeitunabhängiges Gut, das durch Sport vermittelt und bestärkt wird. Es dient damit als generelle Legitimation für die Implementierung von Sport in die Gesellschaft. Im Nationalsozialismus taucht dieser Wert jedoch verstärkt auf und ihm wird noch größere Bedeutung beigemessen. „Das nationale Bekenntnis nimmt im Zuge der Entwicklung im NSStaat selbst radikalere Formen an, […]. So werden vor dem veränderten Hintergrund 1938 bis 1940 Aussagen Diems verständlich: Aus der „aufrüttelnden nationalen Wucht“ ist (mit dem ‚Anschluss’ Österreichs) „heute … Großdeutschland entstanden“ wie Diem im März 1939 Friesen im Grabe zurufen möchte (OF II, 684).“418 Anhand der Sprache ist demnach zu belegen, dass dem Wert des Nationalismus auch von Diem eine höhere Bedeutung beigemessen wird. Mit diesem Aspekt, der Erziehung zum Nationalbewusstsein, liegt Diem, wie auch bei dem Ruf nach Führern, mit den geforderten Zielen des Regimes auf einer Ebene. Wie bei Diem auch, wird das Potential des Sports bzw. der Leibesübung zur Vermittlung eben dieses Werts hoch eingeschätzt. „Nirgends ist es möglich, auf eine so totale Weise und auf einfachstem natürlichem Wege diese Tendenz politischer Erziehung lebendig wirken zu lassen, als gerade auf dem Gebiete der Leibeserziehung. Schon der Grundsatz des Blutes kann sich in der Bildung des Leibes eine einfache Wirklichkeit verschaffen, mehr noch vermag sich der Gedanke der Volks- und Staatsehre in den Leibesübungen zu bewähren. Gerade der letzte macht aus Leibesübung die bewusst gesetzte Leibeserziehung…“419 Dadurch sieht Diem den Sport fest in der Erziehung und Ausbildung der Deutschen in der Zeit des NS verankert. „Sport bedeutet eben Zielstrebigkeit und Vergeistigung. Sport bedeutet Freude an Kampf und Schmerz.“420 Hier nennt er auf den Punkt seine Ziele und Ideale, die für einen deutschen Sport stehen, der Menschen hervorbringt, die auch die Regierung der NS-Zeit als ihre Ideal- und gleichzeitig Übermenschen ansieht. Ganz deutlich kommt der „Kampf“ in den Vordergrund. Obwohl ihm das Wort „Freude“ vorgeschaltet ist, besteht doch kein Zweifel, was hier das Wichtigste für Diem ist, nämlich die Erfahrungen im und durch den Kampf. Dies bestätigt auch Bernett: „Kampf und Wettkampf, Kriterien des ‚alten Sports’, wurden im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung umgedeutet und auf den 418 Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 26/27. 419 Wetzel zitiert in Bernett, Nationalsozialistische Leibeserziehung, S. 68. 420 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 115. 130 Grundwert der männlichen „Ehre“ zentriert“.421 Das sieht aber in dieser Zeit nicht nur Diem so. Bernett zitiert z. B. den „Chef des Amtes für körperliche Erziehung im Reichserziehungsministerium“ (Kruemmel) mit einem „Merksatz“: „‚Im Sport herrscht der nackte, klare brutale Wille, wobei ‚brutal’ noch eine Zärtlichkeitsbezeichnung ist’“.422 Hier wird die für Diem ebenso große Bedeutung des Schmerzes deutlich. Sportliche Höchstleistungen sind mit Schmerz verbunden. Training soll über die Schmerzgrenze hinausgehen, um eben mit diesem Schmerz umgehen zu können und auch im Ernstfall des Krieges Schmerzen aushalten zu können. Den idealen Menschen beschreibt Diem dann detaillierter und macht deutlich, was jedem persönlich das Sporttreiben als Lohn einbringt, wenn die Kriterien Diems erfüllt sind: „Nur Pflichtmenschen bringen es zur Leistung, nur Menschen von geistiger Klarheit und Rechtlichkeit erfüllen den ganzen Begriff des echten Sportsmannes, und das unendliche Glücksgefühl des trainierten Körpers und eine in den Tiefen des Körpers begründete Heiterkeit sind der Dank für ehrliches, sportliches Mühen.“423 Der Lohn des Sporttreibens ist demnach die Aneignung von hochstehenden Werten, ein Körper, der dem Ideal näher kommt und ein Hoch- bzw. Glücksgefühl, das auch im Stolz auf Vollbrachtes begründet sein dürfte. Neben der Legitimation des Sports auf einer allgemeinen, staatlichen Ebene, konkretisiert Diem hier die Berechtigung für sportliches Treiben für den einzelnen Menschen. „In freiwilliger Entfaltung und Opferfreudigkeit, mit leidenschaftlichem Einsatz der Kräfte kämpft der Sportsmann für die Farben seines Landes und für die Ehre seines Volkes.“424 Immer wieder kommt Diem auf das höchste seiner Ideale zurück, die Opferfähigkeit, -freudigkeit oder -bereitschaft und verknüpft damit den Einzelnen wieder mit dem großen Ganzen. 5.1.2.1 Die militaristische Legitimation in der NS-Zeit Eine besondere Betonung liegt in dieser Zeit auf dem militaristischen Wesen, das der Sport laut Diem ja besitzt. Von diesem Ansatz her rechtfertigt er die flächendeckende Einführung von Sport und sportlicher Ausbildung als zum Leben dazu gehörend. Auf das Thema des Militarismus in Hinsicht auf den 421 422 423 424 Bernett, Sport zwischen Kampf, Spiel und Arbeit, S. 173. Bernett, Sport zwischen Kampf, Spiel und Arbeit, S. 172. Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 117. Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 117. 131 Sportbegriff Diems wurde bereits genau in Kapitel 4.2 eingegangen, daher werden hier nur die spezifischen Gründe der Legitimation des Sports in dieser Hinsicht angeführt. Diem wird in seinen Aussagen deutlicher als zur Zeit der Weimarer Republik. Eine solche Sicht ist in der NS-Zeit durchaus gewollt, da jetzt die politische Grundhaltung von einer militaristischen, soldatischen Ideologie geprägt wird. „Vor ihrem Auge steht ein menschliches Ideal, dem sie zustreben: ein Mensch, der sich vor Anstrengung, Gefahr und Schmerzen nicht fürchtet, ja, der sie aufsucht, um sie zu bestehen. Wie nennt man ein solches Ideal? Es ist ein soldatisches Ideal. Sport ist freiwilliges Soldatentum. […] Auch heute gilt der Sport im deutschen Heer als ein wichtiges Hilfsmittel zur Ausbildung soldatischer Eigenschaften und wird dem alten Drill und dem alten Exerzieren vorgezogen.“425 Diem ist stolz darauf, dass sein Sport in dieser Situation wesentlich dazu beizutragen hat, dass Deutschland nach der Niederlage 1918 wieder auf dem Weg nach oben ist zu einer Stellung an der Spitze Europas, die er sich für das deutsche Volk wünscht. Schon 1937 beschwört er in seinem Buch „Olympische Reise“ den Geist Spartas, den er in NS-Deutschland erfüllt sieht. „Wir brauchen nicht weit zu suchen. Unsere neue Zeit ist erfüllt von einem Geiste, der der besten Zeit Spartas entspricht, auch bei uns Zucht, Unterordnung, Erziehung auf Gemeinschaft und Härte. Staatstotalität hier wie dort! Dabei bleiben wir der Warnung eingedenk, die kein geringerer als Moltke ausgesprochen hat, als er sich mit der Frage der militärischen Jugendvorbildung beschäftigte: der NurSoldatengeist habe Sparta auf die Dauer zugrunde gerichtet. Pflege des Geistes und der Künste mit Soldatentum richtig vereint, das gibt dem Volke Dauer, und in einem solchen Erziehungsplan hat der Sport seine wohlabzuwägende Stelle.“ 426 Sparta bildet hier das Vorbild für Deutschland. Diem wertet die neue Art der Erziehung der Nationalsozialisten als positiv, da sie vergleichbar mit der des Vorbilds Sparta ist. Die Staatsform ist ebenso gleich, so dass hier keine Abwertung des totalitären Systems Hitlers geschieht, sondern eher eine stille Zustimmung nach dem Motto „es hat Sparta nach vorne gebracht, also wird es auch Deutschland bzw. dem Deutschen Reich helfen“. Dennoch hofft Diem, dass die Fehler der antiken Vorbilder nicht wieder gemacht werden, und der Sport zwar eine herausragende Stellung bekommt, er allerdings nicht das alleinige Erzie425 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 115-116. 426 Diem, Olympische Reise, 1937, S. 41. 132 hungsmittel darstellt. Diese Ansicht ist mit Diems Ansatz der ganzheitlichen Erziehung zu begründen. Die Aussage, eine solche Erziehung gäbe dem Volk Dauer, ist dem Plan Hitlers ähnlich, ein tausendjähriges Reich schaffen zu wollen. Die Werte der Erziehung des antiken Vorbilds sieht Diem somit im Nationalsozialismus erfüllt. In diesem Zusammenhang erneuert Diem auch wieder seinen Ruf nach Führermenschen: „Sport braucht Führertum, […].“427 Mit dieser Forderung liegt Diem auf der Linie des Systems. Ein Ziel der neuen Erziehung ist eben diese Herausbildung von Führereigenschaften des Menschen. „Der Führerstaat muss für Führer sorgen. Daher heißt es, „Führeranlagen zu erkennen und Wege der Auslese zu fördern“. Solche Anlagen sind gegeben „im Mut“, in der „Härte“, der „Einsatzbereitschaft“ und im „selbständigen und verantwortlichen Handeln“. Diese Anlagen sind nur zu erkennen, wenn sie betätigt werden und das weite Gebiet der Leibesübungen bieten dafür ein gutes Feld…“.428 Auch Diems Forderung nach Führern bleibt nicht auf den Sport beschränkt, sondern bezieht sich, wie an anderen Stellen gezeigt, auf den allgemeinen Lebensalltag und im Besonderen auf den Krieg. Erkennbar ist auch, dass einige der Werte Diems durchaus kompatibel mit den gewünschten Werten des Nationalsozialismus sind. Im Sport ist dann nach Diem zu erkennen, welche Eigenschaften ein Mensch hat, ob er die Werte, die es zu vermitteln gilt, übernommen hat. „Die sportlichen Leistungen des Schülers bilden einen wichtigen Anhalt für seine Gesamtbeurteilung, nicht dass ein Hochsprung den lateinischen Aufsatz ersetzt, aber doch, dass das Bild der ganzen menschlichen Persönlichkeit, seiner Führereigenschaften, seiner sittlichen Werte aus dem Verhalten beim Sport abgelesen werden kann.“429 Sport bildet den Menschen und der Stand dieser Bildung kann wiederum im Verhalten beim Sport abgelesen werden. Die Sondersituation des Zweiten Weltkriegs nutzt Diem dahingehend, dass er wie bereits vorher die Beziehungen zwischen Sport und Krieg, die für ihn unmittelbar bestehen, betont.430 Er sieht die Ursache der anfänglichen Kriegserfolge 427 428 429 430 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 116. Krüger zitiert in Bernett, Nationalsozialistische Leibeserziehung, S. 69. Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1225. Dazu auch Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 10: „Mit der Eskalation des Zweiten Weltkrieges steigert sich Diems soldatische Lebensauffassung, und er bekräftigt die essentielle Verknüpfung von sportlicher und soldatischer Haltung.“ 133 in dem sportlichen Geist des deutschen Volkes begründet. „Statt dessen Freude am Kampf, Freude an Entbehrung, Freude an der Gefahr. Nur in solcher Lebenshaltung kann Norwegen erobert, Frankreich durchstürmt werden.“431 Diem führt auch in der NS-Zeit den Gedanken der Vormachtstellung432 des Deutschen Volkes weiter. Er wird hier aber durchaus deutlicher als zu der Zeit der Weimarer Republik: „Sportliche Siege sind ein Ergebnis von natürlicher Kraft und geistiger Zucht, sie sind insofern nicht ohne weiteres von Naturvölkern zu erreichen, weil diesen der Hochstand des Geistes fehlt. […] Unter denjenigen, die sich gegen die Weltgeltung der Spiele wenden, gibt es vielfach solche, die bewusst oder unbewusst den körperlichen Kampf ihrer Rasse mit primitiveren Rassen ablehnen zu sollen glauben. Ich aber meine, dass man den Herrenstandpunkt der überlegenen Rasse nur dann auf die Dauer durchhält, wenn auch eine körperliche Gesundheit und Kraft dahintersteht, und darum sehe ich in den Spielen für Europa genau das, was Coubertin in ihnen für Frankreich gesehen hat: die immerwiederkehrende Prüfung im härtesten Feuer und der stachelnde Anreiz, es den besten aller Völker gleich zu tun. Wir wollen Weltspiele, weil wir der Welt zeigen wollen, was wir können.“433 Zum einen beherbergt dieser Ausspruch eine Legitimation der Olympischen Spiele, die Diem immer sehr fördert. Zum anderen aber hebt er hier ganz deutlich hervor, dass das deutsche Volk einer überlegenen Rasse angehöre. Diese Deutlichkeit findet man sonst nicht in dem Maße in seinen Äußerungen. Ihm ist zwar immer daran gelegen, das deutsche Volk an die Spitze der Nationen zu führen, er redet aber nicht explizit von der Herrenrassentheorie. In dieser Situation greift er wahrscheinlich zum äußersten, da er die deutsche Teilnahme an Olympischen Spielen für die Zukunft gefährdet sieht. Sport ist für Diem immer Kampf. Entweder ficht man diesen Kampf gegen sich und seinen Willen aus oder gegen einen Gegner. Der Historiker Teichler greift 431 Diem, OF 1, Sturmlauf durch Frankreich, 1940, S. 124. 432 Diese Ansicht vertraten neben Hitler auch die anerkannten Wissenschaftler der Zeit. So z.B. Walther Jaensch, Leiter des Instituts für Konstitutionsforschung an der Charité in Berlin und Dozent an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen Berlin: „Dieser Geist [des Eroberns und Unterwerfens anderer Völker; MB] des abendländischen Menschen scheint jetzt in Deutschland wieder zu erwachen. Aus der Niederlage brechen wir auf, und wir erinnern uns der Kraft unserer Väter, die das Reich einst bis Asien dehnten. Die neue Jugend, die in allen Lebensräumen mit ungeahnter Wucht vorstößt, hat wieder das Profil jener wikingerhaften Rasse von Eroberern, die einst von den Küsten des Nordlandes abstießen, die Welt sich dienstbar zu machen.“ (zitiert nach Bernett, Nationalsozialistische Leibeserziehung, S. 29) 433 Diem, OF 1, Weltspiele?, 1941, S. 245. 134 diese Verflechtungen ebenfalls auf: „Diem beließ es nicht bei jener Sinngebung des Sports, die auf die spartanischen und preußischen Ideale des physischen Mutes, der Hingabe des Einzelnen an das Ganze, der Bereitschaft zu Kampf und Tod zurückgriff, sondern propagierte eine Sportphilosophie des Kampfes, der heroischen Tat und der deutschen Überlegenheit. Aussagen wie: ‚Das neue Deutschland stellt große Aufgaben und fordert gestählte Kräfte und aufrechte Männer’ (OF 3, 1613) oder: ‚Uns gilt der Maßstab, wie weit er (der Sport; d. Verf.) den Mann wehrtüchtig und die Frau gebärtüchtig macht’ (OF 3, 1230), zeigen, dass Diem seiner patriotisch-alldeutschen Grundüberzeugung nunmehr auch mit dem Vokabular der NS-Propaganda Ausdruck verlieh.“434 Die Expertenkommission zu Werk und Person von Carl Diem beurteilt Diems Verhalten folgendermaßen: Diem „passte sich ‚den jeweiligen Epochen an’, um die Verbreitung des Sports zu fördern und auch seine berufliche Karriere zu sichern“. 435 Vor dem Hintergrund der oben zitierten Textpassagen Diems er- scheint diese Aussage verharmlosend. Die genannten Zitate zeigen, dass Diems Verhalten über eine Anpassung hinausgeht. Gegenüber der Zeit der Weimarer Republik ändert er seine Einstellung zur Zeit des Nationalsozialismus nicht, seine Forderungen artikuliert er deutlicher akzentuiert und in der Sprache der Zeit, abgestimmt auf die dem Nationalsozialismus wichtigen Werte, und wirkt damit im Sinne des Regimes. 5.1.2.2 Deutsche Vormachtstellung und Deutsche Methode Diem beschreibt in dieser Zeit, ebenso wie in anderen Epochen, seine Ideale, stellt sie vor und definiert sie. Er nennt dieses Ideal den Vollmenschen. Alle Menschen, die keinen Sport treiben, sind demnach Menschen einer niederen Kategorie. Diese Sichtweise und die Theorie des Vollmenschen passen in dieser Zeit zur Ideologie des Regimes. Daraus lässt sich auch erklären, warum Diem, nachdem er zu Beginn seiner Stellung enthoben wurde und seine Anerkennung wieder gewinnen musste, im national-sozialistischen System eine hohe Position hat und großes Ansehen genießt.436 434 Teichler, Der Weg Carl Diems vom DRA-Generalsekretär zum kommissarischen Führer des Gaues Ausland im NSRL, S. 61. Siehe auch Teichler, Vom „Deutschen“ zum „Großdeutschen Olympia – Carl Diems Plan für ein „Großdeutsches Olympia“ aus dem Jahre 1939, S. 99. 435 Baur u.a., Stellungnahme der Expertenkommission zu Werk und Person von Carl Diem, S. 79. 436 Auch in anderen Punkten nähern sich die Werte Diems und die des NS-Systems an. Dazu Dwertmann, Die Rolle Carl Diems im nationalsozialistischen Regime, S. 11: „Die anti- 135 Die Propagandawirkung des Sports, die Diem erkennt und auch den Machthabern darlegt, benutzt er ganz besonders in der NS-Zeit. Er organisiert, wie bereits bemerkt, u. a. die Olympischen Spiele 1936 als „Lehrolympiade“ 437 für die Welt, die ihre Wirkung auch nicht verfehlte. Der Gedanke der „Lehrolympiade“ stammt allerdings schon aus der Vorbereitung für die ausgefallenen Olympischen Spiele 1916.438 Auch bei der Organisation des „Tages des Skilaufs“ im Rahmen der letztendlich ausgefallenen 5. Olympischen Winterspiele 1940 kam diese Zielsetzung zu Tage. Es sollten 10.000 Skiläufer von den Hügeln herunter fahren und anschließend einen Halbkreis um eine Ehrentribüne bilden, von der dann der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler eine Ansprache halten sollte.439 Der Sporthistoriker Teichler sieht in dem Planungsentwurf zum Skitag eine Demonstration der Macht Deutschlands. „Den Auftrag des IOC, eine sportliche Skidemonstration durchzuführen, hatte Diem in eine gigantische, militärische Selbstdarstellung des Deutschen Reiches und seines Führerkults uminterpretiert.“ 440 Hier steht also der Sport ganz und gar nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses, sondern Diem hat sich dem System schon so weit angepasst, dass er den Sport politisiert und unterordnet, um Hitler zu inszenieren. Der Diem-Anhänger Menze streitet dies kategorisch ab: Es sei aber auch nicht Diems Sache, „den Sport als Ersatz politischer Machtdemonstration zu begreifen, als Bewährungsfeld konkurrierender politischer Systeme anzusehen oder 437 438 439 440 demokratischen, der Volkstumsideologie verhafteten Wertorientierungen – in denen sich übrigens Diem mit dem Reichspräsidenten Hindenburg trifft – bekommen vor allem mit der Krisensituation in der Endphase der Republik gesellschaftliche Bedeutung. Mit der „autoritären Wende“ ab 1930, in der die „Freiheit etappenweise starb“ (PEUKERT, 1987, 260/261), werden jene Werthaltungen Diems als gesellschaftlich bedeutend aktualisiert.“ Ueberhorst, Spiele unterm Hakenkreuz, S. 3: Dr. Theodor Lewald, als Leiter des deutschen Organisationskomitees für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Diem „hatten das ehrgeizige Ziel, die Olympischen Spiel 1936 zu einer ‚Lehr-Olympiade’ für die Welt zu machen, wie es später in dem Amtlichen Bericht hieß.“ (Organisationskomitee für die XI. Olympiade Berlin 1936 (Hrsg.), Amtlicher Bericht, Bd. I, Berlin 1937, S. 64.) Dazu Bernett, Sport zwischen Kampf, Spiel und Arbeit, S. 165: „Als der Reichsausschuss für Olympische Spiele das Programm für Berlin [1916; MB] entwarf, gedachte der Generalsekretär das Deutsche Reich in seiner ‚Größe und Macht’ zu präsentieren, um die teilnehmenden Nationen von Deutschlands ‚Weltmachtstellung’ zu überzeugen. ‚1916 müssen wir siegen, und zwar auf der ganzen Linie’, lautete die Parole Carl Diems (LENNARTZ 1978, 62ff.).“ Teichler, Vom “Deutschen“ zum “Großdeutschen“ Olympia, S. 99: „ Wie geschickt es Carl Diem verstand, die Stilmittel nationaler und nationalsozialistischer Feiern […] in das sportliche Zeremoniell zu integrieren, zeigt vielleicht am markantesten sein Entwurf für den Tag des Skilaufs bei den Olympischen Winterspielen 1940. […] Diem steigerte die Skidemonstration zu einer Kundgebung im Stile nationalsozialistischer Großveranstaltungen mit einer Gefechtsübung der Wehrmacht und einer Hitleransprache als Höhepunkt.“ Teichler, 1936 – ein olympisches Trauma, S. 74. 136 gar zum Mittel politischer Agitation zu machen“.441 Die beschriebene Durchführung der Olympischen Spiele 1936 und die Planung des Tags des Skilaufs deuten aber daraufhin, dass zumindest hier auch Diem den Sport in den Dienst der Politik gestellt hat. Zur NS-Zeit spricht Diem offen von einer „Deutschen Methode“, also die Art und Weise, wie in Deutschland Sport betrieben, vermittelt und genutzt wird: „Wir haben uns die deutsche Methode schwer errungen.“442 In dieser Deutlichkeit findet man in älteren Texten das Bekenntnis Diems zu einer speziellen „Deutschen Methode“ nicht. Da Diem von der Überlegenheit des arischen und damit vor allem deutschen Wesens in der Welt überzeugt ist, nutzt er die von der Regierung propagierte deutsche Vormachtstellung aus, um eine eigene Methode darzustellen.443 Diese Methode hat er früher nicht als deutsch, sondern als eine aus vielen aus- und inländischen Einflüssen gewachsene Methode dargestellt. Im Zuge des übersteigerten Nationalbewusstseins dieser Zeit bezeichnet er sie jetzt als „Die Deutsche Methode“, wobei er allerdings schwedische und amerikanische Einflüsse zugesteht. „Von außen kam das schwedische Turnsystem, streng methodische Körpererziehung nach physiologischen Überlegungen. […] Amerika brachte uns den Ansporn zu einer höheren Bewertung der Körpererziehung im Schulwesen.“444 Den Unterschied zur Weimarer Republik nennt Diem ganz deutlich: „Nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus trat dann alles Kämpferische, Kraftschulende noch mehr in den Vordergrund; so wurde Boxen Pflichtteil im Schulturnen.“445 Dies kommt der Grundeinstellung seiner kampfgeprägten Sicht auf den Sport sehr nahe. Daher erläutert Diem auch immer wieder, wie extrem wichtig der Wettkampf gegeneinander ist. Zudem ist es die Nähe zur Natur, die der Sportler sucht, die einen weiteren Bestandteil dieser Methode ausmacht. „Das Natur441 Menze, Körperbildung und Humanismus im Werke von Carl Diem, S. 15. 442 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1226. 443 Zu der „deutschen Methode“ gehören auch, als öffentliche Demonstration, die deutschen Kampfspiele, die nach dem Ersten Weltkrieg ab 1921 regelmäßig durchgeführt wurden. Diem, Sport, 1920, S. 39: „Als Sinnbild der deutschen Volkseinheit, der leiblichen Kraft und Gewandtheit der Jugend, sollen sie zum deutschen Feste werden.“ Und Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 30: „Die deutschen Kampfspiele sind auch ein deutscher Gedanke; so wie die deutsche Musik ein deutsch gearbeiteter Bestandteil der alles umfassenden Kunst ist, ohne der Allheit entgegenzustehen, so ist auch deutsches Turnen und deutscher Sport ein freudiges Glied in der Gemeinschaft der Körperkultur der ganzen Welt, aber auch ein bestimmt geformtes deutsches Glied. […] Deutsche Kampfspiele sind deutsche Volkssache.“ Zur Zeit der Weimarer Republik gesteht Diem also der „deutschen Methode“ noch den Bestandteil an der Gesamtheit zu, der sich später zur Führungsrolle ändern wird. 444 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1226. 445 Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1227. 137 hafte des deutschen Sports ist Kennzeichen der deutschen Seele.“446 Es liegt demnach speziell den Deutschen, ihren Sport draußen zu betreiben. Diese Eigenart liefert dann auch, speziell im Waldlauf, Ausbildungssituationen, die für den Krieg sinnvoll sind und somit wieder eine Verknüpfung von Sport und ernsthaftem Kampf darstellen, die Diem oftmals zitiert und, wie an anderen Stellen gezeigt, für wichtig erachtet. „Wir aber entdeckten an diesen Übungen im Walde, der damals noch nicht so durchforstet war, einen besonderen Reiz und lernten eine Fähigkeit, die uns später im Weltkriege sehr zustatten kam: das Sich-im-Dunkeln-Zurechtfinden.“447 5.1.2.3 Opferbereitschaft Gerade zu dieser Zeit gilt das Credo des „Sich-Opferns“ für das Vaterland: „Uns genügte nicht der selbstverständliche Nutzen, den der Engländer von dem an sich zwecklos getriebenen Sport erwartet, wir wollen, dass in jedem Augenblick dem Knaben und Mädchen der höhere Sinn seines Tuns vor Augen steht, dass er das Handeln bestimmt und ihm Würde verleiht. Dieser Sinn ist der ‚Dienst am Vaterland’!“448 In Kapitel 4.2.5 wurde die Opferbereitschaft noch detaillierter untersucht, hier soll nur der Beleg genügen, wie wichtig Diem diese Eigenschaft ist. In diesem Zusammenhang bemüht er erneut das Vorbild der Krieger Spartas, die er ehrfurchtsvoll als ideale Krieger darstellt. „Körper, die im Sturmlauf dahereilten und in der Schlacht von Marathon die zehnfach überlegenen Perser überrannten, aber ebenso beseelt vom Geiste des spartanischen Sängers Tyrtäos: es gäbe nichts Edleres als den Tod fürs Vaterland.“449 5.1.2.4 Zusammenfassender Überblick Die Begründungen, Sport in der Gesellschaft zu etablieren, wandeln sich bei Diem im Laufe der Zeit. Zu Beginn fußen diese Argumente auf medizinischphysiologischen Darlegungen, die Diem durch Verweis auf medizinische Untersuchungen unterstützen kann. Diese sind Fakten und somit nicht zu widerlegen. In der Zeit des Kaiserreichs entwickeln sich die Legitimationsgründe für den Sport allerdings ebenfalls in der erzieherischen Hinsicht. Diems Ziel ist es, wie dargestellt, einen gesunden, aber auch willensstarken, patriotischen Menschen zu bilden durch den Sport. 446 447 448 449 Diem, Gedanken zur Sportgeschichte, 1965, S. 102. Diem, Gedanken zur Sportgeschichte, 1965, S. 103. Diem, OF 3, Aufbau des deutschen Sports, 1938, S. 1230. Diem, Olympische Reise, 1937, S. 52. 138 In der NS-Zeit sieht er seine Bestrebungen zum großen Teil verwirklicht. Während dieser Zeit nehmen die soldatischen, kämpferischen Begründungszusammenhänge enorm zu. Diese Argumente ziehen sich dennoch durch die komplette Schaffenszeit von Diem, treten allerdings während der NS-Zeit verstärkt auf, da sie nun auch politisch gewollt und sogar gefordert werden. 5.2 Ziele des Sports – Entwicklung einer Persönlichkeit, Schulung des Charakters Neben den beiden Begriffen Spiel und Kampf, beinhaltet Diems Sicht auf den Sport noch weitere Aspekte. Ohne die Hauptbegriffe Spiel und Kampf erneut einzubringen, soll hier darüber hinausgehend geklärt werden, was hinter den Begriffen Eigenart, Charakter und Persönlichkeit steht, da diese den elitären Ansatz Diems im Sport anschaulich widerspiegeln. Mit dem Sport möchte Diem stets eine Veränderung des Menschen auf physiologischer Ebene und darüber hinaus im Charakter des Sportlers erreichen. Diese Veränderung zielt nicht nur auf das Verhalten im Sport, sondern weitergehend auf Änderungen im alltäglichen Leben. Da der Sport laut Diem eben diese Potentiale hat, soll untersucht werden, wie Diem den Willen zu schulen versucht. Damit hängt die Forderung nach Höchstanstrengung zusammen, die eine Maxime Diems in der sportlichen Ausbildung darstellt. Vor dem Hintergrund einer Schulung des Willens soll dieser Anspruch untersucht werden. Weitere Aspekte, die mit einer Schulung des Willens und des Charakters zusammenhängen, werden nachfolgend thematisiert. 5.2.1 Was soll der Sport erreichen? Diem spricht dem Sport eine große Wirkung zu bei der Vermittlung von dem Sport eigenen Werten. Neben aller physiologischen Wirkung sind es gerade die heute sogenannten Soft-Skills, die Diem durch den Sport vermitteln möchte. Dies geschieht in einem aktiven Prozess, der sich auf das allgemeine und alltägliche Leben auswirkt. „Lebenstüchtiger werden wir, die wir nicht nur das Parallelogramm der Kräfte berechnen, sondern auch selbst den Bogen zu spannen vermögen.“450 Diese Aktivität ist das Besondere am Sport und birgt damit auch ein großes Potential an Vermittlung durch Handlung. „Und noch 450 Diem, Sport, 1920, S. 6. 139 eines entsteht: die Lust zu Taten. Pläne und Absichten werden im Sport jeweils am Erfolg geprüft. Der Sport lockt zum Handeln und er klärt es auch. […] Was uns fehlt, ist eine Erziehung zum feurigen, blitzschnellen, zähen und gerechten Handeln. Das kann der Sport bieten, aber er kann auch darin fehlgehen; […]. Normalerweise wird er es bieten.“451 Dieses Zitat aus dem Jahr 1955 fasst die erzieherischen Ziele des Sports, die für Diem bereits mit einem regelmäßigen leistungsorientierten Sporttreiben erlangt werden können, zusammen. Durch Sport soll demnach erreicht werden, dass der Athlet mit Überzeugung reaktionsschnell eine gerechte Entscheidung fällt und bei dieser dann auch bleibt, in Diems Worten also eine allgemeine Lebenstüchtigkeit. „Sport ist Erziehung zur Handlungsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit.“452 Neben aller Anstrengung sieht Diem allerdings auch, dass Sport, in zu großem Umfang betrieben, kontraproduktiv zur Erreichung von Zielen ist. „Wir werden zwar im Sport oft genug zur höchsten Ausgabe aller Kraft, zum letzten Hauch der Brust veranlasst, aber auch dieses geschieht in seinen Maßen. […], und so steht über dem Tempel des Sports das gleiche Wort, das die Athleten der Antike lasen, wenn sie in Delphi am Tempel des Apoll vorbei zum Tempel hinaufstiegen µηδέν χγαν ‚Halte Maß’.“453 Diese Ansicht steht etwas gegensätzlich zu der, dass nur Höchstanstrengung den gewünschten Nutzen sowohl physiologisch als auch kognitiv bringen.454 Wenn Sport betrieben wird, dann soll es mit maximaler Anstrengung geschehen. Mit der Forderung zum „Maß halten“ scheint Diem der Theorie der Superkompensation Recht zu geben, die besagt, dass ein Leistungsanstieg nur möglich ist durch richtig gesetzte Erholungspausen. Diese Ansicht entwickelt er allerdings erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, das oben genannte Zitat stammt aus dem Jahr 1955. Auch 1956 verlangt er: „Sport fordert volle Hingabe, aber auch strenges Maß“455. Durch eine, während der Weimarer Republik und der NS-Zeit, starke Begrenzung der wichtigsten Eigenschaften des u. a. durch Sport erzogenen Menschen zur Wehrhaftigkeit, Opferbereitschaft etc. (siehe Kapitel 4.2 und 5.1), entsteht 451 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 48. 452 Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 34. 453 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 48. 454 Z.B. in Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 8: „Höchste Anspannung bringt Wachstumsreiz.“ Oder ebd. S. 63: „Höchstleistung ist kein Übermaß an fürchterlicher Anstrengung, sondern ein mehr an Geschicklichkeit.“ 455 Diem, SAR, Ein Hohelied des Schwimmens, 1956, S. 124. 140 eine Einengung der im Sport liegenden Potentiale, die typisch für das Verständnis von Sport im Sinne Diems ist. Der Sport hat zu erziehen, und zwar zu Führermenschen. Am Schluss der Einleitung von „Persönlichkeit und Körpererziehung“ von 1924 stellt Diem diese „Tatsachen“, die für ihn gegeben sind und auch als Ziele seiner Arbeit angesehen werden können, explizit dar: „Die vorstehende Einleitung sollte [...] drei Grundtatsachen hervortreten lassen: 1. dass wir ‚Persönlichkeiten’ als Führer brauchen, 2. dass die Persönlichkeit beeinflussbar ist, also durch die Umwelt ihre Prägung erhält, 3. dass unsere Erziehung daher Persönlichkeitswerte entwickeln soll.“456 5.2.2 Eigenart, Charakter und Persönlichkeit Die Begriffe „Eigenart“, „Charakter“ und „Persönlichkeit“ stellen für Diem Entwicklungsstufen dar. Einen Charakter und eine Persönlichkeit zu bilden, sind zudem auch Ziele, die durch den Sport als Mittler erreicht werden sollen. Daher werden die Begriffe hier näher betrachtet und erläutert. Diem geht zunächst von einem Entwicklungskontinuum aus, das sich wie folgt darstellt: Eigenart (1.) ⇒ Charakter (2.) ⇒ Persönlichkeit (3.). Hier zeigt sich der elitäre Gedanke, den Diem befürwortet. Die Eigenart als unterste Stufe ist allen Menschen gegeben. „Die Eigenart des einzelnen Menschen quillt aus seinem angeborenen Urbestande an Eigenschaften.“457 Nicht jeder wird die zweite Stufe, den Charakter erreichen. „Entwickeln sich die Eigenschaften zu schärferer Prägung, wird aus ihrer Ziellosigkeit eine Zielstrebigkeit nach irgendeiner Richtung, so nennen wir den Träger einen Charakter.“458 Die höchste Stufe, die Persönlichkeit, ist nur wenigen Menschen vorbehalten. „Persönlichkeit ist also in der Stufenleiter die höchste Sprosse; sie ist eine Vollendung des betreffenden Menschen schlechthin. […] Der Mensch, den wir eine Persönlichkeit nennen, muss wie aus einem Guss sein. Geschlossenheit und Einheit der seelischen und körperlichen Kräfte ist daher das Kennzeichen […].“459 Die Menschen, die zu einer Persönlichkeit werden, müssen 456 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 7. 457 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 8. Dazu Diem, Gedanken zur Sportgeschichte, 1965, S. 8: „Coubertin war eine Persönlichkeit aus einem Guss.“ 458 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 8-9. 459 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 9. 141 ganz bestimmte Eigenschaften haben: es sind die Ideale, die Diem vor Augen hat. Der Sport, den Diem propagiert, vermittelt ganz bestimmte Werte. Die Persönlichkeit macht sich diese dann zu Eigen. Aus diesen Menschen, die den Weg über Eigenart und Charakter hin zur Persönlichkeit vollzogen haben, werden auch die optimalen Sportlehrer rekrutiert. Eine Persönlichkeit macht nach Diem also aus, dass „Verstand, Charakter und Gemüt […] im Gleichgewicht stehen [müssen]“460. Weiterhin sollen Stärke und Bewusstsein dieser Stärke, Erlebnis-, Gedanken- und Ideenreichtum vorhanden sein. „In einer Persönlichkeit fügen sich stetig Gedanke, Wort und Tat zu folgerechtem Ganzen.“461 Außerdem sollte sie Verantwortungsfreudigkeit und einen gut ausgebildeten Körper besitzen. „Der Körper ist also ebenso Grundlage wie Ausdruck unserer Persönlichkeit.“462 Aus diesen genannten Eigenschaften bilden sich dementsprechend Menschen heraus, die den Idealvorstellungen von Diem entsprechen. Diese sind die von Diem sogenannten „Führernaturen“. Ihnen spricht er zu, andere Menschen leiten zu können und sie, zumindest im Sport nach dem Ideal, das er vor Augen hat, auszubilden. Wer sich als solcher Sportführer herausgebildet hat, der ist auch im alltäglichen Leben Vorbild, so Diem. „Wenn dieser Akademiker der Zukunft [der sportlich gut ausgebildet ist; MB] vor seine nichtakademischen Altersgenossen tritt, nicht abgeschieden durch Band und Mütze und Schmisse, sondern anerkannt als der bessere Sportsmann, dann wird er wirklich auch gern als Führer im Leben anerkannt.“463 Die Menschen, denen es vergönnt ist, die Stufe der Persönlichkeit zu erreichen bzw. die sich als Führer eignen, bilden die Elite in dem Sportsystem, das Diem propagiert. Es findet demnach eine Selektion aufgrund von Charaktereigenschaften statt. Ein Selektionskriterium ist der Sport generell. Diem unterscheidet zwischen denjenigen, die keinen Sport betreiben und den durch Sport (Aus-) Gebildeten. Auf der nächsten Stufe entscheiden dann die Charaktereigenschaften darüber, ob sich ein Sportler zum Führer eignet oder nicht. Diejenigen, die sich in Bezug auf den Charakter dem Idealbild Diems annähern, bilden somit die Elite des Sports. Da Diem auch immer eine Brücke vom Sport 460 461 462 463 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 9. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 11-12. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 16. Diem, SAR, Was ist Universitas?, 1950, S. 38. 142 zum alltäglichen Leben schlägt, sind diese Sportführer ebenso in der Gesellschaft Führungspersonen und entwickeln diese positiv im Sinne Diems. In Bezug auf diese Auffassung lässt sich eine Nähe zu der Ansicht von José Ortega y Gasset erkennen. Dieser forderte in seinen philosophischen Texten ebenfalls eine führende Elite. Im Gegensatz zu Diem sieht Ortega y Gasset den intellektuellen Typ als den nach Höherem strebenden geistigen Führer an. Er fordert die Wiederherstellung einer geistigen Aristokratie, die dann die Elite von Europa bilden soll464. Gleich ist beiden Ansätzen eben diese Forderung nach Führern, die eine Elite im Staat bilden und die Annahme einer Gefolgschaft, die aus der Masse der Menschen, die durchschnittlich gebildet sind, sei es körperlich oder geistig, besteht. 5.2.3 Charakterschulung durch Sport Die Ausbildung einer Persönlichkeit möchte Diem durch den Sport erreichen. Ein Sport, der solche „Führer“ bzw. „Persönlichkeiten“ hervorbringt, kann also kein zweckfreies Spiel sein, sondern sollte stark zielgerichtet auf den Menschen einwirken, damit dies gelingt. In seinen frühen Werken ist kaum die Rede von zweckfreiem Tun oder Spiel. Er richtet seinen Sport konkret nach den Zielen aus, die er sich selbst vorgibt oder die in der NS-Zeit das Regime von ihm verlangt, wobei sich die Ziele Diems und die des NS-Regimes in Teilen annähern. 5.2.3.1 Sport als „Wetzstein des Willens“ „Leibesübungen sei ein Jungbrunnen des Leibes und ein Stahlbad der Seele, sei Prüfung unseres Charakters und Wetzstein unseres Willens.“465 Als Gegenpol zum „Stahlbad für die Seele“, in einem anderen Zusammenhang auch als „Stahlbad für den Leib“ gesehen, setzt Diem den „Wetzstein für den Willen“. Diese Begriffe suggerieren nicht den freud- und lustbetonten Sport, wie er sich heute zumindest auf Breitensportebene oft präsentiert. Wenn man bereit ist, das Training der Höchstanstrengung auf sich zu nehmen, dann werden 464 Siehe dazu bspw. Gasset, O., (1949). Aufstand der Massen. Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt. „Ich habe vielmehr gesagt und halte mit immer stärkerer Überzeugung daran fest, dass die menschliche Gesellschaft, ob sie will oder nicht, durch ihr Wesen selbst aristokratisch ist, und das so unentrinnbar, dass sie genau so sehr Gesellschaft ist, wie sie aristokratisch ist, und aufhört, es zu sein, in dem Maße wie sie diesen Charakter verliert.“ (Gasset, S. 18) 465 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 7. Auf den Wettkampf bezogen findet sich dieses Zitat auch in Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 182: „Wettkampf ist Stahlbad des Charakters, Wetzstein des Willens.“ 143 automatisch neben dem Körper auch der Geist und der Wille ausgebildet. Durch das von Diem geforderte Training, das den Sportler möglichst oft an seine Leistungsgrenze bringen will, wird der Wille geformt, zumindest insofern, dass man diese Anstrengung aushält und sie immer wieder sucht. Die oben zitierte Aussage findet man nicht nur in den Werken während der Weimarer Republik und der NS-Zeit, sondern auch, zwar in abgeschwächter Form, in „Wesen und Lehre des Sports“, das Diem nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb. Dies zeigt, dass Diem trotz vordergründiger Änderung doch seiner Linie dieses stark militaristisch geprägten Sports treu bleibt. Auch die Ansicht, dass der Sport den Willen beeinflussen sollte, bleibt in dieser Zeit bestehen. Neu ist allerdings, dass dieser Wille nicht mehr nach einem Ideal geprägt werden soll, sondern, dass der Jugendliche diesen Willen selbst herausbilden soll und ihm dabei der Sport unterstützend zur Seite steht. „Natürlich kann der junge Mensch dabei [bei der Wahl der Methode; MB] vom Lehrer oder Trainer beeinflusst werden, und diese können es auch so falsch machen, dass die Entfaltung des Eigenwillens beeinträchtigt wird, ja dass sogar eine Art perverser Selbstaufgabe entsteht, ein Ausweichen vor dem eigenen Entschluss in dem fremden Willen, die Bereitschaft, sich zur Überwindung seiner selbst hypnotisieren zu lassen, mit dem Vorwand des Gehorsams und der Disziplin - - - aber unter normalen Umständen will der Jugendliche – und er tut es auch – sich selbst entscheiden und zu dem von ihm gewählten Ziel aus seinen eigenen Weg gehen.“466 Die Kontinuität in der Willenschulung, die Diem durch Sport erzielen möchte, liegt darin, dass er zu allen Zeiten darauf achtet, dass die Sportler Willensstärke entwickeln. Zur Zeit der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus ist dieser jedoch darauf ausgerichtet, in das übergeordnete Gebäude der Politik bzw. Ideologie zu passen. Ein eigener Weg eines Athleten, der gegen das System verstößt, wäre zur NS-Zeit sicherlich nicht möglich gewesen. Auch wird die Aufgabe des Lehrers nach dem Zweiten Weltkrieg anders aufgefasst. Er unterstützt und berät. Vorher war er der Führer, der genau geplant hat, was, wie und warum trainiert wurde, um die Willensschulung auch kontrollieren zu können und in die gewünschten Bahnen leiten zu können. Einen Lehrer, der dies falsch gestaltet, hätte es sicherlich nicht gegeben, da, laut Diem alle Trainer und Sportlehrer Führerpersönlichkeiten sein sollen und somit eben ge- 466 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 47. 144 nau die Einstellung haben sollten, die Diem vermittelt sehen will. „Als Führernaturen bezeichnete er [der Psychiater Kretzschmer; MB] Derbe, Draufgänger, flotte Organisatoren, verständige Vermittler; diese würden also den von uns gewünschten Sportlehrernaturen entsprechen.“467 Die Wege, die die Jugendlichen im Sport selbst wählen, differieren in der Ausgestaltung. Wenn man Diems Gedanken konsequent umsetzt, sind diese individuell zu gestalten und damit sicherlich sehr unterschiedlich. Über alle Epochen kann man bei Diem eine Gleichstellung von Trainern und Lehrern erkennen. Dies geht damit einher, dass Diem oft Leibesübung generell als Erziehung ansieht, um zu verdeutlichen, welches Ausmaß eine richtige körperliche Erziehung haben kann. „Leibesübung – das ist Charakterbildung! Sie ist fortwährendes lebensprühendes, lustbetontes Handeln und erzeugt Bedürfnis nach Handlungen! Sie formt und härtet den Willen als den ‚Sitz des Charakters’“.468 „Durch Körperübung wird also das stete Wollen an sich gelernt.“469 Immer wieder betont er die wichtige Bedeutung der Willensschulung. Darunter fasst Diem, der den Charakter zunächst nicht in Einzelheiten ausdifferenziert, dann wiederum alles, was ihm an Eigenschaften der Menschen wichtig ist und was gleichzeitig auch den Sportbegriff in seinem Sinn ausmacht und wozu der Sport erziehen470 soll: „Mutaufgaben erziehen auch zu Umsicht und Besonnenheit und helfen die Charaktererziehung krönen. […] Neben dem körperlichen Mut, den sittlichen Mut. […] Ihn pflanzen ‚Ideale’ in die Seele. […] Der Wert des Charakters liegt nicht nur in seiner Kraft, sondern auch in seinem Maß.“471 Durch den Einsatz von Herausforderungen kann die charakterliche Er467 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 30 und S. 75: „Die Lehrerpersönlichkeit muss eine Führernatur sein, und wir wissen, dass sich die Jugend „Führer“ wünscht.“ Dazu auch Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 34: „Der Erzieher ist für Diem der Bildner des Einzelnen, aber auch Führer der auf Volk und Staat verpflichteten Gemeinschaft.“ 468 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 35. 469 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 37. 470 Rein (Hrsg.), Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, S. 265: „Das Turnen soll Tatkraft und Ausdauer, Mut und Besonnenheit den Schülern beibringen und sie befähigen, sich als nützliche Glieder einer Gemeinschaft betätigen zu können.“ Diese Aussage von 1903 spiegelt die Ansicht Diems wider, die er allerdings nicht nur dem Turnen, das ja traditionell geprägt war mit der Idee, nationale Werte und persönliche Eigenschaften fördern zu wollen, sondern dem gesamten Sport, einschließlich Turnen zuspricht. Diese Wirkung des Turnens gilt auch für Mädchen bzw. Frauen. Von Diem meist vernachlässigt, wird hier ausdrücklich eine Charakterentwicklung des weiblichen Geschlechts betont: „So wird der Wille der Mädchen, […], bedeutend gestärkt, […], so dass Energie und Festigkeit des Willens, sowie Ausdauer bei Anstrengungen sich endlich zu festen Charaktereigenschaften ausbilden“. (ebd., S. 272) Damit liegt Diem mit seinen Forderungen zur Zeit des Kaiserreichs auf einer Linie mit denen der Pädagogik der Zeit. 471 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 41. 145 ziehung unterstützt und gefördert werden. Das Idealbild eines Charakters beinhaltet die Eigenschaft Mut472, sodass es diese zu vermitteln gilt. Diem äußert sich weiterhin zu anderen Eigenschaften, die einen Charakter in seinem Sinn ausmachen. „Eine Erziehung zur Selbstbeherrschung, zum ‚Entsagen und Ertragen’ tut uns not. […] Mir scheint das sportliche ‚Training’ die einzige praktische Form freiwilliger Entsagungsübung in der Jugend. […] Aus diesem Sich-Beherrschen entwickeln Sport und Spiel dann die freiwillige Einordnung.“473 Dieser Gesichtspunkt entwickelt demzufolge die Gehorsamkeit der Sportler und führt zu der Untertanen-Mentalität, durch die auch Diem im ausgehenden Kaiserreich sozialisiert wurde.474 Im Vollzug von sportlichem Training soll man demnach lernen, sich einem Führer, ob im Sport oder im täglichen Leben, unterzuordnen. Durch den gleichen Sport werden allerdings auf der anderen Seite die von Diem geforderten Führerpersönlichkeiten erzogen, die weiter entwickelte Charakteranlagen mitbringen. Dabei hilft einem die soziale Komponente des Sports, dass man nicht alleine ist und alle anderen sich gleichfalls unterordnen müssen: „Die Einordnung wird noch durch das Allgemein-Gesellige vertieft“.475 Diese Eigenschaft des Unterordnens lehrt den Sportler in Friedenszeiten, sich im Krieg seinen Offizieren unterzuordnen, in eine Armee einzufügen und für eine Sache einzustehen und damit ein guter Soldat zu sein. „Ohne Zucht und Ordnung ist kein Sport denkbar. Namhafte Führer im Weltkriege, Frontoffiziere, heben rühmend hervor, dass sich die Sportsleute im Heere als der gute Geist selbst bewährt haben, weil sie sich für das Ganze einzusetzen gewohnt waren.“476 Dieses Vermögen zur Unterordnung nennt Diem die „Deutsche Form“. Dies ist sicherlich historisch bedingt, da es sich sowohl im Kaiserreich als auch in der NS-Zeit in eine Hierarchie einzuordnen galt. Diese Tendenz zur oft bedingungslosen Unter- 472 Mit der Wertschätzung des Mutes liegt Diem in der Nähe der Ansichten des Pädagogen und Philosophen Alfred Baeumler. Dieser war neben Ernst Krieck einer der beiden führenden Philosophen des Nationalsozialismus und wesentlich an der Gestaltung der Erziehung im NS-Regime beteiligt. Dieser äußert sich in dem Buch „Bildung und Gemeinschaft“ über den Stellenwert der Leibesübungen: „Die Schule der Leibesübungen ist eine Stätte echter Charaktererziehung vor allem deshalb, weil sie die Elementarschule des Mutes ist. In dieser Schule lernt man, Gefahren nicht zu scheuen und jederzeit das wirklich zu tun, was man unter Anspannung aller seiner Kräfte tun kann. Der Mut ist nicht eine Tugend unter vielen, sondern die Mutter aller Tugenden.“ (Baeumler, Bildung und Gemeinschaft, S. 160). 473 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 42. 474 Siehe Kapitel 2.2. 475 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 43. 476 Diem, Sport, 1920, S. 8. 146 ordnung wurde insbesondere von Ausländern als negativ empfunden und nicht als der positive Charakterzug dargestellt, auf den Diem so stolz ist.477 Auf dem „Gemeinsinn“ basierend, der durch den Sport vermittelt werden kann, nennt Diem eine Reihe von Eigenschaften, die er durch den Sport vermittelt sieht. So heißt es bei ihm über die Funktion von Sportfesten, damit entstehe „der Gemeinsinn des Charakters. Gemeinsinn heißt Opferfreudigkei. […] Einordnung und Opferfreude bilden also gewissermaßen als Ergebnis der Leibesübung den ersten Grundstein zur sozialen Persönlichkeit. […] Der sportliche Wettkampf ist geradezu eine Gerechtigkeitsschule.“478 Diem baut hier eine Reihe von Folgerungen auf, die für ihn selbstverständlich zu sein scheint. Aus Sportfesten entsteht Gemeinsinn, das ist insofern nachzuvollziehen, als dass auf solchen Veranstaltungen zum Beispiel ein Austausch zwischen den Mannschaften stattfindet und es viele Gelegenheiten zu einem Zusammentreffen gibt. Die nächste Stufe, die sich für ihn daraus ergibt, ist die der für ihn so wichtigen Opferbereitschaft, die sich aus dem Gemeinsinn ergeben soll. Diem erklärt dies nicht weiter, sondern nimmt es als gegeben und natürlich an. Die Opferbereitschaft ist ein Wert, der im Sinne Diems auf jeden Fall im Sport vermittelt werden sollte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sieht Diem die Ausübung von Sport, sei es bei den Olympischen Spielen oder aber bei jedem anderen Sportfest, als eine Übung für die Gesellschaft. Da sich allerdings die Regierungsform von der Diktatur zur Demokratie gewandelt hat, kann Unterordnung und Opferbereitschaft nicht mehr das Ziel sein. „Nicht nur beim Olympischen Feste, nein, in jeder Sportausübung führt die dabei unentbehrliche Zusammenarbeit innerhalb des Sympathiebereichs der geordneten Schulklasse, der Übungsgruppe, Mannschaft, des Vereins, Verbandes usw. nicht nur zu gemeinsamen Freuden, sondern auch zu gemeinsamen Pflichten, die kameradschaftlich verteilt werden. Hier ist die Urzelle echter staatsbürgerlicher Erziehung. […] Sport ist Propädeutik der Demokratie.“479 Weiterhin sieht Diem sowohl Sportwettkämpfe als auch generell Sporttreiben als eine Vorbereitung auf den Lebensalltag. War jedoch diese Ausbildung in der 477 Auch Diem sieht sich in dieser Tradition als ein kleiner Teil eines großen Ganzen. Diem, Zur Neugestaltung der Körpererziehung, 1923b, S. 4: „Es ist eine Freude in so trächtiger Zeit [1923; MB] Werkmann im großen Getriebe sein zu dürfen.“ 478 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 44. 479 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, S. 51, dieses Zitat stammt von 1955, der gleiche Satz („Sport ist geradezu Propädeutik der Demokratie!“) steht bereits in einem Artikel von 1947 (SAR, Hochschule für Leibesübungen, 1947, S. 59.). 147 Weimarer Republik und in der NS-Zeit geprägt von Vorbereitung auf das Militär bzw. den Krieg und damit auch der Unterordnung gegenüber diesem System480, sieht Diem die Potentiale des Sports nach dem Zweiten Weltkrieg darin, dass durch Absprachen, Aufgabenverteilung und die Abstimmung demokratische Verhaltensweisen geübt werden. Der Inhalt bleibt bestehen, nur das Ergebnis hat sich zum Gegenteil gewandelt. Welche Wirkungen der Sport, unter dem übergeordneten Ziel der Charakterschule, konkret haben sollte, darüber macht Diem ebenfalls in einigen Veröffentlichungen Angaben. „Wer dagegen Leibesübungen treibt, muss mit wachesten Sinnen bei der Sache sein.“481 „‚Leibesübung ist die große Schule der Aufmerksamkeit’, [...], ‚und Aufmerksamkeit ist das Gegenmittel gegen die Ablenkung, das Grundübel leistungsfähiger Naturen.’ […] Trotzdem kommt die eigentliche Tiefenwirkung von anderswo her: durch das Einleben in die Natur.“482 Diese Eigenschaften dienen der Erziehung von Charakteren, wie Diem sie sich wünscht, schlicht und einfach, aber zielstrebig hin arbeitend. Außerdem dienen die „wachen Sinne“ dem Soldaten, was auch einer der Hauptzielrichtungen Diems entspricht. „Blitzschnell zu handeln, tatfreudig und tapfer zu sein, dazu erzieht dieser Kampf der beiden Elf gegeneinander.“483 Diese, im Fußballspiel erworbenen, sind alle förderungswürdige Funktionen, die dem Charakter zu gute kommen, eine schnelle Entscheidung treffen sowie aktiv und mutig einen Kampf durchstehen zu können. Auch diese Eigenschaften wirken sich wiederum auf das alltägliche Leben aus. „Ein Kerl, der fest auf seinen Beinen steht, fürchtet sich auch im Leben nicht, weder vor Vorgesetzten noch vor Gleichgestellten.“484 Das Fußballspiel fördert demnach die von Diem als wichtig erachtete Eigenschaft des Muts, die dem Sportler hilft, sein tägliches Leben selbstbewusster zu gestalten. „Die Lustgefühle der Leibesübungen lösen die im täglichen Leben aufgespeicherten Spannungen der Seele. Aus dem Gefühl der Heiterkeit steigt das Gefühl für Reinheit und Frische.“485 Der sporttreibende Mensch kann sich also besser auf die wesentlichen Dinge des Lebens konzentrieren. 480 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 6: „Der einzelne gibt alles der Gemeinschaft. Entweder tritt er ganz hinter den Begriff „Mannschaft“ zurück wie beim Rudern, Fußballspielen usw., oder er dient als Person seinem Verein wie bei allen Einzelsports, als gehorchendes Glied des Ganzen.“ 481 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 51. 482 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 52. 483 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 57. 484 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 57. 485 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 53. 148 „Nur körperliche Vollerziehung beschert uns das unendliche Glücksgefühl des ausgeruhten, ungeschwächten, ungereizten, geübten, vollsaftigen Körpers.“486 Dies ist das Ziel Diems, auf das die ganze Sporterziehung hinauslaufen sollte, denn diese Körper sind als guter Soldat genauso wichtig wie als Mutter, die für den deutschen Nachwuchs zuständig ist. Zur Ausbildung des Charakters besteht Diem immer auf einer ganzheitlichen Ausbildung: „Wir müssen uns zum Begriff der Einheit, All- und Ganzheit von Körper und Geist durchringen.“487 „Das eine dürfen wir heute schon entnehmen, dass Körperbau und körperlicher Lebensablauf auf das ursächlichste mit unserem geistigen und seelischen Leben verbunden ist.“488 Dennoch ist die Ausbildung des Körpers für Diem höher zu bewerten als die des Geistes. „Alle Bildung beginnt bei der Körperbildung und hört da auf, was nicht die geringste Einschränkung der sogenannten Geistesbildung bedeutet. Das hat PLATO schon verkündet.“489 Die Grundlage der Bildung liegt demnach in der des Körpers. Dies bedeutet für Diem keineswegs, dass dadurch die geistige Bildung, die eine der Körperbildung nachgeordnete Stellung einnimmt, behindert wird. Eine geistige Bildung ohne die Bildung des Körpers ist danach nicht möglich. Diese Ansicht ist der Ideologie der Nationalsozialisten sehr nahe, die körperlich nicht Gesunde stark abwerteten. Da das Zitat aus dem Jahr 1955 stammt, ist diese Einstellung als eine Grundüberzeugung Diems anzusehen. Auf der Grundlage einer Körperausbildung fordert Diem eben die ganzheitliche Erziehung. Allerdings ist für Diem die körperliche Ausbildung höher einzustufen als die geistige. Somit sollte auch mehr Gewicht auf diese gelegt werden. Zur Unterstützung der Forderung nach einer ganzheitlichen Ausbildung beruft Diem sich, wie an anderen Stellen auch, auf Platon, den Diem mit dem Satz 486 487 488 489 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 54. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 26. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 30. Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 43 (Kursivdruck im Original). Auch Platon entwirft eine Ausbildung, die sowohl den Körper als auch den Geist betrifft. Dazu Nohl/Pallat, Handbuch der Pädagogik, S. 150: „Mit 6 Jahren werden die Geschlechter getrennt, aber beide werden körperlich ausgebildet, […]. Die Zweige des Unterrichts sind beim Turnlehrer allgemeine Ausbildung in der Palästra, Gymnastik und Musik; […]; die mehr gymnastische Reigenkunst soll nicht vor der Erlernung von Lesen und Schreiben geübt werden. Dieser Unterricht soll – anders die durchschnittliche Praxis der Griechen – erst mit dem 10. Jahre beginnen und 3 Jahre dauern.“ 149 zitiert: „Es ist ja nicht eine Seele, nicht ein Körper, den man erzieht, es ist ein Mensch; aus dem müssen wir keine zwei machen“.490 Die Ansätze, die Diem in dieser Hinsicht bringt, können als fortschrittlich angesehen werden. Allerdings tendiert die von Diem propagierte ganzheitliche Sporterziehung stark in die Richtung der NS-Ideologie, da er, um hier nur ein Beispiel zu nennen, wie diese versucht, die Menschen aufgrund ihres Äußeren in verschiedene „Eignungs-Kategorien“ zu ordnen, z. B. die Sportlehrer: „Sie [die Sportlehrer] gehören zu den beweglichen, ausgeglichenen Menschen, sind aber meist von schlanker oder athletischer Gestalt, selten rund, gedrungen.“491 Sport ist der ganzheitlichen Erziehung zufolge nicht nur auf körperliche Belange beschränkt, sondern wirkt ebenso auf kognitiver wie volitiver Ebene. Dieser Sport ist allerdings immer mit Leistung verbunden, wird also planmäßig betrieben und soll zur Steigerung der Leistung beitragen. „Sport strebt nach Leistung. „Immer der beste zu sein und vorzuleuchten den andern!“ Das ist das innere Gesetz. Darum ist Sport auch eine Charakterfrage.“492 Wer diesen Grundsatz für sich annimmt, wird Sport demnach in der Art und Weise betreiben, wie Diem sie in den zwanziger Jahren propagiert. Allerdings gilt, wie im Weiteren gezeigt wird, auch der Umkehrschluss, also, wer Sport in Diems Sinn betreibt, wird diesen Leitsatz für sich annehmen. Damit der Charakter der Sportler beeinflusst werden kann, ist ein Training notwendig. Da Sport für Diem stets an Leistung geknüpft ist, muss ein diesem Anspruch gerecht werdendes Training stattfinden. „Trainieren heißt Sich-üben und Sich-härten. Hier ruht die Charakterschule des Sports.“493 Neben dem Übungsaspekt bringt Diem noch den Aspekt des „Sich- härtens“ dazu. Dies ist sicherlich verknüpft mit seinem zu der Zeit gültigen Ansatz, dass nur Höchstleistungen weiter bringen, so dass diese neben einer physiologischen Leistungssteigerung auch die Abhärtung des Willens gegenüber Anstrengungen zur Folge haben sollen. Da für Diem „jede Körperübung zugleich eine Geistes-, Charakter- und Seelenübung“494 ist, heißt dies, dass zur Zeit der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus durch den militaristisch geprägten Sport zugleich eine gewünschte 490 491 492 493 494 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 27. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 30. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 5. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 8. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 31. 150 Geisteshaltung geschult wird, die Krieg und kriegerischen Auseinandersetzungen positiv gegenüber steht. Dies hat bei Diem selbst so weit geführt, dass er sagt: „Und wenn im ganzen 2 Millionen Deutsche den Opfertod fanden, jeder von ihnen nahm 5 Feinde bei der Hand und zog sie in den Hades mit. 10 Millionen Tote hatte der Feind.“495 Dieser Ausspruch ist wiederum ein Beleg dafür, dass Diem Anhänger der Theorie ist, dass dem deutschen Volk eine besondere Stellung gebührt, eine höhere jedenfalls als es nach dem Ersten Weltkrieg innehat. Diem stellt es als positiv dar, dass der Feind fünfmal mehr Tote hatte als Deutschland. Er rechtfertigt damit in gewisser Weise die deutschen Kriegsopfer, die dafür gesorgt haben, dass es diese Anzahl an Toten auf der anderen Seite gegeben hat. Wenn dieses Verhältnis sich so weiter entwickelt, dann kann auch der deutschen Vormachtstellung nicht mehr viel im Wege stehen, zumindest, wenn man dem Weg Diems folgt und ihn weiterführt. Damit diese Vormachtstellung erreicht wird, fordert er auch: „Leibesübungen müssen Volksgewohnheit werden, damit das Volk wehrtüchtig bleibe und, soweit es die Jugend noch nicht ist, dazu gelange.“496 Da zu dem Ziel der Wehrfähigkeit natürlich nicht nur die rein körperliche Ausbildung gehört, verlangt er auch die Ausbildung der von Kerschensteiner gefundenen vier Wurzeln der geistigen Charakteranlagen: „Willensstärke, Urteilsklarheit, Feinfühligkeit und Aufwühlbarkeit des Gemütgrundes.“497 Damit beruft Diem sich auf einen der bekanntesten deutschen Pädagogen des 19. und 20. Jahrhunderts498. Mit der Arbeit im und am Sport mit dem Ziel, das Volk wehrfähig zu machen, möchte Diem seinen Beitrag zu einer allgemeinen Verbesserung der Lage des Volkes leisten. Diesem Grundsatz, dass Sport das ganze Volk erfassen und ihm zur Gewohnheit werden solle, bleibt Diem auch nach dem Zweiten Weltkrieg treu. „So gehört der Sport unserer Zeit zur Gewissenspflicht nicht nur gegenüber dem Leibe, sondern gegenüber unserer geistig-seelischen Lebenskraft.“499 495 Diem, OF 1, Germanen, Rede zur Reichsgründung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, 1932, S. 37. 496 Diem, OF 1, Was tut uns not?, Denkschrift zur Feier der Grundsteinlegung des Deutschen Sportforums durch den Reichspräsidenten v. Hindenburg, 1925, S. 41. 497 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 34. 498 Dazu Günther u.a., Geschichte der Erziehung, S. 435: Der Pädagoge Kerschensteiner hat „die politische Zielsetzung der Schule (staatsbürgerliche Erziehung), die methodische Gestaltung besonders der Volksschule (Arbeitsschule) und die Schulorganisation (nationale Einheitsschule) ganz wesentlich beeinflusst“. 499 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 16. 151 Auch wenn in der Bundesrepublik das Ziel der Wehrfähigkeit nicht mehr explizit genannt wird, ist es Diem dennoch ein Anliegen, möglichst viele Bürger beim Sport zu sehen, um somit dazu beizutragen, zumindest ein gesundes Volk zu erhalten und damit die Leistungsfähigkeit des Volkes zu erhöhen.500 Ebenso ist es erklärtes Ziel, den Sport wieder in das öffentliche Leben zu integrieren und ihn so zu einem Teil der Kultur werden zu lassen. „Kurz, der Sport soll, […], Teil der deutschen Kultur werden, den wir getrost in den Grundstein einmauern dürfen, auf den wir die deutsche Zukunft bauen.“501 5.2.3.2 Sport als Stahlbad für die Seele – Prinzip der maximalen Anstrengung Das Eingangszitat dieses Kapitels beschreibt den Sport als „Jungbrunnen für den Leib und Stahlbad für die Seele“, wie oben bereits erwähnt, nennt Diem in „Erziehungswerte des Wettkampfs“ den Begriff „Stahlbad“ im Zusammenhang mit dem Leib. Ein Sport, der dies leisten soll, muss sich nach Diem zum größten Teil im Bereich der individuellen Höchstanstrengung, „Leitsatz: Höchste (maximale) Anstrengung bringt Wachstumsreize.“502, bewegen. „Es gibt leider gar zu viele, die sich an ein schärferes Training nicht heranwagen aus Furcht vor Überanstrengung; zur Beruhigung ihres Gewissens treiben sie nur zaghafte Gymnastik, müssen aber bald erfahren, ohne Erfolg. Dass ein zu schwaches Üben wirkungslos bleibt, entspricht der Erfahrung. […] Deshalb bleibt also die Forderung der maximalen Anstrengung und einer sprungweisen Anforderungssteigerung durch Training und Wettkampf grundsätzlich bestehen, und diese Forderung gilt nicht nur für das Herz, sondern für sämtliche Muskeln.“503 Aus der bewiesenen Tatsache, dass es eine untere Grenze gibt, ab der Training keinen Entwicklungsreiz mehr für den Körper bietet, folgert Diem in den meisten Texten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gegenteilig, dass also nur maximale Reize den gewünschten Erfolg bringen.504 Der Drang nach eben dieser Höchst500 Diem, SAR, Sportjournalismus, 1951, S. 21: „Was aber als Sport geschieht, gehört in das Licht, das heißt in die Kontrolle der Öffentlichkeit, weil sich im Sport, ohne dass der einzelne dies bezweckt […], eine Grundkraft der Volksleistung entbindet.“ Kursivdruck im Original. 501 Diem, SAR, Hochschule für Leibesübungen, 1947, S. 60. 502 Diem, Zur Neugestaltung der Körpererziehung, 1923b, S. 17. Hervorhebung im Original. 503 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 179. Dazu auch Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 8: „Nicht das Maß der Arbeit an sich schlechthin, sondern das Maß der Anstrengung fördert den Muskelzuwachs und beeinflusst die Organe. Höchste Anspannung bringt Wachstumsreiz.“ Und S. 63: „Höchstleistung ist kein Uebermaß an fürchterlicher Anstrengung, sondern ein Mehr an Geschicklichkeit.“ 504 Hierzu De Marèes, Sportphysiologie, S. 175: „Unter Training wird allgemein das planmäßige wiederholte Ausführen von Übungen und Bewegungsabläufen verstanden, mit 152 anstrengung ist für Diem etwas, das mit dem Menschen generell verbunden ist und ihn immer wieder in seinem Tun bestätigt.505 „Die Würze des Daseins im Augenblick des Sichüberforderns – etwas tief menschliches.“506 Demnach ist dieses Prinzip nur natürlich.507 Dieses Prinzip belegt Diem damit, dass er, wie an anderen Stellen auch, z.B. bei der ganzheitlichen Erziehung, Zitate bedeutender Personen anbringt, die die von ihm aufgestellte These untermauern. „Vervollkommnung ins Unendliche ist die Bestimmung des Menschen“ hat FICHTE einmal gesagt, und von SHELLEY gilt das Wort: ‚ein jedes Herz trägt der Vollendung Keim’, und von GOETHE: 'Um das Unmögliche möglich zu machen, müsse der Mensch nur keck und rastlos das scheinbar Unmögliche erstreben’.“508 Da das Ziel jedes Menschen die Vervollkommnung ist, muss diese auch mit hohem Einsatz versucht werden zu erlangen. Diem bezieht hier, wie so oft, allgemeine Zitate auf den Sport und gebraucht mit Goethe das Vorbild, das er neben den Philosophen des antiken Griechenland und Schiller am häufigsten nutzt. Diese Vervollkommnung des Menschen wird durch Sport gefördert, diese Meinung vertritt Diem in allen Epochen seines Wirkens.509 „Sport bedeutet Selbsterkenntnis, Selbstvertiefung, Selbsterfüllung – das erklärt auch die Sportleidenschaft, und diesen Reiz haben wir zu würdigen, weil er uns in die- 505 506 507 508 509 dem Ziel, entweder die körperliche Leistungsfähigkeit durch überschwellige und ansteigend dosierte Belastungen zu steigern, ein erworbenes höheres Niveau zu konservieren oder aber alterungsbedingten Leistungsminderungen entgegenzuwirken. […] Die Notwendigkeit überschwelliger Muskelkontraktionen ist schon Ende des 19. Jahrhunderts von dem Anatomen RUX postuliert worden, der geringe Reize als nutzlos, mittlere Reize als leistungssteigernd und starke Reize als potentiell gefährlich bezeichnete.“ Darüber hinaus hat die Höchstanstrengung auch Auswirkungen auf den Lebensalltag und kann übertragen werden. Diem, Gedanken zur Sportgeschichte, 1965, S. 43: „Ich bin der Überzeugung, dass jeder zu seinem Vorteil sich „trainieren“ sollte, das heißt nicht nur an die Grenze des ihm möglich Scheinenden heranzugehen, sondern diese Grenze auch hinauszurücken; ich betrachte es als wichtige Lebenserfahrung, wenn man feststellt, dass man noch mehr zu leisten vermag, als man sich zugetraut hat. Denn was auch immer der Sport fordern kann, es ist doch nur ein bescheidenes Vortraining gegenüber dem, was das Leben von Zeit zu Zeit abfordert, in Gestalt von Not, Gefahr und Krankheit.“ Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 17. Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 18: „Sport ist ein Drang, über uns hinaus zu wachsen, ein Drang, der Menschen zu Menschen macht.“ Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 18. Kursivdruck im Original. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 5: „Im Streben nach Vollendung selbst aber liegt der Reiz des Sports und das Geheimnis seiner Anziehungskraft.“ Und Diem, SAR, Der Sportjugend, 1956, S. 61: „Man würdige einmal das Maß der Arbeit, Anstrengung, Zähigkeit, nur um mehr zu können, in Künsten, die keinen Nutzwert haben – das Maß der Beharrlichkeit, des Ernstes, einem Spiel zuliebe. Das tut der denkende Mensch nur, wenn hinter dieser scheinbar zwecklosen Aufgabe ein tieferer Sinn steht. Er lautet: vollende dich!“ und S. 114 (1955): „In dieser ganzen Selbstvollendung des Jugendlichen aus den Kräften, die in der menschlichen Natur angelegt sind, kommt dem Dichter und Reformator ROUSSEAU als höchstes Sinnbild der Wunsch, aus dem Jugendlichen einen Adler zu machen.“ Kursivdruck im Original. 153 sem reizempfänglichen Zustand der jugendlichen Selbstfindung größte Tiefenwirkung verspricht.“510 Durch Sport werden demnach Prozesse angestoßen, die zur Persönlichkeitsbildung wichtig sind. Auf dem Weg zu einer eigenen Identität wird der Jugendliche durch den Sport unterstützt. Diem geht allerdings davon aus, dass Sport generell diese Wirkung hat und nennt keine Einschränkungen bzw. Voraussetzungen, wie z.B. Sport inszeniert werden sollte, um diesen Effekt zu verursachen. Zudem ist dieser Sport auch stark vom Kampf unter- bzw. gegeneinander geprägt.511 Der Gedanke des Sich-Messens, des Wettkämpfens ist für Diem etwas dem Sport Immanentes. Der Wettkampf ist die Basis, auf der Sport stattfindet. Übergreifend ist zu sagen, dass, trotz all der Werte, die Diem mit dem Sport vermitteln möchte, die nicht auf den Sport begrenzt sind, sondern darüber hinaus auf das tägliche Leben wirken sollen, Diem in jeder Epoche darauf hinweist, dass Sport einzig der Freizeitgestaltung dient und nicht zum Lebensinhalt werden darf. „Sport, ein Mittel Jugendkräfte zu entbinden, auf dass sie sich im Ernst des Lebens auswirken, aber er ist nicht der Ernst des Lebens selbst.“512 5.2.4 Zusammenfassender Überblick Diem erkennt das große Potential, das der Sport durch seine aktiven Handlungen birgt. Er erkennt, dass Dinge, die im Sport geschult werden, durchaus auch für das alltägliche Leben gelten können. Die Schulung des Charakters und damit des Willens rückt daher in den Mittelpunkt seines Sports. Die Vermittlung dieser Werte nimmt Diem jedoch per se an. Er geht davon aus, dass jeder planmäßig betriebene Sport auf den Charakter wirkt und das in stählender Weise. Sport wird von Diem demnach systematisch mit den dargestellten, für ihn wichtigen Werten Charaktererziehung und Willensschulung belegt. In der Weimarer Republik geschieht dies mit dem Ausblick, die Volkskraft zu stärken und aus der Jugend ein wehrfähiges Volk mit guten Soldaten zu machen. Diese Ziele bleiben im Nationalsozialismus erhalten. Zur Zeit der Bundesrepublik bleiben die im Sport erkannten Werte gleich, allerdings ändert sich das Ziel, auf das sie wirken sollen; deutlich gemacht am Beispiel des Vereins, der zur Zeit 510 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 46. 511 Da der Stellenwert des Wettkampfs in Kapitel 4.2 behandelt wurde, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. 512 Diem, SAR, Sportjournalismus, 1951, S. 24. 154 der Weimarer Republik die Unterordnung lehrt und in der Bundesrepublik eine Vorschule zur Demokratie darstellt. Dies wird ebenfalls deutlich, wenn man einen Vergleich der Schriften „Persönlichkeit und Körpererziehung“ von 1924 und „Wesen und Lehre des Sports“ von 1949 vornimmt. 5.3 Erziehung durch Sport Die beiden Begriffe Spiel und Kampf prägen das Sportverständnis von Diem. Es stellt sich somit die Frage, wie die Erziehung durch Sport aussehen muss, um den Sport im Sinne Diems vermitteln zu können. Diem reiht die Erziehung durch Sport in die allgemeine Erziehung des Menschen ein und legitimiert damit die Auseinandersetzung mit diesem Thema und dessen wissenschaftliche Behandlung.513 „Handelt es sich doch um Erziehung des Menschen durch planmäßig spielfrohe Betätigung der Körperkräfte.“514 Er belegt dieses mit einem seiner Vorbilder aus der griechischen Antike, einem Zitat Platos, und aufgrund seiner großen Wertschätzung der antiken Kultur sieht Diem mit dieser Brücke die Notwendigkeit von Sport in der Schule begründet. „Plato nennt diese gymnastische und musische [Erziehung; MB] die Hauptgattungen der Erziehung, und die ganze Kultur der Antike beruht auf dieser Gleichwertigkeit. Die Körpererziehung ist daher ein in den Schulen aus dem allgemeinen Unterricht nicht herauszulösender Gegenstand des Lehrplans.“515 Auch nach dem zweiten Weltkrieg plädiert Diem für die Implementierung von Sport in den Schulen, die auch dazu beitragen soll, den Sport von eventuellen „Altlasten“ zu befreien. Da im Dritten Reich eine Belegung des Sports mit militärischen Zielen stattfand und der Kampfgedanke als der wesentliche im Sport betont wurde, Boxen wurde z.B. zur Pflicht für jeden Schüler, sieht Diem die Notwendigkeit einer Neuorientierung. „Der Sport wird nicht gesunden, wenn er nicht in der Schule eine tüchtige Grundlage erhält.“516 Diese Anmerkung Diems ist vor dem Hintergrund des Sportbegriffs, den er propagiert und der kontinuierlich den Kampfgedanken beinhaltet, erstaunlich. Er sieht 513 Menze, Körperbildung und Humanismus im Werke von Carl Diem, S. 9: „Und Diems Werk selbst ist der Versuch, dem Sport innerhalb einer umfassenden Volksbildung seine Stelle zuzuweisen und in seiner Bedeutung zu erfassen.“ 514 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 70. 515 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 25. Kursivdruck im Original. 516 Diem, SAR, Gewissensprüfung, 1949, S. 97. 155 demnach die Notwendigkeit einer Gesundung des Sports, hält auf der anderen Seite allerdings an seinem Sportbegriff fest. Neu ist allerdings die Wendung in dieser Zeit, dass es nicht mehr die Pflicht eines guten Bürgers ist, sich durch Sport kräftig und gesund zu halten, sondern, dass dieses nun zum Recht wird. „Jeder Mensch hat Anrecht auf regelmäßige und gründliche Ausbildung seiner körperlichen Fähigkeiten, auf Behebung seiner Mängel, auf Pflege seiner Begabung und auf jene frohen Erlebnisse, die aus einem jugendgemäßen Sportbetrieb zu gewinnen sind."517 Dies zeigt also, dass er sich auch in seinen Erziehungszielen der jeweiligen Regierungsform anpasst, bis auf die Zeit der Weimarer Republik, in der er, eine große Gruppe Gleichgesinnter hinter sich wissend, gegen die Staatsform und gegen die staatlichen Erziehungswege gearbeitet hat. Hier allerdings sieht er sich seinem Vaterland gegenüber in der Pflicht, das durch Sport wieder wehrfähige Bürger erhält. „Vernünftig betrieben sei er [der Sport; MB], auch ohne besondere Ordnungsübungen, die beste Vorbereitung auf das Soldatenhandwerk.“518 Um eine wirkungsvolle Erziehung im Bereich des Sports für Kinder und Jugendliche zu betreiben, ist die Forderung nach der täglichen Turn- bzw. Sportstunde seine Grundlage. Vor allem in den unteren Klassen ist Diem dies sehr wichtig. Er möchte die Kinder von klein auf sportlich erziehen, „da die Einführung der täglichen Turnstunde in der Volksschule Hauptaufgabe ist.“519 Damit die Ausbildung der Schüler bestmöglich wird, fordert Diem eine wissenschaftliche Ausbildung der Turn- und Sportlehrer. Aus diesem Grund hat er die Hochschule für Leibesübungen gefordert und gefördert und hat entscheidend an der Lehrerausbildung520 mitgearbeitet. „Eine mehrjährige geschlossene Ausbildung der Sportlehrer an einer besonderen Hochschule für Leibesübungen ist notwendig, weil nur dadurch der Lehrkörper erzogen wird, der den wissenschaftlichen Fortschritt sichert.“521 Ihm ist also sowohl die Forschung auf dem 517 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 25. Kursivdruck im Original. 518 Teichler, Der Weg Carl Diems vom DRA-Generalsekretär zum kommissarischen Führer des Gaues Ausland im NSRL, S. 54 und S. 61: „Zentraler Sinn des Sports war für Diem seine „nationale Dienstbarkeit“, „der Dienst am Vaterlande“. 519 Diem, OF 3, Turnlehrer und Lehrerbildung, Aus der Reichstagsdenkschrift „Die tägliche Turnstunde“,1926, S. 1293. Kursivdruck im Original. 520 Dazu Bernett, Sport zwischen Kampf, Spiel und Arbeit – Zum Perspektivwechsel in der Theorie des Sports, S. 169, „Der Vordenker [Diem] des theoretisch defizitären Sports vertrat seine Lehre auch an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen. Sie entsprach einem Menschenbild, das Rektor August Bier in seiner Eröffnungsrede mit den Qualitäten umschrieb: „eiserner Wille, helle Begeisterung, treue Pflichterfüllung und kraftvolle Männlichkeit“.“ 521 Diem, OF 3, Hochschulstudium der Sportlehrer, 1928, S. 1301. Kursivdruck im Original. 156 Gebiet des Sports wichtig als auch besonders die Ausbildung von Lehrkörpern, die die Jugend im Sport erziehen. Der Sport Diems ist, wie gezeigt, sehr stark mit Zielen befrachtet. Daher stellt sich die Frage, wie er mit und durch diesen Sport zu erziehen plant, welche Bildungs- und Erziehungsideale er hat, welchen Vorbildern er sich anlehnt und mit welcher Methodik er diesen Sport vermitteln will. Obwohl Diem auch die Grenzen der Schulererziehung kennt, „gewiss bedeutet alle Erziehungskunst der Schule nur wenig gegen die Reifung durch das Leben“522, fordert er eine in seinem Sinne sinnvolle Körpererziehung, um auf dieser als Basis später im außerschulischen Sport aufbauen zu können. Jeder Schüler soll sich einem ihm vorgegebenen Idealbild so weit wie möglich annähern und dies dann auch in Eigenarbeit mit dem in der Schule Erlernten erreichen. Daher müssen sich die Schulen, zumindest die der Weimarer Republik, ändern, von der „Intellektualisierung“ zur Charaktererziehung durch Sport: „Wir brauchen die Charakterschule! Charakterbildung ist der Mittelpunkt der Gesamterziehung!“523, „Die neuen Schulen sollen Charaktererziehung zum Mittelpunkte machen und daher den Leib nicht weniger sorgfältig üben als den Geist.“524 Diem sieht in der bestehenden Ausrichtung der Schule ein Übergewicht an geistiger Ausbildung. Er fordert eine Einbeziehung der körperlichen Ausbildung, die mindestens den gleichen Umfang erhalten soll, wie die geistige. Zudem soll die Charaktererziehung zum Schwerpunkt werden. Diem geht es demnach um eine umfassende Erziehung, die den Körper, den Geist und den Charakter beinhaltet. Die Schulung ganz bestimmter Werte, wie zum Beispiel Disziplin, Härte, steht in der Entwicklung zu einem Charakter nach der Definition Diems im Mittelpunkt (siehe Kapitel 5.2). Zur Zeit des Nationalsozialismus und später in der Bundesrepublik hat Diem sich jeweils der gegebenen politischen Situation angepasst und seine Erziehung als Teil der Gesamtbildung gesehen. In der Weimarer Republik dagegen hat er ganz deutlich gegen die Regierung und deren Erziehungsmaxime gearbeitet: „Dieser „Intellektualismus“ wurde zum Grabe der Führereigenschaften in unserem Volke, zum Grabe nüchternen politischen Geistes. Wenn 522 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 34. 523 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 35. 524 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 96. 157 dazumal der Schulmeister den Krieg 1870/71 gewonnen hat, der Überschüler, der Theorienschwätzer, der Nur-Verstand hat den von 1914/23 verloren.“525 Zusammenfassend hält Teichler, der die Erziehung Diems durch den Sport auf zwei Werte reduziert, fest: „In einer anti-intellektualistischen Interpretation rühmte er die Sporterziehung als Kampf ums Dasein zur Hervorbringung von Führertypen“526. 5.3.1 Bildungsideal Clemens Menze, Anhänger Diems und ehemaliger Professor an der Deutschen Sporthochschule und Universität Köln, beschreibt den Ansatz der Bildung Diems treffend wie folgt: „Für Carl Diem ist der Sport ein Medium der Menschenbildung. Zur Bildung des Menschen gehört für ihn unabdingbar die Bildung des Körpers und seiner Bewegung.“527 Das Bildungsideal, das Diem vor Augen hat und das vor allem körperbezogen ist, ist das des schönen Körpers. „Schönheit ist die sinnlich-körperliche Erscheinung von Wertgehalt. Auch im Hang zum Idealisieren, auch im Seelenbedürfnis unserer Jugendjahre steckt körperliches Schönheitssehnen. Der Führer der Jugend sei daher Schönheitssucher und Schönheitsbildner. Er soll das Auge des Bildhauers besitzen. […] Dem Sportlehrer obliegt die prometheische Aufgabe, Menschen zu formen nach seinem Bilde. Bildhauer ist er, nicht in Holz und Stein, sondern in Fleisch und Blut. Bildhauer auch in Geist und Seele.“528 Diese Bildung ist demnach für Diem nicht etwas selbstbestimmtes, sondern der Lehrer bildet auf ein Ideal hin aus.529 „Der Erzieher ist für Diem der Bildner des Einzelnen, aber auch der Führer der auf Volk und Staat verpflichteten Gemeinschaft.“530 Demnach entstammt das Bild, zu dem er die Schüler ausbildet, nicht nur seiner eigenen Phantasie, sondern muss klar dem Ganzen dienen und ist demnach zu einem Teil vorgegeben. Auf die Frage, ob der große Bereich der 525 Diem, OF 1, Sehnen nach einem Führer, Einleitung der Vorlesung ‚Persönlichkeit und Körpererziehung’ an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, 1923, S. 45. 526 Teichler, 1936 – ein olympisches Trauma, S. 52. 527 Menze, Körperbildung und Humanismus im Werke von Carl Diem, S. 7. 528 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 100. 529 Dazu auch Schmidt-Millard, Prometheus als Leitfigur? Notizen zum Lehrerbild bei Carl Diem aus der Perspektive sportpädagogischer Historiographie, S. 195/196: „Was aber befremdet an Diems Anlehnung an den Prometheus-Mythos? Noch vor aller inhaltlichen Bestimmung des Ziels der Erziehung ist es doch die Gott-gleiche Stellung des Erziehers, der hier selbst zum entscheidenden Maßstab der Formung wird, denn es ist ja „sein Bild“, das zum Kriterium jener „Schönheitssuche“ wird.“ 530 Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 34. 158 Gymnastik ein Mittel zur Bildung sei, schreibt Diem: „Die Stellung hierzu wird entscheidend von dem Bilde beeinflusst, nach dem hin man bilden will.“531 Bildung ist für Diem demnach eng mit dem Körper verknüpft. Er sieht den vollendet trainierten Körper als Bildungsideal. Dieser Prozess dorthin soll, wie gezeigt, auch den Charakter beeinflussen bzw. schulen. Die Ziele sind zum einen auf ein äußerliches Bild und zum anderen auf eine innere Einstellung bzw. Haltung festgelegt. Zudem darf eben nicht der Sportler das Bild definieren, was er erreichen möchte, sondern dieses ist von außen festgelegt. Darüber hinaus erweitert Diem sein Ziel der Bildung, indem er die körperlichen Ziele mit den charakterlichen verknüpft. „Wir bekennen uns also zum ersten Bildungsziel, zum Tatmenschen.“532 Hier fließen die beiden Hauptstränge seiner Erziehung durch Sport zusammen und definieren das Bildungsziel Diems. Dieses Ideal ist nur durch Arbeit zu erreichen. „Für mich muss Bildung zu Leistung und Leistung zu Bildung führen, […]. Zunächst muss der Mensch den Aufgaben des täglichen Lebens gewachsen sein und seinen Pflichtenkreis erfüllen können. Nur dann genügt er der höheren Sendung, an die ich glaube.“533 Diem beschreibt eine Wechselwirkung. Der gebildete Mensch ist im Stande Leistung zu vollbringen, ebenso kann derjenige, der Leistung erbringt, gebildet werden. Die erfüllte Voraussetzung, sein eigenes Leben meistern zu können, bringt die Menschen hervor, die Diem für eine „höhere Sendung“ genügend ansieht. Unspezifisch bleibt, was diese „höhere Sendung“ bedeutet. Es ist aber auf der Grundlage des in Kapitel 5.2.2 vorgestellten Entwicklungskontinuums davon auszugehen, dass hier der Bereich der Führerpersönlichkeiten gemeint ist. Auch hier gilt durchaus wieder das Prinzip der Auslese. Es werden sicherlich nicht alle Menschen das Leben im Sinne Diems meistern, so dass, entgegen anderer Forderungen zur Erfassung aller Bürger durch Sport, nicht jeder die Qualifikation erreicht. Von denjenigen, die dann diese Erziehung erhalten, werden sich wiederum nur vereinzelte zu Führerpersönlichkeiten entwickeln, da diese Anlagen dazu nicht in jedem Menschen liegen.534 531 532 533 534 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S 173. Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S 174. Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S 175. Andere Pädagogen zur Zeit der Weimarer Republik haben ähnliche Erziehungsziele. „Dabei ist es selbstverständlich, dass Erziehungsziel im höheren Sinne nicht diese oder jene Übung, sondern der harmonisch gebildete, gesunde und leichtbewegliche Körper, die frische, mutvolle Persönlichkeit, der sich seiner Leiblichkeit froh und ehrfürchtig bewusste Mensch ist.“ (Neuendorff, Klinge, Dapper, Deutsches Mädchenturnen, S. 8) Dieses Ziel von Neuendorf et al. ist auch auf Frauen bezogen. Diem bezieht sich in seinen Texten vor- 159 Bezogen auf die körperlichen Bildungsideale hat Diem eine sehr enge Vorstellung, wie dieser schöne Körper, der das Ziel ausmacht, auszusehen hat.535 Aber nicht nur die Schönheit des Körpers möchte Diem schulen, sondern auch die Aufnahmefähigkeit für das Schöne sensibilisieren: „Diese Aufnahmefreudigkeit [für die Schönheit; MB] ist dem Menschen nicht ohne weiteres gegeben; sie ist ein Erziehungsgeschenk, eine allgemeine ästhetische Bildung soll unsere Sinnenfreudigkeit für die Schönheit der Formen dieser Welt erwecken.“536 Neben der Schönheit ist aber auch immer die Funktionsfähigkeit des Körpers wichtig. Erst sie macht den Körper komplett. In Bezug auf die Funktion steht die Organkraft für Diem an erster Stelle, gefolgt von der Ausbildung der Muskeln. „Die Körpererziehung muss Körperbildung bezwecken. Erstes Körperbildungsziel ist die Organkraft, dann erst die Muskelkraft und die Bewegungskunst.“537 Er sieht also eine ausgeglichene physiologische Erziehung als einen zentralen Punkt an, der den idealen Körper als Folge hat. Die Forderung nach einer physiologisch geprägten Erziehung findet man bei Diem in allen zeitgeschichtlichen Epochen, er hält sie also immer aufrecht. „Alle Körperübung muss zunächst physiologisch orientiert sein.“538 Neben der physiologischen Zielsetzung steht bei Diem die geistige, in der er Ziele wie Aufgeschlossenheit, Urteilskraft, Pflichtbewusstsein etc. zusammenfasst. Der Umgang mit dem Körper lehrt zudem den Menschen, ein besseres Selbstbewusstsein aufzubauen und sich seiner Persönlichkeit gewahr zu werden und diese öffentlich zu präsentieren. Ein gut ausgebildeter Körper unterstützt diesen Prozess, wirkt sich somit auch 535 536 537 538 nehmlich auf den Mann. Wenn er sich auf Frauen bezieht, dann ist dies ausdrücklich im Titel ausgewiesen. Zu erkennen ist hier eine Verwandtschaft der Ziele. Beide Autoren möchten einen gut ausgebildeten Körper für ihre Schüler erreichen und damit einhergehend, sie zu einer Persönlichkeit ausbilden, die bestimmte Charaktereigenschaften inne hat. „Als gemeinsames Ziel [der großen Sportverbände und des Turnens; MB] gilt die Erschaffung eines neuen deutschen Menschen, […]. Seine körperlichen Merkmale sind neben Gesundheit und Kraft eine Geschmeidigkeit, die vor allem dem Rhythmus des eigenen Körpers gehorcht. Zielklarheit, Sachlichkeit, Willenskraft und Mut machen seine hauptsächlichen Persönlichkeitswerte aus. Anständigkeit der Gesinnung, die sich besonders im Kampf bewährt, und Gemeinschaftsgeist, der im Zusammenleben und im Kampfspiel sich entwickelt, sind die stärksten sittlichen Eigenschaften.“ (Neuendorff, Geschichte der neueren deutschen Leibesübung, S. 34) An diesem Zitat lässt sich erkennen, dass Diem und Neuendorff ähnliche Ziele durch Turnen und Sport zu erreichen suchen. Es geht ihnen um die Formung der Persönlichkeit jedes Sportlers. S. oben. Dazu auch Diem, Sport, 1920, S. 14: Der Sport wird „ein neues menschliches Körperideal in uns aufrichten […], vor dem sich der gute alte Schmerbauch schämig zurückzuziehen verspricht“. Diem, OF 3, Lehrverfahren, Vortrag vor dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht und dem Pädagogischen Seminar der Universität Berlin, 1921, S. 1322. Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 78. Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 48. Kursivdruck im Original. 160 auf das Alltagsleben aus und hilft, eine ganzheitliche Person zu werden. „Unseren Körper, der selbst eine Quelle reinen Genusses sein kann, der, so recht ausgeschlafen, so auf höchste Leistung gehärtet, uns auch im geistigen Leben ein federndes Sprungbrett darstellt. Er wird uns plötzlich lieb und wert, wir sind stolz auf ihn, nachdem die Fettgewebe um den Leib sich in plastische Muskelgruppen verwandelt haben. […] Man weiß, dass man ein Kerl ist, […]. Also, der Sport hat uns uns selbst geschenkt.“539 Durch ein leistungsorientiertes hartes Training wird der Umgang mit dem Körper verbessert, durch ausgebildete Muskeln ein Stolz erreicht und die Einigkeit von Körper und Geist gefördert, so Diem. Problematisch ist diese Ansicht dahingehend, dass der Körper durch das Training instrumentalisiert wird und dies eben nicht zu einer Einigkeit von Körper und Geist führt. Der Körper wird abgetrennt und dient nur noch als Mittel zu gerade dieser Außendarstellung. Das Idealbild des Körpers versucht Diem durch eine funktionelle Erziehung zu erreichen, die sich außerdem aus dem sinnbeladenen Sport erklärt. „Der schnellfüßige Läufer mit dem jeder Anstrengung gewachsenen Herzen und den atemkräftigen Lungen soll das Ziel unserer körperlichen Erziehung sein.“540 Der Weg ist bei Diem nicht das Ziel, sondern durch dieses Ziel und sein Ideal wird der Weg vorgegeben. Er arbeitet demnach nicht prozess- sondern produktorientiert. „Die in dieses Bild eingeschlossene allgemeine Lebenstüchtigkeit stellt sofort praktische Forderungen an den Übungsinhalt.“541 Diese Forderungen beinhalten, dass möglichst draußen Sport getrieben wird, ein großer Anteil dem Lauf gewidmet wird, kräftigende Übungen ihren Platz bekommen, die Belastbarkeit des Einzelnen vergrößert wird etc. Das Erstreben dieses Bildungsideals kommt nach Diems Meinung aus dem Volk: „Waren es also nicht die Geistigen, die dieser neuen Erziehungsweisheit den Boden bereiteten, dann war es das Volk.“542 „Ein innerer Drang des Volkes führte zu erhöhter Aufmerksamkeit auf den Wert körperlicher Erziehung.“543 Da diese Annahmen aus der Zeit der Weimarer Republik stammen, kann das ver539 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 9. 540 Diem, OF 3, Lehrverfahren, Vortrag vor dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht und dem Pädagogischen Seminar der Universität Berlin, 1921, S. 1318. 541 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 71. 542 Diem, OF 1, Sport und Geist, Vortrag in einer Sportversammlung als Antwort auf eine Goethe-Versammlung, 1927, S. 144. 543 Diem, OF 3, Deutsche Hochschule für Leibesübungen, I. Entstehung und Ziel, 1930, S. 1281. 161 mehrte Sportinteresse der Bevölkerung allerdings auch andere Ursachen haben. Nach dem ersten Weltkrieg vollzieht sich in Deutschland ein Wandel in der Arbeitswelt. Die Industrialisierung verschafft den Menschen kürzere Arbeitszeiten. Dies wird von den Gewerkschaften erreicht, die an Einfluss gewannen. Es ist also auch möglich, dass die Menschen nicht unbedingt die Erkenntnis eines höheren Wertes zum Sport treibt, sondern einfach die Zeit, die ihnen nun als neu gewonnene Freizeit zur Verfügung steht. 5.3.2 Ausgangspunkt: Forderung nach einer ganzheitlichen Erziehung Anhand des dargestellten Bildungsideals lässt sich die Forderung Diems nach einer ganzheitlichen Erziehung bereits ableiten. Da diese Forderung die Basis für die Erziehung durch Sport im Sinne Diems ist, wird dieser Aspekt im Hinblick auf die Erziehung hier tiefergehend behandelt. Diems Idealbild der Erziehung ist das der griechischen Antike. „Wir kommen gewissermaßen zur Weisheit der Antike zurück und sehen im richtigen Maß, d.h. in der Harmonie der Strebungen das Ziel.“544 Er lehnt sich an die Forderung zu einer ganzheitlichen, Körper und Geist umfassenden Erziehung an. „Die musische und gymnastische Bildung der Seele wegen zu betreiben, so wie es Plato forderte.“545 Mit dem Verweis auf Platon unterstreicht Diem die Forderung nach einer ganzheitlichen Erziehung und beruft sich auf das antike Griechenland, in dem diese Ansicht bereits vorhanden und angesehen war. Er erweitert die Forderung nach ganzheitlicher Ausbildung dann auf eine für die Weimarer Republik geltende Formulierung.546 „Bildung ist somit Gleichklang von körperlichen, geistigen und seelischen Kräften im einzelnen!“547 Die Forderung nach einer ganzheitlichen Erziehung ist eine Grundmaxime Diems, die sich durch die gesamte Zeit seines Wirkens zieht. In dem Werk „Wesen und Lehre des Sports“ aus dem Jahr 1947 sagt er dazu: „Der Sport-, Turn- oder Gymnastikunterricht 544 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 71. 545 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 26. 546 Dass es diese Forderung auch in Deutschland schon früher gab, zeigt exemplarisch ein Zitat aus 1909 von Elisabeth Altmann. Rein (Hrsg.), Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, S. 271: „Mit der leiblichen Ausbildung und Erziehung geht aber, bewusst oder unbewusst, auch die geistige Hand in Hand; denn Körper und Geist stehen in innigster Beziehung zu einander, sie sind für ihre gesunde normale Entwicklung gegenseitig aufeinander angewiesen.“ 547 Diem, OF 1, Körper, Geist und Seele, Weihnachtsumfrage der Berliner Nachtausgabe, 1927, S. 138. 162 soll, […], den ganzen Menschen erfassen, d. h. mit den körperliche Kräften zugleich Verstand, Gemüt und Willen ausbilden.“548 In der Sporterziehung Diems ist bei einer ganzheitlichen Ausbildung des Menschen das Gewicht von dem geistigen Schwerpunkt verschoben auf den körperlichen Schwerpunkt. „Die erste Forderung müsste sein, die Jugend zu regelmäßiger Körperübungen heranzuziehen. Erst dann, nicht umgekehrt, kommt der geistige Unterricht.“549 Als Ziele der sowohl körperlichen als auch geistigen Sporterziehung nennt Diem: „Unsere physiologischen Ziele sind Entwicklung der Organkraft, Muskelkraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Geschicklichkeit. […] Die psychologischen Ziele – Entwicklung der Willenskraft, Entschlusskraft, des Mutes, der Einordnung – werden im wesentlichen durch das „Leistungsturnen“ erstrebt.“550 Diese Ziele finden sich, wie gezeigt, durchgängig in seiner Sicht von Sport wieder und können damit auch als Basisziele bezeichnet werden, die, je nach Intention eines Textes, erweitert oder mit besonderem Akzent auf ein Ziel verwendet werden. Mit der Forderung nach ganzheitlicher Ausbildung kritisiert Diem wiederum das Schulsystem der Weimarer Republik, welches eine Vergeistigung der Jugend und eine lebensfremde Erziehung fördere. Doch auch in der Bundesrepublik kritisiert Diem die Jugend bzw. deren Eigenschaften zu der Zeit. Deutlich wird hier, mit Bezug auf Kapitel 3, die kulturkritische Einstellung Diems, in diesem Punkt am Beispiel der Kritik am Bildungssystem (vgl. Kapitel 3.2.3). Dass diese kulturkritische bzw. –pessimistische Sicht durchgängig bei Diem vorhanden ist und somit als Grundorientierung gelten kann, zeigt das unten stehende Zitat aus dem Jahre 1955. Diem ist stets bestrebt, physiologische Missstände, die er erkennt, durch Sport zu beheben und damit auch die ungünstigen Charaktereigenschaften durch von ihm als positiv eingeschätzte zu ersetzen. „Erziehung zur Konzentration ist aber bei der heutigen accelerierten Jugend (beängstigender Schlankhochwuchs, geschlechtliche Frühreife) mit ihrer Ziellosigkeit, fatalen Nüchternheit, frühen Ermüdbarkeit, schwächeren Gedächtnis, nervösen Reizbarkeit, Oberflächlichkeit und Formelhaftigkeit der Gedanken notwendig.“551 Diese sehr negative Beschreibung der Jugend stammt aus dem Jahr 1955, also aus der Zeit, in der 548 549 550 551 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 25. Kursivdruck im Original. Diem, OF 3, Pflichtsport, 1912, S. 1120. Diem, Zur Neugestaltung der Körpererziehung, 1923b, S. 11. Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 48. 163 Deutschland anfing, sich wirtschaftlich und auch politisch wieder zu erholen. Allerdings war die Jugend dieser Zeit durchaus noch vom Zweiten Weltkrieg und der nachfolgend sogenannten „schlechten Zeit“ geprägt. Es ist zu vermuten, dass in einem neu aufzubauenden Staat mit diesem Hintergrund an Kriegsgeschichte die Reaktionen der Jugend auch aufgrund fehlender Orientierungen durchaus Ziellosigkeit, Nüchternheit und Oberflächlichkeit sein können. „Anders als die noch oder zum Teil schon wieder beruflich und privat gebundene ältere Generation, waren die Jugendlichen nach der Zerstörung oder Auflösung der Sozialisationsinstanzen Schule, Hochschule oder Ausbildungsbetrieb zunächst sozial heimatlos und standen Gemeinschaftswerten ablehnend gegenüber.“552 Die beschriebenen negativen Eigenschaften durch den Sport zu ändern, scheint allerdings ein recht utopisches Ziel zu sein. Mit dem Sport kann ihnen jedoch ein Freizeitinhalt geboten werden, der vom Alltag ablenkt und als ein Mittel zur Verdrängung der Vergangenheit553, leistungsorientiert betrieben zu mehr Zielstrebigkeit führen kann und den Körper stärkt. Seine Forderung belegt Diem mit ähnlichen Äußerungen von berühmten Pädagogen, in deren Sinne er nun weiter zu arbeiten meint: „Was sagt nun Rousseau über das Thema ‚Sport und Geist’? ‚Will man den Verstand eines Schülers bearbeiten, so bearbeite man jene Kräfte, die der Verstand regieren soll, man übe den Leib, mache ihn gesund und stark, damit man den Menschen weise und vernünftig mache. Der Schüler arbeite, laufe und sei stets in Bewegung, er sei durch Munterkeit ein Mensch, und bald wird er es durch Vernunft sein. Diese Erziehungsweisheit wurde durch deutsche Erzieher in die Tat umgesetzt. Pestalozzi, […], und Guts Muths waren es, die als erste und […] für alle Zeiten der körperlichen Erziehung wieder ihr Recht in der Gesamterziehung erkämpft haben.’554 Aber auch Kant zieht Diem zum Beweis heran: „Noch deutlicher, ganz in unserem Sinne ist der Satz: ‚Veränderungen des Körpers sind zugleich Ver- 552 Bahlke, Bockrath, Franke, Der moralische Wiederaufbau des deutschen Sports nach 1945, S. 259. 553 Sport wird, wie Konsum und Arbeit auch, als ein Teil des Lebens zur Vergangenheitsverdrängung genutzt worden sein. Der Spiegel, 52/2005, S. 51: „Die Bundesbürger flüchteten sich in den Konsum und in die Arbeit und verdrängten die Erinnerung an die braune Vergangenheit.“ 554 Diem, OF 1, Sport und Geist, Vortrag in einer Sportversammlung als Antwort auf eine Goethe-Versammlung, 1927, S. 143. 164 änderungen der Seele und die Veränderungen der Seele zugleich Veränderungen des Körpers.’“555 Mit die Forderung einer Erziehung von Körper und Geist liegt Diem nah an der Ansicht von Rousseau, die er auch als Grundlage für seine Auffassung nutzt, Rousseau spricht der Bewegung und Körperübung einen hohe Stellenwert für die geistige Ausbildung zu. Der oben von Diem skizzierte Ansatz heißt im Original: „Wollt ihr also die Intelligenz eures Zöglings fördern, so fördert die Kräfte, die sie beherrschen soll. […] Lasst ihn arbeiten, sich betätigen, laufen, schreien, und immer bewegen! Ist er der Kraft nach ein Mann, so wird er es auch bald der Vernunft nach sein. […] Es ist ein bedauernswerter Irrtum zu glauben, körperliche Betätigung schade dem Geist! Als ob die beiden nicht gemeinsam gehen und einander lenken müssten!“556 Allerdings führt Rousseau kein angeleitetes sportliches Training durch, „sondern lässt ‚der Natur’ ihren Lauf“.557 Grupe weist jedoch darauf hin, dass die Beziehung zwischen Körper bzw. Leib und Seele nicht so beschaffen ist, dass eine Veränderung des Leibs zum Beispiel automatisch eine Veränderung der Seele nach sich zieht. „Die gegenseitige Abhängigkeit von Leib und Seele ist nun keine funktionale, so dass Änderungen des einen notwendig auch zu Änderungen des anderen führen müssen. […] Das Prinzip der Kausalität im Sinne einer gradlinigen Abhängigkeit hat hier keinen Platz.“558 Es darf also nicht generell angenommen werden, dass durch Leibesübungen oder Sport der Geist mit entwickelt wird. Das Potential dafür liegt in der Leibesübung, allerdings ist es wichtig, dieses gezielt einzusetzen, um eine Wirkung zu erreichen. „Erziehung und Bildung sind keine Anliegen, die man zusätzlich ihr [der Leibeserziehung; MB] abfordern muss, sondern die sie grundsätzlich definieren. Es kommt allerdings darauf an, die Akzente richtig zu setzen.“559 555 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 48. Auch in dem Text „Erziehungswerte des Wettkampfes“ (1927) bedient Diem sich dieses Kant-Zitats. Zu finden ist der Satz in „Kants gesammelte Schriften“, (Dilthey, 1900, S. 259): „Die Gemeinschaft ist die Verbindung, wo die Seele mit dem Körper eine Einheit ausmacht; wo die Veränderungen des Körpers zugleich die Veränderungen der Seele, und die Veränderungen der Seele zugleich die Veränderungen des Körpers sind.“ Ebenfalls fordert Diem auch hier eine ganzheitliche Erziehung durch den Wettkampf gefördert: „Bildung des Leibes ist infolgedessen zugleich Bildung des Geistes und der Seele […], so ist der Wettkampf auch für die Bildung der inneren Eigenart die Sammellinse“., S. 182. 556 Rousseau, Emil oder über die Erziehung, S. 102. 557 Prohl, Grundriss der Sportpädagogik, S. 26. 558 Grupe, Über das Verhältnis von Leib und Seele, S. 61. 559 Grupe, Über das Verhältnis von Leib und Seele, S. 63. 165 Mit dem Bezug auf Rousseau, Pestalozzi, Guths Muths und Kant unterstreicht Diem in der Weimarer Republik die Forderung zu einer Erziehung durch Sport, indem er auf anerkannte Pädagogen und Philosophen verweist. Durch die Aussagen dieser möchte er eine Legitimation dieser Erziehung erbringen. Er erweitert diese Legitimation zu dieser Zeit durch Kritik an der Gesellschaft und zieht den Schluss, dass die Bewegung in die Erziehung einfließen solle. „Zwar gärt es allgemein in unserer Jugenderziehung, aber noch ist nicht die große Linie gefunden, auf der die Lösung liegen wird. […] Zu den verheißungsvollen Anzeichen gehören das deutsche Turnen und der deutsche Sport.“560 Diese Sportlehrweise soll wiederum dann Anstöße für die allgemeine Pädagogik geben. „Diese Lehrweise der Leibesübungen nämlich müsste nach meinen Gedanken die Hefe für eine neue Pädagogik sein, für eine Kunst des Lehrens und Erziehens, die mehr als bisher die Herzen der zu Erziehenden gewinnt!“561 Diem möchte sich also nicht von der allgemeinen Pädagogik abgrenzen, sondern sie durch seine Art des Lehrens verbessern. Er möchte sie menschennäher gestalten und nicht mehr nur lernstofffixiert. 5.3.3 Methodik Die Vorstellungen, wie eine Erziehung durch Sport konkret gestaltet werden soll, äußert sich auf der Grundlage des Bildungsideals und der Berücksichtigung einer ganzheitlichen Erziehung in den Methoden, wie die oben dargestellten Forderungen umgesetzt werden sollen. „Erziehen aber heißt bestimmt nicht volladen und bestimmt nicht verbrauchen.“562 Dennoch belädt Diem den Sport mit vielfältigen Werten, die es zu vermitteln gilt, so dass diese Aussage zu hinterfragen ist. Die Methodik, der Jugend etwas zu vermitteln, ist bei Diem zumeist auf Vorund Nachmachen beschränkt, das mit einer verbalen Verbesserung einhergeht. „Auch wenn eine Übung zunächst vom Lehrer vor- und vom Schüler nachgemacht wird, bleibt dann immer noch genug beschreibende Verbesserung notwendig, die zur Bewusstmachung des Bewegungsvorgangs führt.“563 Er wählt also die deduktive Vermittlungsmethode. Der Lehrer soll als Vorbild dienen564 560 561 562 563 564 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 177. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. VI. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 97. Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 275. Diem, OF 3, Lindberghs Flug, 1927, S. 1432: „Wie Homer nannte – ‚immer der Beste zu sein und vorzuleuchten den anderen’!“ 166 und so viel Begeisterung erwecken, dass die Jugend ihm folgt.565 In dieser Methode gibt es keinen Raum für freie Entfaltung, sondern das, was vorgelebt wird, ist gut und daneben kann nichts anderes bestehen. „Zweifellos liegt in allen diesen [Gymnastik-; MB] Systemen der Wunsch, den aus dem inneren Wesen des Menschen entspringenden Bewegungsfluss sich auswirken zu lassen, im Gegensatz zur gebundenen Bewegungsform des Kunstturnens oder der Zielstrebigkeit der Sporttechnik. Ich erkenne an, dass man in der Ausbildung des Menschen nach dieser Richtung hin Freiheit lassen soll, obwohl es in der Bildung auch nicht ohne Bindung gehen wird.“566 Diem erkennt ein sinnvolles Wechselspiel zwischen angeleitetem Sport und freier Bewegung als eine Methode des Sports an. Allerdings sind solche Äußerungen die Ausnahme, wenn Diem über Sportvermittlung schreibt. Der Wunsch nach Kontrolle und Erreichung der selbstgesteckten Ziele überwiegt in der Regel gegenüber der Anerkennung des Potentials, das in der frei gestalteten Bewegung liegt. Die Schrift „Zur Neugestaltung der Körpererziehung“ von 1923 bildet eine Ausnahme in den Ansichten Diems zur Erziehung durch Sport, die in den anderen Texten sehr autokratisch geprägt ist. In dieser Schrift nennt Diem durchaus moderne Ansichten der Inszenierung einer sportlichen Erziehung. „Ist die physiologische Orientierung bei Sparsamkeit der Zeit die erste große Grundlinie der allgemeinen Körperbildung, so kann ihr als die zweite die Einstellung auf die Selbstheit des einzelnen, also die Individualisierung gegenübertreten.“ Daraus folgert Diem, dass es keine Übung gibt, „die für alle Menschen gleichmäßig passt“. „Ein Jugendleiter, der nicht bei der körperlichen Ausbildung von vornherein individualisiert, ist seinem Amte nicht gewachsen.“567 Diem erkennt, dass wirkliche Spitzenleistungen nur durch individuell gestaltetes Training zu erreichen sind. „Für die Bildung des Körpers darf man auch sagen, dass jene Arbeitsweise, zum höchsten Ziel gelangt, die soweit wie möglich auf den einzelnen eingeht.“568 Dieser Ansatz der individuellen Betreuung von Schülern kommt modernen An- 565 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 47: „Es ist ein heiliger Augenblick: diese Zusammenfallen der Entdeckung des eigenen Ichs mit den Pflichten zum Kameraden und der Verehrung zum Turnlehrer. Für andere ist es der Sportlehrer oder eine andere, durch Haltung und Schneid anziehende Persönlichkeit, ein Jugendführer oder schließlich ein von fern angebetetes Idol.“ 566 Diem, Zur Neugestaltung der Körpererziehung, 1923b, S. 36. 567 Drei Zitate aus Diem, Zur Neugestaltung der Körpererziehung, 1923b, S. 37/38. 568 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 267. 167 sätzen zur Durchführung von Sportstunden nahe.569 Allerdings steht bei Diem als Ziel nicht die individuelle Persönlichkeitsentwicklung, sondern die körperliche Ausbildung bis zu einem hohen Grad und die Vermittlung der oben erörterten Werte. Auch ist zu hinterfragen, ob die Methoden, die Diem als leitend ansieht, eine individuell gestaltete Ausbildung überhaupt zulassen. Dennoch ist dieser Ansatz als modern zu betrachten. Der Schüler wird als eigene Person an- und ernst genommen und nach seinen individuellen Fähigkeiten weitergebildet. Diese Individualisierung nimmt mit Zunahme des militaristischen Gedankenguts schon in der Weimarer Republik immer weiter ab und verschwindet zur Zeit des Nationalsozialismus ganz. Außerdem ist die Individualisierung im Sinne Diems immer eingebettet in eine Erziehung zu Patriotismus und Vaterlandsliebe. „In Diems pädagogischem Konzept ist die Persönlichkeitserziehung jedoch in die Nationalerziehung eingebunden. Individualbildung und Gemeinschaftserziehung greifen ineinander über.“570 Nach dem Zweiten Weltkrieg betont Diem in seinen Texten dann stets wieder die individuelle Ausbildung der Sportler bzw. der späteren Sportlehrer an der Hochschule. „Die Ausbildung geschieht individuell, wie auch der spätere Sportunterricht individuell bleiben muss. Darin setzen wir uns von der Vermassung des Nationalsozialismus deutlich ab.“571 Diesen Satz sagt Diem ungeachtet dessen, dass er auch im Nationalsozialismus wesentlich am Sportgeschehen beteiligt war und die einheitliche und ideologiebeladene Sportausbildung gepriesen hat. So fordert Diem zum Beispiel 1935 der NS-Ideologie folgend: „Das neue Deutschland stellt große Aufgaben und fordert gestählte Kräfte und aufrechte Männer.“572 Dieses Ziel ist durch eine Erziehung durch Sport zu erreichen. 569 Bereits 1903 findet man jedoch einen Hinweis zur individuellen Gestaltung des Turnens der Knaben. Neben den Zielen der „Tatkraft und Ausdauer“, des „Mut[s] und Besonnenheit“, gilt es jedoch, „als Ziel […] aber immer die Erziehung der Schüler zur Selbständigkeit im Auge zu behalten.“ (Rein (Hrsg.), Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, S. 265) Auch Gaulhofer/Streicher verfolgen dieses Ziel mit ihrem Ansatz des „Natürlichen Turnens“. (Gaulhofer/Streicher, Natürliches Turnen) 570 Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 34. 571 Diem, SAR, Hochschule für Leibesübungen, 1947, S. 59. 572 Diem, OF 3, Weihe des Ehrenmals, 1935, S. 1613. 168 5.3.3.1 Methodisches Prinzip: Erziehung durch Freude oder Erziehung durch Schmerz? Diem postuliert, dass körperliche Erziehung Freude machen muss, da sie sonst wirkungslos bliebe. „Das wichtigste ist nicht ein einheitliches Ausbildungssystem, sondern ein frischfröhlicher sportlicher Geist.“573 Er beruft sich bei dieser Forderung, die allerdings in der NS-Zeit nahezu verschwindet, auf sein deutsches Vorbild Goethe: „Er hatte über den Sportunterricht seine Erfahrungen gesammelt und daraus seine ‚Erziehungsmaxime’ aufgestellt, ‚dass alles der Jugend auf eine leicht, lustige und bequeme Art beigebracht werden müsse’.“574 Diem verweist häufig auf Goethe575 und sieht sich in dessen Tradition. Goethe war jedoch im Gegensatz zu Diem wirklich Humanist und sieht im Sport seinen Selbstzweck576, den Diem wenn überhaupt nur vordergründig als Legitimation anerkennt. Zweifelhaft ist jedoch, ob jeder Sportler, vor allem bei einer nicht freiwilligen Teilnahme, wie es z.B. im Sportunterricht der Fall ist, an Diems Sport Freude findet, da er sehr zweckmäßig ausgerichtet ist. Außerdem muss es nicht für jeden Sportler Freude bedeuten, an seine Grenzen zu gehen und diese immer wieder neu zu erweitern. Diese Freude wird nur einigen zuteil, die im (höchst-)leistungsorientierten Sport treiben ebenso aufgehen wie Diem. Häufig schließt Diem von seinem Empfinden und seinem sportlichen Ehrgeiz auf das allgemeine Volk, in dem unterschiedlichste Motive zum Sport treiben vorhanden sind. Den Aspekt der Freude greift Diem nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf und macht ihn zu einem wichtigen Punkt im Unterrichtsgeschehen. „Der Sportunterricht muss im Zeichen des Frohsinns stehen und von einer gehobenen Stimmung eines freundschaftlichen Beisammenseins erfüllt sein.“577 Da Diem nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr explizit Gewaltanstrengungen wie Marathon etc. fordert, ist dieser Anspruch an den Sportunterricht leichter zu 573 Diem, Sport, 1920, S. 19. Dazu auch Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 110: „Da aber jede mit Freude ausgeführte Bewegung ihr körperliche Wirkung hat, entstehen geschulte Leiber.“ Und S. 276: „Die Hauptsache für den Gymnastikunterricht ist frohes Leben.“ 574 Diem, OF 1, Sport und Geist, Vortrag in einer Sportversammlung als Antwort auf eine Goethe-Versammlung, 1927, S. 150. 575 Z.B. in Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 12: „GOETHE, der Sänger von allem was unsere Brust bewegt, ist uns auch Prophet und Sänger des Sports.“ 576 Siehe dazu z. B. Kindermann, Das Goethebild des 20. Jahrhunderts, S. 618: „‚Und überall hier bricht noch in der Rückschau durch den förmlichen Altersstil hindurch befeuernd und belebend die quellende Freude an der eigenen Schnellkraft und Gewandtheit.’“ 577 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 27. 169 erfüllen als mit Inhalten, die an bzw. über die körperlichen Grenzen der Schüler gehen. Im Gegensatz zu einer Erziehung durch Freude steht die Erziehung durch Schmerz mit dem Ziel der Härte. Dies ist ein Aspekt, der für Diem einen hohen Stellenwert innerhalb der Erziehung durch Sport einnimmt. Diems Ansicht nach bereitet der Sport besondere Lust, wenn die Übungen Schmerzen bereiten. „In der seelischen Hingabe wird der Schmerz zur Lust.“578 Intensives Sport treiben kann demnach das Empfinden von Schmerzen in einen positiven Zustand wandeln. Die Voraussetzung dazu beschreibt Diem mit „seelischer Hingabe“, erklärt dies jedoch nicht näher. Er geht sogar einen Schritt weiter, indem er die Bedeutung des Sports mit der Freude an Schmerz verknüpft. „Sport bedeutet eben Zielstrebigkeit und Vergeistigung. Sport bedeutet Freude an Kampf und Schmerz.“579 Durch den Schmerz werden die Sportler zur Härte erzogen, zunächst einmal zur Härte gegen sich selbst. Diem sieht die Erziehung zur Härte als wesentlich in der männlichen Charakterentwicklung an. „Ich stehe nicht an zu sagen, dass eine Knabenerziehung ohne Faustkampf unvollkommen ist! Faustkampf ist ein wichtiges Charakterbildungsmittel. Er erzieht zu dem, was der Mann braucht, zur Härte, zum Wagemut und zur Selbstbeherrschung.“580 Mit dieser Ansicht liegt er sehr nah an der Vorstellung Hitlers über die Erziehung der Jugend. „In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zartes an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. […] Aber Beherrschung müssen sie lernen.“581 Diese Ausführungen fordern ebenfalls eine Erziehung zur Härte. Gegenüber Diem ist die Wortwahl jedoch weitaus brutaler und menschenverachtender. Diem möchte zu dem Idealbild eines Manns in seinem Sinn erziehen, Hitler zu einem 578 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 76. 579 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 115. 580 Diem, OF 1, Sport und Geist, Vortrag in einer Sportversammlung als Antwort auf eine Goetheversammlung am 6. April 1927, 1927, S. 146. Kursivdruck im Original. 581 Hitler zitiert in Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, S. 138. 170 Raubtier. Die Charaktereigenschaft der Härte ist allerdings eine für Diem und Hitler Wesentliche. Zur Ausbildung dieser Härte fordert Diem die Bewältigung von Gewaltleistungen wie Gepäckmarsch oder Marathonlauf, den er sehr häufig als Beispiel verwendet. „Daher ist der Gewaltmarsch, der Marathonlauf und vergleichbare Anstrengungen durchaus Pflicht im Ausbildungsplan männlicher Jugend.“582 Dieser Verpflichtung, über seine Grenzen hinaus zu gehen, diese Anstrengung bewältigt zu haben, schreibt Diem eine wichtige pädagogische Wirkung zu. „Jeder junge Mann muss einmal durch diese Schule hindurch, es ist für ihn ein wichtiges pädagogisches Ereignis, wenn er an sich erprobt, dass seine Leistungsgrenze weiter gesteckt ist, als er glaubte, und wenn er zum erstenmal sich selbst überwindet, obwohl alles in ihm zum Aufgeben drängt.“583 Diem sieht diese Bewältigung von extremen Anstrengungen uneingeschränkt positiv und zieht nicht in Betracht, dass diese Anforderungen, auch wenn erfolgreich überstanden, ebenso negativ wirken und abschreckende Wirkung haben können. Die Sporterziehung Diems beruht demnach auf dem Prinzip der Höchstanstrengung584, dies ist leitend für jedes Ausbildungsgebiet, sowohl in der Schule als auch im Vereinssport auf Breiten- und auf Leistungssportebene. Dieses Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch die Werke Diems aus der Zeit der Weimarer Republik bis zu den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. In Bezug die Erziehung zur Härte ist auch seine Forderung nach Höchstleistung zu betrachten, da der Sportler, um eine individuelle Höchstleistung zu erbringen, immer verpflichtet ist, seine eigenen Grenzen weiter hinaus zu schieben. Ein weiteres Zitat belegt dies. „Nur Rekordstreben gibt Härte, nur in ihm liegt Wert für Wachsen und Wollen. Höchstanstrengung löst Wachstumsreize aus.“585 582 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 78. 583 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 77. 584 Dazu auch Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 47: „Wenn es flott eine halbe Stunde lang über den federnden Waldboden dahingeht, ab und zu im Satz über einen Graben, über einen Busch, Berg hinauf, hinab, dann müssen die Lungen noch ruhig ihre Arbeit verrichten, das Herz darf seinen Takt nicht gar zu sehr beschleunigen, und nicht einen Augenblick darf der Körper das Empfinden der Schwäche haben. Wer so seinen Waldlauf bewältigen kann, für den ist es ein Genuß, der schöpft Wohlgefühl aus der anscheinend harten Arbeit.“ 585 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 114. 171 Zur Durchsetzung dieser Erziehung zur Härte fordert er die Trainer auf. „Ja, im Geschliffenwerden empfindet ein gesunder Mensch eine Art grimmigen Vergnügens. Und so kann es dem Übungsleiter nicht erspart werden, seine Pflegebefohlenen einen Strich über das hinauszutreiben, was sie selbst sich zumuten würden.“586 Diem ist sich bewusst, dass nicht jeder Sportler bereit ist, seine Grenzen zu überschreiten, da dies oft auch schmerzhaft ist. Daher soll der Übungsleiter die Sportler über ihre Grenzen „hinaustreiben“. Er erachtet diese Erfahrung als so wichtig, dass jeder Sportler diese machen soll und das auch fremdbestimmt durch den Trainer. Die Erziehung durch Schmerz soll zu einem Ideal führen. Dieses Idealbild, das Diem propagiert, verknüpft, wie häufig bei Diem zu finden, Sport und Krieg. „Vor ihrem Auge steht ein menschliches Ideal, dem sie zustreben: ein Mensch, der sich vor Anstrengung, Gefahr und Schmerzen nicht fürchtet, ja, der sie aufsucht, um sie zu bestehen. Wie nennt man ein solches Ideal? Es ist ein soldatisches Ideal. Sport ist freiwilliges Soldatentum.“587 Eine sehr gegensätzliche Perspektive, auf die Probleme einer Erziehung zur Härte unter Einsatz von Schmerz hinweisend, entwirft Adorno. Im Rückblick auf die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs und insbesondere auf die Judenvernichtung kritisiert er diese Art der Erziehung. Er zitiert zunächst einen Verantwortlichen von Auschwitz: „Ich erinnere daran, dass der fürchterliche Boger während der Auschwitz-Verhandlung einen Ausbruch hatte, der gipfelte in einer Lobrede auf Erziehung zur Disziplin durch Härte. Sie sei notwendig, um den ihm richtig erscheinenden Typus von Mensch hervorzubringen.“588 Hier sind Parallelen zur oben dargestellten Sichtweise Diems zu erkennen. Auch Diem hat ein Idealbild des Menschen, zu dem er erziehen möchte. Das Mittel hierzu ist unter anderem auch die Erziehung zur Härte. Adorno sieht in dieser Erziehung zur Härte allerdings die Grundlage für eine Anwendung des erfahrenen Schmerzes auch auf andere. „Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin. Dabei wird zwischen dem eigenen und dem anderer gar nicht einmal so sehr fest unterschieden. Wer hart gegen sich selbst ist, erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er 586 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 277. 587 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 115-116. 588 Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 96. 172 nicht zeigen durfte, die er verdrängen musste.“589 Die Härte, die man selbst gegen sich erfahren hat, wird also auf andere projiziert. Das, was man erfahren hat, wird als rechtmäßig eingestuft und von daher ist es auch legitim es auf andere anzuwenden. Die Erziehung zur Härte ist daher als sehr problematisch anzusehen. Diejenigen, die diese Härte gegen andere anwenden, sind, nach Adorno, geprägt von einem verqueren und pathogenen Verhältnis zum Körper. Sie werden auf „die Sphäre des Körperlichen zurückgeworfen“590. Der Körper wird zum Instrument der Gewaltausübung. Auch durch die Erziehung durch Härte, die Diem anstrebt, wird der Körper instrumentalisiert. Er soll funktionieren und das auch in Ausnahmensituationen, wie z.B. einem Krieg. Über die Folgen eines solchen Verhältnisses zum Körper reflektiert Diem nicht. Er hält kontinuierlich an diesem Prinzip fest.591 Nach Adorno ist gerade dieses Ausgangspunkt vieler Gewalttaten. 5.3.3.2 Gestaltung von Gemeinschaft „Sport ist Gemeinschaftsübung, also ist der Sportverein Voraussetzung des Sports.“592 Die Basis für jeden Athleten ist es demnach, sich in eine Gruppe integrieren zu können. Daher birgt Sport die Möglichkeiten des sozialen Lernens, da ein Vereinsmitglied sich in das System Sportverein einfügen und auch einbringen muss, vor allem wenn der Sportverein als Voraussetzung des sportlichen Tuns gesehen wird. Gerade zur Zeit des Nationalsozialismus ist es Diem darüber hinaus ein wichtiges Ziel, die soziale Erziehung zu fördern. Diese beinhaltet, das Beachten der Regeln, den Gegner zu schätzen und das Leben in der Gruppe zu lernen. „Es darf keine Körpererziehung ohne Gemeinschaftserziehung geben.“593 Dies war zu dieser Zeit sehr bedeutsam, da eigentlich alle Menschen aller Altersklassen in staatlichen Organisationen zusammengeführt werden sollten, u. a. um die Ideologie der Regierung vermittelt zu bekommen und sie zu verinnerlichen. Der Sport macht hiervon, trotz im Nachhinein getätigter, anders lautender Äußerun- 589 Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 96. 590 Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 95. 591 In „Wesen und Lehre des Sports“ (S. 69) postuliert Diem auch noch 1949: „Es wäre falsch vor jedem Erschöpfungsgrade oder jedem Schmerzgefühl aufzuhören. Bis zu einem gewissen Grade müssen vielmehr beide Erscheinungen besiegt werden.“ (Hervorhebung i. Original) 592 Diem, Sport, 1920, S. 34. 593 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 77. 173 gen von Diem, keine Ausnahme. Zunächst verlief die Gleichschaltung des Sports zu Beginn der NS-Zeit ohne Probleme. „Ohne harte Auflösungsdekrete erreichte von Tschammer überraschend schnell diese Umorganisation, unterstützt von den Turn- und Sportverbänden selbst und einem Teil ihrer Funktionäre, die sich mit Vorschlägen zur Umgestaltung anbiederten und darin häufig weiter zu gehen beabsichtigten, als der Reichssportführer es vorhatte.“594 Innerhalb des neuen Sportsystems wurden für alle Altersklassen neue Organisationen geschaffen. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf der Jugend, die in der Hitlerjugend für die Jungen und im Bund Deutscher Mädchen zusammengefasst wurde. Hier ging es neben der sportlichen Ausbildung zentral um eine Eingliederung in das System. „Verantwortung zu tragen für das Ganze – hier für die Jugendgruppe, später im Erwachsenenleben für den Staat – war die entscheidende Zielsetzung. Die eigene Person sollte ‚in den Dienst einer größeren, insbesondere der nationalen Sache’ gestellt werden.“595 Diem liegt mit der Forderung nach „Gemeinschaftserziehung“ auf einer Linie mit den Ansichten des NS-Regimes. In sozialer Kontrolle werden Übungen genauer und regelmäßiger ausgeführt und die Freude am Sport gesteigert. „Erst der Anreiz fröhlicher Genossenschaft sichert der Leibesübung die Beharrlichkeit.“596 Die Gruppe garantiert also neben der Gemeinschaftserziehung einen beständigeren Trainingsehrgeiz als er alleine zu erhalten wäre. Diem äußert sich zur Gruppeneinteilung, die für den Sportunterricht in schulischen oder außerschulischen Kontexten maßgeblich ist. Er fordert die Ausbildung der Jugend in homogenen Gruppen. Sein Ansatz ist die Einteilung der Kinder und Jugendlichen nach dem Entwicklungs- und Leistungsstand und nicht nach dem Alter. „Oder ich stelle Gruppen Gleichartiger zusammen, die ihren Mängeln entsprechende Aufgaben erhalten.“597 Diese Forderung stellt er auch bei der Einteilung in Wettkampfklassen, damit die Homogenität der Wettkämpfer untereinander gegeben ist und die Leistungen sich eher auf dem gleichen Niveau befinden, als es bei einer Einteilung nach Lebensalter gegeben wäre. 594 595 596 597 Joch, Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich, S. 721. Joch, Sport und Leibeserziehung im Dritten Reiche, S. 711. Diem, Zur Neugestaltung der Körpererziehung, 1923b, S. 34. Diem, OF 3, Ziel und Lehrweise der Ausgleichsarbeit, Vortrag auf der Deutschen Tagung für Körpererziehung, 22. bis 25. Mai 1924, 1924, S. 1466. 174 Darüber hinaus sieht Diem gerade auch bei Wettkämpfen ein größerer Reiz und auch Antrieb in einer Mannschaft zu starten als alleine. „Der einzelne gibt alles der Gemeinschaft.“598 5.3.3.3 Trainings- und Übungsmethoden Wichtig ist Diem das planvolle und zielstrebige Trainieren: „Das für unsere innere Entwicklung so unendlich Wichtige ist das Pädagogische der Trainierung, des folgerechten, beharrlichen Einübens.“599. Diem versucht, die Sportler durch Anleitung von Sportlehrern soweit zu bilden, dass sie nach einer Weile selbständig trainieren können. Dieser Gedanke taucht auch zur Zeit der Bundesrepublik wieder auf: „Der Turnunterricht ist ganz besonders dazu angetan, dass der Schüler in den Begriff der Pflicht hineinwächst, […]. Hier steht mehr als irgendwo anders der englische Erziehungsgrundsatz vor Augen: ‚Trainiere den Mann, sich selbst zu trainieren’“.600 „Die Körpererziehung ist jener Teil der Gesamterziehung, in dem sich der Selbstbildungstrieb und der Wille zur Selbstzucht am frühesten festigen lässt.“601 Damit dieses Trainieren und die Selbstzucht einen Anreiz haben, schafft Diem das Reichssportabzeichen602, das nach dem zweiten Weltkrieg dann zum Deutschen Sportabzeichen wird. Mit diesem Ziel vor Augen sollen viele Menschen zum Sport geführt werden und so dann in den Genuss der Erziehung durch den Sport kommen, die sich automatisch auch auf den Charakter des jeweiligen Menschen auswirken soll. Dies zeigt auch der Historiker Joch auf: „Alles war, wie Diem feststellt, „darauf abgestimmt, dass jedermann, von der ältesten Putzfrau bis zum jüngsten Vorarbeiter, irgendwie und irgendwann eine Verlockung zu sportlicher Betätigung empfinden sollte“.603 Diem geht auch zur Zeit der Bundesrepublik sehr planvoll vor und stellt die Zweckmäßigkeit deutlich in den Vordergrund, jede Übung, soll 598 Diem, Sport, 1920, S. 8. 599 Diem, OF 3, Lehrverfahren, Vortrag vor dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht und dem Pädagogischen Seminar der Universität Berlin, 1921, S. 1322. Dazu auch Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 63: „Im Planmäßigen liegt ein eigener Reiz.“ 600 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 17. 601 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 28. 602 Menze sagt dazu über Diems Sport: „Es gibt keine dem Individuum vorgegebenen genormten sportlichen Leistungen, an die es sich anzugleichen, die es um jeden Preis zu erfüllen hat.“ (Körperbildung und Humanismus im Werke von Carl Diem, S. 9.) Er sieht Diem demnach als einen Vertreter des Individualismus an. Diese Schlussfolgerung stimmt allerdings nur zum Teil, da Diem u.a. fordert, dass so viele Menschen wie möglich das Abzeichen nach einem längeren Trainingsprozess ablegen: „Und es wäre gut, wenn sich jeder alle Jahr einmal an den Leistungen versuchte.“ (OF 3, Stand von heute, 1941, S. 1150.) Generell ist die Sichtweise Menzes in Bezug auf Diem kritisch zu hinterfragen, einige Aspekte sind dazu bereits weiter oben (z.B. in Kapitel 4.3.7) aufgeführt worden. 603 Joch, Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich, S. 727. 175 maximalen Nutzen erzielen und so wenig Zeit wie möglich in Anspruch nehmen. „Man darf keine Übung anordnen, für die nicht ein bestimmter und in seiner Wirkung anerkannter Bildungszweck vorliegt. Jede Übung muss den für ihren Zweck höchsten Nutzwert bei geringstem Zeitverbrauch und bei höchstmöglicher Einfachheit haben.“604 „Jede Übungsstunde muss so inhaltsreich wie möglich sein.“605 Es bleibt auch nach dem Zweiten Weltkrieg bei einem sehr zielorientierten Sporttreiben. Diem fordert maximale Effektivität für jede Stunde. Damit bleibt die Sporterziehung kontinuierlich so bestehen, wie Diem sie auch schon zu Beginn seiner Schaffenszeit entworfen hat. Ein anderes Mittel, um vor allem der Jugend den Sport sinnvoll erscheinen zu lassen, sieht Diem in der Erläuterung der Ziele der Übungen gegenüber dem Schüler. Diese Methode nutzt er in der Weimarer Republik. „Man versuche nur dem Schüler den folgerichtigen Aufbau des bildenden Turnens in der Stunde selbst und über den ganzen Halbjahresplan hin begreiflich zu machen […], dann wird man sehr schnell freudige Lust auch zu diesen Übungen finden. […] Der Schüler muss wissen, warum er übt.“606 In der NS-Zeit gerät dieser Ansatz, sicherlich auch aufgrund der Ziele, die mit Sport erreicht werden sollten, z.B. einen Sport für die Masse zu schaffen oder die zielgerichtete Erziehung zur NSIdeologie durch Sport, in Vergessenheit, aber in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erneuert Diem diese Forderung. „Erkennt auch die Jugend den Nutzen solcher Übungen […].“607 Vor allem geht es Diem um die Erläuterung von Übungen, die eher langweilig zu sein scheinen, in ihrer Bedeutung für den Körper. Bei kurzweiligen sportlichen Aktivitäten, wie z.B. den Sportspielen, fällt diese Erklärung weg, da die jungen Sportler hierzu nicht überredet werden müssen. Im Ganzen wird die Methodik der Erziehung mit und durch den Sport zur Zeit der Bundesrepublik genauer definiert. Diem fordert den Lehrer auf, seine Stunden schriftlich vorzubereiten, einen Jahresplan mit mehreren kleinen Zyklen aufzustellen, Sportfeste in die Erziehung einzubauen und erneuert die alte Forderung, so lange wie möglich im Freien Sport treiben zu lassen. 604 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 51. 605 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 87. 606 Diem, OF 3, Lehrverfahren, Vortrag vor dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht und dem Pädagogischen Seminar der Universität Berlin, 1921, S. 1319. 607 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 48. 176 5.3.4 Konkrete Ziele der Erziehung Die Erziehungsziele Diems sind sehr praktisch und greifbar gestaltet. Die Erziehung soll volksnah sein, für das Volk einsehbar und nachvollziehbar, sie beinhaltet keine anspruchsvollen geistigen Ziele. Am Beispiel von der Erziehung zum handelnden Menschen und der Charaktererziehung soll gezeigt werden, wie der Sportbegriff in der Erziehung konkretisiert wird bzw. werden soll. Diem bezeichnet sein Bildungsziel als abendländisch. „Vorweg die Tatsache, dass die Körpererziehung der modernen Welt unter einem allgemeinen gleichen Bildungsziel steht, das ich das abendliche nennen möchte. Es ist das des lebenstüchtigen, kenntnisreichen, der Familie, dem Volk und dem Vaterland verpflichteten tätigen Menschen.“608 Das „abendländische Bildungsziel“ kann auch als europäische Bildungsidee bezeichnet werden, in deren Tradition sich Diem stellt. Als wichtige Aspekte nennt Diem die Familie, das Volk und das Vaterland. Die Bildung dient demnach nicht nur dem einzelnen, sondern auch dem System, in das der einzelne eingebettet ist. „Gebildet ist derjenige auf einem Gebiet oder in einer Gemeinschaft, der den Geist dieses Gebietes, dieser Gemeinschaft besitzt und aus ihm heraus sein Leben formt.“609 Auf die Bildung im Sinne Diems bezogen hieße das, sich sportlich betätigen zu können und die Werte der Gemeinschaft zu übernehmen. Als Folge aus einer konsequenten sportlichen Bildung sieht Diem ein starkes Geschlecht, das zu höherem fähig ist. „Und man erhält ein Geschlecht, mit dem man die Welt erobern kann.“610 Dieses oberste Ziel formuliert Diem schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Kaiserzeit, und der Gedanke hält sich bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Später ist er aus politischen Gründen nicht mehr zu finden. Die Kontinuität, mit der Diem an seinen Zielen in allen zeitgeschichtlichen Epochen festhält, lässt daran zweifeln, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg eine Wandlung durchgemacht hat und dieses Ziel verworfen hat. 608 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele Berlin 1936, 1936. S. 70. 609 Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, S. 146. 610 Diem, OF 3, Pflichtsport, 1912, S. 1120. 177 5.3.4.1 Erziehung zum handelnden und selbständigen Menschen Diem möchte zu einem handelnden Menschen erziehen, „Handeln ist dem Jugendlichen die wahre Welt“,611 aus seiner Erziehung sollen also Menschen entstehen, die praktisch veranlagt helfen sollen, dieses o. g. starke Geschlecht zu bilden. Dies soll durch die Aufforderung erreicht werden, die im Sport realisiert werden soll, die Jungend zu Taten und Handlungen anzuregen. Das Handeln ist ihm das Wichtigste, die Reflexion dessen, ist nicht unbedingt notwendig. „Man soll die Jugend nicht zum Sportlesen und Sportdenken, sondern zum Sporttreiben erziehen.“612 Das gleiche gilt auch für den Sportlehrer, der zwar mit guten körperlichen Fähigkeiten und vielen sportartspezifischen Fertigkeiten ausgestattet sein sollte, auf der kognitiven Ebene aber durchaus Defizite haben kann. „Der Turn- und Sportlehrer wird also nicht unbedingt ein Höchstmaß an Denkkraft benötigen; aber er braucht das, was man einen gesunden Menschenverstand nennt.“613 Auf der Grundlage eines handlungsorientierten Sportunterrichts fordert Diem die Lehrer auf, nicht viel zu erklären, sondern den Schülern die Bewegungen durch Vormachen zu zeigen. „Sei mit Worten sparsam! Sportlehrer ist ein schweigsamer Beruf: vorübe, Lehrer, rede nicht!“614 Der Sport scheint ihm zur Förderung der Tat und der aktiven Handlung das richtige Mittel zu sein, „eine Erziehung durch Handeln statt durch Hören.“615 Ein anderes Ziel seiner Erziehung ist die Förderung der Selbständigkeit. Dies gilt für die Epoche der Weimarer Republik und für die Zeit der Bundesrepublik, für den Zeitraum des Nationalsozialismus ist dieses Ziel in den Hintergrund gerückt, da es nicht in die Politik und Ideologie des Regimes passt. Mit diesen Zielen der Erziehung durch Sport möchte Diem auch den Transfer für den Alltag schaffen und die Menschen befähigen, diesen souverän zu bewältigen. „Der Sport webt an einer Lebensform, in der sich der Mensch […] zu den Aufgaben des Daseins schult […].“616 611 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 46. 612 Diem, OF 1, Grundsätze der Körpererziehung, Vortrag auf dem Kongreß für körperliche Erziehung im Rahmen der Olympischen Spiele 1936, 1936, S. 78. 613 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 80. Diese Ansicht vertritt Diem auch noch 1949 in Wesen und Lehre des Sports, S. 101: „Der Sportlehrer wird nicht unbedingt ein Höchstmaß an Denkkraft benötigen, aber er muss einen gesunden Menschenverstand besitzen.“ 614 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 86. Kursivdruck im Original. 615 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 117. 616 Diem, Ewiges Olympia, 1948a, S. 10. 178 5.3.4.2 Charakter- und Persönlichkeitserziehung Auf der Grundlage der Preußischen Pflichtethik nennt Diem als Ziel der Sporterziehung den guten Bürger. „So bildet sich der nützliche Staatsbürger, der nicht in der Masse untergehen will, sondern sich aus ihr herauszuheben strebt, der seine Fähigkeiten studiert und sie zielbewusst und hartnäckig ausbildet, der sich aber nicht als Einzelmensch fühlt, sondern als Glied der Gemeinschaft.“617 Diem fordert damit den einzelnen in die Pflicht, sich körperlich auszubilden und macht den Menschen damit Mut, dass sie dann nicht alleine da stehen werden, sondern in eine alle auffangende Gemeinschaft aufgenommen werden.618 Basierend auf den Werten, die Diem im Sport erkennt, möchte er den Sport als Erziehungsmedium nutzen. Auf der Grundlage der oben erörterten Werte wird hier nur kurz auf seine Ziele eingegangen und der Schwerpunkt auf die Erziehung zur Führerpersönlichkeit gelegt. Diem hat eine nur sehr begrenzte Anzahl von Zielen, die er durch seine Sporterziehung verwirklichen will. Zum einen sind dies die bereits genannten Ziele der Erziehung zum guten, pflichtbewussten Bürger und zur Wehrfähigkeit des Volks. Zum anderen besteht das Ziel darin, die Erziehung so auszurichten, dass sie Charakter und als dessen Veredelung „Führer“ hervorbringt, „das wertvollste Ziel: die Charakterbildung.“619 Diem sieht als einen Grund für den deutschen Missstand in der Weimarer Republik den Mangel bzw. das Fehlen von Führern an. „Den Führermangel müssen wir anerkennen, und zwar – so meine ich – werden wir so lange an ihm leiden, als wir nicht bewusst Führerpersönlichkeiten heranbilden.“620 Also aus der Not der Zeit formuliert Diem dieses Ziel und konkretisiert es sehr genau. „Wir brauchen die Erziehung zum Führer. Uns kommt es auf Männer an, mit heißer Vaterlandsliebe und warmem Herzen unter einem klaren nüchternen Kopf, Männer 617 Diem, OF 1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 117. 618 In diesem Zusammenhang kommt erneut die Wehrfähigkeit als Ziel der Erziehung durch Sport zum Tragen. „Wehrtüchtigkeit ist Voraussetzung jeder Volksleistung. Leibesübung ist eine Schule zur Bürgertüchtigkeit“ (Diem, OF 1, Was tut uns not? Denkschrift zur Feier der Grundsteinlegung des Deutschen Sportforums durch den Reichspräsidenten v. Hindenburg, 1925, S. 41) Dazu betont Diem an vielen Stellen, wie wichtig ihm ein wehrfähiges Volk ist. „Ich selbst stehe auf dem Standpunkt, dass die Wehrfähigkeit des Mannes das Hochziel aller gesunden Völker war und bleiben wird.“ (Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 95) 619 Diem, OF 3, Lehrverfahren, Vortrag vor dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht und dem Pädagogischen Seminar der Universität Berlin, 1921, S. 1322. 620 Diem, OF 1, Sehnen nach einem Führer, Einleitung der Vorlesung ‚Persönlichkeit und Körpererziehung’ an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, 1923, S. 45. 179 mit weitem Blick und hohen Zielen und mit der Kraft, sie unentwegt anzustreben. […] Wir brauchen Männer des Willens und der Tat!“621 Das Fehlen solcher Persönlichkeiten will Diem bewusst mit seiner Erziehung ändern und somit seinen Teil zur Wiedererstarkung des Deutschen Volks beitragen. Verantwortlich für diese Situation ist in der Weimarer Republik der Staat: „Wäre der Staat sich seiner erzieherischen Pflicht bewusst“622, würde er versuchen, negative gesellschaftliche Tendenzen, hier Wettleidenschaft, zu verhindern. Da der Staat also ausfällt in seiner ihm zugedachten Rolle, entwickelt Diem seine Erziehung weiter. In dieser Angelegenheit zieht er sogar die Presse als helfende Institution hinzu. Gelegentlich wirft er ihr vor, Meinungen zu manipulieren und den von ihm so verachteten Profisport positiv darzustellen bzw. diesen durch große Leitartikel populär zu machen. Zur Verbreitung seiner Idee bedient er sich ihrer als Medium und sieht sich in seinen Ideen von der Presse unterstützt. „Die Presse ergänzt also die werbende Wirkung der praktischen Betätigung auf grünem Rasen durch die zündende Macht ihrer Worte in den Ohren derer, die noch nicht gewonnen sind. Die deutsche Presse mit ihren sportlichen Nachrichten ist das mahnende Gewissen des Volkes, seine Weckrufe gelten unseren Führern und erinnern an die Pflicht, unserer Jugend eine bessere körperliche Erziehung zu geben.“623 Die beste Ausbildung, sowohl körperlich als auch geistig, erhalten Studenten an der Hochschule für Leibesübung. Von den Absolventen dieses Studiums erhofft Diem sich eben diese Führerqualitäten. „Wir hegen […] die Hoffnung, dass aus dem heutigen stud. rer. gym. dereinst ein Führer des Volkes werden wird, wie wir ihn brauchen, um uns aus den Schwierigkeiten unserer heutigen [1923; MB] Lage in eine bessere Zukunft zu gelangen.“624 Da Diem maßgeblich am Aufbau und Inhalt dieser Hochschule beteiligt war, konnte er davon ausgehen, dass das Studium, „sechs Semester wird dieses Training andauern“625, die ihm wichtigen Dinge vermittelt und demnach eine Erziehung in seinem Sinne bietet. Der Kampf spielt dabei eine große Rolle626, er ist für Diem eine Art Allheilmittel und hat daher auch in seiner Erziehung einen sehr hohen Stellenwert. „Da wir ja doch nicht den Körper nur und nur den Geist, sondern den Menschen er621 622 623 624 625 626 Diem, Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 182. Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 18-19. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 12. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 52. Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 52. Siehe Kapitel 4.2. 180 ziehen sollen, ist es notwendig, Eigenschaften wie Mut, Entschlusskraft, Ausdauer zu entwickeln, und dies geschieht nur im Kampf.“627 Durch Körpererziehung möchte Diem den für ihn bedeutsamen Willen des Menschen erreichen und verändern. „Es gilt die Sinne und den Willen zu schulen.“628 Wenn ihm das durch seine Erziehung gelungen ist, dann ist dieser Mensch dem Idealbild Diems ein Stück näher gekommen. Diese Einstellung behält Diem, ebenso wie fast alle seiner Maxime, über seine gesamte Wirkungszeit bei. Selbst in der Bundesrepublik findet man in seinen Werken noch Stellen, die auf eine gewünschte Erziehung zum Charakter oder weiter zur Persönlichkeit hinweisen. „Bewegung ist ein Schlüssel, der in die Tiefe reicht.“629 Wenn Bewegung also das Innerste eines Menschen berührt, dann kann sie auch das Innerste verändern und mit Werten und Normen anreichern, die vorgelebt und anerzogen werden. 5.3.5 Zusammenfassender Überblick Bei Diem ist eine sehr starke Kontinuität festzustellen, was seine Erziehungsmethode und seine Ziele betrifft. Der Kern bleibt im Wesentlichen immer gleich, nur setzt er regimeangepasst die Schwerpunkte anders. So lässt er den Gedanken der Freude in dem Abschnitt der NS-Zeit am Rande, widmet sich dem aber wieder verstärkt in der Zeit der Bundesrepublik. In dieser Zeit lässt er wiederum die Wehrfähigkeit des Volks als Ziel fallen. Trotzdem vermittelt sein Sport immer die soldatischen, militaristischen Werte und soll die Nationalerziehung630 fördern. Auch die Erziehungsmethoden ändern sich nicht, obwohl es vor allem durch reformpädagogische Ansätze durchaus bereits in der Weimarer Republik Alternativen gegeben hat.631 Der Lehrer macht vor, die Schüler nach. Diem behält die deduktive Vermittlungsmethode bei. 627 Diem, OF 3, Die elf Forderungen, Aus dem Bericht über die Studienreise nach USA., 20. August bis 23. September 1913, 1913, S. 1117. 628 Diem, OF 3, Erziehungswege, Vortrag vor dem Hamburger Lehrer-Turnverein e. V., 1930, S. 1313. 629 Diem, Wesen und Lehre des Sports, 1949, S. 26. 630 Dazu Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 34: „In Diems pädagogischem Konzept ist die Persönlichkeitsbildung jedoch in die Nationalerziehung eingebunden.“ 631 Zum Beispiel beschreibt Streicher, dass die Methoden in Loheland, einer Schule für Landbau, Handwerk und Körperbildung, gegründet 1912, nicht auf ein Nachahmen und die vollbrachte Leistung ausgerichtet sind, sondern auf das Erleben und Spüren der Bewegung und des Körpers. Wenn z.B. eine Rumpfbeuge durchgeführt wird, „so will es [Loheland; MB] sie [die Schülerinnen; MB] lassen, welche Gelenke, und Muskeln diese Bewegung 181 Zeit seines Schaffens bleibt er auch dem Ansatz einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung treu. Allerdings ist der Begriff Bildung im Zusammenhang mit Diems zielgerichtetem Unterricht mit Abstrichen zu sehen, da Diem in der sportlichen Ausbildung sehr planvoll handelt und wenig dem Zufall überlässt. Bildung im Sinne eines aktiv handelnden Subjekts, das sich selbsttätig bildet, ist in dem engen Erziehungskonzept Diems nicht deutlich auszumachen. Ein deutlicher Beleg der Konstanz im Denken Diems und dem von ihm propagierten Sportbegriff ist die Ähnlichkeit der Texte „Persönlichkeit und Körpererziehung“ von 1924 und „Wesen und Lehre“ des Sports von 1924. Diem hat, am Beispiel des Kapitels „Die Lehrerpersönlichkeit“ 1924 bzw. „Lehrerpersönlichkeit“ 1949 lange Textabschnitte direkt übernommen632. Ersetzt wurden Worte wie Führer, Führertum durch Lehrer, alle anderen Satzteile bleiben gleich. 1924, S. 76: „Wie im Felde der Offizier, so muss auf ihnen [den Schülern; MB] der Lehrer und Führer seine Augen überall haben, für Unterkunft und Verpflegung, im Winter für Heizung sorgen; der Führer ist der letzte, der sich bei der Verteilung Essen geben lässt.“ 1949, S. 99: „Der Lehrer muss seine Augen überall haben, für Unterkunft und Verpflegung, im Winter für Heizung sorgen. Der Lehrer ist der letzte, der sich bei der Verteilung Essen geben lässt.“ Diese Textgleichheit ist über das gesamte Kapitel zu belegen. Eine Konstanz im Denken Diems lässt sich, auch wenn Begriffe gewechselt werden, belegen. „Es wäre gewiss vorschnell, würde man in den Unterschieden der Terminologie – 1949 ‚Sportlehrer’; 1924 ‚Führer’ – nur eine Konzession an den jeweiligen Zeitgeist sehen. Vielmehr kommt in dieser Übereinstimmung der Sache nach die Kontinuität eines autoritär begriffenen Lehrer-Schüler-Verhältnisses zum Ausdruck.“633 Die gleiche Kontinuität konnte auch für das Bildungsverständnis und die methodische Aufbereitung festgestellt werden. ermöglichen, wo die Bewegung anfängt, wie sie im Körper weiterläuft, bis sie ihr Ende findet.“ (Streicher, Loheland, 1922, in Gaulhofer/Streicher, Natürliches Turnen, S. 31) Weitergehend äußert sich Streicher zu Methoden schülerorientierten und offenen Unterrichtens: „Nicht mehr vom Stoff aus, sondern vom Kind aus sollte erzogen werden. […] Die Leibesübungen sind Entwicklungshilfe, sie sollen gegebene Anlagen zur Entfaltung bringen. Die Einstellung des Lehrers darf daher weder eine rein sportliche noch eine rein gymnastische sein; […]. Man muss die Leibesübungen vielseitig erleben lassen.“ (Streicher, Das Schulturnen, S. 175-177) 632 Vgl. dazu auch Schmidt-Millard, Prometheus als Leitfigur? Notizen zum Lehrerbild bei Carl Diem aus der Perspektive sportpädagogischer Historiographie, S. 197-201. 633 Schmidt-Millard, Prometheus als Leitfigur? Notizen zum Lehrerbild bei Carl Diem aus der Perspektive sportpädagogischer Historiographie, S. 198. 182 Ein anderes Beispiel belegt dies ebenso. 1924, S. 71: „Das Reifealter und auch darüber hinaus wird nach dem Worte Sprangers beherrscht von dem Hang zum Idealisieren. ‚Idealisieren heißt, ‚die Welt aus dem Eros heraus erleben’; der Eros aber ist die Liebe zum Wertgehalt, der in der Gestalt der Schönheit aus dem Körperlichen herausschimmert und auf formende Kräfte der Natur in metaphysischen Tiefen hinweist.’“ 1949, S. 100: „Das Reifalter und auch darüber hinaus wird, wie schon aufgeführt, vom Hang zum Idealisieren beherrscht. Idealisieren heißt: die Welt aus dem Eros heraus erleben. Der Eros aber ist die Liebe zum Wertgehalt, der in der Gestalt der Schönheit aus dem Körperlichen herausschimmert und auf formende Kraft der Natur in metaphysischen Tiefen hinweist.“ Hier übernimmt Diem eine Textstelle komplett, allerdings ohne 1949 das wörtliche Zitat von Spranger zu kennzeichnen. Die Übernahme ganzer Textabschnitte ist auch an anderen Stellen des Buches „Wesen und Lehre des Sports“ nachzuzeichnen. 1924, S. 67: „Das Auftreten vor der Schülerschaft muss Willensstärke atmen, gleichgültig, ob man Ratschläge oder Befehle gibt. Äußerlichkeiten, wie das Freisich-vor-die-Schüler-Hinstellen, vor allem weit genug entfernt, so dass alle Schüler überschaut werden können und dass jeder Schüler sehen kann, eine laute, klare Unterrichtssprache mögen nicht gering geschätzt werden. Auch aus diesen Dingen spricht die Persönlichkeit.“ 1949, S. 85: „Der Auftreten vor der Schülerschaft muss Willensstärke atmen, gleichgültig ob man Ratschläge oder Befehle gibt. Der Lehrer soll sich im Sport frei vor die Schüler hinstellen, weit genug entfernt, so dass alle überschaut werden können und dass jeder Schüler den Lehrer sehen kann. Eine laute, klare Unterrichtssprache möge nicht gering geschätzt werden. Auch aus diesen Dingen spricht die Persönlichkeit.“ Diem bedient sich in „Wesen und Lehre des Sports“ allerdings nicht nur seines Buches „Persönlichkeit und Körpererziehung“. Auch zu anderen Texten lassen sich Parallelen feststellen.634 634 Untersuchungsergebnisse über die Wirksamkeit von körperlicher Ertüchtigung (1949, S. 30) übernimmt er aus dem Text „Erziehungswerte des Wettkampfs“ von 1927 (S. 179). Ebenso die Ausführungen über die einzusetzenden Reize übernimmt er aus diesem Text (1927, S. 179; 1949, S. 68). Der Leitsatz Diems, dass nur höchste bzw. maximale Anstrengung Wachstumsreize hervorrufe, ist in einigen älteren Veröffentlichungen von Diem zu finden, u.a. in „Zur Neugestaltung der Körpererziehung“ von 1923 (S. 17; 1949, S. 68). 183 Durch diese Übernahme von Textpassagen ist die Kontinuität im Denken Diems eindrucksvoll belegt worden. 5.4 Organisation und Struktur eines Sportsystems In den vorherigen Kapiteln wurde aufbauend auf die zentralen Begriffe des Sportverständnisses, Sport und Kampf, erläutert, wie und mit welchen Argumenten Diem den Sport verbreiten möchte, auf welchen Werten dies aufbaut und welche Ziele er damit verfolgt. Nun sollen die Konsequenzen geklärt werden, die dieses Sportverständnis für den Aufbau von Sport hat. Als Basis dient die Erzählung Diems „Der Läufer von Marathon“, in der Diem seine Idealvorstellung von Sport und Sportvermittlung schildert. Ausgehend von der Darstellung des idealen Sportlehrers und dessen Vermittlung soll die Struktur und Organisation des Sports gezeigt werden, die Diem als ideal ansieht. Darüber hinaus wird auf die Kontroverse von professionellem gegenüber Amateursport eingegangen, die Diem als einen wichtigen Punkt der Sportorganisation ansieht. 5.4.1 Analyse „Der Läufer von Marathon“ Carl Diem hat mit dem „Läufer von Marathon“ eine Erzählung geschrieben, die mit einem Bericht über die 72. Olympischen Spiele des Altertums, deren Wettkämpfe und Sieger beginnt und mit der Darstellung des Kampfes der Athener gegen die Perser bei Marathon fortfährt und endet. Diese Erzählung erschien 1941 im Reclam Verlag unter eben diesem Titel „Der Läufer von Marathon“. Allerdings veröffentlichte Diem im Reichssportverlag dasselbe Werk bereits fünf Jahre vorher, dieser Text hatte jedoch den Titel „Wir haben gesiegt“635. 5.4.1.1 Der ideale Sportlehrer Es wird deutlich, dass ein Protagonist der Geschichte, der Schlachtherr Miltiades, der eine reale Figur in der Geschichte um die Schlacht von Marathon ist636, Diem als Vorbild zur Entwicklung des idealen Sportlehrers dient. Er ver- 635 Diem, C. (1936). Wir haben gesiegt. Eine Erzählung aus dem Altertum. Berlin: Reichssportverlag. 636 Miltiades floh 494 v. Chr. vor dem persischen Großkönig, dessen Lehensmann er gewesen war, aufgrund seiner Beteiligung am Ionischen Aufstand, der eigenmächtigen Erweiterung seiner Herrschaft und der Übergabe der von ihm besetzten Inseln an Athen, nach Athen. Als die Bedrohung durch die Perser real wurde, ergriff Miltiades die Initiative und organisierte das Heer. Auf ihn ist die offensive Schlachtführung bei Marathon zurückzuführen. Miltiades wurde zum Volkshelden erhoben. 184 körpert viele der Eigenschaften, die Diem für ‚seinen’ Sport und Sportlehrer propagiert. Die Schilderung dieses Mannes gerät pathetisch und ausdrucksvoll, so dass die Anerkennung Diems deutlich zu merken ist. Das folgende Zitat lässt dies deutlich werden: „Ihre lustigen Stimmen verstummten, als aus einem der abseitsstehenden Zelte ein älterer Mann herbeischritt, dessen gewaltiger Brustkorb und schwellende Muskeln den geschulten Athleten verrieten. Sein Schritt war elastisch und federnd wie der eines Jünglings, seine Bewegungen von verhaltener Kraft und lässiger Anmut, seine Haut gebräunt, seine Züge scharf geschnitten. Straff spielten um seine kräftigen Backen- und Kinnknochen die Muskeln das Spiel unbändiger Energie. Er trug dem olympischen Friedensgesetz zufolge keine Waffen, aber in jeder Bewegung und in jedem Ausdruck verriet sich der hohe Militär.“637 Dieser Mann hat sich zu aller erst die (innere) Jugend bewahrt, da er noch sehr sportlich ist, und einen gut ausgebildeten Körper hat. Außerdem stellt er eine Persönlichkeit dar, er ist ein hoher Militär und vor allem ist er der Führer der Jugend. Er macht durch seinen Körper und seine Bewegungen deutlich, was und wer er ist. Die Körpersprache bringt seine Führereigenschaften zum Ausdruck und die ihn umgebenden Menschen spüren dies sofort. An der Schilderung Diems erkennt man, wie hoch er einen Mann wie diesen schätzt, der sämtliche von ihm geforderten Führereigenschaften in sich vereint. „Er war kein Mann der Worte, sondern, wie Homer sagte, Wirker der Taten.“638 Auch dies entspricht einer Forderung Diem an die Sportlehrer. Nach Diems Auffassung bewirken Taten mehr als Worte. Diese Maxime unterstützt Diem hier mit einem Wort Homers und unterstreicht damit die Berechtigung dieser These. In seinem Wesen und Ausdruck scheint der Miltiades auch Diems persönliches Vorbild zu sein, da er diese Eigenschaften selbst versucht, zu verkörpern. Weitergehend schildert er ihn als den idealen Sportlehrer bzw. Trainer, der alle Eigenschaften in sich vereinte, die man zur Erziehung der Jugend benötigt. „[...], und man sah ihn in allen Gymnasien, wo er die Jugend versammelte, sie beriet, sie trainierte und sie zu festen Korps zusammenschweißte.“639 Miltiades beweist die Omnipräsenz, die Diem von jedem Sportlehrer oder Trainer fordert. Er ist in allen Sportstätten zugegen, in denen die Jugendlichen sportlich ausge- 637 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 6. 638 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 7. 639 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 7. 185 bildet werden. Darüber hinaus hilft er ihnen bei ihren Problemen und berät sie. Auch das verlangt Diem immer wieder von den Sportlehrern, sie sollen nicht nur zur sportlichen Entwicklung beitragen, sondern den Jugendlichen auf den Weg zu einer Persönlichkeit bringen. Miltiades fördert und fordert die Jugend und lehrt den Gemeinschaftsgeist, mit dem für Diem immer das Nationalbewusstsein zusammenhängt. Vor allem 1941 bzw. in der gesamten NS-Zeit stellt die Gemeinschaft einen sehr hohen Wert dar. In den außerschulischen Einrichtungen (HJ, BdM, etc.) soll genau das geschehen, zur Gruppe „zusammenzuschweißen“. Damit einhergehend wird bei der Erziehung zur Gruppe immer auch die Einstellung geprägt.640 Für die Jugend in der Erzählung bestätigt dies das nächste Zitat: „Er war ihrer aller Freund und Führer, und ohne Worte hatte er bei ihnen das Bewusstsein erzeugt, dass sie alle zusammen die Mannschaft ihrer Vaterstadt bildeten.“641 Hier kommt die Forderung zum Ausdruck, nach der der Sportlehrer als Gleicher unter Gleichen trotzdem über den Schülern stehen soll, also seine Autorität sich auf die Sache und Person beziehen soll und nicht qua Amt gegeben ist. Die griechische bzw. athenische Jugend akzeptiert Miltiades, stellvertretend für die deutsche, die ihren jeweiligen Sportlehrer oder führer akzeptieren soll. Miltiades hat durch Taten und Handlungen die Einstellung der Jugend seiner Zeit verändert, diesen Erfolg wünscht Diem sich auch vom deutschen Sportlehrer. Wichtig ist, dass er ihre Einstellung dahingehend geändert hat, dass die Jugendlichen sich freiwillig und gerne in den Dienst des Vaterlandes stellen. Diem integriert diesen für ihn so wichtigen Wert des Patriotismus in eine Aussage über die Qualität des Sportführers. Dieser wird durch diese Eigenschaft zu dem Idealbild, an dem sich alle zukünftigen Sportlehrer orientieren können bzw. sollen. Miltiades stellt eine Symbiose zwischen Sport und Militär dar. Er verknüpft diese beiden Felder durch seine Person, die in beiden Bereichen als Führer agiert. 640 Dazu Wehler, Bd. 4, S. 761: „Die Forderung Hitlers, dass die Pflege einer ‚fanatischen Nationalbegeisterung’ in der Jugendarbeit an allererster Stelle zu stehen habe, wurde bedingungslos übernommen. Zu dieser Grundüberzeugung sollte ein Komplex von ‚Haltungen’ – so das zeitgenössische Modewort – hinzutreten, die im Verlauf einer intensiven Charakterschulung aufzubauen waren. Zu diesem nationalsozialistischen Tugendspiegel gehörten: unbeugsame Willensstärke, Härte, Kampfbereitschaft, Sportlichkeit, Entschlusskraft, Selbstbewusstsein, Wehrhaftigkeit, Gefolgschaftstreue, Pflichterfüllung, Gehorsam, Aufopferungsbereitschaft, die Verpflichtung gegenüber Volk und ‚Volksgemeinschaft’, Nation und Rasse, sowie der Glaube an Zukunftsaufgaben im Rahmen eines heroischen Geschichtsbildes.“ 641 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 7/8. 186 5.4.1.2 Vermittlung des idealen Sportverständnisses durch den Sportlehrer Den Gedanken des Patriotismus führt Diem weiter aus und überträgt ihn auf das Sportverständnis. Um den militaristischen Gedanken im dargestellten Sportverständnis deutlich zu machen, inszeniert er einige Gespräche zwischen den Akteuren, in denen er die für ihn und sein Sportverständnis wichtigsten Werte erläutern lässt. An einigen Beispielen wird dies im Folgenden verdeutlicht. Als der Führer und Lehrer Miltiades seinem Schützling zum ersten Mal die Kampfstätten von Olympia zeigt, begleitet er dies mit dem Ausspruch: „‚Siehe das Schlachtfeld deiner jungen Jahre.’“642 Miltiades nutzt keinen Sportbegriff wie Sportplatz o. ä., sondern verwendet einen militärischen Begriff. Hier findet vor dem Hintergrund des Friedensfestes der Olympischen Spiele eine Verflechtung von Sport und Krieg statt. Dies erinnert an das Festspiel Olympische Jugend von 1936643, in dem Diem genau die gleiche Verbindung knüpft. Auch der junge Athlet des alten Athens befindet sich wie die Knaben und Mädchen im Festspiel noch im Stadium des Spielerischen, das aber schon eine gewisse Ernsthaftigkeit aufweist. Aber auch der Held der Antike schlägt sofort die Brücke vom Sport zum Krieg mit den Worten: „‚Wenn nicht alle Zeichen trügen, wirst du noch ernstere [Schlachtfelder; MB] kennenlernen.’“644 Die Sportausbildung dient auch hier im Sinne der Vorbereitung auf den Ernstfall. Diem umschreibt dies an anderen Stellen u. a. mit der Forderung nach Wehrfähigkeit der deutschen Jugend. Mit der folgenden Aussage wird nochmals bestätigt, dass der Sport vor allem dem Ernstfall – Krieg – dient. „‚Tue, was du tust, ganz. Wer im Spiele zu siegen weiß, wird es auch im Ernstfalle können. Ein furchtloses Herz und ein unbeugsamer Wille sind alles.’“645 Es kommt Diem nicht nur auf die körperliche Bildung an. Vor allem der Wille ist es, den er erziehen will. Dies bestätigt ihm hier sein antikes Sportlehrer-Ideal. Auch der antike Sportlehrer sieht die Verbindung von Sport und dem alltäglichen Leben. „‚So trainiert ein Olympia-Sieger, der auch Sieger im Leben sein will.’“646 642 643 644 645 646 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 14. Siehe Kapitel 4.2.5.1 Diem, Der Läufer von Marathon; 1941, S. 14. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 14. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 15. 187 5.4.1.3 Sport und Gemeinschaft Dieses Sportverständnis prägt, in der Sicht Diems, die ganze Jugend Athens. Es wird im Spiel und Sport geübt, was man im Ernst abrufen soll und dieser Ernst ist es, auf den man hinarbeitet. Er ist das Ziel schlechthin, in dem sich die Soldaten bewähren wollen und sie können es nicht abwarten, bis der Ernstfall eintritt. „Als er die Kolonnen entlang schritt, begrüßte ihn Heilruf, denn alles Warten und Zögern war vorbei.“647 Im Krieg wird sich herausstellen, wer gut trainiert hat, und wer nicht. Es war für den Olympia-Sieger immer ein Gefechtplatz in vorderster Reihe als ehrenvoller Platz reserviert. Ein olympischer Sieg war ein Beweis seiner Stärke und Fähigkeit und da diese laut Diem auf den Krieg übertragbar sind, muss er auch ein guter Soldat sein, der würdig ist, neben dem Führer in der ersten Reihe kämpfen zu dürfen. „‚Der Sieger hat das Recht, an der Seite des Königs zu fechten.’“648 Auch diese Verbindung guter Sportler – guter Soldat ist bei Diem gegeben. Die einzelnen Sportler baten darum, sich im Kampf auszeichnen zu dürfen und wer sich hervortat, wurde auch mit Sonderaufgaben belohnt. „‚Heute kannst du dir unvergänglichen olympischen Lorbeer verdienen.’“649 Die Ehren eines olympischen Sieges sind demnach wie der erhaltene Siegerkranz vergänglich, nur die Verdienste, die im Krieg erworben wurden, halten ewig und werden zudem höher bewertet. „Und wenn ihm bisher auch olympischer Lorbeer versagt war, jetzt, als ihm, dem Schlummernden, Miltiades den Ölzweig von des Pantakles Haupte um die Schläfen band, war sein Name ins Buch der Unsterblichkeit eingetragen.“650 Der Krieg ist also in diesem Vorbildstaat Diems die höchste Stufe, auf der man sich bewähren kann. Hier kommt der von Diem viel zitierte Ausspruch Heraklits „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“651 zu seiner Bedeutung. Miltiades hat durch Training erreicht, dass seine Schützlinge nicht nur körperlich fit sind, sondern auch seine Einstellung übernommen haben und sie für sich als die richtige annehmen. „‚Wir kennen nur ein Ziel des Sports und der Spiele, alle Fähigkeiten zu steigern, auf die Gefahr von Knöchelverletzungen und Muskelrissen, und unsere Höchstleis647 648 649 650 651 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 48. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 27. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 47. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 53. Z.B. in: Erziehungswerte des Wettkampfes, 1927, S. 183, OF 3, Aufbau des Deutschen Sports, 1938, S. 1226. 188 tungen sind nur insoweit willkommen, als sie unser Hauptziel nicht beeinträchtigen, das ist: ein tüchtiger Bürger zu sein, der sein Vaterland, wenn es not tut, schützen kann. Und darum ziehen wir ein Trainingsprogramm vor, das uns militärtüchtig macht, und nur wer von uns sich wehrfähig erhält, darf in die Palästra und in das Gymnasion. Keinen Lehrer der Wissenschaften oder Leiter des Sports würden wir dulden, der nicht selbst täglich Leibesübungen treibt, und dessen Körper nicht wie von festen Muskeln gefügt ist, ohne Weichlichkeit und ohne Fett, keinen, der nicht ein Kämpfer ist mit sicherem Auge und mit harter Faust.’“ 652 Dieses Zitat bedarf keiner Erläuterung. Diem lässt hier seine Figur Miltiades aussprechen, was seine Grundüberzeugung ist. ER führt alle seine Ziele, Erreichung von Höchstleistungen, Wehrfähigkeit und Tüchtigkeit als Bürger, Lehrer, die fit sind und mit den Schülern Sport treiben, hier auf. So würde er das deutsche Volk gerne sehen. Diese Art des Sports versucht er seit seinem Kriegseinsatz und erst recht nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs in Deutschland durchzusetzen und mit der systematischen körperlichen Ausbildung der Jugend und Kinder tüchtige Bürger zu entwickeln. Im weiteren Verlauf der Geschichte vertieft er die Anschauung der Grundlagen des Sports. Diem rollt das ganze Feld des Sports, so wie er ihn gerne hätte, vor den Augen der Leser auf. Über die Darstellung, was eigentlich eine Bewegung interessant macht, versucht er den Daseinszweck des Sports zu er- bzw. begründen. „‚Schönheit ist nichts Seiendes, Schönheit ist nichts Stehendes. Erst was sich bewegt, wird wirklich schön.’“ „‚Leben ist Bewegung.’“ „‚Bewegung wiederum weckt Leben. Leben quillt aus Lebenslust, Lebenslust heißt Mut zum Leben und Handeln.’“ „‚Unter Mut verstehe ich mehr: Mut zu tapferem Handeln.’“ „‚Lebe tätig, und du wirst mutig sein.’“653 Dies ist eine Verknüpfung und Fortführung bzw. Erweiterung von Sinngebungen, wie sie für Diem typisch ist. Aus einer scheinbar künstlerischen, ästhetischen Betrachtungsweise des Sports einwickelt sich eine Argumentationskette, die schließlich wieder in der Verbindung von Sport und zumindest militärisch behafteten Werten endet, wie dem „Mut zu tapferen Handeln“. Auch bringt Diem hier noch eine andere Maxime ein. Wer sich die Welt handelnd erschließt, der wird automatisch zum Mutig-Sein erzogen, was auch ein Ziel seiner Erziehung ist. 652 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 29. 653 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 21. 189 Diem schreibt nicht über Sport, ohne dass er einen direkten Bezug zum Leben und zur Lebensbewältigung findet. Ihm geht es um die direkte Verknüpfung von Sport und Alltag und im speziellen dann um die Verbindung zwischen Sport und Kampf bzw. Krieg und dies ist im geschilderten Staat Athens gegeben. Zu Beginn der Schaffenszeit von Diem kann man dies durchaus noch als einen Legitimationsgrund für seine neu geschaffene Stelle als Sportfunktionär nachvollziehen, nur 1941, bei Erscheinen dieser Lektüre unter dem Titel der „Läufer von Marathon“ und auch bereits fünf Jahre vorher bei Erscheinen unter dem Titel „Wir haben gesiegt“, sind diese Gründe weggefallen. Es wird damit deutlich, dass diese Darstellung eine Art Glaubensbekenntnis Diems ist, dass er hiermit kaum versteckt ablegt. Diem sieht wenig andere Gründe, Sport zu treiben, als sich für das Leben zu wappnen. Nur einen anderen Grund lässt er neben diesem gelten, den der Schönheit der Bewegung. Sie hat auch bei Diem einen hohen Stellenwert. „‚Welches sind denn die höchsten Werte?’“ „‚Man kann es schwer ausdrücken, vielleicht: schön und gut sein.’“ „‚Ich sehe darin mehr Liebe zum Höchsten. Eine Liebe, die sich selbst und auch einen anderen opfern kann, wenn es der Ehre, der Gerechtigkeit und dem Vaterlande dient.’“654 In diesem konstruierten Gespräch entsteht direkt die Verknüpfung mit dem Opfergedanken. Über den Gedanken der Schönheit gelangt er zu den zunächst dargestellten höchsten Werten. Dies bleibt aber nicht so bestehen, in der weitergehenden Betrachtung ist der wahre Höchstwert, wie von Diem an anderer Stelle auch oft genannt, die Opferbereitschaft für Vaterland, Ehre und Gerechtigkeit. Diem führt seine Leser sehr geschickt über den Sport zu den für ihn wesentlichen Fragen des Daseins, und lässt seine Protagonisten Aussagen zu seinen Ansichten machen. Das läuft darauf hinaus, dass er selbst bei einem friedlichen Sportfest den Gedanken des Opfertods für das Vaterland als höchsten Wert darstellt. Niemals genügt der Sport also sich allein, er soll immer auf Höheres bzw. das Höchste vorbereiten. Die Vertreter dieses Sports sind so ausgebildet, dass sie sich als Vorbilder für die nachfolgenden Jugendlichen und Kinder sehen. „‚Der Sport hat eben zwei Gesichter, gleich einer Doppelherme, ein egoistisches und ein altruistisches, dienstbar sich selbst und den anderen. Jeder ist ein Eigenes und hat doch mit anderen etwas Gemeinschaftliches. Gerade das 654 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 22. 190 Auseinanderstrebende vereinigt sich, und aus dem Verschiedenen entsteht Harmonie.’“655 Jeder Bürger hat die Pflicht, sich körperlich auszubilden, um mit allen anderen Bürgern zusammen ein wehrfähiges Volk zu bilden. Der im Sport gebildete einzelne wird zum Vorbild der anderen. Damit die Bildung des Körpers leichter fällt, sollte das Idealbild des schönen, ausgeformten Körpers bekannt sein und als zu erstrebendes Ziel angenommen werden. „‚Wenn man Vorbild sein soll, muss dieses Ideal greifbar vor der Seele stehen.’“656 Aus diesem Grund zeigt Diem seinen Studenten an der Hochschule für Leibesübungen in Berlin Bilder von Körpern aus der Antike, die seinem Körperideal entsprechen und an denen die Studenten sich orientieren können. Auch hier ist der Wunsch Diems erkennbar, die Bildung auf ein Ideal hin auch in Deutschland bzw. im Deutschen Reich als Volksziel verwirklichen zu können. Er zeichnet hier einen Idealstaat mit einem herausragenden Führer und vor allem mit einer körperlich und geistig gut ausgebildeten Bevölkerung. 5.4.1.4 Der höchste Wert – Opferbereitschaft Aber – wie oben schon erwähnt – das zentrale Thema ist die Opferung des Lebens für das Volk. Dies beginnt schon damit, dass ein Volk Leibesübungen unter dieser Sinngebung betreibt. Zur Verdeutlichung lässt Diem einen Sportler auftreten, der diese Sinngebung des Sports nicht als die seine ansieht, von seinen Konkurrenten deswegen stark kritisiert wird und im Wettkampf unterliegt. Seinen Sinn des Sports beschreibt er so: Der Sport „‚erhöht meine Lebensfreude. Wenn ich dahinfliege im Gefühl der Beschwingtheit, dann spüre ich meine Lebensgeister angeregt und mich selbst zu höchsten Leistungen fähig.’“657 Dieser Athlet betreibt den Sport zum Selbstzweck, er betreibt ihn losgelöst von den profanen Dingen des Lebens und schon gar nicht in Hinsicht auf Kriegstauglichkeit. Seine Gegner lassen diese Sicht nicht gelten und versuchen, ihm ihre sinnvolle Bedeutung des Sports deutlich zu machen. Mit dem Sportler Xenophon zeichnet Diem eine Figur, die das Gegenteil zu dem bildet, was Diem als Ideal ansieht. Der Zweck im Sport besteht für Xenophon darin sich selbst zu genügen und sein und auch das Erlebnis seines Volkes durch seine Wettkämpfe zu steigern. Das Volk möchte ihn laufen und siegen sehen. Demgegenüber erläutert der Athlet aus Athen, Pantakles, dass alle Bürger Sport betreiben und 655 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 26. 656 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 26. 657 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 27. 191 sich somit jeder, ob Olympiasieger oder normaler Bürger, in den Dienst des Volkes stellt. Diem sieht auch die Jugend Athens als vom frühen Alter an auf das Soldatentum vorbereitet und geschult an. Dies ist ein zweckbehafteter Sport, der dem oben zitierten Selbstzweck widerspricht, das wird ganz besonders deutlich, wenn Diem von den Akteuren der Geschichte betonen lässt: „‚Soldat sein ist eine ernste Sache, die darf nicht verspielt werden. Soldatenspielen macht Scheinsoldaten, die nur zur Parade taugen, Spiel ist eine nicht weniger ernste Sache, solange es – fröhlich ist! Der Mensch hat ein Recht auf Spiel, aber dieses Spiel muss ins Leben eingeordnet werden. Und das Spiel im Sande der Palästra und über die Fläche des Stadions hinweg ist uns ein fröhliches, aber knapp bemessenes Spiel mit ernstem Hintergrund.’“ 658 Hier widerspricht Diem nochmals der These, dass Sport Selbstzweck ist. Das Spiel bzw. der Sport muss seinen Platz im Leben haben, es darf nicht nur aus Spaß nebenher betrieben werden. Als Grundvoraussetzung nennt Diem, dass das Spiel fröhlich sein muss, aber es soll auf höhere Aufgaben vorbereiten, die jedem Bürger klar sein sollten. Damit verliert es jeglichen Selbstzweck, der dem Spiel eigentlich ursprünglich ist. Den gleichen Hintergrund hat auch das folgende Zitat. „‚Unser Spiel ist ernst und doch wieder nicht ernst, es muss gewissermaßen eine Spannung der beiden Pole sein, das Ernste muss Spiel bleiben. Es muss unterschieden sein, vom Ernst des Kampfes, man darf sich zwar an dieses Spiel hingeben, aber nur für den Augenblick, nur zur Ausfüllung oder meinetwegen Krönung der Freizeit, um das Leben abzurunden, aber nicht, um es zu erfüllen. Man muss fröhlich gewinnen und heiter verlieren. Wenn man im Augenblick sein Bestes gab, dann hat man sich selbst und seinem höheren Zweck genügt.’“659 In dem Augenblick, in dem man sich dem Spiel hingibt, ist Fröhlichkeit Voraussetzung. Allerdings erfüllt man den höheren Sinn, der vom Spiel verlangt wird, nur, wenn alle Kräfte mobilisiert werden. Dies ist eine von Diems Grundeinstellungen, er schreibt dem Sport die besten Reize physiologisch und psychologisch zu, wenn man bis 658 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 37. Diese Einstellung Diems bestätigt auch Teichler (Der Weg Carl Diems vom DRA-Generalsekretär zum kommissarischen Führer des Gaues Ausland im NSRL, S. 54.): „Diem war ursprünglich Gegner jeder Soldatenspielerei im Sport. Vernünftig betrieben sei er, auch ohne besondere Ordnungsübungen, die beste Vorbereitung auf das Soldatenhandwerk.“ 659 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 30. 192 an seine Leistungsgrenze geht. Dadurch erfüllt man ebenso die Rolle als Vorbild für seine Mitbürger, die sich in gleicher Art und Weise entwickeln sollen. Deswegen ist ein Zweck des Sportlers auch: „‚Eben Vorbild zu sein seinen Mitbürgern und der heranwachsenden Jugend.’“660. Zur Verdeutlichung seiner höchsten Werte Opferbereitschaft und Vaterlandsliebe schildert Diem diese Legende. Der olympische Sieger dieser Geschichte, der das Recht hat an der Seite des Feldherren zu kämpfen, rettet denselben. „Da warf sich mit einem letzten Satz Pantakles zwischen die Kämpfenden, sein Schwert drang dem Feind in die Seite, aber der Hieb, der seinem Feldherren und Lehrer gegolten hatte, streifte seine eigene Stirn.“661 Der Soldat gibt seinen eigenen Körper für den seines Führers hin und nimmt in Kauf, selbst verletzt oder getötet zu werden. Er ordnet sich unter die Sache, den Sieg des Vaterlandes, das Leben des Führers etc., da er sie höher ansieht als sein eigenes Leben. Nachdem er seine Pflicht im Kampf erfüllt hat, fordert er sein Recht als Olympiasieger: „Aber der bittende Zwang dieser Augen ist stärker als die Besorgtheit des Führers. Hier steht der Sieger von Olympia und fordert für sich die Ehre des Siegkünders[...].“662 Der Siegbote bricht nach dem Überbringen der Nachricht tot zusammen. „Sein junges, ruhmreiches Leben hatte er dem Vaterlande geopfert, seine Stirn, die den Olympischen Ölzweig getragen, ruhte auf den Stufen der Götter.“663 Die größte Ehre, die einem Soldaten zukommen kann, ist demnach, nach erfüllter Pflicht für das Vaterland zu sterben. Dieser Olympiasieger hat allerdings mehr als nur seine Pflicht getan. Er ist in seinen Leistungen über sich hinausgewachsen. Genau das fordert Diem auch von den deutschen Sportlern und vor allem Soldaten, die diese Lektüre lesen sollen. „‚Der Tod ist schön, wenn ein Mann ihn als Held erleidet, als Held im Tod fürs Vaterland.’“664 Hier verniedlicht Diem den Schrecken des Todes erheblich. Als „schön“ bezeichnet er den Tod, genauso wie er vorher einen Wert des Lebens als „schön und gut sein“ nennt. Auch nimmt er mit der Bezeichnung „Held“ dem 660 661 662 663 664 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 30. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 56. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 57. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 58. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 60. 193 Tod etwas von seiner Endlichkeit, ein Held lebt durch seine Taten weiter. Diese Aussage deckt sich mit der Intention des Festspiels Olympische Jugend. Das soldatische Ethos betont Diem an allen Stellen seine Lektüre. Auch Alkemeyer sieht hier eine Propaganda des Opfertods: „Im Zeichen des Marathonläufers sind Lauf, Krieg und Heldentod verschmolzen: Nachdem er die Nachricht vom Sieg der Athener unter Miltiades über die Perser bei Marathon überbrachte, soll der Überbringer der Botschaft der Sage nach tot zusammengebrochen sein.“665 5.4.1.5 Konsequenzen für Struktur und Organisation von Sport anhand der Erzählung „Der Läufer von Marathon“ Der ideale Staat, der Werte wie Patriotismus, Wehrfähigkeit und Opferbereitschaft fordert, bringt den idealen Sportlehrer (hier Miltiades), der zugleich auch ein angesehener und hoher Militär ist, hervor, der wiederum die Jugend nach seinem Bilde zu Persönlichkeiten erzieht, die diese Werte als ihre eigenen übernehmen. Der Staat bildet also Voraussetzung und Grundlage zum Aufbau des Sports. Er sollte die Basis schaffen, damit es möglich ist, eine Sporterziehung durchzuführen. Einmal sollten die Einrichtungen vorhanden sein, wie Sportplatz, Sporthalle, Schwimmbäder, Spielplätze etc., um Sport betreiben zu können. Zum anderen sollte in der Bevölkerung ein Bewusstsein geschaffen werden, dass Sport Pflicht eines jeden Bürgers ist. Wenn diese beiden Grundvoraussetzungen gegeben sind, bedarf es nicht mehr viel, um einen Sportstaat zu schaffen. In der Erzählung bezieht Diem seine Aussagen auf Athen. Allerdings sieht Diem in Sparta das Vorbild eines Sportstaats, so dass davon ausgegangen werden kann, dass er seine Vorstellungen nicht auf Athen sondern auf Sparta bezieht. Diem schildert in seiner Lektüre den idealen Sportlehrer, der nur Kind seines Volkes ist, aber sich durch bestimmte Charaktereigenschaften, Willen etc. zu einem Sportführer entwickelt hat. Anhand dieser Figur erläutert er die Werte, die ihm bei einem Sportlehrer wichtig sind, die dieser aber eingebunden in ein System weitergeben und somit die kommende Generation ausbilden soll, um aus ihr wieder die Sportführer der nächsten Generation zu rekrutieren. 665 Alkemeyer, Gewalt und Opfer im Ritual der Olympischen Spiele 1936, S. 73. 194 Wenn Diem Führer als Sportlehrer fordert, bedeutet dies, dass der Sport nicht als Selbstzweck betrieben werden kann. Das Prinzip des Führers beruht auf der Tatsache, dass es viele gibt, die ihm folgen, die Gefolgschaft bilden. Ein Führer soll die Jugend auf ein Ziel hin ausbilden. Ideal für Diem ist es demnach, dass Sport einen zentralen Stellenwert in der Gesamtgesellschaft bekommt, damit jeder Bürger es als seine Pflicht ansieht und es zur Selbstverständlichkeit wird, sich zu ertüchtigen und sich sportlich und damit auch körperlich auszubilden. Dies ist auch im Bildungsansatz Diems wiederzufinden, den er selbst als ganzheitlich ansieht, der jedoch reduziert ist, da der Ansatz stark zu einer mehr körperlichen als geistigen Ausbildung tendiert. Zudem ist der Sport dann vom Staat als wichtig erachtet. Seine Verankerung im politischen, staatlichen System ist ein Punkt, den Diem befürwortet. Zeit seines Lebens hat er sich dafür eingesetzt, den Sport als einen wichtigen Mittler für Werte und Normen darzustellen und zu propagieren. Die Stellung des Sports und die Stützung durch den Staat, wie in der Erzählung dargestellt, scheint die Idealvorstellung für Diem. Diese wurde im System des Nationalsozialismus annähernd erreicht. 5.4.2 Der Amateur- gegenüber dem Berufssport Ein weiterer Punkt, der wichtig für die Organisation des Sports ist, sind die Anmerkungen über den Berufssport. Für die Struktur spielt es eine wesentliche Rolle, ob es einen bezahlten Leistungssport mit Ligen von ausschließlich Berufssportlern gibt oder das gesamte Sportleben durch den Amateurgedanken geprägt ist. Die Profession im Sport stellt das Böse bzw. Negative dar, mit dem jeder in Kontakt kommt, dem aber die guten Menschen standhalten. „Aber darin zeigt sich ja gerade, was uns zu Menschen macht, die Freiheit des Menschlichen Willens, das Böse zu tun oder es zu lassen, das Gute zu übersehen oder es zum Lebensziel zu machen. […] Das Dasein ist ein immerwährender moralischer Kampf zwischen beiden. Den Beweis, dass der reine Materialismus eine Niedrigkeit und zugleich Dummheit ist, liefert uns, wenn wir nur sehen wollen, der echte Sport, das saubere Spiel.“666 In diesem Zitat macht Diem sehr umfassend einige Aspekte deutlich. Generell schildert er das Leben als einen Kampf, dem der Mensch zwischen Gut und Böse ausgesetzt ist. Der Mensch zeichnet 666 Diem in ADL, Das Spiel, S.164. 195 sich hierbei als menschlich aus mit dem Bewusstsein, sich für Gut oder Böse zu entscheiden. In der Ansicht, dass, wie unten noch gezeigt wird, der Profisport das eigentliche Wesen des Sports zerstöre, macht er den Materialismus als Ursache allen Übels aus. Für Diem zählt eindeutig das Amateurideal. „Gleich der Entwicklung in der Neuzeit den Weg vom vierschrötigen Athleten bis zum feingliedrigen Sportsmann durchmachte, um dann im muskelprotzigen Berufsathleten zu entarten.“667 Auch die körperliche Ausbildung der „Profisportler“ betrachtet er negativ. Diems Ansatz668, dass der Sport dem Leben dienen soll und nicht das Leben dem Sport, wird mit dem Berufssport außer Kraft gesetzt, so dass er diese Entwicklung nur negativ sehen kann. Ebenso Preisgelder669, die gezahlt werden, sind für ihn ein Kritikpunkt, da sie Athleten dazu verleiten, sich nur noch auf den Sport zu konzentrieren und versuchen, damit den Lebensunterhalt zu verdienen. Dieses hat dann negative Wandlungen des Sports zur Folge. „Da allgemeines Körpergewicht automatisch den Stoß verstärkt, ist auch Kraftschule gegeben und wird nur von denjenigen unglückseligen Irrsinnigen unterlassen, die nicht um des Kampfes, sondern um des Preises willen boxen und nach einer günstigeren Gewichtsklasse streben.“670 Ein allzu hohes Preisgeld verdirbt demnach den Charakter des Sports. Dessen „Wesen […] besteht unabdingbar im Geistigen = der Freiheit im steigerungsfreudigen Tun um ihrer selbst willen, was jeden materiellen Grund ausschließt.“671 Preise sind demnach nur nebensächliches Beiwerk. Auch die öffentliche Angabe von Preisen zur Mitgliederwerbung oder Präsentation eines Vereins hält Diem für verwerflich und stellt sich öffentlich dagegen. „Vor kurzem hat ein Verein, zu des667 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 7. 668 Diem bezieht sich hier oft auf seine griechischen Vorbilder. In „Wir haben gesiegt“ (1936b, S. 11 und 35) lässt er zum einen den „Führer“ Miltiades sagen: „Der Sport muss dem Leben dienen und nicht das Leben dem Sport.“ Und zum anderen legt er dem Athleten Pantakles folgende Worte in den Mund: „Der Mensch hat ein Recht auf Spiel, aber dieses Spiel muss ins Leben eingeordnet werden.“ Und auch in „Körpererziehung bei Goethe“ (1948b, S.322) kommt der Satz vor: „Damit klingt Goethes Eislebenslied in die wichtige Mahnung aus, die wir auch im Sport zu beherzigen haben, dass wir ihm zwar unsere Zeit widmen […], dass wir ihm aber auch seine Grenze setzen: er soll dem Leben dienen und nicht das Leben ihm.“ Ebenfalls in „Ewiges Olympia“ (1948a, S. 280) kommt der Satz vor: „Der Sport soll dem Leben dienen und nicht das Leben dem Sport!“ 669 Generell ist Diem ein Gegner des Preisgelds. Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 18: „Was man auch sagen mag: bezahlter Sport ist kein Sport und wird auch dann kein Sport, wenn man die Einnahmen angeblich oder wirklich dem echten Sport zuführen will.“ Allerdings schätzt Diem Preise, die keinen materiellen Wert besitzen, sehr hoch ein. Diem, Sport, S. 23: „Wer aus diesem Lebensabschnitt [„Vollreife“; MB] nicht einen Kranz oder eine schöne Sporterinnerung ins spätere Alter hinübernehmen kann, hat sein Leben nicht voll ausgelebt.“ 670 Diem, Theorie der Gymnastik, 1930b, S. 202. 671 Diem, SAR, Sport, 1953, S. 8. 196 sen Mitgliedern ich mich sonst mit Stolz zähle, eine Werbenotiz an die Zeitungen geschickt, in der er rühmend die hohe Zahl seiner Preise verkündet. Ich möchte nicht verfehlen, als Vorsitzender dieses Vereins urbi et orbi zu verkünden, dass ich diese Art der Werbearbeit missbillige, sie für unvornehm, für töricht halte, und dass mir die Zeit leid tut, die jemand auf das Zählen von gewonnenen Klubpreisen verschwendet hat.“672 Diese Äußerung stammt bereits aus dem Jahr 1906, sodass diese Einstellung „Gegen die Preisjagd“ (Titel des Artikels) durchgängig bei Diem vorhanden ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg möchte Diem, ähnlich wie bei den antiken Olympischen Spielen, bei denen es keine Belohnung außer einen Ölzweig und die Ehre gegeben hat, diese wieder für den Sport erreichen und kritisiert nach wie vor das Profitum. Diem sieht im Berufssport eine „bezahlte Schaustellung mit mehr oder weniger ehrlicher Befolgung der technischen Sportregeln und leider vielfach verbunden mit Geschäftsgeist, Käuflichkeit, moralischer Fäulnis“.673 Wer sich also für sportliche Leistungen bezahlen lässt, erweist damit eine moralische Schwäche und kann kein Sportsmann im Sinne Diems sein. Die Sportphilosophie der heutigen Zeit erkennt Preisgelder als die Honorierung einer Leistung durchaus an. Externe Motive dürfen allerdings nicht überwiegen. Der Hauptantrieb zum Sport treiben sollte im Sport selbst oder bei der Teilnahme am Wettkampf im sportlichen Vergleich mit anderen Athleten liegen. Sollten jedoch externe Motive überwiegen, werden die Werte des Sports als zweckfreier Bereich nicht gewahrt. Den Sport der fünfziger Jahre sieht Diem „durch das Einschleichen der Vergnügungsindustrie von einer tödlichen Krankheit befallen“.674 Was genau er mit dieser „Vergnügungsindustrie“ meint, bleibt unklar, allerdings ist zu vermuten, dass er sich auf professionell durchgeführte Sportveranstaltungen bezieht, bei denen Antritts- und Preisgelder bezahlt werden, und die den Zuschauern etwas bieten wollen. Zudem gibt er den Medien die Schuld, diese Tendenz noch zu unterstützen und den Sportvertretern, da sie sich nicht vehement dagegen wehren. „Tödlich, wenn sich der Sport und vor allem seine Vertretung im öffentlichen Leben nicht ernst und erfolgreich gegen den Missbrauch wehrt, der der Menge tagtäglich im Kino, Rundfunk, in der Zeitung vor Auge und Ohr geführt wird.“675 Den Grund für die steigende Bereitschaft zur Bezahlung von 672 673 674 675 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 70. Diem, SAR, Sport, 1953, S. 11. Diem, SAR, Sport, 1953, S. 11. Diem, SAR, Sport, 1953, S. 11. 197 sportlichen Leistungen liegt nach Diem ebenfalls in der Gesellschaft und in Tendenzen der hohen Bewertung von materiellen Dingen.676 „Für den Einbruch der Gewinnsucht in den Sport gibt es eine Erklärung, nicht Entschuldigung: die Überbewertung des Wirtschaftlichen gegenüber dem Geistigen in unserem gesamten öffentlichen Leben.“677 Er erkennt hier also, dass der Sport durchaus immer als Spiegel der Gesellschaft zu sehen ist678, sein Ansatz der Änderung liegt allerdings beim Sport und der soll dann auf die Gesellschaft wirken. Durch ein Subsystem des Ganzen möchte Diem versuchen, auch Gesellschaft zu ändern. Auch wird in diesem Zitat erneut die Kulturkritik Diems deutlich, hier konkretisiert an der Kritik des auf wirtschaftlichen Erfolg fokussierten Gesellschaftssystems. Diese Tendenzen bringen den Sport dazu nicht mehr das zu sein, als was Diem ihn ansieht: „adelige Freizeiterfüllung“679. Er sieht durch die Neigung zum Berufssport einen Niedergang des Sports voraus und dieser wird auch die Olympischen Spiele betreffen. Der wahre Geist des Sports kann für Diem nur im Amateursport liegen. Mit diesem Ideal verbinden sich für ihn alle positiven Charaktereigenschaften, die er durch Sport vermitteln möchte. Berufsport dagegen zeichnet sich durch moralisch schwache Athleten aus und daher wird der Sport an dieser Tendenz zugrunde gehen. „Es gibt nur einen Amateursport. Berufssport ist kein Sport. Was unter seinem Namen segelt, ist der Todeskeim für den echten Sport. Nur am Amateursport wird der Sport der Welt die Kraft der Dauer haben. Am Berufssport wird er, werden aber auch die Olympischen Spiele zugrunde gehen.“680 Diem vergisst bei seiner Abwertung seine eigene Befrachtung des Sports. Ihm geht es zwar darum, den Menschen zu adeln, dies soll aber durch eine Charakter- und Körpererziehung geschehen, die er mit Werten und Eigenschaften geprägt hat. So sind Preisgelder vielleicht ein sehr offensichtlicher Anreiz Sport zu treiben, Erziehung zur Wehrfähigkeit ist aller676 Diem sieht diese Tendenzen stärker im Sport vorhanden denn im Turnen (er trennt dies 1955 noch): Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 55: „Man kann dies [Leib als Träger des Lebens ist heilig; MB] an der sittlichen Ausrichtung, die im Turnen gepflegt wird, beweisen und erkennen, dass sich deswegen das Turnen erfolgreicher als der Sport gegen die Krankheitserscheinungen unserer Kultur zu behaupten weiß.“ 677 Diem, SAR, Sport und ganzmenschliche Erziehung, 1955, S. 54. 678 Dazu Beckers, Bewegungskultur – Kultur und Bewegung, S. 13f: „Sowohl die Regeln als auch das Ziel dieses Sports stimmen mit den in unserer Gesellschaft gültigen Werten überein, Sport ist ein Abbild und damit auch ein Spiegel der Gesellschaft.“ Kursivdruck im Original. 679 Diem, SAR, Sport, 1953, S. 11. 680 Diem, SAR, Um die Reinheit des Amateurs, 1956, S. 30. 198 dings genauso wenig zweckfrei. Eine weitere Kritik, die Diem vorbringt, richtet sich gegen die Selbstsucht der Profisportler. So lässt Diem den Korinther Xenophon, der sich einzig seinem Laufsport widmet und nicht wie die Athener als Soldat zur Verfügung steht, in der Erzählung „Der Läufer von Marathon“ sagen: „‚Ich denke noch nicht an einen Sohn, sondern nur an mich selbst und mein Gefolge.’“681 Diese Bezogenheit auf sich selbst macht Profisportler unfähig, sich einer nach Diem höheren Sache zu widmen, nämlich dem Staat und diesem auch im Ernstfall mit der Hingabe des eigenen Lebens zu dienen. Diem möchte durch das Festhalten an der Amateurregel zu aller erst die Jugend schützen. Für ihn ist es wichtig, dass Sport dem Leben dient, wie oben dargestellt, und daher fordert er: „Der Sport darf nicht Beruf und Berufsersatz sein. Die Amateurregel soll […] den Vollmenschen sichern, der Beruf und daneben Sport im Tagesablauf vereinen kann, ohne sie zu vermischen. Vor allem aber soll sie die ehrgeizige Jugend vor der Verlockung zum Missbrauch sportlichen Könnens schützen, denn ‚alle olympischen Siege der Welt sind keine verpfuschte Lebensbahn wert’.“682 Er ist besorgt, dass die Jugend sich zu sehr auf den Sport konzentriert und versucht damit Geld zu verdienen und dadurch eine Abwertung der Arbeit einhergeht. „Wollen wir es zulassen, dass in der Jugend der Begriff für die Würde der Arbeit verdorben wird und sie es, […], für erlaubt ansehen, statt in ehrlicher Arbeit durch Vorführung ihrer sportlichen Leistungen Geld zu verdienen!“683 Auch hier greift er wieder auf sein Vorbild der antiken Griechen (Athener, Spartaner) zurück, denen der Sport zwar wichtig, aber nicht Lebensinhalt war und sie genau darauf achteten, zuerst die alltäglichen Pflichten zu erfüllen und sich dann dem Vergnügen hinzugeben. Mit dem Beharren auf dem Amateurstatus bleibt Diem bei einem Bild vom Sport, der stark selektiv ist. Es sollte zwar die Pflicht aller sein, Sport zu betreiben, aber wirkliche Höchstleistungen werden neben der Arbeit nur diejenigen vollbringen können, die aufgrund von monetären Vorteilen mehr Zeit in Sport investieren können als andere. 681 Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 25. 682 Diem, SAR, Sportjournalismus, 1951, S. 23. Kursivdruck im Original. 683 Diem, SAR, Um die Reinheit des Amateurs, 1956, S. 28. 199 5.4.3 Zusammenfassender Überblick Sport soll eine zentrale Rolle im Leben jedes einzelnen einnehmen. Damit dies geschehen kann, muss dem Dachverband des Sports ebenfalls ein zentraler Stellenwert neben anderen Verbänden in der Politik eingeräumt werden. Vorbilder von Diem sind zum einen die antiken Griechen und zum anderen die Amerikaner684. In beiden Gesellschaften sieht er den Sport in der Stellung, in der er ihn auch in Deutschland bzw. dem Deutschen Reich sehen möchte. Dazu ist es notwendig, Sportplätze in Städten anzusiedeln und den Bürgern Sport als Selbstverständlichkeit zu vermitteln. Wie im antiken Griechenland sieht Diem den Sport nur als Amateursport als einzig richtig an. In diesem Punkt ist Amerika kein Vorbild für ihn. Zur Vermittlung dieses Sports sieht Diem Sportlehrer als ideal an, nach dem Bild seines Protagonisten Miltiades in der Erzählung „Der Läufer von Marathon“, die die Jugend nicht nur körperlich ausbilden, sondern zu einer Persönlichkeit führen sollen. 684 Dazu Diem, Sport in Amerika, 1930a, IX: „Man sucht nicht nur etwa Krankheitserreger zu beseitigen, sondern vor allem die Menschen gegen Krankheit widerstandsfähig zu machen. Öffentliche Spiel- und Sportplätze sowie Schwimmbäder und unvergleichlich großartige Einrichtungen dieser Art im gesamten Schulwesen sind ein Mittel dazu.“ 200 6 Zusammenfassung und Fazit 6.1 Sport im Spannungsfeld von Kampf und Spiel Carl Diem war einer der bedeutendsten Funktionäre des deutschen Sports. Es gelang ihm, den Sport in der deutschen Gesellschaft des ausgehenden Kaiserreichs zu etablieren und groß zu machen. Als „Pionier der Sportverwaltung entfaltete Diem eine rege Produktion von Ideen, Konzeptionen und Gesetzentwürfen, die dem Ziel galten, die Infrastruktur für den Sport zu verbessern bzw. überhaupt erst herzustellen […] und Anreize zum Sporttreiben zu schaffen.“685 Carl Diem hat „mehr als ein halbes Jahrhundert lang maßgebliche Impulse für die Entwicklung der Sportorganisationen, des kommunalen Sports, der Olympischen Spiele, der Sportlehrerausbildung und der wissenschaftlichen Bearbeitung des Sports in Deutschland und in der Welt gesetzt“686. Diese Impulse haben u. a. dazu beigetragen, dass der Sport heute auf eine vielschichtige Organisation zurückgreifen kann und es die wissenschaftliche Ausbildung im Sport in der bestehenden Form gibt. Der Sport in Deutschland hat letztlich den hohen Stellenwert, den er heute besitzt, Carl Diem zu verdanken. „Was den wissenschaftlichen Teil seiner Tätigkeit betrifft, [ist anzuerkennen; MB], dass Diem das Verdienst zukommt, in entscheidendem Maß daran beteiligt gewesen zu sein, Grundlagen für die sachliche und institutionelle Entwicklung der Sportwissenschaft an deutschen Hochschulen zu legen.“687 Er war einer der Begründer der wissenschaftlichen Annäherung an den Sport und verhalf ihm damit wesentlich zu der wissenschaftlichen Anerkennung, die er heute hat. Daher gilt Diem auch als Pionier der modernen Sportwissenschaft.688 Er war somit Mitbegründer der Sportwissenschaft und deren Verankerung an deutschen Hochschulen. 1947 gründete er die Deutsche Sporthochschule in Köln und sorgte damit dafür, dass nach dem Zweiten Weltkrieg diese Wissenschaftsdisziplin weiter Bestand hatte. In dieser Arbeit ist nicht die Person und Biographie Diem Thema, sondern sein Werk. Fokus der Betrachtungen war der Sportbegriff Diems. Es ist festgestellt worden, dass Diem zeitlebens geprägt war von den Erfahrungen in seiner 685 686 687 688 Baur, Stellungnahme der Expertenkommission zu Werk und Person von Carl Diem, S. 76. Lück, Der Briefwechsel zwischen Carl Diem und Eduard Spranger, S. 149. Baur, Stellungnahme der Expertenkommission zu Werk und Person von Carl Diem, S. 78. Vgl. Bernett, Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung, S. 32. 201 Jugend689. Die Werte des Kaiserreichs hat er verinnerlicht und kontinuierlich verfolgt. Man findet seine Äußerungen zum Nationalismus und Militarismus, der Wertschätzung des Militärs und einer Anerkennung eines für alle geltenden Führer bzw. Monarchen in den Texten aus allen politischen Zeitabschnitten seines Lebens. Darüber hinaus lassen sich gehäuft in den Texten der Weimarer Republik, aber auch in Publikationen aller anderen zeitgeschichtlichen Phasen Passagen zur Demokratiefeindlichkeit, Kritik der Moderne im allgemeinen und des technischen Fortschritts im Arbeitsprozess im speziellen und eine kulturkritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Bildungssystem erkennen. Der Monarchie als Staatsform steht Diem positiv gegenüber. Er sieht es als wichtig an, dass es einen Führer gibt, der mit Macht ausgestattet ist und für seine ihm untergebene Gruppe verantwortlich ist. Dieses System erkennt Diem nicht nur im Großen als eine sinnvolle Form der Staatsführung an, sondern das Modell überträgt er auf das System des von ihm organisierten Sports. Gerade im Jugendsport ist es ihm wichtig, dass es „Führer der Jugend“ gibt, die durch das leuchtende Vorbild lernen sollen. Die Aspekte der Kritik an der Moderne, am Bildungssystem, der Glaube an einen Führer und die Überzeugung, dass dem Deutschen Reich ein führender Platz in der Weltherrschaft gebührt, die durchgängig in seinen Werken zu finden sind, zeigen, dass Diem in die Tradition der Kulturpessimisten zu stellen ist. In seinen Werken lassen sich nahezu alle Ansichten finden, die den Kulturpessimismus auszeichnen. „Durchweg ging es um eine schwärmerisch verklärte Rückbesinnung auf gefährdete nationale Kulturwerte.“690 Auf der Grundlage der Texte zweier Kulturkritiker wurde gezeigt, welche Ansichten diese gesellschaftliche Strömung ausmachen. Zum einen wurde dies am Beispiel Paul de Lagarde bearbeitet. „Der Göttinger Gelehrte, der ausgedehnte Kenntnisse des Koptischen und Syrischen besaß und eine Unzahl wissenschaftlicher Spezialstudien verfasst hatte, war einem breiteren Publikum als grimmiger Zeitkritiker bekannt. Dabei pflegte Lagarde einen prophetischen Gestus, der zur düsteren Tonlage seiner kulturpessimistischen Ausführungen passte.“691 Das andere Beispiel, an dem der Kulturpessimismus verdeutlicht wurde, ist Julius 689 In Anlehnung an Hurrelmann wird davon ausgegangen, dass die Jugendphase ein den Menschen für sein gesamtes späteres Leben prägender Abschnitt ist. 690 Wehler, Bd. 3, S. 747. 691 Sieg, Deutschlands Prophet – Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, S. 10. 202 Langbehn. Dieser hat in seinem Buch „Rembrandt als Erzieher“ durch den zum Ideal hoch stilisierten Rembrandt versucht, den Auswirkungen der Moderne entgegen zu treten. „Die Langbehns Buch zugrundeliegende Absicht war trotz der wirren, unklaren Formulierungen unverkennbar: es verurteilte Intellektualismus und Wissenschaft, brandmarkte die moderne Kultur, pries das „freie“ Individuum sowie den wahren deutschen Aristokraten und versuchte, die Vergangenheit wiederzubeleben.“692 Diem zeigt in seinen Texten ganz deutliche Tendenzen zum Kulturpessimismus auf. Vor allem seine Kritik gegenüber der Moderne und der fortschreitenden Technisierung lässt sich eindeutig zur Kulturkritik zählen. Darüber hinaus konnte aufgezeigt werden, dass auch in den anderen Bereichen eine Nähe zum Kulturpessimismus besteht und diese Einstellung das Denken und Schaffen Diems zeitlebens beeinflusst hat und als Grundlage seines Denkens bezeichnet werden kann. Diems Biographie ist, neben den durchgängig vorhandenen Aspekten des Kulturpessimismus, gekennzeichnet durch das zweimalige Scheitern in Lebensbereichen, die ihm sehr wichtig waren. Die Schule verließ er ohne Abitur und kannte deswegen kein vollwertiges Hochschulstudium beginnen und beim Militär wurde er nach Absolvierung einer freiwilligen einjährigen Dienstzeit entlassen. Der Sport bot Diem nun die Möglichkeit, auf diese beiden Bereiche Einfluss zu nehmen. Er eignete sich, zum größten Teil autodidaktisch, Gebiete der Natur- und Geisteswissenschaften an und veröffentlichte auf der Grundlage dieser Bereiche Sport bezogene Artikel. Gleiches gilt für den Bereich des Militärs. Zum einen über Artikel, in denen er sich zur Wehrfähigkeit als Ziel der Sportausbildung äußert und später auch durch Vorträge, die er direkt vor Soldaten hält und auch über offizielle Eingaben bei staatlichen Stellen nimmt er Einfluss auf das Militär. So gelingt es Diem, über den Sport in die beiden Lebensbereiche einzudringen, deren Zugang ihm als junger Mann verwehrt wurde. Dies ist sicherlich auch als Motivation Diems anzuerkennen. Der Sport dient ihm hier als Vehikel, das ihm die Bereiche Wissenschaft und Militär eröffnet. Generell ist zum Sporttreiben aus der Sicht Carl Diems zu sagen, dass es immer zielgerichtet sein soll. Die Ziele können durchaus variieren, körperliche Fitness und Gewichtsabnahme, Training für einen Wettkampf oder eine Meister- 692 Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 144. 203 schaft und über allem schwebt im Jugendsport das Ziel der Erziehung durch den Sport zu den Werten, die Diem als wichtig erachtet. Als zentral für das Sportverständnis von Diem wurden die Begriffe „Spiel“ und „Kampf“ herausgestellt. Der Wert des Kampfes nimmt im gesamten Werk einen hohen Stellenwert ein. Die Wichtigkeit des Kampfes im Sportverständnis Diems wird auf mehreren Ebenen deutlich. Zunächst ist der Aspekt des Wettkampfes zu nennen. Sport treiben soll auf den Wettkampf hin führen. Der Wettkampf nimmt demnach eine zentrale Stellung im Sport treiben für Diem ein. Ausgenommen davon ist in Einzelfällen der Bereich des Gesundheitssports. So berichtet Diem von einem „Dicken“ beim Waldlauf, der durch die Gruppe dazu gebracht wird, die Sportart „Laufen“ weiter zu betreiben und so seine körperlichen Fähigkeiten nach und nach zu verbessern, auch wenn er sich beim ersten Lauf völlig verausgabt hat.693 Hier wird als Erfolg gewertet, dass der Mann dennoch beim nächsten Treffen wieder anwesend ist. Ansonsten ist der Wettkampf das Ziel des Athleten, das es zum einen zu erreichen und zum anderen zu gewinnen gilt. Gesteigert wird der Sieg eines Wettkampfes durch das Erringen einer Meisterschaft. Eine andere Ebene, auf der der Kampf eine wichtige Rolle spielt, ist die Beziehung zwischen Sport und Krieg. Zunächst geht es Diem darum, das deutsche Volk nach verlorenem Ersten Weltkrieg wieder wehrfähig zu machen. Hierbei soll der Sport helfen und entscheidend beitragen. Das Ziel der Wehrfähigkeit ist dann allerdings durchgängig bei Diem zu finden und wird nur in den Texten, die er nach 1945 verfasst hat, nicht mehr explizit genannt. Mit der systematischen sportlichen Ausbildung sollen unter dem Aspekt der Wehrfähigkeit gute Soldaten erzogen und ausgebildet werden. In seiner Erzählung „Der Läufer von Marathon“ sieht Diem die Wettkämpfer als Zukunft des Volks an694. Die Verknüpfung von Sport und Krieg geht soweit, dass Diem es für die Sportler und generell auch für jeden Soldaten als Ehre ansieht, für sein Vaterland zu sterben. In diesem Kontext kann auch die flammende Rede Diems gesehen werden, die er im März 1945 vor dem Berliner Volkssturm hielt. Die Verknüpfung von Sport und Krieg wird über diese direkten Bezüge hinaus ebenfalls deutlich durch die Sprache, die Diem anwendet. Die Beziehung wird dadurch noch stärker herausgestellt. Diem nutzt Begriffe wie „Schlachtfeld“ an693 Diem, OF 3, Der Dicke beim Waldlauf, 1912, S. 1395. 694 Vgl. Diem, Der Läufer von Marathon, 1941, S. 47. 204 stelle von „Stadion/Sportplatz“, „Schlacht“ als Wort für „Spiel“ und auch die Verben „aufmarschieren“, „vorrücken“ und „wiedererobern“ sind eher in kriegerischen Kontexten zu finden als in sportlichen. Als Beispiel sei hier ein bereits oben genanntes, aber für diesen Kontext sehr ausdrucksstarkes Zitat aus dem Buch „Sport ist Kampf“ angeführt. „Der deutsche Sport ist im internationalen Kampfe, wie 1912 zu Stockholm, so auch jetzt zu Göteborg, in breitester Schlachtreihe aufmarschiert, und man kann sagen, gegen 1912 vorgerückt. […] Die Expedition hat alle Hoffnungen erfüllt und Deutschlands Stellung im internationalen Sportverkehr wiedererobert.“695 Insgesamt spielt der Moment des Kampfes eine wesentliche Rolle im Sportverständnis Diems. Der andere Begriff, der die Sicht auf den Sport für Diem bestimmt hat, ist der Begriff des Spiels. Wie oben bereits verdeutlicht, stellt Diem „seinen“ Sport in die Tradition von Schillers Spielprinzip. Diem erkennt das Spiel als Basis des Sport Treibens an. Allerdings sieht er diese Basis wie auch das Prinzip des Kampfes begründet auf Trieben. Die Grundlage auf Trieben, die u.a. dafür verantwortlich sind, dass Menschen überleben, kann kein zweckfreies Spielen ermöglichen. Dies wurde ausführlich in Kapitel 4.3 gezeigt. Auch die Belegung des Sports mit Zielen wie zum Beispiel Wehrhaftigkeit, Erziehung durch Sport und Willensschulung, die generell für den Sport nach Diem gelten sollen, kann kein zweckfreies Spiel, Spiel hier als Oberbegriff von Sport, entstehen und auch der wirkliche Erlebniswert von Sport als Spiel kann nicht nachvollzogen werden. Demzufolge ist der Begriff von Spiel, den Diem entfaltet, nicht wie er schreibt, zweckfrei, sondern mit Zielen und Zwecken belegt. Daher ist eine Verankerung dieses Spielverständnisses in die Theorie von Schiller, die er in seinem „15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen“696 entworfen hat, nicht gerechtfertigt. Das Sportverständnis Carl Diems ist demnach zwar geprägt von dem Begriffspaar „Spiel“ und „Kampf“, sieht man diese beiden Begriffe jedoch als Pole, die die Sicht des Sports aufziehen, so ist eine deutliche Tendenz zum Begriff des Kampfes zu erkennen. Zudem lässt sich anhand des Festspiels „Olympische Jugend“ erkennen, dass Diem das Spiel eher dem Kindesalter zuordnet und das Phänomen im Entwicklungsgang zunehmend dem Ernst weichen muss. So 695 Diem, Sport ist Kampf, 1923a, S. 43, 44. 696 In Schiller, F. (2000). Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Stuttgart: Reclam. 205 heißen die Bilder des Festspiels „Kindliches Spiel“, „Anmut der Mädchen“, „Jünglinge in Spiel und Ernst“, „Heldenkampf und Totenklage“ und „Olympischer Hymnus“. Im Alter des Jünglings sind noch Spiel und Ernst nebeneinander existent, dann fällt das Spiel weg und der Ernst des Lebens nimmt den ganzen Platz ein. Der Kampf ist hingegen über das ganze Leben präsent, da auch im Spiel dieses Prinzip gilt. Für die Organisation von Sport hat diese Sicht auf Sport ebenfalls Konsequenzen. Die durch den Sport intendierte Erziehung verfolgt ganz bestimmte, oben aufgezeigte Werte. Diese Werte sollen nicht nur im Bereich des Sports ihre Gültigkeit haben, sondern ebenfalls in der Gesellschaft gelten. Demnach dient der Sport dem Staat und der Allgemeinheit. Der Sport sollte also fest in das staatliche Gefüge eingegliedert sein, damit er auch die erzieherischen Aufgaben für das Gemeinwohl übernehmen kann. Die Idealvorstellung eines Staates, der Sport einen hohen Stellenwert einräumt und der die sportliche Ausbildung auch auf politischer Ebene befürwortet, schildert Diem mit Athen in seiner Erzählung „Der Läufer von Marathon“697. Allerdings findet in der Erzählung eine Gleichsetzung von Sparta mit Athen statt. Diems Vorbild eines Staates ist Sparta. Durch diese Gleichsetzung werden wesentliche Aspekte der Kultur Athens unterschlagen und auch die Erziehung auf eine Erziehung zur Wehrfähigkeit reduziert. Im vorgestellten Staat treibt jeder Bürger eine Art von Sport und alle sind somit körperlich fit und in der Folge auch wehrfähig. Damit sind Ziele erreicht, die Diem für das deutsche Volk auch erreicht sehen möchte. Gerade nach dem Ersten Weltkrieg ist seine Motivation, durch Sport zunächst die Bürger zu stärken und damit dann im zweiten Schritt auch den Staat. Zur Zeit des Nationalsozialismus kam die Organisation des Sports Diems Vorstellungen sehr nahe. Es fand eine enorme Aufwertung des Sports statt, in den Schulen wurde die Anzahl der Sportstunden erhöht und Sport zum Pflichtfach im Abitur. Auch im alltäglichen Leben sollte Sport einen höheren Stellenwert einnehmen, besonders unterstützt durch die Organisationen „Hitlerjugend“ und „Bund deutscher Mädchen“.698 697 Diem, 1941, Der Läufer von Marathon, Leipzig: Reclam. 698 Vgl. Joch, Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich. 206 6.2 Aktualität des Sportbegriffs von Carl Diem In seinen ganzen Werken ist übergreifend über alle Ziele, Inhalte und auch in Bezug auf die beiden maßgeblichen Begriffe seines Sportverständnisses das Menschenbild Diems zu erkennen. Diem geht von einem ganzheitlichen Bild des Menschen aus. „Das eine dürfen wir heute schon entnehmen, dass Körperbau und körperlicher Lebensablauf auf das ursächlichste mit unserem geistigen und seelischen Leben verbunden ist.“699 Diese Sicht ist eine für das Kaiserreich und nachfolgend die Weimarer Republik eine eher ungewöhnliche. Vor allem die Schulen waren gekennzeichnet durch eine sehr stark auf das kognitive Lernen fokussierte Ausbildung. Die Erziehung der Weimarer Republik hielt weitgehend an autoritären Vorstellungen der Kaiserzeit fest. Mit dem Bild, das Diem entwirft, liegt er tendenziell in der Nähe der Reformpädagogen, die eben diesen Ansatz auch zum Ursprung ihrer reformpädagogischen Ansätze machten. „Mit dem Idealbild einer proportionierlichen, harmonischen Entwicklung aller Anlagen […] bewegt sich Diems Pädagogik des Wettkampfs durchaus im traditionellen Fahrwasser der klassischen Bildungsidee, wie sie etwa von Humboldt oder Kant formuliert wurde.“700 Aufgrund dieser vorherrschenden, nahezu ausschließlich kognitiven Ausbildung in den Schulen kritisiert Diem diesen Zustand, vor allem zur Zeit der Weimarer Republik als für Diem die aktuelle Situation stark von dem seiner Vorstellungen abwich. Das Menschenbild Diems ist in der heutigen Zeit sehr gegenwärtig. Gerade die Ergebnisse der PISA-Studien zeigen ein Land auf dem ersten Platz, in dem eben nicht nur kognitiv gelernt wird, sondern anhand von Projekten sowohl kognitiv als auch erfahrungsorientiert. Andere Aspekte der Auffassung Diems sind heute ebenso noch aktuell. So geht Diem davon aus, dass er durch Sport Werte und Normen vermitteln kann und so zur Persönlichkeit des Athleten bzw. Schülers beitragen kann. Hier sei ein Bezug zu den Rahmenvorgaben des Faches Sport gegeben. Der leitende Auftrag ist in einer Doppelfunktion formuliert: „Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport“ und „Erschließung der Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur“701. Hier wird eindeutig die Forderung erhoben, nicht nur Sport zu vermitteln, sondern durch Sport die Persön699 Diem, Persönlichkeit und Körpererziehung, 1924, S. 30. 700 Schmidt-Millard, Ist eine „Pädagogik des Wettkampfs“ pädagogisch vertretbar?, S. 237. Kursivdruck im Original. 701 Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in NRW – Sport, 1999, Frechen: Ritterbach Verlag. S. XXIX. 207 lichkeit jedes einzelnen Schülers mit entwickeln zu helfen und ihn bei diesem Prozess zu unterstützen. Die Forderungen, wie z. B. nach einer ganzheitlichen Erziehung, nach der Vermittlung von Werten im Sportunterricht, nach der Erziehung zur Handlungsfähigkeit, sind also im Vergleich mit Diem, sehr ähnlich geblieben. Das Ziel und der Weg der Erziehung haben sich jedoch nahezu vollständig geändert. Dies gilt auch für den Bereich des außerschulischen Sports. Hier stehen Schlagworte wie „mündiger Athlet“ und „demokratisches Training“ im Mittelpunkt der Trainingsmethodik. Der Athlet soll also zu einer Selbständigkeit herangezogen werden, mit der er sein Handeln verantworten und steuern kann. „Der Athlet sollte, ja muss die letzten Entscheidungen über sein Handeln und seine Einsatzbereitschaft, über das Maß seines Engagements selbst treffen können. Idealerweise sollte er entscheidungsmündig, ein „mündiger Athlet“ sein, der eigenmotiviert, eigenengagiert und eigenständig entscheidet, handelt.“702 Beim Athleten, und vor allem beim Spitzenathleten, sollte also Trainingsbelastung, Umfang und Intensität aus freien Stücken gewählt sein. Dies geht noch über das von der Schule geforderte Maß an Selbständigkeit hinaus und vor allem über alle Forderungen Diems. Das Training im Sinne Diems sieht nur in sehr begrenztem Maße eine Beteiligung der Athleten bei Entscheidungen vor. In der Regel geben die Trainer vor und die Athleten führen aus. Der heutige Athlet soll dazu angehalten werden, frei über sich selbst zu bestimmen, sein Training mitzugestalten und sein Tun auf jeden Fall zu reflektieren. Hier besteht allerdings in der Praxis noch ein Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der gerade in Sportarten wie Turnen, Gymnastik etc. sehr groß ist, da die Sportler bzw. Sportlerinnen noch sehr jung sind und die Trainer oft einen autoritären Führungsstil haben, der eine Selbständigkeit nicht zulässt. Die Selbständigkeit führt dazu, dass die Athleten ein „demokratisches Training“ genießen können. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass „die Athleten mitbestimmen können, indem sie in der Diskussion zwischen Trainern, Betreuern und betreuten Athleten Vorschläge und Anregungen machen können, die der allgemeinen Diskussion unterworfen und auf diese Weise bewertet werden; idealerweise wird dann sogar in einer Art Meinungsbild sozusagen eine infor- 702 Lenk, „Mündiger Athlet“ und „demokratisches Training“, S. 489. 208 melle Abstimmung erzeugt, die allerdings nicht nur nach Gesichtspunkten der Mehrheitsbildung, sondern nach den „vernünftigeren“ Argumenten entschieden wird; dieser partizipatorische und kooperative Stil des Trainings stützt sich zentral auf Eigeninitiative, Eigenentscheidung und Selbständigkeit der Athleten im Training.“703 Hier besteht ein extremer Gegensatz zu Diems Meinung, der die Athleten durch den Trainer führen lassen möchte und der diesen auch die Werte vermittelt, die ihm bzw. dem Staat wichtig sind und nicht individuell auf jeden einzeln eingeht. Dennoch ist die Vermittlung von Werten im Sport ein aktuelles Thema. Aktuelle sportwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass gerade der Sport ein Feld zu sein scheint, in dem soziale Kompetenzen erfolgreich gelernt werden können. Hier besteht dann, parallel zu Diem, ebenfalls ein Bezug zur Gesellschaft. Zwar heißen die Ziele dann nicht mehr „Opferbereitschaft“ und „Unterordnung unter einen Führer“ etc. sondern „Kompromissbereitschaft“ und „Teamfähigkeit“. Ein anderer Aspekt des Sportverständnisses Diems ist ebenfalls sehr zeitgemäß. Diem hat sich stets dafür eingesetzt, dass es im Hochleistungssport nicht zu einer von ihm sogenannten „Rekordsucht“ kommen sollte. Höchstleistung seien sinnvoll und die Krönung einer jeden Sportkarriere. „Im Rekord erfüllt sich der jugendliche Drang nach Meisterschaft.“704 Daher ist der Rekord durchaus erstrebenswert. Allerdings darf es nicht zu einer Jagd nach diesem kommen, da sonst alleinig z.B. die gelaufene Zeit im Vordergrund steht und nicht die Leistung des Athleten. Im heutigen Spitzensport scheint sich allerdings vieles nur um diesen Rekord zu drehen. Der gleiche Anstieg bei der Tour de France wird im Jahr 2007 4,5 Minuten schneller bewältigt als im Jahr 2006, in dem auch der bestehende Rekord unterboten wird. Da dies nicht aus eigener Kraft zu erreichen ist, greifen Spitzensportler zu verbotenen Verfahren und Substanzen, zum Doping. Die aktuelle Diskussion sieht eine ganze Sportart unter dem Verdacht des systematischen Dopings. Obwohl Diem Höchstleistung als sinnvoll ansieht und dies auch als Maßgabe für das Training und den Wettkampf betrachtet, ist allein das, was der Athlet aus eigener Kraft zu leisten im Stande ist, der Honoration würdig. Für Diem ist allein schon das Sport treiben für Geld, also das bezahlte Profitum eine Pervertierung der für ihn wichtigen Werte des Sports, die im Amateurideal liegen. 703 Lenk, „Mündiger Athlet“ und „demokratisches Training“, S. 491. 704 Diem, SAR, Der Sinn des Sports, 1955, S. 18. 209 Der Gedanke Diems, durch den Sport zur Wehrfähigkeit zu erziehen, spielt heute keine Rolle mehr im Sport. Aufgrund demokratischer Regierungen in allen europäischen Ländern und nach der Auflösung des Kalten Krieges zwischen Ost und West, gibt es augenblicklich keine direkte kriegerische Bedrohung mehr, so dass der Nutzen einer eventuellen Wehrfähigkeit nicht ersichtlich ist. Außerdem ist die Bevölkerung heute viel sensibler, was das Ziel der Wehrfähigkeit angeht, da aus der Vergangenheit gelernt wurde, sich als Volk nicht erneut für die Wünsche nach Weltherrschaft eines Diktators benutzen zu lassen. Das Ziel der Wehrfähigkeit im Sinne Diems ist deshalb völlig entfallen. Auch das mit dem Sport verfolgte Ziel jeden einzelnen zu einem tüchtigen Bürger auszubilden, ist heute nicht mehr aktuell. Diem hatte eine feste Vorstellung, welche Eigenschaften diesen Bürger ausmachten, diese galt für alle Deutschen. Die Individualität des einzelnen ist heute gegenüber dem Gedanken, dass man als einzelner eine Pflicht gegenüber dem Staat zu erfüllen hat, vorrangig. Das Bewusstsein hat sich dahingehend geändert, dass in der Demokratie der Bürger sein Recht auf freiheitliche Gestaltung seines Lebens nicht durch Ziele begrenzt sehen will, die eine Obrigkeit vorgibt. Der einzelne versucht seinen Lebensweg individuell gestalten. Dennoch gibt es für die Gesellschaft wichtige Werte, wie z.B. Teamfähigkeit (siehe oben), die durch Sport vermittelt werden können. Der Wert der Opferbereitschaft ist ebenfalls wie die Erziehung zur Wehrfähigkeit nicht mehr gegenwärtig in unserer heutigen Gesellschaft. In Deutschland steht ein Menschenleben über allem. Ausdrücklich steht der Schutz des Lebens über dem Erreichen eines Ziels der Obrigkeit. Es gibt für den größten Teil der Bevölkerung kein denkbares „höheres“ Ziel, wofür es lohnt, sein Leben zu opfern.705 Dennoch ist die Problematik des Opfertods eine aktuelle. Trotzdem kann man den von Diem propagierten Opfertod nicht mit aktuellen Attentaten gleichsetzen. Diem geht es zwar darum für eine Sache zu kämpfen, er reduziert diesen Kampf auf einen Wettkampf von Mann gegen Mann, Volk gegen Volk bzw. auf 705 Siehe auch Textpassagen aus einem Live-Mitschnitt des Songs „Sunday, bloody Sunday“ von U2: “They talk about […] the glory of the revolution, the glory of dying for the revolution. Fuck the revolution! They don’t talk about the glory of killing for the revolution. What’s the glory in taking a man from his bed and gunning him down in front of his wife and his children. Where’s the glory in that? […] to leave him dying or crippled for life or dead under the rubble of the revolution? Where’s the glory in that?” 210 einen Kampf von Trägern des gleichen Leistungsniveaus706. Der Opfertod, den Diem in beiden Weltkriegen als heldenhaft ansieht, ist demnach nicht zu vergleichen mit dem von Selbstmordattentätern. Damit soll sein Ideal des Opfertods nicht verharmlost werden, sondern der Unterschied dargestellt werden. Vor allem im Hinblick auf die Rede, die Diem am 18. März 1945 vor dem Berliner Volkssturm hielt, darf die Idealisierung des Opfertods nicht bagatellisiert werden. Innerhalb dieser als flammend beschriebenen Rede wurde der Opfertod als Heldentat dargestellt. Viele der in den letzten Kriegstagen nach der Rede in den Einsatz geschickten Jugendlichen und Alten starben. In dieser Situation ist sicherlich kritisch anzumerken, dass Diem in seiner Position die Sinnlosigkeit dieses Einsatzes hätte sehen müssen und auch den hoch stilisierten Opfertod der vor allem Jugendlichen als völlig überflüssig hätte einschätzen können. Leider blieb eine öffentliche Stellungnahme oder Reflexion der Rede seitens Diem aus. Die Bereitschaft ein Opfer zu bringen, ist generell zu verknüpfen mit einer vorhandenen Urteilsfähigkeit im Blick auf die (gerechte) Sache, für die das Opfer gebracht wird. Diese Urteilsfähigkeit wird von Diem nicht thematisiert. Eine Obrigkeit gibt hier vor, worin die (gerechte) Sache besteht. Der einzelne hat sich im Sinne Diems nur einzufügen und bedingungslos seinen Führern zu folgen. Das Sportverständnis Diems weist in seinen Inhalten Zeit seines Lebens bzw. Schaffens, denn nur das kann beurteilt werden, eine hohe Kontinuität auf. In vier grundverschiedenen politischen Epochen zeigt der Sportbegriff zwar leicht unterschiedliche Nuancierungen, im Grossen und Ganzen bleiben die Hauptmerkmale gleich. So ist der Grundgedanke von Diem aufgespannt zwischen den beiden Begriffen Spiel und Kampf. Die Tendenz geht dabei allerdings deutlich zum Kampf. Damit werden auch zweifelhafte Werte wie Wehrhaftigkeit und Opferbereitschaft vermittelt. Leichte Unterscheidungen in der Pointierung der Aspekte des Sportverständnisses sind festzustellen in Bezug auf das politische und gesellschaftliche System der jeweiligen Zeit, so wird im Nationalsozialismus der Wert des Kampfes sehr pointiert, in der Demokratie des Nachkriegsdeutschlands da- 706 Diem, OF1, Wesen und Wert des Sports, 1933, S. 112: „Ich kämpfe mit dem Gegner nicht als Person, sondern er stellt für mich den Träger jener idealen Leistung dar, die meinem Körper vergleichbar ist und die zu überbieten mir ein Ansporn sein kann.“ 211 gegen ist es der Gedanke des Spiels. Diem passt sich dem jeweiligen System an707 und kann somit an der Spitze des Deutschen Sports verharren. Er ist nicht bereit, seine Stellung für eine Durchsetzung seines Sportbegriffs, der zumindest in der BRD in Bezug auf die Werte im Kern deutlich von den Werten der Gesellschaft abweicht, aufzugeben. 707 Dazu Buss/Nitsch, Carl Diem (1882-1962), S. 311: „Diese Anpassungsfähigkeit [an die unterschiedlichen politische Systeme; MB] führte bis zu einem moralischen Tiefpunkt. Diem war in der Lage, einerseits noch im März 1945 „in einer flammenden Rede […], in der viel von Sparta und Opferbereitschaft vorkam, zum siegreichen Endkampf gegen die deutschen Feinde“ aufzufordern und andererseits sich nur wenige Wochen später im Mai 1945 bereits wieder dem ehemaligen Kriegsgegner Sowjetunion für den demokratischen Neuaufbau des Sports zur Verfügung zu stellen; gleichzeitig bemühte er sich ohne Scham um die Mitwirkung bei der Reorganisation des IOC auf internationaler Ebene.“ 212 7 Literaturverzeichnis Adorno, T. (1971). Erziehung nach Auschwitz. In T. 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