Document 18413
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Umschlag: Visitenkarte vom Hotel „Polonia“ (1964), ehemals Hotel „Vier Jahreszeiten“, in der Nähe des Breslauer Hauptbahnhofes. Aus dem Familienalbum von Frau Ursula Bader, das Ihr vom Bruder 1964 nach seinem ersten Besuch im polnischen Breslau mit Bildern und Kommentaren zur verlorenen Heimat zugesandt worden ist. Architekturvermittlung im gebauten und medialen Raum Internetbasierte und PrintPrint- Stadtführer zur Stadt Breslau (Wrocł (Wrocław) nach 1945 vom Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt genehmigte Dissertation vorgelegt von Dipl.-Ing. Piotr Kuroczyński aus Łódź (Polen) Referent: Prof. Dipl.-Ing. Manfred Koob Korreferent: Prof. Dr. Bruno Arich-Gerz Einreichung am 24. November 2009 Disputation am 26. Februar 2010 Darmstadt 2010 D 17 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis i Vorwort iv Vorstellung der Kapitel v Einführung vi 1..... Kapitel 1 1.1. Architektur und Erinnerungskultur 1 1.1.1. Gedächtniskunst und Erinnerungskultur 1 1.1.2. Individuelles und kollektives Gedächtnis 2 1.1.3. Gedächtnisort, Erinnerungsraum und Erinnerungsort 5 1.2. Architektur und Darstellungsmedien 8 1.2.1. Die Materialität der Architektur - die gebaute Architektur und das Modell 9 1.2.2. Das Wort der Architektur - die Sprache und der Text 12 1.2.3. Die Sicht der Architektur - Skizze, Zeichnung und Perspektive, Fotografie und Film 15 1.2.4. Die Digitalisierung der Architektur - die Computerdarstellung 20 1.2.5. Die Publikation der Architektur - die analoge und digitale Veröffentlichung 22 1.2.6. Der „Reiseführer“ als Medium der Raumaneignung 24 1.3. Der kulturelle Raum Breslau/Wrocław 30 1.3.1. Breslau - Der Bruch des Jahres 1945 30 1.3.2. Grenzverschiebung 32 1.3.3. Evakuierung, Flucht, Vertreibung und „Repatriierung“ 33 1.3.4. Wrocław - Historiografie mit den Mitteln der Architektur 39 1.3.5. Mechanismen der kulturellen Aneignung des Raumes 43 2..... Kapitel 54 2.1. Stadtaneignung durch Medien 54 2.1.1. Zeitungen, Zeitschriften und Periodika 54 2.1.2. Bildbände 56 2.1.3. Zwischen Bildbänden, Stadtführern und Sachbücher 59 2.1.4. Fach-, Sachbücher und Nachschlagewerke 62 2.1.5. Literatur 65 2.1.6. Wettbewerbe und Ausstellungen 69 2.1.7. Radio 71 2.1.8. Film und Fernsehen 75 2.2. Analyse der Printstadtführer nach 1945 85 2.2.1. 85 „Führer durch Breslau“ (1946) Sonntag, 22. November 2009 i 2.2.2. „Breslau, Brieg, Trebnitz, Zobten“ (1948) 88 2.2.3. „Vier Spaziergänge durch Breslau“ (1952) 91 2.2.4. „Führer durch die Baudenkmäler Breslaus“ (1956) 95 2.2.5. „Führer durch Breslau“ (1960) 99 2.2.6. „Breslau – Stadtführer durch die alte und neuzeitliche Stadt“ (1963) 103 2.2.7. „Breslau – Stadtführer“ (1970) 108 2.2.8. „Breslaus – Stadtführer“ (1972) 110 2.2.9. „Breslau und Umgebung – Stadtführer“ (1976, 1980, 1989) 113 2.2.10. „Breslau – Stadtführer“ (1993) 118 2.2.11. „Breslau – ein praktischer Stadtführer“ (2001) 122 2.2.12. „Breslau – Touristik ohne Barrieren“ (2003) 125 2.3. Analyse der Internetportale (2009) 129 2.3.1. www.wroclawcitytour.pl 129 2.3.2. www.wroclaw.pl 133 2.3.3. www.dolny.slask.org.pl 139 3..... Kapitel 147 3.1. Gegenüberstellung der „Printstadtführer“ nach 1945 147 3.1.1. Strukturierung 147 3.1.2. Gestaltung 148 3.1.3. Vermittlung 150 3.2. Gegenüberstellung der „Internetstadtführer” 160 3.2.1. Struktur 160 3.2.2. Gestaltung 162 3.2.3. Vermittlung 165 3.3. Vergleich der Print- und Internetstadtführer 171 3.3.1. Konstanten und Veränderungen 171 3.3.2. Stärken und Schwächen 173 4..... Kapitel 176 4.1. Medientechnologische Tendenzen bei der Stadtvermittlung 176 4.1.1. Die Stadtführer von Morgen 176 4.1.2. Szenarien für Breslau 180 Resümee 185 Anhang 1 Abkürzungsverzeichnis 1 Literaturverzeichnis 2 Akademischer Werdegang Sonntag, 22. November 2009 15 ii Sonntag, 22. November 2009 iii Vorwort Die vorliegende Studie ist die redaktionell überarbeitete, inhaltlich jedoch unveränderte Fassung meiner Dissertation, die im November 2009 vom Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt angenommen wurde. Gemeinsam mit dem Textband liegt der Arbeit ein umfangreicher Bildband vor. Die zahlreichen Illustrationen dienen dabei in erster Linie als Lesehilfe, nicht als sachlicher Bestandteil der Doktorarbeit. Die Abbildungen, soweit sie nicht eigenen Fotografien entsprangen oder überarbeitet wurden, haben ausschließlich im Sinne des Bildzitats Verwendung gefunden. Das Thema der vorliegenden Arbeit geht auf mein Architekturstudium und die anschließende Mitarbeit am Fachgebiet „Informations- und Kommunikationstechnologie in der Architektur“ von Prof. Manfred Koob zurück, sowie auf die eigene Erfahrungen mit der Migration und die Begegnung mit Herr Hermann Scholz, dem Großvater meiner Frau, der als Vertriebener mein Interesse indirekt auf die Stadt Breslau lenkte. Mein besonderer Dank gilt Herr Prof. Manfred Koob, der mir die Leiter stellte, die Arbeit mit beratendem Blick verfolgte und mir die Freiräume für längere Aufenthalte in Breslau ermöglichte. Eine tiefe Verneigung gilt Herr Prof. Dr. Bruno Arich-Gerz, der zum gelingen der Arbeit durch die aufbauenden und konstruktiven Gespräche beigetragen hat. Der Familie Olak aus Wrocław (Breslau) danke ich für die Unterstützung und Warmherzigkeit unter Ihrem Dach, die meine Forschungsaufenthalte an der Oder maßgeblich förderten. Meine Frau Miriam und Ursel Daigger haben das Manuskript gegengelesen und mich dadurch vor manchem Fehler bewahrt, Ihnen sei mein herzlichster Dank ausgesprochen. Ohne die Unterstützung und die Wärme meiner Familie wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ihr gilt meine Liebe, ihr widme ich meine Arbeit. Darmstadt, den 20. März 2010 Piotr Kuroczyński iv Vorstellung der Kapitel Einführung Die Einführung fasst in „fünf Sätzen“ die vorliegende Arbeit zusammen, postuliert die Arbeitsthesen, formuliert die Fragestellungen, stellt das Untersuchungsgebiet vor, klärt den Stand der Forschung und präsentiert die Untersuchungsmethode. 1. Kapitel Im ersten Kapitel wird einleitend die besondere Rolle des gebauten und medialen Raumes für die Konstruktion von Identität dargestellt. In Anlehnung daran werden die Medien der Architektur als Vermittlungsinstanz vorgestellt. Die anschließende Annäherung an die Stadt Breslau soll sowohl den historischen Werdegang, die daraus resultierende Eigenart, als auch die besondere Stellung der Stadt für das Forschungsanliegen aufzeigen. 2. Kapitel Die Analyse der Medialisierung der Stadt nach 1945 bildet den ersten Pfeiler der Untersuchung. Hieraus erfolgt die Auswahl einschlägiger Medien der Architektur, die unter Anwendung vorher festgesetzter Untersuchungskriterien analysiert werden. 3. Kapitel Die Auswertung resümiert die Erkenntnisse der Analyse und bricht sie auf die einst formulierten Fragestellungen der Arbeit nach dem Stellenwert der Architektur bei der Aneignung des Raumes, den relevanten Medien, der Art und Weise der Architekturvermittlung sowie den mit den Informations- und Kommunikationstechnologien einhergehenden Veränderungen herunter. Der abschließende Vergleich zwischen den Printmedien und Internetportalen zeigt die Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Schwächen und Stärken der jeweiligen Medien auf. 4. Kapitel Der anschließende Ausblick will den Versuch unternehmen, eine Prognose der weiteren Entwicklung sowie mögliche Szenarien der Raumvermittlung, auch über die Stadt und die Region hinaus, zu skizzieren. Resümee Das Resümee beinhaltet eine kurze und präzise Zusammenfassung der zentralen Aussagen und der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit. v Einführung In fünf Sätzen Bei der Arbeit geht es um die Medien der Architektur im Aneignungsprozess der Stadt Breslau nach 1945 im Sinne einer mentalen Inbesitznahme eines „fremden Raumes“1. Dazu wird das seit 1946 in Breslau erscheinende Medium der „Stadtführer“ gewählt, das per se einen fremden Raum vermittelt, in dem es eine „erinnerungskulturelle Topografie“2 medial konstruiert und seine „Benutzer konditioniert“3. Die zeitübergreifende Analyse des Printmediums „Stadtführer" und ihre Gegenüberstellung liefert ein Bild von der Entwicklung des Mediums (formal) und der erinnerungskulturellen Topografie der Stadt (inhaltlich). Der Vergleich der gedruckten Stadtführer (analog) mit den einschlägigen Internetportalen (digital) zu der Stadt Breslau soll die Unterschiede, Möglichkeiten, Konstanten, Probleme und Potentiale bei der Raumvermittlung verdeutlichen. Auf Grundlage der Untersuchung soll abschließend ein Ausblick über die mediale Raumvermittlung in der Schwellensituation des „digital age" unternommen sowie Szenarien für die Stadt Breslau aufgezeigt werden. Thesen Erinnerungskultur Der Raum nimmt in der Erinnerungskultur eine besondere Stellung ein. In ihm lässt sich das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft verräumlichen. Die Herausbildung von sogenannten Gedächtnisorten, bei denen den Orten eine identitätsstiftende Bedeutung zugeschrieben wird, dient der Lokalisierung des kollektiven Gedächtnisses.4 Jede Gesellschaft hinterlässt in ihrem Lebensraum Spuren und Zeugnisse ihres gruppenbezogenen Gedächtnisses.5 Die Architektur, als eines der symbolträchtigsten kulturellen Leistungen der Menschheit, ist gleichzeitig ein Bedeutungsträger ihrer Gesellschaft. In ihr manifestiert sich, über die Aura des Ortes an sich hinweg, ein räumlicher Ausdruck des Gedächtnisses, der zum Symbol ganzer Kulturen werden kann. Jede Gesellschaft hat ihre architektonischen Bedeutungsträger, die nach Innen Identität stiften und nach Außen ihre Größe kommunizieren. Medium Versteht man symbolträchtige Architektur als eine materielle Stütze des kulturellen Gedächtnisses, so erkennt man ihr eine kommunikative Funktion an. Ihr räumlicher Ausdruck ist ein räumliches 1 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003 2 Halbwachs, Maurice: La Topografie légendaire des évangiles en terre sainte: étude de mémoire collective, Paris 1941; Assmann, 3 Enzensberger, Hans Magnus: Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur, 12. Jg., 1958, zuletzt 4 Norá, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990 5 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992 Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992 wieder abgedruckt in einem Sommerheft von: Universitas, 42. Jg., 1987 vi Manifest. Demzufolge ist die Architektur ein wichtiges Medium der menschlichen Kommunikation. Ihre gedächtnisspezifische Funktion wird durch eine Reihe anderer Medien unterstützt und beeinflusst. Die Architekturmedialisierung unterliegt den vorherrschenden Medien eines Zeitalters und den hinter ihnen stehenden Technologien. Die technisch grundierten Medien vermitteln, errichten und etablieren den Stellenswert der Architektur auf ihre spezifische Art und Weise. Sie konstituieren eine symbolträchtige Architektur und spiegeln gleichzeitig die Bedeutung wider, die ihr in einer Zeit von einer Gesellschaft zugesprochen wurde. Der medientechnologische Wandel der Informations- und Kommunikationstechnologien führt auch in der Architekturdarstellung zu neuen Möglichkeiten der Architekturvermittlung. Die neue Virtualität der digitalen Technologien erweitert unsere Wahrnehmung auch hinsichtlich der Architektur. Der kulturelle Raum „Breslau/Wrocław“ Betrachtet man die Stadt als einen Raum, in dem im Laufe einer Siedlungskontinuität die kulturellen Träger fortwährend ihr kollektives Gedächtnis lokalisieren und materialisieren,6 dann stellt die Stadt Breslau ein besonders interessantes Untersuchungsgebiet, sowohl für die Architektur als auch ihre Medialisierung, dar. Infolge des totalen Bevölkerungsaustausches und der weiträumigen Zerstörung des Stadtgefüges hat man hier nach 1945 krampfhaft versucht, aus einer „fremden Stadt Breslau“7 eine polnische Stadt „Wrocław“ zu schmieden, die für die zusammengewürfelten polnischen Neuansiedler zur neuen Heimat werden sollte. Ihrer bisherigen kulturellen Träger beraubt, mussten die Stadt und ihre Architektur mit neuer Bedeutung gefüllt werden. In dem langwierigen Prozess der materiellen und mentalen Vereinnahmung Breslaus nach 1945 wurde von Beginn an die Architektur erinnerungskulturell instrumentalisiert und medialisiert. Aus den hier in kürze dargestellten Sachverhalten lassen sich folgende Thesen für die Arbeit ableiten: • Der Raum und die Architektur besitzen eine gedächtnisspezifische Signifikanz • Die Medien beeinflussen die erinnerungskulturelle Bedeutung der Architektur • Die Architektur wird bei der kulturellen Aneignung des Raumes instrumentalisiert Fragestellungen Fragestellungen Aus den Thesen zur Erinnerungskultur, Architektur und ihrer Medialisierung ergeben sich für die hier vorliegende Arbeit eine Reihe an Fragestellungen, die geklärt werden sollen. Zum einen werfen die Thesen die allgemeine Frage auf, welchen Stellenwert die Architektur bei der Aneignung des Raumes hat. Viele Antworten aus der Warte eines Historikers liefert hierzu das Kapitel 1.3.4. „Wrocław - Historiografie mit den Mitteln der Architektur“. Zum anderen stellt sich die zentrale Frage, welche architekturrelevanten Medien in dem Prozess der Aneignung des fremden Raumes vorrangig eine Rolle spielen. Auf welche Art und Weise etablieren und vermitteln sie eine gedächtnisspezifische Topografie anhand ihrer Präsentation der Stadtarchitektur. 6 Halbwachs, Maurice: La Topografie légendaire des évangiles en terre sainte: étude de mémoire collective, Paris 1941; Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992 7 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003 vii Welche Veränderungen und Ausblicke gewähren uns die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien hinsichtlich der Raumvermittlung. Neben der Kernfrage nach der medialen Art der Raumaneignung, ihren Grenzen und Potentialen, stellt sich die interessante Frage nach dem, was vermittelt wird. Welche Stadtbilder und Gedächtnislandschaften werden konstruiert, welche Gedächtnisorte dominieren, welche Verschiebungen und Konstanten herrschen vor? Die Leitfrage der wissenschaftlichen Auseinandersetzung richtet sich an die Architekturmedialisierung in dem Prozess der mentalen Raumaneignung. Die Arbeit widmet sich der Form und dem Inhalt der medialen Vermittlung einer Bedeutungslandschaft am Beispiel der Stadt Breslau nach 1945. Untersuchungsgebiet Das Untersuchungsgebiet der Arbeit setzt sich zum einen aus dem kulturellen Raum der Stadt Breslau, zum anderen aus der Zeitspanne zwischen 1945 und heute, sowie dem Medium der Stadtführer zusammen. Die Stadt Breslau eignet sich auf Grund ihrer neusten Geschichte besonders gut für eine Untersuchung der Aneignung eines fremden Raumes. Durch den Umstand des kompletten Bevölkerungsaustausches und dem Wiederaufbau nach den Kriegszerstörungen, wurde nach 1945 eine neue Stadt medial konzipiert und vermittelt. Bei dieser „zweiten Stadtwerdung“8 galt es infolge der Westverschiebung Polens der einstigen deutschen Stadt ihre Fremdheit zu nehmen, um an ihrer Stelle eine neue polnische Stadt zu etablieren. Die Errichtung der polnischen Stadt wurde einerseits durch den materiellen Wiederaufbau, andererseits durch die langfristige mentale Gewöhnungsphase an den vorgefundenen fremden kulturellen Raum vollzogen. Als „kultureller „kultureller Raum“ wird hier die gebaute Umwelt, von der Litfasssäule der Vorstadt bis hin zu den zentralen Symbolbauten im Zentrum der Stadt, gesehen, in der das individuelle und kollektive Gedächtnis seiner Bewohner lokalisiert und materialisiert wird.9 Der Zeitraum zwischen 1945 und 2010 markiert den Prozess einer mentalen Aneignung des kulturellen Raumes über drei Generationen polnischer Siedlungskontinuität hinweg, in dem die Medien eine Schlüsselrolle spielen. Sie wurden in den Dienst der Stadtaneignung gestellt, in dem sie die fehlende kulturelle Verbindung zu dem vorgefunden neuen Lebensumfeld der polnischen Einwohner herstellten und neue Bezugspunkte mit nationaler Konnotation in der Stadt konstruierten. Unter „Aneignung“ wird hier die mentale Überwindung der Fremdheit bei den polnischen Neuansiedlern verstanden, die infolge einer Indienstnahme des Raumes zum Zweck kollektiver Sinnstiftung und Identitätsbildung innerhalb der letzten drei Nachkriegsgenerationen vollzogen wurde. Bei der Beschäftigung mit den Medien der Architekturvermittlung sticht im Fall der Stadt Breslau eine Untermenge aus dem medialen Kaleidoskop besonders hervor. Im Hinblick auf das Jahr 1945 und den totalen Bevölkerungsaustausch wurde die zu 70% zerstörte Stadt in eine historisch einmalige Situation versetzt, in der sie vereinfachend gesagt einer Fremdenschar überlassen worden ist. Darauf gründet die besondere Bedeutung der medialen Stadtführer zu Breslau, die in der Anfangszeit vorrangig für die 8 Ebd. 9 Vgl. Anm. 6 viii eigenen Einwohner konzipiert und veröffentlicht wurden.10 Sie stellen klassischer Weise einen Zugang zum fremden Raum her, in dem sie diesen systematisch erschließen. In der Stadt an der Oder ist das Medium „Stadtführer“ eine Art „Stadtbilderklärer“ für seine Einwohner, welches bis in die heutige Zeit ein wichtiges Werkzeug der Stadtaneignung darstellt. Mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erlebt dieses Medium zur Zeit einen tief greifenden Wandel und eine Differenzierung seiner Formen. Das technisch grundierte „Medium“, „Medium“ welches im Zentrum der Betrachtung steht, wird hier durch die klassischen Printstadtführer und ihre digitalen Derivate repräsentiert, die im Sinne der Definition eines Stadtführers vom 29.08.1997 den fremden Raum vermitteln.11 Den Stadtführern werden demnach die Print- und Internetmedien zugeordnet, die der Darstellung der Stadt und ihrer einzelnen Objekte in einer Art und Weise dienen, bei der nicht nur eine Erinnerung an die Stadtbilder ermöglicht, sondern auch einigermaßen kondensiertes Wissen zu diesen vermittelt wird. Zu den einschlägigen Medien werden hier Publikationen hinzugerechnet, die vor allem einer einfachen kontextuellen Veranschaulichung des Stadtraumes für ein breites Publikum dienen. Medien, welche die vorausgegangene wissenschaftliche Aufarbeitung und anschließende mentale Aneignung des Raumes erst massentauglich und vermittelbar machten. Schließlich stellt die Architektur der Stadt den Anfangs- und Schlusspunkt des Untersuchungsgebietes dar. Das Stadtgefüge ist ein kultureller Raum, der durch die Architektur, die physischen Artefakte, seiner Einwohner besetzt und geprägt wird. Folgt man dieser Theorie, so bildet die Stadt räumlich das kulturelle Gedächtnis seiner Bewohner ab und wirkt für die Einwohner gleichermaßen identitätsstiftend und repräsentierend. Als steinernes Medium tritt die Baukunst zwischen die Menschen und ermöglicht ihnen sowohl sich selbst zu definieren, zum Beispiel als Breslauer oder Wrocławer, als auch sich den anderen gegenüber darzustellen, beispielsweise gegenüber den Touristen. Sie stellt aber auch selbstredend den Inhalt des Mediums Stadtführer dar. Das Medium bedient sich ausgewählter Architektur, der es eine gruppen- und zeitspezifische Bedeutung zuweist und auf diese Weise bestimmte Gedächtnislandschaften konstruiert. In dieser Hinsicht ist die Architektur Breslaus einerseits im physisch gebauten, andererseits im analog und digital medialisierten Raum ein Gegenstand der Untersuchung. Stand der Forschung Die Stadt Breslau als Untersuchungsgegenstand für den hier vorliegenden architektonisch-soziologischhistorischen Themenkomplex wird bereits in den frühen 60er Jahren von den polnischen Soziologen für sich entdeckt. Vor allen die Arbeiten von Irena Turnau offenbaren erste soziologische Erkenntnisse über die neue Stadtgesellschaft.12 Zusammen mit den Arbeiten der Breslauer Soziologen, wie Bohdan 10 „An den Leser - Wir übergeben den Einwohnern Breslaus und den Touristen ein Buch über Breslau. Der Stadtführer zu dieser Stadt kann zur Zeit noch nicht als eine typische Publikation angesehen werden, [...].“ In: Roszkowska, Wanda: Wanda Wrocław - Przewodnik po dawnym i współczesnym mieście, Warszawa 1963, S. 5, auch die zweite Auflage dieses Stadtführers aus dem Jahr 1970 richtet sich laut der Einleitung weiterhin vorrangig an die Einwohner der Stadt; Andrzej Konarski, ein „Wrocławer” der ersten Stunde und Autor von „434 Rätsel zu Breslau“, schreibt 36 Jahre später in seinen Vorwort bezüglich des Stadtführers von Wanda Roszkowska folgende Worte: „[...], (Ihr ‚Breslau – Stadtführer durch die alte und zeitgenössische Stadt‘, herausgegeben noch im Jahr 1963, das war mein erster Stadtführer durch Breslau!), [...].“) In: Konarski, Andrzej: Andrzej 434 zagadki o Wrocławiu, Wrocław 1999, S. 8 11 Vgl. Anm. 70, Kap. 1.; nach der in Polen gültigen gesetzlichen Definition des Berufes eines „touristischen Reiseführers durch die Stadt“ vom 29.08.1997, auf: http://pl.wikipedia.org/wiki/Przewodnik_turystyczny (besucht am 15.11.2009) 12 Turnau, Irena: Studia nad strukturą ludnościową polskiego Wrocławia, Poznań 1960 ix Jałowiecki, werden seit Ende der 60er Jahre die neuen Einwohner der Stadt einer Psychoanalyse unterzogen, die neben den internen wissenschaftlichen Erkenntnissen, nach Außen die erfolgreiche psychische Verwurzelung mit dem kulturellen Raum „Wrocław“ propagieren.13 Der erste Schritt in Richtung einer Untersuchung der medialen Stadtaneignung nach 1945 lässt sich bei den Literaturwissenschaftlern der Universität Breslau Anfang der 70er Jahre feststellen. Andrzej Cieński signalisiert über die Auseinandersetzung mit der medial kreierten Stadtlandschaft der jungen Nachkriegsliteratur hinaus, einen ersten Appell zu einer breitverstandenen intermedialen Betrachtung der Stadtbildkonstruktionen.14 Erst die Umbrüche des Jahres 1989 bringen jedoch eine Renaissance in die Betrachtung der Stadt mit sich, die den Aufruf der Literaten gerechter wird. Seitdem beflügelt die Stadt Breslau vor allem die Kunsthistoriker und Historiker, die einen revisionistischen Blick auf die Vor- und Nachkriegszeit in Umlauf bringen. Aus ihrer Feder stammen sowohl diverse Nachschlagewerke zu der Stadt und ihrer Architektur, als auch neue Geschichtsmonografien.15 Unter diesen verdient vor allem die 2003 veröffentlichte Dissertationsarbeit von Gregor Thum genannt zu werden. Sein Buch „Die fremde Stadt - Breslau 1945“16 bietet einen einmaligen Einblick in die historischen Hintergründe und den soziologischen Prozess der Stadtaneignung durch die polnischen Neuansiedler bis zur Jahrtausendwende. Sein Werk liefert einen wichtigen Rahmen für die Fortsetzung der Beobachtungen unter einer neuen Schwerpunktlegung auf die Medien der Stadtaneignung innerhalb der hier vorliegenden Arbeit. Das Medium „Stadtführer“ wird seit Anfang der 90er Jahre zunehmend als Untersuchungsgegenstand von Historikern entdeckt und erfreut sich im neuen Jahrtausend einer wachsenden Beliebtheit auch in anderen Disziplinen.17 Vor allem die bereits Ende der 50er Jahren von Hans Magnus Enzensberger postulierte Konditionierung der Nutzer durch das Medium und die Normung des Blicks stellt einen fruchtbaren Boden für die Untersuchung von zeitgenössischer Denkmustern, Wahrnehmungen und Identitäten, dar.18 13 Jałowiecki, Bohdan (Hg.): Osiedle i miasto. Studjum socjologiczno-urbanistyczne jednostek mieszkaniowych we Wrocławiu, Wrocław 1968; ebd.: Związani z miastem ... Opracowanie i fragmenty wypowiedzi na konkurs: Czym jest dla ciebie miasto Wrocław, Wrocław 1970 14 Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze. In: Acta Universitatis Wratislaviensis No 131. Prace literackie XI-XII, Wrocław 1971, S. 79-110 15 Harasimowicz, Jan (Hg.): Atlas architektury Wrocławia. Budowle sakralne, świeckie budowle publiczne, 1. Bd., Wrocław 1997; Atlas architektury Wrocławia. Budowle mieszkalne, budowle inżynieryjne i przemysłowe, parki cmentarze, pomniki, 2. Bd., Wrocław 1998; ebd. (Hg.): Encyklopedia Wrocławia. Wrocław 2000, 2001 (2. Auflage, 2001; 3. Auflage, 2006); Davies, Norman und Moorhouse, Roger: Mikrokosmos. Portret miasta środkowoeuropejskiego. Vratislavia, Breslau, Wrocław, Kraków 2002 (dt. Ausgabe: Die Blume Europas. Breslau, Wroclaw, Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, München 2002) 16 17 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003 Lauterbach, Burkhart: Berlin-Reiseführer heute. Zum Umgang mit Geschichte in einem touristischen Gebrauchsmedium. Göttingen 1989. In: Bönisch-Brednich, Brigitte (Hg.): Erinnern und Vergessen: Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991; Schäfer, Benjamin: Die Präsentation von Erinnerungsorten im Reiseführer am Beispiel der Stadt Poznań (Posen). In: Hein-Kirchner, Heidi; Suchoples, Jaroslaw; Hahn, Hans Henning (Hg.): Erinnerungsorte, Mythen und Stereotypen in Europa. Wrocław 2008 18 Enzensberger, Hans Magnus: Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur, 12. Jg., 1958, S. 701720, zuletzt wieder abgedruckt in einem Sommerheft von: Universitas, 42. Jg., 1987, S. 660-676 x In Anbetracht der rasanten medientechnologischen Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien und dem anstehenden Siegeszug der langersehnten „Erweiterten Realität“ via intelligenten Schnittstellen steht gerade das Medium „Stadtführer“ vor einem Umwandlungsprozess.19 Die Breslauer Stadtführer bieten einen bislang nicht näher untersuchten Forschungsgegenstand, die vor dem Hintergrund der Stadtgeschichte nach 1945 einzigartige Einblicke auf die mediale Konstruktion und Vermittlung eines fremden kulturellen Raumes zu lassen kann. Des Weiteren interessiert die bisher nicht näher untersuchte Frage nach der Kongruenz zwischen den klassischen Printstadtführern und den Neuen Medien bei der mentalen Erschließung des Raumes, die anhand der Stadt Breslau untersucht werden soll. Untersuchungsmethode Die Erinnerungskultur und die Darstellungsmedien mit ihren Untermengen Architektur und Stadtführer stehen am Beginn der Untersuchung. Sie mündet in der Vorstellung des kulturellen Raumes „Breslau“, der nach 1945 sowohl medial als auch architektonisch neu erzählt und erfunden wurde (Abb. 0.1). Die Untersuchung des Mediums „Stadtführer“ der Stadt Breslau gliedert sich in einen analysierenden ersten Abschnitt (A), einen vergleichenden zweiten Abschnitt (B), sowie einen abschließenden praxisorientierten Ausblick (C). Die einleitende Analyse der Medialisierung der Stadt Breslau (A) teilt sich wiederum in einen Teil der zeitübergreifenden Gegenüberstellung der gedruckten Stadtführer (A1) und der momentbezogenen Gegenüberstellung der einschlägigen Internetportale (A2) auf. Der zweite Abschnitt (B) der Untersuchung resümiert die erinnerungskulturelle Dimension dieser Medien und stellt einen Vergleich zwischen den materiellen und immateriellen Stadtführern dar. Der Ausblick (C) knüpft direkt an den Vergleich an und schließt gleichzeitig die theoretische Untersuchung ab. In der praxisorientierten Überleitung werden die derzeitigen Tendenzen und Szenarien der Raumvermittlung skizziert und ein Szenario für die Stadt Breslau aufgestellt. Die Forschungsarbeit beginnt mit einem allgemeinen Überblick über die polnischsprachigen Medien zu der Stadt nach 1945. Hier wird der Versuch unternommen, ein weit gefasstes Feld an Medien zu bündeln, die sich der Thematik der Stadtaneignung im weiteren Sinne widmen und im Aneignungsprozess eine Rolle gespielt haben könnten. Zu diesen Zwecken werden Einrichtungen, wie das „Instytut Śląsko Łużycki“ in Breslau, Herder-Institut in Marburg, Deutsches Polen Institut in Darmstadt, sowie „Radio Wrocław“, polnisches Fernsehen „TVP 3 Wrocław“ und die Universitätsbibliothek in Darmstadt und Breslau, nach einschlägigen Publikationen zu der Stadt und ihrer Architektur geprüft. Das Sichten der Quellen ermöglicht die erste Eingrenzung und Sortierung des vielfältigen Ausgangsmaterials. Des Weiteren ermöglicht sie eine erste Einschätzung über die Vielfalt der einschlägigen Medien über die Zeit hinweg und stellt einen Rahmen für die folgenden Arbeitsschritte auf. 19 Im September 2009 bietet das Apple Store die „Apps“ für die Erweiterte Realität (Augmented Reality) von der Firma Acrossair, Layar und Wikitude an. Der Layar und Wikitude Reality Browser wird ebenfalls für das Handy-Betriebssystem Android von Google angeboten. xi Aus der Quellenermittlung folgt die Schwerpunktlegung auf die mediale Untermenge der gedruckten Stadtführer der Stadt. Sie bieten für die Untersuchung der erinnerungskulturellen Architekturmedialisierung ein verlässliches Quellenmaterial, woraus Aussagen zur Art und Weise der Medialisierung der Stadt und der von ihr konstruierten Stadtbilder gezogen werden können. Aufgrund ihrer Regelmäßigkeit und Kontinuität lässt sich die Entwicklung des Mediums und seiner Inhalte in einer Gegenüberstellung bis in die heutige Zeit darstellen. Um eine sachgemäße Gegenüberstellung der einzelnen Stadtführer und einen späteren intermedialen Vergleich gewährleisten zu können, werden allgemeingültige Analysekriterien für die folgenden Arbeitschritte formuliert. Die Kriterien unterteilen sich schwerpunktmäßig nach formalen und inhaltlichen Aspekten. Interessant bei näherer Betrachtung des Mediums „Stadtführer“ erscheint sowohl die formale Strukturierung, die Titelblattgestaltung, die Seitengestaltung, das Verhältnis der Bilder, Illustrationen und Pläne zum Text, als auch die Stilistik, die Sprache, der Ton und die Art der Präsentation. Hier gilt es die Art und das Wesen des Mediums, im übergeordneten Sinne die Form seiner Vermittlung, methodisch zu erschließen. Neben der typografischen Untersuchung gilt die besondere Aufmerksamkeit der inhaltlichen Prägung des Mediums. Hier wird das Augenmerk auf die inhaltliche Strukturierung, den Inhalt des Titelblattes, dem visuellen und textbasierten Inhalt und dessen Verhältnis zueinander, gerichtet. Bei der Auseinandersetzung mit dem Medium aus der Familie der praktischen Reiseliteratur wird weniger den reisepraktischen Tipps und der historischen Einleitung Beachtung geschenkt. Der Fokus liegt vorwiegend auf dem raumabbildenden „Stadtrundgang“, bei dem der kulturelle Raum abgeschritten und anhand der Architekturpräsentation eine erinnerungskulturelle Topografie der Stadt medial aufgerissen wird. Es soll aber auch die Frage nach dem Herausgeber (Sender) und den Rezipienten (Empfänger), sowie den jeweiligen Interessen der Gruppen, so weit wie möglich geklärt werden, um nicht von der Hand zu weisende Erklärungen für die eine oder andere formale und inhaltliche Prägung des Mediums im Vorfeld auszuschließen.20 Nach der allgemeinen Übersicht, der Eingrenzung des Untersuchungsgebietes und der Definition der Untersuchungskriterien teilt sich der analysierende Abschnitt (A) der Forschungsarbeit in zwei Hauptteile, die als Säulen räumlich gedacht werden können, auf. Die erste Säule (A1) beschäftigt sich zunächst mit den gedruckten Stadtführern nach 1945. Es findet eine diachronische, das heißt zeitübergreifende, Analyse und anschließende Gegenüberstellung der analogen Stadtführer statt. Dazu werden repräsentative Vertreter der Gattung aus der in Vorarbeit geleisteten Auswahl herausgenommen, um sie nach dem aufgestellten Kriterienkatalog zu untersuchen. Als repräsentativ werden vor allem mit einer Regelmäßigkeit erscheinende Stadtführer betrachtet, die eine hohe Auflage aufweisen, beziehungsweise eine vermuten lassen, und den hohen Anspruch einer medialen Raumaneignung im Sinne der genannten Definition eines Stadtführers vom 29.08.1997 gerecht werden. 20 Im Fall der Stadtführer zu Breslau in der Zeitspanne von 1945 bis 1990 erscheint die Frage nach den Herausgebern in Anbetracht des staatlich gelenkten Verlagswesens als zweitrangig. Erst nach 1990 differenziert sich die Verlagslandschaft in Polen, so dass ein Blick auf den Herausgeber interessanter erscheint. xii Die zweite Säule (A2) der Forschungsarbeit ist monochronischer Natur und kann parallel zur ersten untersucht werden. Ihr Augenmerk widmet sich den Stadtführern adäquaten Internetportalen, das heißt den neuen Raumzugängen mittels Informations- und Kommunikationstechnologien. Hier stellt sich die Auswahl einer repräsentativen Gruppe an stadtführerartigen Internetportalen schwieriger als bei dem Printmedium dar. Aufbauend auf der zuvor formulierten Definition des Stadtführers wird dennoch versucht, einen repräsentativen Überblick über das derzeitige Netzangebot zur Stadtaneignung in einer Momentaufnahme wieder zu geben. Die Betrachtung der Internetseiten und ihre Auswertung erfolgt, wie bei den vorangegangen Medium der analogen Stadtführer, nach den selben Analysekriterien, um später einen Vergleich zwischen den medialen Formen aufstellen zu können. Im zweiten Abschnitt (B) finden eine Gegenüberstellung der diachronischen Analyse der Printstadtführer (B1) und eine Gegenüberstellung der synchronischen Analyse der Internetportale (B2) statt. Die Gegenüberstellung B1 beabsichtigt, eine Reihe von Erkenntnissen zur formalen und stilistischen Typografie des Mediums offen zulegen. Darüber hinaus kann anhand der inhaltlichen Analyse eine Aufzeichnung und Auflistung der erinnerungskulturellen Topografie der Stadt seit 1945 erstellt werden. Dieser Teil des ersten Untersuchungsabschnittes liefert im Ergebnis eine zeitübergreifende Auskunft über die formale Typografie und inhaltliche Topografie der medialen Raumvermittlung am Beispiel der gedruckten Stadtführer. Die Gegenüberstellung in B2 soll pendantartig einerseits die unterschiedlichen Formen der internetbasierten Raumvermittlung aufzeigen und andererseits die von ihnen vermittelten Inhalte darstellen. In einer abschließenden Auswertung werden die Teilergebnisse zusammengefasst und miteinander verglichen. Der direkte Vergleich des Print- und Internetmediums „Stadtführer“ beschäftigt sich mit den Unterschieden, Gemeinsamkeiten, Stärken und Schwächen des jeweiligen Mediums. Darüber hinaus wird nach einer Antwort auf die Frage, wie der klassische Stadtführer des Industriezeitalters im Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnologien weiter gedacht wird, gesucht. In dem Ausblick (C) werden zum einen die technologischen Tendenzen und ihre Anwendungen für die praktische Raumvermittlung, zum anderen Szenarien für einen Stadtführer zu Breslau vorgestellt. Hier sollen die theoretischen Erkenntnisse und das aus der Untersuchung gewonnene Wissen in einer Projektskizze für die Stadt Breslau ausgelegt werden. xiii 1. Kapitel 1.1. Architektur und Erinnerungskultur Die seit dem Ende des letzten Jahrhunderts fortschreitende Aktualität der Erinnerungsdebatte resultiert einerseits aus dem Dilemma wie man die noch lebendigen Erfahrungen der letzten Zeitzeugen einer der größten Katastrophen der Menschheit in Form des Zweiten Weltkriegs für die nachfolgenden Generationen festhält, andererseits dem Ungleichgewicht des lebendig Erinnerten zur aufgeschriebenen Geschichte, sowie aus der Fragestellung für das 21. Jahrhundert, was die Neuen Medien für die Erinnerung bedeuten. Begleitend verwirrt der interdisziplinäre Begriffsdschungel aus Wörtern wie Erinnerungskultur, -politik, -raum, -ort, -spur, -bild, -figur, -rahmen, -raum, Gedächtniskunst, Funktions-, Speicher-, Bildungs-, Lern- und Erfahrungsgedächtnis, kollektives, kommunikatives und kulturelles Gedächtnis, die auch so schon unübersichtliche Debatte zusätzlich. Zur Klärung der Begrifflichkeiten und zur Schaffung einer Grundlage für die spätere Untersuchung der erinnerungskulturellen Dimension der Architektur, werden im Folgenden die Grundpfeiler und die Rahmenbedingungen von Gedächtniskunst und Erinnerungskultur vorgestellt. Dabei wird versucht, sowohl die Bedeutung des Ortes und seiner ortsgebundenen Architektur, als auch der Medien für die psychologisch-soziologischen Vorgänge hervorzuheben. Auffallend ist, dass wenn von Erinnerung die Rede ist, die Raummetapher hervorsticht.1 Zur Beschreibung der komplexen Sachverhalte der Denkprozesse liegt anscheinend nichts näher als von Räumen, in denen die Gedanken und die Erinnerungen wohnhaft sind, zu sprechen. Im übertragenen Sinne und in alter Tradition wollen wir uns einer Architektur der Erinnerungskultur nähern. 1.1.1. Gedächtniskunst und Erinnerungskultur Die Gedächtniskunst, Ars memoriae, verleiht dem Individuum die Fertigkeit, erlangtes Wissen über eine Zeitspanne hinweg zu speichern. Sie folgt dem allgemein verbreiteten Interesse des Menschen, die einst mühsam erlangte Information nicht zu verlieren. Die ersten Erwähnungen dieser Techniken des menschlichen Gedächtnisses, auch Mnemotechnik genannt, gehen auf den griechischen Dichter Simonidas von Keos, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben soll, zurück. Ein interessanter und in der antiken Gründungslegende der Mnemotechnik von Cicero (106-43 v. Chr.) verankerter Aspekt ist die Bedeutung der Orte für dieses Gedächtnis.2 In der Legende nach Cicero überlebt Simonidas, der den Auftrag bekommt den Boxer Skopas mit einem eigens für ihn geschriebenen Gedicht zu rühmen und somit diesen unsterblich zu machen, als Einziger das Einstürzen des Hauses, in dem er vor einer Gesellschaft den Boxer besingt. Für den Totenkult der damaligen Zeit müssen die Opfer jedoch erst identifiziert werden. Simonidas, der die genaue Sitzordnung der Gäste im Gedächtnis gespeichert hatte, ist in der Lage jedem verstümmelten Toten seinen Namen zurückzugeben. Die Legende offenbart die Bedeutung des Ortes als eine Art Anker, beziehungsweise Eselsbrücke, über die der Mensch das einst 1 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 158 2 Cicero, Marcus Tullius: De oratore II, 86, 352-354, in: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 35f. 1. Kapitel 1 abgelegte Wissen erschließen kann.3 Hier zeichnet sich bereits deutlich die Neigung des menschlichen Gedächtnisses zur Verräumlichung ab. Die Gedächtniskunst dient der Erweiterung der eigenen Gedächtniskapazität, so dass man von ihr behaupten kann, sie sei auf den Einzelnen bezogen. Was die Gedächtniskunst für den Einzelnen darstellt, stellt die Erinnerungskultur für die Gruppe dar. Sie ist Gruppen bezogen und beschäftigt sich mit dem, was nicht vergessen werden darf. Die Erinnerungskultur kann verkürzt als ein „Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet“4 bezeichnet werden. Die erinnerungskulturelle Urszene der Menschheit stellt der Totenkult dar. Die Totenmemoria meint die Verpflichtung der Angehörigen, die Namen und Taten ihrer Toten im Gedächtnis zu behalten und gegebenenfalls der Nachwelt zu überliefern.5 Hier spiegelt sich neben der Menschheitsfrage „Wer bin ich/wir und woher komme ich/wir?“, der urmenschliche Wille zum ewigen Leben wider, der bereits in der Gründungslegende der Gedächtniskunst mit erhalten ist. Simonidas, der griechische Dichter, soll durch das Loblied zu Ehren des Boxers Skopas, diesem zum ewigen Leben verhelfen. Daraus geht hervor, dass nicht nur Individuen, sondern auch Gesellschaften ein Gedächtnis ausbilden, um Identität herzustellen, Legitimation zu gewinnen und Ziele zu bestimmen. „Es ist allgemein bekannt, dass alle Gesellschaften der Menschheitsgeschichte ihre Selbstbilder konstruieren und ihre Identität über Generationen hinweg fortsetzten, indem sie eine Kultur der Erinnerung etablieren.“6 Erst diese konnektive Struktur eines gemeinsamen Wissens und Selbstbildes, das sich zum einen auf die Bindung an gemeinsame Regeln und Werte, zum anderen auf die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt, macht aus Individuen eine zusammengehörige Gesellschaft. 1.1.2. Individuelles und kollektives Gedächtnis Das individuelle Gedächtnis baut sich in einer bestimmten Person kraft ihrer Teilnahme an kommunikativen Prozessen auf.7 Es ist die Folge der Eingebundenheit in die Familie, Religion, Nation, bis hin zur Weltgemeinschaft. Der Akt des Vergessens tritt in dieser Dimension mit dem Abbruch der Kommunikation auf. Der Tod markiert hier am deutlichsten den Informationsabbruch. Wird der Toten nicht gedacht, werden sie vergessen. Wird der Erinnerung an die Toten kein Raum gewährt, wird die Erinnerung an diese aussterben. Um diesem Prozess des Vergessens entgegen zu wirken, wird das menschliche Gedächtnis ausgelagert, es bekommt eine Außendimension, die sich immer mehr vom Individuum trennt und sich deshalb gegen das natürliche Aussterben besser währt. 3 „Eine so große Kraft der Erinnerung ist in den Orten, dass nicht ohne Grund von ihnen die Mnemotechnik abgeleitet ist.“ Cicero, Marcus Tulliu: De finibus 5, 1-2, nach: Cancik, Hubert; Mohr, Hubert: Erinnerung/Gedächtnis, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 2, Stuttgart 1990, S. 312 4 Schmidt, Karl (Hg.): Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, München und Zürich 1985 (Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg, in: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 30 und S. 63 5 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 33-42 6 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 18 7 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin und Neuwied 1985 (fr. Erstausgabe, 1925) 1. Kapitel 2 Das kollektive Gedächtnis ist neben dem mimetischen Gedächtnis, dem Gedächtnis der Dinge und dem kommunikativen Gedächtnis eine von vier Außendimensionen des menschlichen Gedächtnisses.8 1. Die künstliche Auslagerung des Wissens beginnt mit dem Handeln durch Nachahmung. Demnach ist das mimetische Gedächtnis, wie Bräuche und Sitten einer Gesellschaft, die erste Stufe der Externalisierung des individuellen Gedächtnisses. 2. Die Erzeugung artifizieller Gegenstände, das Gedächtnis der Dinge, vermag es, Spiegelbilder seiner Selbst und der eigenen Zeitschicht für die Gegenwart und die Nachwelt zu erstellen. Vom Gegenstand im Kleinen ist kein weiter Weg zum Bauwerk im Großen. Wenn von „Architektur als gebauter, steingewordener Gesellschaftsordnung“ die Rede ist, dann meint man damit, dass sie im Stande ist Auskunft über das Denken und Handeln der Menschen zu geben, die sie errichtet haben.9 Die Architektur wird zur verorteten Kundgebung, zum steingewordenen Zeugnis. 3. Das kommunikative Gedächtnis, umfasst Erinnerungen, die in der heutigen Zeit lebendig sind. Als lebendige Erinnerung, beziehungsweise als Generationen-Gedächtnis bekannt, deckt es eine natürliche Zeitspanne von 3 bis 4 Generationen (ca. 100 Jahre) ab. Es setzt sich aus der Fülle der Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt, zusammen. 4. Das kulturelle Gedächtnis ist eine institutionalisierte Mnemotechnik. Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis spricht sich die kulturelle Erinnerung nicht von selbst herum, sondern bedarf sorgfältiger institutioneller Einweisung. Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte der Geschichte, die mit sakral-religiösem Sinn beladen werden. Das kulturelle Gedächtnis, auch das kollektive Gedächtnis genannt, bildet den „Erinnerungsraum“ nach Aleida Assmann, in den alle drei vorgenannten Bereiche bruchlos übergehen, sobald sie über den reinen Zweck hinaus eine Sinnbedeutung bekommen. Wenn, um ein extremes Beispiel zu nennen, die reine Zweckarchitektur der Vernichtungslager des Naziregimes zum Sinnbild des Terrors und der Unmenschlichkeit geworden sind, dann ist aus dem reinen Gedächtnis der Dinge ein Sinngebendes geworden. Der Frage, wie individuelle Erinnerungen zu allgemein verbindlichen werden, ist in seiner wegweisenden Studie über das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen Maurice Halbwachs, ein französischer Soziologe der Zwischenkriegszeit, nachgegangen. Nach seiner Auffassung müssen Ideen erst versinnlicht werden bevor sie Eingang ins Gedächtnis finden. „Eine Wahrheit muss sich, um sich in der Erinnerung der Gruppe festsetzen zu können, in der konkreten Form eines Ereignisses, einer Person, eines Ortes darstellen.“10 Umgekehrt muss sich jedes Ereignis, um im Gruppengedächtnis weiterzuleben, mit der Sinnfülle einer bedeutsamen Wahrheit anreichern. „Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon bei seinem Eintritt in dieses Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transportiert; es erhält einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideensystems der Gesellschaft.“11 Was hier für das kollektive, sozial vermittelte und geteilte Gedächtnis behauptet wird, trifft auch auf das individuelle Gedächtnis zu. 8 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 19 9 Koob, Manfred: Architektura Virtualis. Konzept für das 1. Digitale Architekturmuseum, Bensheim 1995, S. 13 10 Halbwachs, Maurice: La Topografie légendaire des évangiles en terre sainte: étude de mémoire collective, Paris 1941, S. 157, in: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 38 11 Ebd.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin und Neuwied 1985, S. 389f. 1. Kapitel 3 Dieses Zusammenspiel von Wahrheiten und Fakten sowie deren unauflösliche Verschmelzung, folgen den so genannten „Erinnerungsfiguren“ nach Jan Assmann, die sich an drei Merkmalen näher bestimmen lassen.12 1. Bei der Verschmelzung von Begriff und Bild spielt der konkrete Raum- und Zeitbezug eine erhebliche Rolle. Die Erinnerung wird dabei förmlich in der erlebten Zeit und in dem belebten Raum verankert. Als Beispiele seien hier der Festkalender der Stadt oder räumliche Erinnerungsrahmen, wie das Haus, das Dorf, die Stadt oder die Landschaft zu nennen. Maurice Halbwachs hat die Tendenz jeglicher Art von Gemeinschaft zur Lokalisierung und Verortung der Erinnerung sehr deutlich mit seiner Untersuchung der heiligen Stätten der Christenheit in Palästina gezeigt. Er zeigte am Beispiel seiner „LegendenTopografie des Heiligen Landes“ aus dem Jahr 1941, wie eine Gesellschaft eine symbolische Einheit mit dem Raum eingeht, an der sie auch festhält, wenn sie von diesem getrennt ist, in dem sie ihre heiligen Stätten symbolisch reproduziert. Die heutige Berliner Synagoge von Sergiej Tchoban, in deren Inneren die Klagemauer rekonstruiert wird, zeigt die Universalität dieser Behauptung an Hand einer anderen Glaubensgemeinschaft. Jan Assmann konkretisiert diese Feststellung in dem er sagt: „Jede Gruppe, die sich als solche konstituiert, ist bestrebt sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktion abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung sind.“13 Erst durch die Verleihung eines räumlichen Anhalts werden die Erinnerung und das zu Erinnernde konkretisiert. Die Errichtung des Hermannsdenkmals durch Kaiser-Wilhelm-I. im Teutoburgerwald zu Ehren des siegreichen Germanenanführers Arminius (dt. Hermann) gegen die Römer repräsentiert diesen Drang zur Konkretisierung der Erinnerung im vier Jahre zuvor neu gegründeten Deutschen Reich (Abb. 1.1). Das kulturelle Gedächtnis ist raum- und zeitkonkret. 2. Das kulturelle Gedächtnis haftet auf seinen Trägern und ist nicht beliebig übertragbar. Jede soziale Gruppe, die sich als eine Erinnerungsgemeinschaft konstituiert, bewahrt sich durch Konstruktion eines Selbstbildes, die Betonung der Eigenart und die Aufrechterhaltung über die Zeit hindurch. Die Integrationsprobleme der multikulturellen Gruppen im deutschen Kulturkreis, wie das Beispiel der Kopftuchdebatte oder der vielerorts entbrannte Moscheestreit zeigen, sind nur zwei aktuelle Beispiele, durch die versucht wird, die eigene Identität im kulturell fremden Raum aufrecht zu erhalten (Abb. 1.2).14 Das kulturelle Gedächtnis ist identitätskonkret. 3. Die Vergangenheit ist das, was die Gesellschaft mit ihren jeweiligen Bezugsrahmen zu rekonstruieren vermag. Was gestern positiv gedeutet wurde, kann morgen negativ betrachtet werden. Für Sinn beladene Architektur bedeutet es nicht selten das Sein oder nicht Sein. Das Berliner Stadtschloss auf der Spreeinsel, als Hauptresidenz der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg, später der Könige von Preußen und der Kaiser des Deutschen Reiches errichtet, fiel mit der Machtübernahme der entgegen gesetzten kommunistischen Weltanschauung nach 1945 in erinnerungskulturelle Ungnade. Die Architektur des Klassenfeindes wurde durch den Bau des Palastes der Republik ersetzt (Abb. 1.3). Mit dem erneuten erinnerungskulturellen Wandel nach der Wende 1990 wurde mit dem Abriss des Palastes begonnen, um Berlin wieder das Stadtschloss und damit ein Stück seiner tiefer liegenden Vergangenheit 12 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 37ff. 13 14 Ebd.: S. 39 „Rund 200 neue Moscheen sollen in der Bundesrepublik entstehen. Viele Muslime sind stolz darauf, in der deutschen Gesellschaft endlich sichtbar zu werden. Doch fast immer gibt es Streit: An der Architektur, die den Islam mitten im Stadtbild ansiedelt, entzünden sich die schwelenden Konflikte um Fremdheit und Integration.“ In: Der Spiegel 41/2008, Gebauter Islam, S. 7 1. Kapitel 4 zu schenken. Der gesundheitsschädliche Asbest wurde dabei dankend als Vorwand für diese Aktion benutzt. Das kulturelle Gedächtnis wird von den stets wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert, es verfährt rekonstruktiv. 1.1.3. Gedächtnisort, Erinnerungsraum und Erinnerungsort Die Tendenz der Gesellschaften zur Verortung ihrer Erinnerung von der Maurice Halbwachs spricht, führt der Historiker Pierre Norá in seinem groß angelegten Werk „Les lieux de mémoire“15 weiter. Er prägt den Begriff der Gedächtnisorte, in denen er die symbolische Manifestation des nationalen Bewusstseins zu zeigen versucht. In seiner Untersuchung des nationalen Gedächtnisses Frankreichs analysiert er „Orte“, in allen Bedeutungen des Wortes, in denen sich das Gedächtnis der Nation in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat.16 Mit seinem Projekt möchte er aus den Gedächtnisorten ein Inventar des „Hauses Frankreich“, wie er es nennt, rekonstruieren. Neben Devisen, wie der Trikolore, dem 14. Juli, oder der „Liberté, Egalité, Fraternité“, dem Ritual der Salbung der Könige in Reims, der Texte, wie Code Civil, populären Wörterbüchern und Lexika, wird ein großer Teil der Beiträge der Architektur eingeräumt. In dieser Reihe ist der Beitrag über die symbolische Geographie der Monumentalarchitektur der Stadt Paris anzusiedeln.17 Maurice Agulhon demonstriert anschaulich die symbolhafte Besetzung des Stadtraumes am Beispiel des liberal-laizistischrepublikanischen Paares „Pantheon-Bastille“ im Osten der Stadt und dem nationalistisch-militärischkaiserlichen Dreieck „Place Vendôme-Etoile-Invaliden“ im Westen von Paris. Die Gegenüberstellung eines „proletarisch, republikanischen“ und eines „bourgeoisen“ Paris gehörte einer historischen Phase von 1848 bis 1936 an, in der man die Politik nach den Prozessionswegen interpretieren konnte, die sie bei Feierlichkeiten benutzte. Die Stein gewordenen Gedächtnisorte der entgegengesetzten Gruppierungen von damals, so die These, wirken sich unterschwellig bis in die heutigen politischen Rituale aus. Der Bedeutung des geographischen Ortes für das Gedächtnis geht Aleida Assmann nach, in dem sie es in eine Reihe mit der Schrift, dem Bild und dem Körper als einen Erinnerungsraum stellt.18 Den gedächtnistheoretischen Krisen kultureller Erinnerungsräume im Sinne eines Gedächtnismediums steht die Kontinuität der Dauer der Orte über Individuen, Epochen und Kulturen hinweg gegenüber. Infolge der Migrationen, Eroberungen, Kriegen und der steigenden Mobilität erfolgt eine Verlagerung der Erinnerung von dem „milieu des mémoire“, an dem sich traditionelle Lebensformen stabilisieren, zu den „lieux de mémoire“, die nur noch Spuren eines einst gelebten Zusammenhangs beherbergen, wie Pierre Norá es nennt.19 Für den physischen Ort bedeutet es eine erinnerungskulturelle Metamorphose. Die gelebten Generationenorte des archaisch ortsgebundenen Menschen werden in dem Prozess durch 15 Norá Norá, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984 (La République), 1986 (La Nation) und 1992 (Les France) 16 Ebd.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1998, S. 7 17 Agulhon, Maurice: Paris. Durchquerung von Ost nach West, in: Erinnerungsorte Frankreichs, hg. v. Pierre Norá, München 2005, S. 517-541 18 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 298-339 19 „Wir erleben einen Augenblick des Übergangs, da das Bewusstsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber einen Augenblick, da dies Abreißen noch so viel Gedächtnis freisetzt, das sich die Frage nach dessen Verkörperung stellen lässt. Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.“ Norá, Norá, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11 1. Kapitel 5 Gedenkorte der modern mobilen Menschen ersetzt. Ein Gedenk- oder Erinnerungsort, als das was übrig bleibt von dem, was nicht besteht und gilt, muss stellvertretend für das Milieu eine Geschichte erzählen, um fortzubestehen. Räumliche Erinnerungsorte sind demnach zersprengte Fragmente eines verlorenen Lebenszusammenhangs. Mit der Aufgabe und Zerstörung eines Ortes ist seine Geschichte noch nicht vorbei. Er hält materielle Relikte fest, die zu Elementen von Erzählungen und damit wiederum zu Bezugspunkten eines neuen kulturellen Gedächtnisses werden können. Denn das Abgebrochene, nur in Spuren vorhandene, kann für eine spätere Zeit von großer Bedeutung sein, dann nämlich, wenn dieses in jener Vergangenheit eine normative Grundlage ihrer eignen Zeit erkennt. Orte besitzen somit eine große Bedeutung für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume, auch wenn sie kein eigenes Gedächtnis aufweisen. Die Magie der Erinnerungsorte ergibt sich aus ihrem Status als Kontaktzone mit unterschiedlicher Bindungskraft. Die den Orten innewohnende Aura, ein Hauch aus der Ferne, beziehungsweise die sinnliche Wahrnehmung der Vergangenheit nach Walter Benjamin, verleiht den Erinnerungsorten den oft mystischen Status.20 Die vorherrschende Atmosphäre, der innewohnende Charakter eines Ortes, kommt jedoch nicht ohne seine Verankerung in der lebendigen Erinnerung an eine normative Vergangenheit zum Vorschein. Die Erschließung, bzw. Freilegung der Erinnerung setzt für den Massentouristen, als den sich der moderne Mensch sehen kann, jenes lebendige kulturelle Gedächtnis voraus. Erst dieses verleiht den stummen Orten ihre Stimme wieder. Ein Ort hält eben die Erinnerung nur dann fest, wenn Menschen dafür Sorge tragen. --Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Erinnerungskultur eine institutionalisierte Sorge um das, was nicht vergessen werden darf, darstellt. Ihr Phänomen ist ein universales Menschheitsgut, das ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl und damit Identität stiftet. Dem zu Grunde liegt das menschliche Gedächtnis, das durch die Auslagerung dem Reich des Vergessens, den der Tod darstellt, entzogen wird. Für Vilém Flusser ist die Kommunikation, die künstliche Auslagerung der Information, die Befriedigung des menschlichen Grundbedürfnisses, bei dem versucht wird uns „die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen.“21 Das in Folge entstehende kulturelle Gedächtnis stellt die höchste Stufe der Externalisierung dar. Es ist das maßgebende normative Gedächtnis, bei dem sich nach Maurice Halbwachs ein konkretes Ereignis, eine Person, ein Ort zu einer gruppenbezogenen „Wahrheit“ herauskristallisiert. Dieses kulturelle Gedächtnis ist im belebten Raum und in der gelebten Zeit verankert. Es ist von Gruppe zu Gruppe nicht beliebig übertragbar und wird stets aus der zeitgenössischen Sichtweise der Gruppe heraus rekonstruiert. Dem zu Folge können wir von einer sozial-konstruktivistischen Vergangenheit sprechen; einer Vergangenheit als kulturellem Produkt. Jedes kulturelle Gedächtnis hat als Träger eine in Raum und Zeit begrenzte Gruppe, die mittels Kunstgriffen in Form von Codes und Medien das Gedächtnis epochen- und generationenübergreifend 20 „Seine berühmte Beschreibung der Aura lautet: “Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: Einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“. Nach Benjamin besteht die Erfahrung einer Aura gerade nicht in Nähe bringender Unmittelbarkeit, sondern, ganz im Gegenteil, in Ferne und Unnahbarkeit.“ Benjamin, Walter nach Aleida Assmann, in: ebd.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 338 21 „Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen versteckte Absicht es ist, uns die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen.“ Flusser, Vilém: Kommunikologie, Frankfurt a. M. 2003, S. 10 1. Kapitel 6 weiterreicht. Der Ort, mit seiner an ihn gebundene Architektur, nimmt darin eine besondere Stellung ein. In dem Maße wie das menschliche Gedächtnis zur Verräumlichung neigt, lässt sich am Ort die Erinnerung am lebendigsten konkretisieren. Der Ort nimmt den Platz einer Kontaktzone mit der Vergangenheit auf und wird selbst zum medialen Erinnerungsraum. Seit dem der Mensch gelernt hat, die Architektur als Bedeutungsträger über seinen Tod hinaus zu begreifen und zu errichten, gehört die Baukunst zu den symbolträchtigsten kulturellen Leistungen der Menschheit. Die Pyramiden von Gizeh, eines der sieben Weltwundern der antiken Welt, ist nur ein anschauliches Beispiel von vielen, die diesen Sinn und dessen Gedächtniskraft zum Ausdruck bringen (Abb. 1.4). Durch die Aufgabe von Generationenorten und die Errichtung von Erinnerungsorten aufgrund der stets steigenden Mobilität der modernen Menschen, wie Pierre Norá feststellt, wird der Ort und seine Architektur verstärkt zum erinnerungskulturellen Medium mit einer Missionsaufgabe, nämlich dem Wachhalten einer identitätsstiftenden Erinnerung.22 Zu beachten sei, dass die Orte an sich natürlich kein Gedächtnis haben. Der Ort selbst wird erst durch um ihn einsetzende Kommunikation zum erinnerungskulturellen Katalysator. Damit sind die Orte, wie auch die ortsgebundne Architektur, ein Zwitter. Einerseits selbst ein Medium, andererseits auf Kommunikation mittels anderer Medien angewiesen, um die Erinnerung generationenübergreifend tragen zu können. Die Menschheit hat im Laufe ihrer Existenz gelernt, die Kommunikation durch die ständige Fortentwicklung einer kodifizierten Welt und ihrer medialen Vermittlung auszubreiten.23 Die Kommunikation ist dabei vielfältig bedingten geschichtlichen und technischen Wandlungen unterworfen. So betreffen die Möglichkeiten der externen Speicherung nicht nur das Individuum, sondern vor allem die Gesellschaft. Demnach lässt sich die Zivilisationsgeschichte der Menschheit nicht nur nach den vorherrschenden Werkzeugen, wie der Steinzeit oder Bronzezeit, sondern auch nach der vorherrschenden Kommunikationsform benennen. Die Abhängigkeit des kulturellen Gedächtnisses von den vorherrschenden Medien wird durch medientheoretische Thesen wie „Das Medium ist die Botschaft“, in denen die Art und Form der Kommunikation über ihre eigentlichen Inhalte gestellt wird, pervertiert.24 Sicher ist, dass jedes Medium einen spezifischen Zugang zum kulturellen Gedächtnis eröffnet. 22 Der Historiker Helmut Flachenecker greift das Problem der steigenden Mobilität für die lokale Identitätsbildung auf und hebt die Rolle der Geschichtserfahrung am Ort kurz und knapp hervor: “Pointiert ausgedrückt ist man Bürger eines Ortes nicht mehr primär qua Geburt, sondern via Geschichte.“ Flachenecker, Helmut: Stadtgeschichtsforschung als Akt der Selbstvergewisserung, in: Historisches Jahrbuch, Bd.113/1, Freiburg und München 1993, S. 128 23 Zu der medientechnologischen Entwicklung der menschlichen Kommunikation siehe: Flusser, Vilém: Kommunikologie, Frankfurt a. M. 2003 24 McLuhan, Marshall: Medium is the message, Toronto 1967 1. Kapitel 7 1.2. Architektur und Darstellungsmedien Architektur und Medien stehen in einer engen Beziehung zueinander. Jeder Entwurfs- und Bauprozess bedarf einer Vielzahl von Darstellungsmedien. Wie der Schaffensprozess, so werden Nutzungs-, Interpretations- und Aneignungsprozesse der Architektur von einer Vielfalt medialer Darstellungen begleitet, die unser Verständnis der gebauten Umwelt prägen. Die Architektur als Bedeutungsträger im erinnerungskulturellen Sinn kann nicht nur mit Hilfe zahlreicher Medien konzipiert und errichtet werden, sie kann nur durch die Medien vermittelt, verstanden und angeeignet werden. Darüber hinaus ist die Architektur als einzige Kunst, die fest verortet ist, und nicht von einen Ort zum anderem wandern kann, in besonderem Maße auf die mediale Vermittlung angewiesen.25 Sie selbst also auf medialer Basis entstanden, ist ein steingewordenes Medium, dessen Steine wiederum auf andere Medien angewiesen sind, um möglichst viele in der angemessenen Lautstärke und geeigneten Sprache anzusprechen. Diese wechselseitige Abhängigkeit macht die Dualität von Architektur und Medien deutlich. Der Sachstand führt zu folgenden Fragen: • Welche medialen Darstellungen sind architekturrelevant? • Wie vermitteln sie die Architektur (Eigenschaft)? • Welche Funktionen haben sie (Funktion)? • Wie beziehen sie sich auf die Architektur (Geschichte)? Erschwerend wirkt dabei die Tatsache, dass bei der medialen Repräsentation der Architektur eine Überlappung verschiedener medialer Bereiche stattfindet. Ganz selten wird ein Bauwerk nur durch ein Medium repräsentiert. Meistens ist es eine Mischung aus verschiedenen Medien, wie z.B. bei einer Architekturpublikation, die sich mehrerer Fotografien, Pläne und Texte bedient, um ein bestimmtes Bild der Architektur zu vermitteln. In solchen Fällen ist es schwer, diese fein säuberlich von einander zu trennen. Genau dies müsste aber getan werden, um der Frage, inwiefern eine Darstellungsform das Dargestellte verändert, näher zu kommen. Wenn aber die Architektur grundsätzlich in einer Vielzahl von Medien dargestellt werden kann, so sinkt der Einflussgrad eines einzigen Mediums gewaltig. Im Folgenden wird trotzdem der Versuch unternommen, die einzelnen Darstellungsformen der Architektur in einem Lichtstreifzug vorzustellen. Um ihren Charakterzügen hinsichtlich der Architekturrepräsentation näher zu kommen, werden ihre Eigenschaften, Funktionen und Geschichte in Bezug auf die Architektur behandelt. Des Weiteren werden die Reiseführer, als eine sich mehrerer Medien bedienende Sonderform der Publikationen zur Vermittlung eines gebauten Raumes, vorgestellt. Sie sind im Zeitalter der steigenden Mobilität und der Verschiebung vom Generationen- zum Gedenk- und Erinnerungsort das Medium der Architekturaneignung schlechthin, welches per Definition den kulturellen Raum erschließt und vermittelt. Die Vorstellung der Darstellungsmedien der Architektur mit besonderer Berücksichtigung des Mediums Reise-/Stadtführer stützt sich zum einen auf die Erkenntnisse des Symposiums „Medien der 25 Es gehört zu den seltenen Ausnahmen, wenn Monumentalbauwerke von einen Ort zum Anderen getragen werden. Das Beispiel der Verlegung der beiden Tempel Ramses II. von Abu Simbel in Folge der Bauarbeiten am Assuan-Hochdamm in der Zeit vom 1963 bis 1968, stellt den wohl bekanntesten Fall dar. Die Mobilität bleibt erst einmal der leichten Nomadenarchitektur vorbehalten. 1. Kapitel 8 Architektur“26 an der Universität Dortmund und der gleichnamigen Ausstellung, zum anderen auf die Tagung „Der genormte Blick aufs Fremde“27 an der Academia Baltica, die weiterführend ergänzt wurden. 1.2.1. Die Materialität der Architektur - die gebaute Architektur und das Modell Gebaute Architektur Im Grunde genommen ist das Material, aus dem die Architektur entsteht, das ureigene Medium eines jeden Bauwerks. Ganz im Sinne Aleida Assmanns, die dem menschlichen Körper in ihrer Abhandlung zu den Erinnerungsräumen einen eigenen Platz als Informationsmedium gewährt, verleiht das Baumaterial der Architektur eine spezifische Ausdrucksform.28 Unter Architektur versteht man allgemein die Auseinandersetzung des Menschen mit gebautem Raum. Der planvolle Entwurf und die Gestaltung von Bauwerken sind zentrale Inhalte der Architektur. Die uns bekannten Baumaterialien, mit denen wir unsere Bauwerke gestalten, sind Holz, Stein, Faserstoff, Kunststoff, Glas, Stahl und Beton. Jedes von ihnen hat seine spezifischen Eigenschaften (Abb. 1.5). Die Materialität der Architektur ist den Witterungsverhältnissen und dem menschlichen Handeln ausgesetzt, was die Vergänglichkeit und die Veränderungen des Mediums erklärt. Ihre visuelle Wirkung ist aufgrund der festen Verortung räumlich beschränkt, was mit der Entfernung und der Endlichkeit des menschlichen Sehens zusammenhängt. Ihre „Sprache“ ist durch die Abhängigkeit von den Sinnesorganen und den jeweiligen Kenntnissen des Betrachters undeutlich. Diese Eigenschaften – die Vergänglichkeit, die Beschränktheit und die Undeutlichkeit – erklären, wieso die „Steine“ bei ihrer Vermittlung als kulturelle Bedeutungsträger stark auf andere Medien angewiesen sind. Die Architektur ist im klassischen Sinne eine raumbildende Materie, die ursprünglich den Menschen sowohl einen Schutz vor den Natureinwirkungen, als auch vor den anderen Lebewesen ausgehenden Gefahren bieten sollte. Im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelte sich eine Vielzahl von Funktionstypen, die über reine Zweckbauten bis hin zu Symbolen ganzer Kulturkreise hinausreichen. Als ein kreatives Produkt einer Zeit und eines Raumes verkörpert die Baukunst, wie Architektur auch genannt wird, räumlich den Zeitgeist einer sozialen Gruppe. Neben ihrer jeweiligen Funktion ist sie ein zur Materie gewordenes Zeugnis. Sie ist Zeuge und damit einhergehend ein Informationsmedium, das über die Zeit, die Gegend, die Umstände, den Bauherren, den Architekten, die Mode und vieles mehr berichtet.29 Ihre „Steine“ sprechen und ihre räumliche Sprache wird von allen menschlichen Sinnesorganen Wahrgenommen. Die Baukunst ist ein zentrales Element des menschlichen Lebens seit der Sesshaftwerdung vor 10.000 Jahren. Neben den reinen Zweckbauten kann in jeder Kultur eine Entwicklung eigener Symbolik beobachtet werden (Abb. 1.6). Bereits im kleinen Maßstab stellen die eigenen „vier Wände“, das eigene Haus, die eigene Pfarrkirche, der Raum, in dem man aufwächst, die Heimat, ein Symbol eigener Identität dar. Die Architektur als Bedeutungsträger kann an der Problematik der deutschen 26 Hnilica, Sonja; Sonne, Wolfgang; Wittmann, Regina (Hg.): Die Medien der Architektur. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung des Architektur- und Ingenieurbaukunstarchivs NRW, Dortmund 2007 27 Der genormte Blick aufs Fremde - Reiseführer in und über Ostmitteleuropa. Wissenschaftliche Tagung der Academica Baltica, des Deutschen Polen Instituts und der Universität Kiel, Lübeck 24.10.-26.10.2008 28 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 242f. 29 Vgl. Anm. 9, Kap. 1. 1. Kapitel 9 Heimatvertriebenen und der Charta ihrer Vereinigung beobachtet werden.30 In dieser wird das Recht auf Heimat neben andere Grundrechte der Menschheit gestellt. Damit wird der Verlust des eigenen Raumes samt dem „Gedächtnis der Dinge“, als Raub eigener Identität verstanden.31 Im großen Maßstab machen ganze Kulturkreise ihre Identität an Räumen und Bauwerken fest, wie Maurice Halbwachs es an den Heiligen Stätten der Christenheit veranschaulicht hat. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte sich in den 70er Jahren der Gedanke des Denkmalschutzes und des Weltkulturerbes, bei dem der Schutz der Architektur als kultureller Bedeutungsträger allgemein anerkannt und propagiert wird.32 Die Materialität der Architektur besitzt eine Aura des Authentischen. Sie kann als eine Kontaktzone, von der Walter Benjamin spricht, verstanden werden, in der wir die Ferne verspüren können.33 Die in der Materialität vorhande Sendungskraft von Botschaften kommt deutlich in dem Bildungstourismus der Romantik hervor. Die Entdeckung und Ästhetisierung der Ruinen als kulturelle Pilgerstätten durch Goethe und seine Zeitgenossen zeigt uns, dass auch nackte Steine zu uns sprechen können. Dieses Phänomen der Begeisterung für Ruinen und die Materialität der Architektur als spirituelle Inspirationsquelle kann aber bereits seit der Antike mit der Konstruktion einer Gedächtnislandschaft Griechenlands durch Pausanius bis in die jüngste Geschichte nachgewiesen werden.34 Die mediale Macht der Steine für das kulturelle Gedächtnis kommt vielleicht am deutlichsten in der nationalsozialistischen „Theorie vom Ruinenwert“ zum Ausdruck.35 Laut dieser sollte die gesamte Architekturplanung darauf ausgerichtet sein, die Architektur so zu gestalten, dass sie auch nach dem Untergang des „Tausendjährigen Reiches“ als Ruine die Nachwelt inspiriert und so weiterhin lebendig bleibt. Die Ruine der Frauenkirche in Dresden dokumentiert plastisch die Symbolkraft der Steine, die unter wechselnden Umständen verschiedenartig behandelt werden; bis hin zu einer Rekonstruktion, in der jeder Originalstein deutlich im neuen Erscheinungsbild hervorgehoben wird (Abb. 1.7). 30 „[...]. Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.[...].“ Aus der Charta der deutschen Heimatvertriebenen, Stuttgart 1950 31 Vgl. Anm. 8, Kap. 1. 32 Meier, HansHans- Rudolf; Wohlleben, Marion (Hg.): Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000 33 Vgl. Anm. 20, Kap. 1. 34 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 310f. 35 „ [...] Modern konstruierte Bauwerke [...] waren zweifellos wenig geeignet, die von Hitler verlangte ‚Traditionsbrücke’ zu künftigen Generationen zu bilden: undenkbar, dass rostende Trümmerhaufen jene heroischen Inspirationen vermittelten, die Hitler an den Monumenten der Vergangenheit bewunderte. Diesem Dilemma sollte meine ‚Theorie’ entgegenwirken: Die Verwendung besonderer Materialien sowie die Berücksichtigung besonderer statischer Überlegungen sollte Bauten ermöglichen, die im Verfallszustand, nach Hunderten oder (so rechneten wir) Tausenden von Jahren etwa den römischen Vorbildern gleichen würden. [...].“ Speer, Albert: Erinnerungen, Ullstein 2003, S. 69 1. Kapitel 10 Das Modell Das analoge Modell ist die materialisierte Repräsentationsform der Architektur, es ist die mehr oder weniger realistische, dreidimensionale Darstellung von gebauten, zerstörten oder zu bauenden städtebaulichen Strukturen oder Gebäuden. Die materiellen Eigenschaften des Modells entsprechen im weitesten Sinne denen der gebauten Architektur.36 Der Hauptunterschied liegt in der Verkleinerung der Ausmaße sowie der damit verbundenen maßstabs- und materialabhängig auf entwurfsbestimmende, plastische Elemente reduzierten Abstraktion. Das Modell soll in der Regel die Architektur im kleinen Maßstab repräsentieren. Es ermöglicht Sinneserfahrungen, die der „erlebbaren Realität von Raum als wesensbestimmendes Merkmal von Architektur“ nahe kommen.37 Die Stärke des Mediums ist seine Anschaulichkeit und die einfache Verbreitung. Der räumliche Ausdruck und somit die architektonische Lesbarkeit können schnell erfasst und leicht gelesen werden. Die räumlichen Zusammenhänge lassen sich auf einen Blick erfassen und haptisch erfahren, die Auswirkungen gestalterischer Maßnahmen exakt überprüfen, Bildperspektiven weitgehend frei wählen. Im Gegensatz zur verorteten Architektur kann ein Modell leichter vervielfältigt und von einem Ort zum anderen getragen werden. Das Modell spielt vor allem im architektonischen Entwurfsprozess eine zentrale Rolle bei der Gestaltund Proportionsfindung. Es ist ein Entwurfs- und Präsentationsinstrument zugleich, das sich hervorragend zur Veranschaulichung des Entwurfs eignet. Neben der Bedeutung als Entwurfs- und Präsentationswerkzeug der Architekten spielte es eine wichtige Rolle als Rekonstruktionsmodell zur Darstellung zerstörter Bauten sowie als propagandistisches Instrument für Architekten und Bauherren. Die Geschichte der plastisch-dreidimensionalen Modelle ist vermutlich so alt wie der Beruf des Architekten. Die ersten Modelle sind seit der Antike nachweisbar. Erst seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ist der Einsatz der Modelle im Entwurfsprozess bekannt. Hier wurde es im Zuge der Entwicklung neuer Architekturvorstellungen und als neue Entwurfs- und Darstellungsmethode entwickelt und als „modello“ (ital.) bezeichnet.38 Seine wichtigste Aufgabe war es, die Entwurfsideen des Architekten dem Auftraggeber in möglichst überzeugender Weise zu vermitteln. Das wohl imposanteste Beispiel dieser Art ist das zwischen 1539-1546 von Antonio da Sangallo d. J. (1483-1546) entwickelte Modell zum Entwurf des Neubaus von St. Peter im Rom (Abb. 1.8). Mit einer Länge von 7,36 m und einer Kuppelhöhe von 4,68 m ist es das größte bekannte Holzmodell der Renaissance. Auf den Bau selbst nahm dieser Entwurf wohl aus Kostengründen der Umsetzung jedoch keinen Einfluss. Bis in den Barock wurden Modelle zur Darstellung komplexer Räume gebaut. Nicht selten blieben sie als der einzige räumliche Ausdruck des Gestaltungswillens der absolutistischen Herrscher und ihrer Architekten erhalten, wie es im Fall des Korkmodells von Wasilij Iwanowitsch Bashenow (1737-1799) für die Neugestaltung des Moskauer Kremls im Auftrag der Zarin Katharina der Großen gewesen ist. Seit der Aufnahme des Modellbaus in den Unterrichtskanon des Bauhauses und seiner Verbreitung hat sich das analoge Modell zum wesentlichen Darstellungs- und Entscheidungsinstrument entwickelt. Seiner Anschaulichkeit und leichten Lesbarkeit wegen werden Modelle oft zur Inszenierung der Auftraggeber und ihrer Vorhaben benutzt. Dabei kommt es nicht selten vor, dass die Architektur nicht 36 „[...] Bereits Platon und Aristoteles machten die Zuverlässigkeit und Dauer einer Einprägung von der Zuverlässigkeit der Härte des Materials abhängig. [...].“ Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 242f 37 Evers, Bernd (Hg.): Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo, München und New York 1995, S. 7 38 Ebd.: S. 7 1. Kapitel 11 über das Modell hinausgeht, und trotzdem, wie im Falle des Holzmodells vom Sangallo, zu einem Bedeutungsträger wird. Zu den jüngeren Beispielen solcher Prozedur gehören visionäre Projekte wie der „Plan Voisin de Paris“ von Le Corbusiers, das Modell zum Palast der Sowjets von Boris Michailowitsch Iofan oder die Modelle zur Hauptstadt Germania von Albert Speer (Abb. 1.9). Das Modell spielt aber auch in der Erinnerungskultur und ihrem Bemühen, Zerstörtes oder Vergangenes den Menschen mit geringem Aufwand räumlich vor Augen zu führen, eine wichtige Rolle. In diesem Sinne wurden an der Technischen Universität zu Braunschweig die in der Pogromnacht von 1938 zerstörten deutschen Synagogen aufwändig rekonstruiert. Die Modelle zeugen in Wanderausstellungen von der einstigen Bedeutung dieser Bauten und ihrer Gemeinden im deutschen Stadtbild. 1.2.2. Das Wort der Architektur - die Sprache und der Text Sprache Die Basis der Sprache bildet das Zusammenspiel menschlicher Organe als dessen Ergebnis Laute als atmosphärische Druckwellen erzeugt werden, die wiederum von Mitmenschen wahrgenommen werden. Das Medium „Sprache“ bildet den Kern des kommunikativen Gedächtnisses einer sozialen Gruppe. Es ist aufgrund der physikalischen Wellenausbreitung der Laute räumlich beschränkt. Außerdem birgt es gewisse Risiken in sich. Eine mögliche Sinnentstellung des ursprünglichen Quelleninhaltes und das Weglassen oder Hinzufügen von Inhalten sind in der mündlichen Vermittlung des jeweils einzelnen Erzählers immanent enthalten. Psychologische, soziale und kulturelle Faktoren spielen bei der mündlichen Überlieferung eine wesentliche Rolle. Weltweit wurden von jeher überlebenswichtige Informationen, aber auch geheimes Wissen, Rituale, Mythen, Legenden und Sagen mündlich weitergegeben, wie die weltweit verbreiteten Geschichten von der Sintflut, die stets einen ähnlichen Kern aufweisen, in ihren Details aber beträchtlich voneinander abweichen können. Die Sprache spielt vor allem in der zwischenmenschlichen Alltagskommunikation eine Rolle. Die Architektur kommt in ihr als Bühne des täglichen Lebens am Rande zum Ausdruck. Bekannt sind die Erzählungen älterer Menschen, hier allen voran der Großeltern, von ihrer Kindheit, beziehungsweise Jugend, und dem Raum, in denen sie sich abgespielt haben. In diesen sprachlichen Konstruktionen von den Kindheitsräumen werden die Architektur und der Raum von einer Generation auf die Andere übertragen. Interessant wäre eine Untersuchung der mündlichen Heimatkonstruktion von Vertriebenen und ihre Aneignung in der zweiten Generation aus den Erzählungen ihrer Nachkommen. Bereits zur Zeit der Dichtung bildete die Architektur als Zentrum des menschlichen Lebens die Szene für das Drama des Lebens. So ist es nicht verwunderlich, dass Architektur durch das Medium der Sprache, und hier vornehmlich der Dichtkunst, vermittelt wurde. Wann die Menschen begannen das Wissen um Architektur in Geschichten und Gedichte einzubinden ist ungewiss. Zu den ersten uns bekannten zählen die Dichtungen Homers (um 700 v. Chr.) und seine Schilderung von Troja und Ithaka. Man geht auch davon aus, dass die biblischen Geschichten, wie die Darstellung Babylons oder des Salomonischen Tempels, auf volkstümlichen Erzählungen und Sagen basieren. Text Der Text ist ein Gewebe, ein Geflecht, eine Folge von Wörtern, die eine sprachliche Äußerung der Gedanken in schriftlicher Form fixieren. Inhaltlich zeichnen sich Texte meist durch einen argumentativen Zusammenhang aus, formal bilden sie einen zusammenhängenden Bereich der geschriebenen Sprache. Materiell sind sie ein zusammenhängendes Schriftbild auf einer bedruckten 1. Kapitel 12 oder beschriebenen Seite. Sie basieren auf einer kodifizierten Aneinanderreihung von Schriftzeichen. Diese künstliche Eigenschaft setzt voraus, dass der Verfasser (Sender) Codes benutzt, die der Leser (Empfänger) entziffern und verstehen kann. Für die Weitergabe der Information eignet sich dieses Medium, trotz seiner materiellen Vergänglichkeit, einerseits wegen der genauen Konservierung einer niedergeschriebener Information, andererseits wegen der leichten Vervielfältigung und Verbreitung. Das spezifische des Textes ist seine nichtvisuelle Eigenart. Die Botschaft ist prinzipiell unabhängig von der dargestellten Art. Dennoch kann durch eine visuell wahrnehmbare Erscheinung, beispielsweise Klein- und Großschreibweise, eine Unterstreichung der Botschaft stattfinden. Mit der Erfindung des phonetischen Alphabets, einer Sammlung von Zeichen, mit deren Hilfe die Laute aller menschlichen Sprachen nahezu genau beschrieben und notiert werden können, begann seit dem 11. Jahrhundert vor Christus die schriftliche, textbasierte Dokumentation und Vermittlung der mündlichen Information im großem Maßstab. Die Architektur ist seit frühen Zeit in Texten, „in ganz besonderem Maße in der Literatur, präsent, denn zum einen leben die Menschen - seit es die Dichtung gibt - in und mit Gebäuden. Wer ihr Handeln beschreibt, muss sie deshalb fast zwangsläufig immer auch mit Architektur verknüpfen. Zum anderen kommen Bauten und Orte der dichterischen Evokation durch Sprache oder Texte besonders entgegen, denn das menschliche Gedächtnis ist topologisch, ortsbezogen strukturiert.“39 Seit der Antike sind uns Texte von Architekten bekannt, die Architektur- und Baustellenbeschreibungen enthalten. Zu den Berühmtesten zählen die „Zehn Bücher über Architektur“ von Vitruv aus der Zeit des Augustus (63 v. Chr.-14 n. Chr.). Wegen der schwierigen Reisebedingungen bedienten sich die Baumeister nicht selten schriftlicher Beschreibungen bei der Reproduktion nie gesehener Bauwerke. Zu der Übersetzung des Räumlichen in lineare Texte meinte der Architekt Adolf Loos noch im Jahre 1924: „Ich brauche meine Entwürfe überhaupt nicht zu zeichnen. Eine gute Architektur, wie etwas zu bauen ist, kann geschrieben werden. Das Parthenon kann man niederschreiben.“40 Aber auch die populären Architekturbeschreibungen der Reisenden, wie die Liste der sieben Weltwunder des Geschichtsschreibers Herodot (etwa 450 v. Chr.), vermitteln einen breiterem Publikum seit der Antike die Architektur. In der Geschichte des Mediums Text spielt die Technologie eine entscheidende Rolle.41 Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert veränderte aufgrund der kostengünstigeren Herstellung die Reichweite des Mediums. Die „Zehn Bücher über die Baukunst“ des Humanisten Leon Battista Alberti (1404-1472), des bedeutendsten Architekturtheoretikers der Renaissance, waren der erste umfassende Text zur Architektur, der im Buchdruck erschien. Heute kann man das Medium Text nicht mehr ohne die technische Reproduktion betrachten. Eine systematische Theoretisierung und Verschriftlichung der Architektur begann mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Das Bauwissen, das zuvor mündlich in der Bauhütte oder im Handwerksbetrieb überliefert wurde, musste für die industrielle Produktion und ihre Standardisierung in schriftliche Form übersetzt werden. In erster Linie wird Text in der Architektur eingesetzt, um Architektur und ihre Entstehung in historischer und technischer Hinsicht zu beschreiben und zu erläutern. Dabei kann man zwei Gattungen erkennen. Zum einen sind es Texte, die der Meinungsbildung, Forschung und Lehre dienen, zum anderen Texte, die Zeichnungen begleiten, beschreiben und sogar ersetzten. Zur ersten 39 Nerdinger, Wilfried: Architektur, wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, München 2007, S. 9 40 Loos, Adolf: Von der Sparsamkeit (1924), in: Über Architektur. Ausgewählte Schriften, hg. v. Adolf Opel, Wien 1995, S. 177-183 41 Carpo, Mario: Architekturjournalismus vor und nach dem Druckzeitalter, in: Hintergrund 10. 8. Wiener Architektur Kongress. Architektur und Publizistik, hg. v. Architekturzentrum Wien, Wien 2001, S. 21-32 1. Kapitel 13 Gruppe zählen Texte, die sich theoretischen Themen der Architektur widmen. Zur zweiten Gruppe zählen zum Beispiel Erläuterungstexte bei Wettbewerbsbeiträgen. Sie bilden somit, trotz der weit verbreiteten Behauptung, dass Architekten nicht lesen können, ein wichtiges Medium im Schaffensund Vermarktungsprozess der Architekten. Über die Rolle der Texte für die Architekten hinaus, dienen sie in der zuvor erwähnten Literatur der Vermittlung und Aneignung der Architektur durch die breite Masse der Leserschaft. Auch wenn die ersten Beschreibungen von Bauwerken eher lakonischer Art sind und das räumliche Verständnis noch sehr eingeschränkt ist, so sicherte beispielsweise die Übersetzung der Odyssee Homers ins griechische Alphabet dessen Fortbestand und machte die Architektur Trojas, deren Entdeckung und Nachweis noch immer nicht abgeschlossen ist, für die Nachwelt unsterblich.42 Die Bibel, als das meist verbreitete Buch der Welt, kreierte seit ihrer Entstehung ein Bild der Heiligenstätten der Christenheit und vermittelte somit über Jahrtausende die Architektur ihrer Märtyrerstätten und des Gelobten Landes über die Kontinente hinaus. Trotz der meist sekundären Stellung der Architektur als Szene in literarischen Werken, darf die Vermittlungskraft des Mediums in Bezug auf die gebaute Umwelt, vor allem der vermittelten atmosphärischen Stadtbilder, nicht unterschätzt werden. Die in der Renaissance verstärkte Entdeckung der Welt, die mit ihr zusammenhängenden Reisebeschreibungen und Gutenbergs Revolution des Buchdrucks führen zu vermehrter Vermittlung neuer Räume in literarischen Werken. An dieser Stelle können die berühmten "Moscovia" Reisechroniken von Siegmund Freiherr von Herberstein (1486-1566) genannt werden.43 In diesen beschreibt der habsburgische Botschafter, neben den detaillierten Schilderungen der Verhältnisse am Russischen Hof und seinen Feststellungen über die Kulturkontakte zwischen Russland und dem Westen, auch die Architektur, wie den Gesandtenweg durch den Moskauer Kreml mit seinen Bauwerken.44 In dieser Zeit sind es große Verlage, wie der von Familie de Bry in Frankfurt am Main, der durch die Veröffentlichung der Großen und Kleinen Amerika-Reisen (West-Indische Reisen) sowie der OstIndischen Reisen (Asien), die von entfernten Zivilisationen und ihren Lebensräumen, samt der Architektur berichten. Zur Veranschaulichung der Texte werden hierbei bereits verstärkt Kupferstiche verwendet, die zur Popularität der Werke und ihrem Einfluss auf den „genormten Blick aufs Fremde“ ihren Beitrag leisteten (Abb. 1.10). Die Wiederentdeckung der Erinnerungsorte in der Romantik und ihre „Schauerromane, deren eigentliche Helden die Gebäude sind, die vom Geist der Vorzeit heimgesucht werden“45, zählen zum anderen literarischen Genre, dass den Raum als den Protagonisten in den Vordergrund stellt. Viele Schriftsteller oszillieren seit dem in ihren Werken um einen konkreten Ort oder eine konkrete Stadt. 42 „In der Architekturbeschreibung bei Homer geht es eher um die Materialien und Insignien. Die Ekphrasis im Bezug auf die Architektur, als literarische Form bei der etwas bildlich und somit anschaulich beschreiben wird, ist unausgebildet.“ Hauser, Susanne: Architekturbeschreibung. Über die Sichtbarkeit von Bauten in Texten, in: Die Medien der Architektur, Symposium an der Universität Dortmund, 30.11.2007 43 „[…]. Bereits mit seiner ersten Russlandreise 1516/17 avancierte Herberstein zum "Osteuropaexperten" in Habsburgischen Diensten. 1525/26 führte ihn eine weitere Reise an den Hof des Moskauer Großfürsten. Seine dabei gesammelten Eindrücke publizierte Herberstein 1549 in lateinischer Erstausgabe unter dem Titel „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ in Wien. […].“ Auf: http://de.wikipedia.org/wiki/Siegmund_von_Herberstein (besucht am 23.07.2008) 44 Unter anderem anhand der Beschreibung des Gesandtenweges in den Kreml von Herberstein konnte am FG IKA der einstige Weg bei der 3D-Computerrekontruktion „850 Jahre Moskauer Kreml im Rechner“ (2005) im Rechner sichtbar gemacht werden. 45 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 322 1. Kapitel 14 Ein bestimmter Ort wird dabei zum Schauplatz der Handlung oder gar zum eigenen Inhalt, der in Form einer riesigen Metapher den eigentlichen Ort sogar übertreffen kann. So ein Ort ist in der heutigen Zeit für Günther Grass sicherlich seine Heimatstadt Danzig (Gdańsk) mit all ihren historischen Begebenheiten, Nuancen und Kontrasten. Günthers Grass’ Konstruktion und Vermittlung von Danzig war 45 Jahre für die Leserschaft in Westdeutschland die Vermittlung einer Stadt hinter dem Eisernen Vorhang schlechthin. Der heutige Ehrenbürger der Stadt sicherte mit seinen Geschichten das Fortleben eines kulturellen Raumes nach der räumlichen und kulturellen Trennung und stiftet mit seinen Werken den heutigen polnischen Bewohnern der Stadt auch einen Teil ihrer Identität.46 1.2.3. Die Sicht der Architektur - Skizze, Zeichnung und Perspektive, Fotografie und Film Skizze, Zeichnung und Perspektive Bevor Architektur zur Materie wird, durchschreitet sie mehrere geistige Prozesse. Den ersten Ausdruck der kreativen Idee vermittelt die Architekturskizze. Sie ist das erste Element zur Visualisierung von entwerferischen Gedanken und wird meist zu Beginn eines gestalterischen Prozesses angewandt. Die Skizze ist ein wichtiges Arbeitsinstrument, das im Entwurfsprozess Klarheit verschafft und oft die eigenen Ideen anderen verständlich macht. Seit der Renaissance wird die Skizze als erster unmittelbarer Ausdruck der künstlerischen Idee gefeiert. Dabei ist ihr Wert seit dem wegen ihrer einerseits subjektiven Genialität und andererseits mangelnder Perfektion umstritten. Die Skizze erlangte als ein wichtiges Instrument des Entwerfens und der Inszenierung eigener Raumvorstellungen vor allem im Expressionismus, zu sehen etwa bei Erich Mendelsohn, ihren Ruhm und hat seit dem an Attraktivität nicht verloren (Abb. 1.11). Als ein weiteres elementares Medium der Architekten wäre die Planzeichnung, bestehend aus Darstellungen in Grundriss, Ansicht und Schnitt, zu nennen.47 Die Planzeichnung wird für die Darstellung einer präzisierten Entwurfsidee verwendet. Sie entwickelt sich von der ersten Idee über einen Plan schließlich zur Werkszeichnung und ist mit genauen Maßen auf den projektierten Gegenstand ausgerichtet. Dieses Medium ist jedoch vorrangig einem kleinen Kreis von Spezialisten vorbehalten, die für die Realisierung zuständig sind. Mit steigender Detaillierung steigt die Kodierung der Pläne, was die Lesbarkeit für den Laien erschwert. Diese Darstellungsformen bestehen seit der Antike. Bereits Vitruv empfiehlt zur Darstellung den Grundriss (ichnographia), die Ansicht (orthographia) und die perspektivische, illusionistische Wiedergabe (scaenographia) zu verwenden.48 Seit dem Mittelalter sind Zeichnungen und Risse von Handwerkern und Baumeistern vorhanden. Nicht nur als Werkzeichnung sondern auch zur Darstellung des Entwurfsgedankens. So konnte auf der Grundlage der in einem Darmstädter Gasthaus gefundenen Kölner Dom Risse im ausgehenden 19. Jahrhundert die genuin gotische Architektur am Rhein vollendet werden (Abb. 1.12). Seit der Renaissance, in der die Verwendung der Perspektive wegen der zeichnerischen Verkürzung und somit der Maßstabslosigkeit in Architektenkreisen erst einmal abgelehnt wurde, gehört die Trias aus 46 Vgl. hierzu: Reisetagebuch - Günther Grass auf der Spur in Danzig (Gdańsk), Eine Spazierfahrt mit der Rikscha durch die Hansestadt Danzig, gesehen mit den Augen von Günther Grass, Veröffentlicht am 18.11.2007 von Rafael Michalczuk, auf: www.cosmotourist.de/reisetagebuch/view/s/178/t/guenther-grass-auf-der-spur-in-danzig-gdansk/ (besucht am 21.10.2009) 47 Coulin, Claudius: Architekten zeichnen. Ausgewählte Zeichnungen und Skizzen vom 9. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1980 48 Vitruvius Pollio, Marcus: Zehn Bücher über Architektur, Darmstadt 1991 (5. Aufl.), Vitruv I, 2, 2 1. Kapitel 15 Grundriss, Ansicht und Schnitt zum allgemeinen Prinzip architektonischen Schaffens. Die heutige Verbreitung der Architekturdarstellung in Deutschland beruht auf der 1856 durch die preußische Administration eingeführten „Polizeigesuchspflicht“, der heutigen Baugenehmigung, in der die Darstellung als Grundriss, Ansicht und Schnitt in dem Maßstäben 1:50, 1:100 oder 1:200 zwingend für die Errichtung von Gebäuden vorgeschrieben wurde. Bei der Architekturperspektive werden dreidimensionale Objekte mittels geometrischer Konstruktion auf einer zweidimensionalen Fläche so abgebildet, dass ein räumlicher Eindruck entsteht.49 Der Perspektive können auf Grund der zeichnerischen Verkürzung keine exakten Maßangaben entnommen werden, statt dessen vermittelt sie den visuellen Eindruck eines Betrachters von einer räumlichen Situation. Ihre räumliche Darstellung entspricht im Gegensatz zu der Plandarstellung den von der Natur des Menschen vorgeschrieben Sehkonventionen. Diese Tatsache macht sie zum einprägsamen und leicht lesbaren Präsentationsmedium der Architektur. Ihrer Anschaulichkeit wegen eignet sie sich außerhalb des Bauprozesses hervorragend um Utopien zu visualisieren, Rekonstruktionen zerstörter Bauten darzustellen, sowie existierende Ensembles abzubilden. Dabei wird darauf geachtet, dass das Abgebildete im besten Licht gezeigt wird und das Bild eine gute Geschichte erzählt. Die künstlerischen Aspekte dieses Mediums kommen durch gezielte Anwendung von Oberflächen, Farben, Licht, Schatten, Staffage und Vegetation zum Vorschein. Erste Ansätze der perspektivischen Darstellung und der mit ihr verbundenen Auseinadersetzung mit dem Problem der Übersetzung der Geometrie ins Zweidimensionale, sind uns seit der Antike bekannt.50 Bereits die griechische Malerei benutzte die perspektivische Verkürzung und die Staffelung zur räumlichen Darstellung. Bei Vitruv finden wir die „scaenographia“ als eine der drei Darstellungsarten neben dem Grund- und Aufriss. Nachdem im Mittelalter fast ausschließlich die Bedeutungsperspektive in der frühchristlichen und mittelalterlichen Malerei verwendet wird, entdeckt die Renaissance die geometrisch konstruierte Zentralperspektive. Aufgrund seiner im Jahr 1410 perspektivisch gemalten Tafeln der Piazza S. Giovanni und der Piazza della Signoria gilt Filippo Brunelleschi (1377-1446) auch als Entdecker der mathematisch konstruierbaren Perspektive und ihrer Gesetze. Den Einzug in die Architektur verlieh ihr aber erst der Architekt Leon Battista Alberti (1404-1472), der 1435 die ersten systematischen Gedanken zur perspektivischen Darstellung in seinem Traktat „De pictura“ niederschrieb. Die Architekturperspektive dieser Zeit spielte auch eine zentrale Rolle in der Malerei (Schule von Athen, Das Letzte Abendmahl) und in der Bühnenbildnerei. In der folgenden Zeit entwickelten sich die Technik und die Darstellungsart weiter. Der Barock brachte neue Stadtansichten und kühne illusionistische Perspektivmalerei aus neuartigen Blickwinkeln hervor, wie die Stiche zu europäischen Städten von Matthäus Merian (1593-1650) oder die „Scheinkuppeln“ von Andrea Pozzo (1642-1709). Als ein prominentes Beispiel der Architekturperspektive kann der mit dem 1. Preis dotierte Beitrag von Filippo Juvarra (1678-1736) im Wettbewerb für einen Universitätspalast im Jahre 1705 betrachtet werden (Abb. 1.13). Seine durch die narrativ-malerischen Elemente belebte räumliche Architekturdarstellung aus der Vogelperspektive sollte endgültig ein bildorientiertes Denken einführen. Die Raumvorstellung sollte von nun an überschaubar gemacht werden. Juvarras Architekturzeichnung wird zum Anspruchsniveau bei den Architekturwettbewerben im 18. Jahrhundert. Unter dem Einfluss der Ecole des Beaux Arts entwickelte sich bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts eine Dominanz zeichnerischer Formen räumlicher Darstellung, in denen aufwändige Wettbewerbspräsentationen mit großartig angelegten Perspektiven zu Blättern von künstlerischer Qualität komponiert wurden. 49 Evans, Robin: Perspektive und Proportion, in: Archplus 137, 1997, S. 52-55 50 Edgerton, Samuel Y.: Die Entdeckung der Perspektive, München 2002 1. Kapitel 16 Fotografie Die Fotografie ist ein technisches Verfahren, bei dem mit Hilfe eines Apparats Lichtstrahlen auf einem lichtempfindlichen Medium aufgenommen und dort direkt dauerhaft gespeichert (analoges Verfahren) oder in elektronische Daten gewandelt und gespeichert werden (digitales Verfahren). Das Medium und sein Verfahren des technischen Ablichtens der optisch-physischen Realität suggeriert eine Authentizität. Die Fotografie ist aber genauso wenig objektiv wie andere Sparten der Bildenden Künste. Das bewusste Weglassen vom Unwichtigen, das Fokussieren auf das Wesentliche, der Standpunkt, der Blickwinkel, die Perspektive, die Belichtung, die Auflösung und der Kontrast der Aufnahme erzeugen beim Betrachter eine ganz bestimmte Vorstellung vom Charakter der fotografierten Architektur. Somit ist jede Fotografie ein Zusammenspiel aus subjektiven Variablen, eine Interpretation des Fotografen. Je nach dem Verwendungszweck der Fotografie fallen ihr Fokus und ihre Art unterschiedlich aus. Ein Dokumentationsbild, ein Reportagebild, ein künstlerisches Fachzeitschriftenbild, ein propagandistisches Plakatbild oder ein gewöhnliches Tagesblattbild, ganz gleich um welches es sich handelt, allen liegt der inszenatorische Charakter einer Fotografie zu Grunde. Ein häufiges Merkmal der Architekturfotografie ist die Bemühung, das Bauwerk als ein von der Umgebung losgelöstes und unberührtes Monument darzustellen. Dazu schreibt Julius Shulman in seinem Buch „Architektur und Fotografie“51, dass ein Gebäude unter möglichst optimalen Bedingungen fotografiert werden sollte. Andere wiederum, wie Margherita Spiluttini, sind der Ansicht, dass ein Bauwerk prinzipiell zu jeder Zeit fotografierbar ist.52 Die Verfechter des kontextuellen Standpunkts befürworten darüber hinaus eine Fotografie, die Architektur in ihrer Umgebung und im Gebrauch zeigt. Die Erfindung der Fotografie geht auf die Bemühungen des Joseph Nicéphore zurück, der seit 1815 mit der Lithografie und einer Camera Obscura experimentierte. Die Heliografie mit einer Belichtungszeit von über acht Stunden von 1826 ist das erste uns bekannte Foto. Zeitgleich erfand William Fox Talbot das Negativ-Positiv-Verfahren, das die beliebige Reproduktion der Bilder erlaubte. Bis zum Einzug des Rollfilms und der daraus folgenden Erfindung der Kleinbildkamera von Otto Barnack 1913 entsprach das Aufnahme-Format dem Ausgabe-Format, was die Größe und Unhandlichkeit der alten Apparate erklärt. Erst die Kleinbildkamera und ihre industrielle Weiterentwicklung machte die Fotografie mobiler und massentauglicher. Von Anfang an spielte die Architektur als Bildmotiv eine große Rolle bei der Fotografie. Anfangs als starres Motiv für die ersten mehrstündigen Belichtungszeiten äußerst geeignet, etablierte und verbreitete sich diese Darstellungstechnik vor allem als Reisedokumentation durch die wissenschaftlichen Erkundigungen des 19. Jahrhunderts. Ähnlich dem Buchdruck, der die textbasierte Wissensverbreitung revolutionierte, ermöglichte die Fotografie den Menschen eine visuelle Imagination der Welt und ihrer Bauten, ohne an die Orte reisen zu müssen. Auch der Staat erkannte die Vorzüge des Mediums hinsichtlich der Dokumentation, Vermittlung und Aneignung der Inhalte. Der in der Zeit der Nationalbewegung 1885 gegründeten „Königlich-Preußischen Messbild-Anstalt“ verdanken wir eine umfassende Fotodokumentation deutscher Baudenkmäler. Die Reihe der „Blauen Bücher“ vermittelte seit 1907 visuell die Baukultur und prägte ein an „Stein“ gebundenes Nationalbewusstsein durch die breite Veröffentlichung inszenierter Raum- und Architekturbilder (Abb. 1.14).53 Erich Mendelsohn ist in den 51 Gössel, Peter; Shulman, Julius (Hg.): Julius Shulman, Architektur und Fotografie, Köln 1998 52 Meili, Marcel: Interview mit Margherita Spiluttini und Heinrich Helfenstein, in: Daidalos 66, Gütersloh 1997, S. 24-39 53 „Von den schweren Ziegelbauten des Niederrheins bis zu den äußersten Vorposten deutscher Kämpfe im heutigen Russland und in Siebenbürgen - vom stillen Glücksburg im Norden bis zur trotzigen Trostburg im südlichen Tirol sind die deutschen Länder mit den wehrhaften Bauten der vergangenen Geschlechter in immer neuer Eigenart übersät. Diese Überfülle verdichtet sich, auf den 1. Kapitel 17 1920er Jahren einer der ersten Architekten, der seine expressionistische Architektur von professionellen Fotografen zu Werbezwecken ablichten lässt. Die Bildpostkarten, als ein weiteres Kind der Reisekultur, stellten sich als ein effektives Medium zur Verbreitung und Aneignung der Architekturidee der Moderne und des Bauhauses dar. Die vom Werkbund 1927 inszenierte Bauausstellung in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung wurde mit einer für die damalige Zeit atemberaubenden Stückzahl von 1,3 Millionen Bildpostkarten in alle Welt exportiert.54 Neben der Abbildung des Vorhandenen ermöglicht die Architekturfotocollage den Architekten und ihren Auftraggebern die Wirkung von Architekturprojekten in ihrer Umgebung einprägsam zu visualisieren. Diese Technik wurde in der Zwischenkriegszeit auch verstärkt zu Propagandazwecken benutzt, in denen Architektur und Volk geschickt inszeniert, beziehungsweise Architektur als „entartet“ karikiert wurde (Abb. 1.15). Heute ist Architekturaneignung ohne die Fotografie undenkbar. Nicht nur durch Fachzeitschriften und die Neuen Medien mit weit höheren Auflagen und einer breiteren Reichweite gelingt es der Fotografie, ein großes Publikum zu erreichen, das auch ohne Fachkenntnisse die Bildaussage erfassen kann. Film Eine Bildabfolge von Einzelbildern, eine Bildsequenz, ermöglicht die Dokumentation der Zeit. Die Abfolge in Bewegung aufgenommener Bilder vermag die Bewegung durch den Raum in der Zeit wiederzugeben. Diese zwei Kerneigenschaften machen das Medium Film aus. Demzufolge ist die Darstellungsart eine Weiterentwicklung der Fotografie durch die Zugabe der Zeitdimension. Durch die Erweiterung der Inszenierungspalette, wie zum Beispiel die Wahl der Kamerafahrt, verschiedene Überblendungs- und Schnittarten oder die akustische Vertonung, kann auf den Charakter des Filmes und seine Wirkung noch gezielter eingegangen werden als bei der Fotografie. Die Ausschreibung zum Festival „Architektur und Film“ in Berlin 2004 beginnt mit den Worten: „Architektur heißt, das Denken über den Raum in Gang zu bringen. Filmen heißt, auf eine bestimmte Weise die Welt zu zerspalten und sie neu wieder zusammen zu setzten. Die Verbindung der beiden gestaltet etwas Neues, was von einem der Beiden nicht zum Ausdruck gebracht werden kann.“ Damit kommen die Ähnlichkeit der beiden Medien und ihre unterschiedliche Beschäftigung mit gebautem Raum in der Zeit zum Ausdruck. Der Film kann gegenüber den anderen Medien die Zeitlichkeit, die sogenannte vierte Dimension, der Architektur verdeutlichen. So meint etwa Jacques Herzog 1983 in einem Artikel über die Darstellung der Architektur im Film, dass die Architektur, wie sie wirklich erlebt und empfunden wird, durch das Medium Film wesentlich deutlicher veranschaulicht werden kann als mit konventionellen Mitteln der Darstellung.55 engen Raum eines einzigen Buches zusammengepresst, zu einem überwältigenden Eindruck im Sinne jenes Satzes, das ein Volk wie das Deutsche, das vielleicht einer großen, gewiss aber einer schweren Zukunft entgegengehe, allen Anlass habe, sich mit seiner Vergangenheit zu verbünden. Der Verleger.“ Aus dem Klapptext in: Deutsche Burgen und feste Schlösser, hg. v. Karl Robert Langewiesche Verlag, 1913; zum Verlag: 1907 schuf Karl Robert Langewiesche die Gruppe der Kunstbücher und Fotobildbände, für die er 1907 den neuen Typ des billigen, dabei qualitativ erstklassigen illustrierten Buches entwickelte. Ab 1909 verwendete er die Markenbezeichnung „Die Blauen Bücher“, nachdem seine Bücher schon seit 1902 mit blauen Schutzumschlägen ausgestattet waren. 54 Sachsse, Rolf: Bild und Bau. Zur Nutzung technischer Medien beim Entwerfen von Architektur, Braunschweig 1997 55 Herzog, Jacques: Die Architektur der Darstellung, in: Werk, Bauen und Wohnen 11, 1983, S. 29-33 1. Kapitel 18 Die Eigenschaft des Films durch die Montage von Einstellungen die Illusion eines homogenen Bildraumes zu erzeugen und bei dem Betrachter den Eindruck des Betretens des architektonischen Raumes zu erwecken, stilisiert den Film zu einem entscheidenden Element bei der Architekturvermittlung. Anders als bei der Fotografie, die nur einzelne Einblicke und Perspektiven gewährt, entführt das Medium den Betrachter in eine zusammenhängende Sequenz von Ansichten. Seit den Anfängen des Filmes haben Architekten und Filmemacher immer wieder aufeinander Bezug genommen und sich gegenseitig beeinflusst. Die Filmarchitektur spiegelt zeitgenössische Entwicklungen und Veränderungen. Sie kann in wirtschaftlich schwierigen Zeiten der Raum an sich sein, in dem die Architekten die Möglichkeit bekommen ihre Visionen und Konzepte medial zu präsentieren. Der Film „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (1920) von Paul Wegener und Carl Boese gewährte der expressionistischen Architektur Hans Poelzig einen Entfaltungsraum. Der Kassenschlager „Metropolis“ (1927) von Fritz Lang stellte die mediale Plattform für die futuristischen Hochhausvisionen zur Verfügung (Abb. 1.16). Der Film kann somit zum Laboratorium für die Erforschung der Architektur und der Stadt werden, in dem die Filmarchitektur verschiedene konkrete Ausformungen der Architektur vorweg nehmen kann.56 In dieser Reihe sind auch Filme wie „James Bond“ (1962-2008) oder Blockbuster wie „Blade Runner“ (1982) anzusiedeln, die als Kultfilme neue Standards, von der Architektur bis hin zum Kugelschreiber, etablieren und so den Zeitgeist und die zukünftige Entwicklung prägen. Auf der anderen Seite führt das „On Location Shooting“, die Filmproduktion an realen Orten, zu einer Fiktionalisierung des realen Stadtraums. Viele uns geläufige architektonische Motive kennen wir erst einmal aus dem Filmen, so dass die Realität, etwa die Straßenschluchten Manhattans, wie ein Film gesehen werden kann.57 Das 20. Jahrhundert war ein „filmisches“ Jahrhundert, in dem die Filmwerke zu Medien der Massenkommunikation wurden. Was mit dem berühmten Satz „Für uns ist der Film die wichtigste aller Künste“ von Lenin begann, sollte vor den Grenzen der Sowjetunion nicht halt machen. Die neue Kunst wurde in den staatlichen Dienst aller Diktaturen gestellt, bei denen Filme wie „Triumph des Willens“ (1935) geschickt die in Architektur eingebundene Geschichte und Staatsmacht propagierten (Abb. 1.17). Der Dokumentationsfilm, dessen Meisterin Leni Riefenstahl war, und das Phänomen des Fernsehens beeinflusst seit jeher durch emotionalisierte Architekturbilder unser Gedächtnis. Dem Brandenburger Tor wäre ohne die Bilder von tanzenden Ost- und Westberlinern auf der Mauer 1989 nicht eine solche Bedeutung als Symbol der Deutsche Einheit beigemessen worden. Und erst die weltweit pausenlos gesendeten Bilder von der einstürzenden Architektur des World Trade Centers 2001 schufen ein weltumspannendes Gedächtnis und eine mehr oder minder feste Solidarität mit den USA im Kampf gegen die „Achse des Bösen“. Die Filme und ihre subjektive Architekturdarstellung kreierten nicht nur Mythen der Moderne, sie prägten den Zeitgeist und mit ihm den Bau- und Designstil. Die emotionalisierte Anschaulichkeit und Zeitlichkeit des Mediums enthob schließlich die Architektur dem Bildungsanspruch der klassizistischen Architekturtheorie und machte sie den bürgerlichen und proletarischen Schichten audio-visuell zugänglich. 56 Neumann, Dietrich (Hg.): Filmarchitektur. Von Metropolis bis Blade Runner, München 1996 57 Sanders, James: Celluloid Skyline. New York and the Movies, New York 2003 1. Kapitel 19 1.2.4. Die Digitalisierung der Architektur - die Computerdarstellung Das Charakteristische der Neuen Medien und der digitalen Computerdarstellung liegt in ihrer Immaterialität. Der ihr zu Grunde liegende Binärcode und die algorithmischen Prozesse sind nicht sichtbar und vom Menschen nicht nachvollziehbar. Das Medium basiert auf dem Zusammenspiel von der Hardware (Computer) und der zweckgebunden Software (Programmierung). Den Kern der Neuen Medien schilderte der Kommunikationstheoretiker Vilém Flusser als die Möglichkeit, alles in beliebiger Form zerlegen und in beliebiger Form wieder zusammensetzen zu können.58 Im Unterschied zum Film sind dem „Zerlegen und neu Zusammensetzen der Welt“ keine Grenzen gesetzt. In Folge der Immaterialität des Binärcodes spielt die Entfernung bei der Informationsvermittlung keine Rolle mehr. Die globale Vernetzung der Rechnerzentren und weltweite Verteilung der Daten sichert den Erhalt der Information sogar vor atomaren Anschlägen. Die Vernetzung und mobile Technologie erlaubt der Informationsgesellschaft einen ubiquitären Informationszugang.59 So wie der von Informations- und Kommunikationstechnologien und Neuen Medien eingeläutete Paradigmenwechsel alle Bereiche der menschlichen Lebensformen betrifft, so tangiert die von ihr ausgehende Digitalisierung auch alle Architekturdarstellungsformen und schlussendlich auch die Architektur in gebauter Form. Das Fachgebiet Informations- und Kommunikationstechnologie in der Architektur (FG IKA) an der Technischen Universität Darmstadt, das sich unter der Leitung von Manfred Koob mit den Auswirkungen und Wechselwirkungen der Neuen Medien auf die Architektur beschäftigt, definiert für sich vier Hauptuntersuchungsfelder. • Architektur mit dem Rechner verkörpert den Siegeszug der Informations- und Kommunikationstechnologie über den reinen Schaffensprozess des Architekten hinaus. Es bedeutet den Ersatz der klassischen Werkzeuge der Architekturdarstellung, wie dem Bleistift (Skizze), dem Rapidografen (Planzeichnungen/Perspektive), der Modellbaukunst (Modell), der Fotografie (Fotocollage) und aller anderen Darstellungsformen. Es ist die neue Kunst der 2D, 3D und 3D modellorientierten CAD-Anwendung, die eine maßgenaue Durchgängigkeit in Grafik, Berechnung und Simulation mit sich führt. • Architektur im Rechner beinhaltet die Bündelung des vorhandenen Wissens um die Baukunst mittels derer eine Rekonstruktion und Simulation zerstörter oder nie gebauter Architektur und ganzer Stadtanlagen räumlich dargestellt werden können. • Architektur Arc hitektur aus dem Rechner ist die experimentelle Methode der computerbasierten Formfindung. Dabei wird der Raum mittels Parametern und den damit zusammenhängenden rechnergestützen Prozessen transformiert. Das parametrische Entwerfen, wie es auch genannt wird, ist eine neue Gestaltfindung mittels dynamischer Gestaltungsmethoden. • Architektur durch den Rechner meint die Aufhebung der Grenzen zwischen der architektonischen Materialität und der informationellen Immaterialität. Es ist die Dynamisierung von Architektur in 58 59 Nach Koob, Manfred: Mind‘s Eye. Digitales Virtuelles Olympisches Museum, München 2008, S. 42f. Das Phänomen der Allgegenwärtigkeit der Information in den Informations- und Kommunikationsgesellschaften wird gleichzeitig von einer Ausbildung neuer Informationsperipherien begleitet. Dort wo keine Vernetzung vorhanden ist, entstehen neue Arten der Ausgrenzung. Manuel Castells schildert ausführlich die neue Informationsgesellschaft und zeigt die sozialen Schattenseiten des Informationszeitalters. In: Castells, Manuel: Das Informationszeitalter. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001; ebd.: Die Macht der Identität, Opladen 2002; ebd.: Die Jahrtausendwende, Opladen 2003 1. Kapitel 20 Wechselbeziehung von Objekt und Subjekt durch die Verknüpfung von Information und Materie als „8. Baustoff“. Die Bedeutung des Paradigmenwechsels für die menschliche Kommunikation wurde seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits von Medientheoretikern, wie Marshall McLuhan, angedeutet. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie auch die Architektur in all ihren Facetten maßgebend beeinflussten. Den Schub für die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie lieferte der Kalte Krieg und sein Wettlauf um die Vorherrschaft im Weltraum. Die erste Software für Architekten folgte mit der Vorstellung von Urban 5 im Jahr 1968 durch Nicholas Negroponte. Architekturrelevant im großen Stil wurden die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien mit der technischen Entwicklung der 90er Jahre, als die Hardware genügend Prozessorleistung für anspruchsvolle Softwareanwendungen mit sich brachte, die Preise für die Ausrüstung akzeptabel wurden und das Internet die menschliche Kommunikationsform revolutionierte. Die zeitliche Reihenfolge der Siegeszüge der Neuen Medien im Hinblick auf die Architekturdarstellung folgt den vier vom FG IKA aufgestellten Arbeitsgebieten Die „Architektur mit dem Rechner“ verdrängte die alten Darstellungswerkzeuge der Architekten. Allgemein kann man sagen, dass heute kein Student des Fachbereiches Architektur erfolgreich sein Studium meistert, der seine Architektur nicht im CAD-Programm gleich auch in der dritten Dimension Zeichnen, die daraus „gerenderten“ Perspektiven im Bildbearbeitungsprogramm Nachbearbeiten, die Pläne im Layoutprogramm Setzten und im Filmschnittprogramm eine Simulation in Form eines Animationsfilmes Zusammenstellen kann. Freeware Programme wie Google SketchUp berauben ihn sogar der Notwendigkeit die ersten räumlichen Phantasien in Form einer beiläufigen Handskizze zu zeichnen. Im Gegenzug kommen immer mehr junge Architekten mit dem Stift in der Hand in Verlegenheit (Abb. 1.18).60 Die Entdeckung der Potentiale des Neuen Mediums für die „Architektur im Rechner“ wird Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gemacht. Es sind Projekte wie die digitale Rekonstruktion von Cluny III., in denen das Wissen um zerstörte oder nie gebaute Architektur erfasst und im Rechner abgebildet wird.61 Die aus der Beschäftigung mit den neuen Möglichkeiten kommende Idee der „Architectura Virtualis“ von Manfred Koob formuliert den Gedanken, die „Architektur im Rechner“ als ein ideales Medium für Museen zur Bündelung, Konservierung, Erforschung und Vermittlung des gesamten Wissens um die Baukunst zu betrachten.62 Dem erinnerungskulturellen Aspekt dieser Anwendung entspricht sowohl die verbreitete Anwendung der digitalen Architekturrekonstruktionen in musealen Ausstellungen, als auch ihre verstärkte Ausstrahlung in Dokumentationsfilmen. In seiner wissenschaftlichen Arbeit zu den Potentialen der immateriellen Zeugnisse in der Erinnerungskultur am Beispiel der langjährigen 3D-Computerrekonstruktionen der deutschen Synagogen stellt Marc Grellert die Zugänglichkeit des Mediums und seine Emotionalisierung der Betrachter durch die authentische 60 Diese idealisierte Behauptung beruht auf den eigenen Beobachtungen am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt seit 1999. Bei den Diplomarbeiten im Sommersemester 2009 beschränkten sich die Handzeichnungen auf kleine Skizzen und Symbole, die Architektur wurde fast ausschließlich durch computergenerierte Bilder vermittelt. 61 Cramer, Horst; Koob, Manfred (Hg.): Cluny III. Architektur als Vision, Heidelberg 1993 62 Koob, Manfred: Architektura Virtualis. Konzept für das 1. Digitale Architekturmuseum, ein Wissenschaftsort für Forschung und Dokumentation der Kunst der Bautechnik im dritten kulturellen Weltgedächtnis, Bensheim 1995 1. Kapitel 21 Visualisierung heraus.63 Die „Architektur im Rechner“ und ihre Animation ersetzt zunehmend die Bedeutung der materiellen Modelle und eröffnet neue Möglichkeiten für die Filmproduktion (Abb. 1.19).64 Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts und der Entwicklung der 3D-Animationssoftware, erlebte neben der Computeranimation das parametrische Entwerfen seine Renaissance. Die Pioniere der „Architektur aus dem Rechner“, wie Peter Eisenman, Nicolas Grimshaw, Frank O. Gehry, Gerg Lynn oder Ben Van Berkel schafften es, ihre computergestützt erstellten Architekturformen mit ihrer neuen Architektursprache im realen Raum zu installieren. So ist die „Neo Avantgarde“, „New Barock“, beziehungsweise „Elektronischer Barock“, wie diese neue Architekturrichtung genannt wird, mit ihren Repräsentanten wie den anfänglich beliebten „Blobs“ ein „steingewordenes“ Zeugnis unserer digitalen Zeit (Abb. 1.20). Die Medialisierung der Architektur ist die neueste Entwicklung der Digitalisierung der Architektur. Die Verknüpfung von Information und Materie, die „Architektur durch den Rechner“, verfolgt das Ziel einer intelligenten Architektur, die auf die Anforderungen der Umgebung reagiert und mit dieser kommunizieren kann. Die Medienfassaden, wie die 40-Watt-Leuchtstoffröhren des Gratzer Kunsthauses (2003) oder die einfachen Leuchtpneus der Allianz Arena in München (2005) sind nur die Vorboten einer elektrischen Medienarchitektur. Auch die zur Zeit exzessiv eingesetzten LED-Fassaden, wie sie am Times Square in New York, am Agbar Tower in Barcelona, an der Nationalbibliothek in Minsk oder an der 7500 Quadratmeter großen „Skyscreen“-Überdachung einer Pekinger Shoppingmall weltweit beobachtet werden können, sind erst einmal eine platte Anwendung des Phänomens „Public Viewing“ auf die Architektur (Abb. 1.21). 1.2.5. Die Publikation der Architektur - die analoge und digitale Veröffentlichung Die Publikation bezeichnet entweder den Vorgang der öffentlichen Zugänglichkeit von bestimmtem Material oder das konkrete Medium, mit dem dieses Material bekannt gemacht wird. Das Wesentliche einer Publikation ist in der Regel ihr Inhalt und nicht das einzelne Exemplar, beziehungsweise eine Kopie. Sie bedient sich vielfältiger Trägermedien und dient primär dem Propagieren und Festhalten von Inhalten. Die Wahl des Trägermediums, die Kombination von einer Fülle von Darstellungsmedien, wie Text, Bild, Ton und Film, ihre Typographie und ihr Layout können die jeweils beabsichtigten Aussagen eindrucksvoll unterstützen. Der Zweck der Architekturpublikation liegt einerseits im Informationsgewinn, andererseits in der Selbstdarstellung. Die klassischen Bereiche der Architekturpublikation in Buchform sind die Architekturtheorie, die Architekturgeschichte, die Architektenmonographien, die Architekturführer sowie thematische Coffee Table Books zu populären Architekturthemen. Auch bei den Zeitschriften reicht die Bandbreite von wissenschaftlichen Zeitschriften bis hin zu populären Hochglanzmagazinen. Die Architekturpublizistik hat im Laufe der Zeit ihre Zielgruppen ständig vergrößert und differenziert. Die parallele Ausbreitung auf neue Märkte und Medien, wie Bildbände, Wohn- und Lifestylemagazine 63 Grellert, Marc: Immaterielle Zeugnisse. Synagogen in Deutschland. Potentiale digitaler Technologien für das Erinnern zerstörter Architektur, Bielefeld 2007 64 Das 3D-Druckverfahren, sogenanntes „Rapid-Prototyping“, ermöglicht aus digitalen Datensätzen haptische Modelle in verschieden Materialien zu drucken. Das Verfahren befindet sich seit beginn den neuen Millenniums auf den Vormarsch und wird demnächst den klassischen Modellbau mit Messer und Schneidelineal ersetzen. 1. Kapitel 22 und das Internet, spricht heute ein Massenpublikum an. Der Bildanteil, das Visuelle in der Publikation, spielt dabei eine immer größere Rolle. So verdrängen nicht nur in den internationalen Architekturmagazinen die Bilder langsam den beschreibenden Text. Viele Bauten werden im Zuge ausschließlich durch Fotos publiziert. In vielen Fällen haben die Redakteure und Autoren das Werk nicht einmal im Original gesehen. Dabei wird der Fotograf nicht selten von dem Architekten gezielt eingesetzt, um ein wieder erkennbares Bild in den Medien zu produzieren.65 Die Kritik an der Instrumentalisierung der Architekturpublikation zur Selbstdarstellung ehrgeiziger Architekten folgt der von Georg Franck definierten „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Sie folgt der Erkenntnis, dass man heutzutage nicht groß wird „in dem man Dienstleistungen nach Honorarordnung produziert, sondern dadurch, dass man Aufmerksamkeit verdient.“66 Für viele Architekten sei dieser immaterielle Reichtum in Form von Aufmerksamkeit wichtiger als der eigentlich materielle Reichtum. Schließlich kann der Zweck einer Publikation für den Architekten aber auch darin bestehen, mit dessen Hilfe wieder Kontrolle über seine Kreationen und Entwürfe zu erlangen. Die Publikation einer figurativen Darstellung könne den Eindruck von einem bereits errichteten Gebäude auf seine ursprüngliche Konzeption zurückführen und sei damit ein Akt der „Wiederinbesitznahme“ des Entwurfes für den Architekten.67 Die Anzahl der verschiedenen Publikationsformen, ist in den letzten 500 Jahren sprunghaft angestiegen. Vor der Erfindung des Buchdrucks konnten Architekturtraktate nur durch Abschriften vervielfältigt werden. Die wenigen Manuskripte existierten vorrangig in den Klosterbibliotheken und waren für Bauleute und Interessierte kaum zugänglich. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert und der Entwicklung eines weltweit agierenden Verlagswesens wurde die Demokratisierung, man kann auch sagen die „Veröffentlichung“ des Wissens, möglich. So wird in der Renaissance der Umgang mit Publikationen Teil der beruflichen Aktivität von Architekten und die Architekturvermittlung in Form von bebilderten Reiseberichten im großen Stil vorangetrieben. Die Geschichte der Architekturpublikation ist von dem bereits erwähnten Siegeszug der visuellen Darstellungsformen geprägt. Richtet sich das textbasierte Architekturtraktat von Leon Battista Alberti (1404-1472) noch an eine Handvoll Architekten, vornehme Laien und den Hof, so erschliessen die späteren illustrierten Publikationen ein immer breiteres Publikum. Es ist Albrecht Dürer (1471-1528) der als erster den Text von den Illustrationen trennt, in dem er diese auf gegenüberliegende Seiten setzt. Sebastiono Serlio (1475-1554) kehrt das Verhältnis von Text und Bild um, in dem er sein Traktakt mit großformatigen Abbildungen und kommentierenden Text gestaltet. Andrea Palladio (1508-1580) illustriert sein Traktat reich, das als eine neu aufkommende Form der Werkmonographie aufgefasst wird, mit idealisierten Abbildungen seiner eigenen Projekte. Das stetige Verdrängen des Textes durch die Bilder folgt der technischen Entwicklung ihrer Reproduktion. Die Lithografie ersetzt um 1800 die kostspieligen Holz- und Kupferstiche der ersten Buchdruckepoche. In der Folge fanden Mappenwerke und Vorlagenwerke, die hauptsächlich aus Abbildungen bestanden, immer größere Verbreitung. In Frankreich entstand 1800 das erste Architekturmagazin als Diskussionsforum für die Architektenschaft. Das 19. Jahrhundert war das der aufblühenden Architekturzeitschriften, die ab der Jahrhundertmitte immer häufiger mit Fotografien illustriert wurden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts explodierte die Zahl der Veröffentlichungen, ermöglicht durch Fotografie und Offsetdruck. 65 Lootsma, Bart: Bart: Das Bild und das Visuelle, Plädoyer für eine freie Architekturfotographie, in: Daidalos 66, 1997, S. 16-23 66 Franck, Georg: Funktionalismus der Auffälligkeit, in: Der Architekt 5/6, 2004, S. 26-29 67 Lipstadt, Hèléne: Architecture and it‘s image. Nodes towards the Definition of Architectural Publication, in: Architectural Design 59, Drawing into Architecture, 1989, S. 12-23 1. Kapitel 23 Zur gedruckten Publikation hat sich heute das Konkurrenzmedium Internet gestellt. Das junge Kind des im letzten Jahrhundert ausgerufenen Informations- und Kommunikationszeitalters wurde 1990 in der uns heute bekannten Form „veröffentlicht“. Seine Macht gründet auf der Kombination der Vorzüge seiner digitalen Eigenschaften und der rasanten technischen Entwicklung von Infrastruktur, Hardware und Software. Die auf der Immaterialität basierende Gleichzeitigkeit seiner Information, die leichte Veröffentlichung per Mausklick, die Vernetzung der Information mit dem Hypertext, die vielfältigen Darstellungsweisen unter neuem Einbezug von Text, Ton, Bild und Film etablieren das universelle Medium am Ende dieser Entwicklungskette. Auch hier dominiert stark das Bild und verstärkt auch die Filmsprache in der Architekturvermittlung. Interessant ist, dass die zunehmende Inbesitznahme des neuen Mediums zu Selbstdarstellungszwecken der Architekten, die Bedeutung der klassischen Printmedien in diesem Prozess nicht schmälert. Das Ringen um die Aufmerksamkeit mit allen Mitteln zeigt sich auch darin, dass viele Architekten aufgrund von nicht unerheblichen Druckkostenzuschüssen weiterhin in Büchern und Zeitschriften veröffentlicht werden.68 1.2.6. Der „Reiseführer“ als Medium der Raumaneignung Wenn man sich mit dem Medium „Reiseführer“ befasst, so kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass es eigentlich keinen Speziellen gibt. Alleine die Vielfalt der inhaltlichen Kategorien, vom „Führer zur Berliner Mauer“ über „Kulinarischen Führer durch Ungarn“ zum „Sprachführer zu Polen“, und der medialen Arten, vom „Fremdenführer in menschlicher Gestalt“ über „gedruckte Stadtführer“ zum „hybriden Geocaching“ zeigt schon, welch breites Spektrum mit dem Wort „Reiseführer“ abgedeckt werden kann. Der Reiseführer, als eine Gattung der Publikation, ist eine reisepraktische Gebrauchsliteratur von kurzer Aktualität, die heute weit über das Printmedium hinausragt. Allgemein gesprochen dient das Medium der öffentlichen Verfügbarmachung von Information zum Raum. Ihre Publikation dient dem Propagieren und Festhalten von raumbezogenen Inhalten, die zur Aneignung eines fremden, unbekannten Raumes führen sollen. Infolge der Etikettierung, Hierarchisierung und Katalogisierung der Bestandteile eines gebauten Raumes wird eine Gedächtnislandschaft konstruiert. Bezeichnend ist dabei die Inklusion und Exklusion von Orten, Räumen, Personen und Ereignissen je nach dem welche Bilder konstruiert werden. Der Reiseführer dient der Normung der Reiseziele und der Konditionierung von Reisenden.69 Er ist im klassischen Sinne eine Art mediale Sehhilfe, die den Blick von vornherein normt und lenkt, in dem sie das Fremde hervorhebt, um das Eigene zu stärken. Man sieht nur das, was man kennt. Nach der gesetzlichen Regelung vom 29.08.1997 werden folgende Aufgaben dem Beruf eines „touristischen Reiseführers durch die Stadt“ in Polen aufgetragen: „Die Darstellung der Stadt und ihrer einzelnen Objekte in einer Art und Weise, die dem Besucher nicht nur die Erinnerung an die Stadtbilder ermöglicht, sondern auch ein einigermaßen kondensiertes Wissens zu diesen vermittelt; Die Verknüpfung der Information zur Stadt mit der Geschichte, der Kultur und der Geographie des ganzen Landes, als auch das Aufzeigen der Stellung der Stadt im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben des Staates; Die Vermittlung der historischen, kulturellen und weiteren Zusammenhängen mit der 68 Marquart, Christian: Hohelied. Der Buchmacher, in: Deutsche Bauzeitung 8, 1995, S. 28f. 69 Enzensberger, Hans Magnus: Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur, 12. Jg., 1958, S. 701720. Zuletzt wieder abgedruckt in einem Sommerheft von: Universitas, 42. Jg., 1987, S. 660-676 1. Kapitel 24 Geschichte und Kultur Europas; [...].“70 Die in der Deutschen Demokratischen Republik einst treffend genannten „Stadtbilderklärer“ sollen demnach weniger erklären als einprägsame Stadtbilder mit einer didaktischen Konnotation stricken. Die so hergestellten Gedächtnislandschaften haben je nach ihrer Entstehungszeit ihren spezifischen, meist national-politisch bedingten, Schwerpunkt. Die wichtige daraus resultierende Frage bei der Auseinandersetzung mit den Reise-/Stadtführern ist daher stets, die nach dem Herausgeber, der Interessengruppe und dem Zweck der Publikation.71 Die Reiseführer entstammen im Grunde genommen der Reiseliteratur der früheren Neuzeit. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird die „Reise“ unter der Rubrik „Edukation“ in den Enzyklopädien als wesentlicher Bestandteil der Bildung höherer Schichten allgemein anerkannt. Die Reise wird zur Schule des Lebens, die ihre Legitimation aus der Antike bezieht, ausgerufen. Es ist die Zeit vor der Einführung des humboldtschen Universitätssystem und der uns bekannten Bildungslandschaft, in der die Reiseliteratur eine zentrale Wissensvermittlung darstellt. Die Enzyklopädie von Segler aus dem Jahr 1742 stellt unter dem Begriff „Reise“ die berühmten „90 Reiseregeln“ vor. Hier heißt es, dass der Reisende vor den Reisen unter anderem die jeweilige Landessprache zu lernen hat, als auch alle vorhanden Quellen zum Zielland als Vorbereitung unbedingt gelesen haben soll. Des Weiteren wird dem Reisenden vorgeschrieben, in welche Richtung seine Wahrnehmung während der Reise gerichtet werden soll und wie er das Wahrgenommne niederzuschreiben hat. Das Ziel einer jeden Reise der damaligen Zeit war eine Wissensvermittlung in nicht selten enzyklopädisch wirkenden Reiseberichten. Charakteristisch für diese ist die reine narrative Beschreibung ohne Bild- und Kartenmaterial sowie die Zirkulation der Information.72 Johann Wolfgang von Goethe kann hier repräsentativ für alle Bildungstouristen der damaligen Zeit herangezogen werden. Während seiner zweijährigen Italienreise (1786-1788) besucht er den Markusplatz in Venedig, den er in einem narrativen Bild so beschreibt, wie er ihn vor der Reise aus dem Reiseführer zu Italien von Johann Jakob Volkmann gelesen und sich vorab angeeignet hat.73 Er versäumt es aber nicht, an anderen Stellen auch Unstimmigkeiten mit dem einst angeeigneten Bild aus Volkmanns Führer aufzuweisen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird auf Grund der steigenden Zahlen der Reisenden von einer eintretenden „Demokratisierung der Reise“ gesprochen.74 Die Reise bleibt aber alleine wegen ihrer Dauer und den damit einhergehenden Kosten ein elitäres Unterfangen. Der Begriff kommt erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Tragen, als die Industrialisierung und der Ausbau des Eisenbahnsystems Europa umstrukturierte. Die verkehrstechnische Revolution brachte einen Wandel in 70 http://pl.wikipedia.org/wiki/Przewodnik_turystyczny (besucht am 06.03.2008) 71 Ein Paradebeispiel stellen hier die Reiseführer von dem 1908 gegründeten „Verein des Deutschtums im Ausland“ dar. Sie allesamt organisierten Reisen mit einem „bleiernen nationalen Rucksack“ und vermittelten einen deutschen kulturellen Raum außerhalb der Reichsgrenzen. 72 Die Kunst des Reisens, die Apodemik, entstand zeitgleich mit den großen Entdeckungsreisen. Die Apodemik blühte vom 16. bis 18. Jahrhundert. Die Reise wurde zur Kunst erhoben, desgleichen ihre Beschreibung. Das Reisen selbst wurde methodisiert und beinhalteten einen zirkulierender Wissensprozess, das mit dem Einlesen begann, mit der Verschriftlichung der Erlebnisse sich fortsetzte und mit dem abschließenden Reisebericht endete. Auf: www.reise-und-literatur.at/kunstdesreisens.html (besucht am 20. Oktober 2009) 73 Volkmanns, Johann Jacob: Historisch-kritische Nachrichten von Italien. 3Bde., Leipzig 1770/71. Es handelt sich dabei um den ersten deutschsprachigen Reiseführer zu Italien, der 1777/78 eine zweite Ausgabe erlebte. Mit ihn ist außer Goethe unter anderem auch Lessing gereist. Der Reiseführer befindet sich auch unter der für den jugendlichen Prinzen Louis Ferdinand von Preußen sorgfältig ausgewählten Lektüre. 74 Allein im Zeitraum 1770 bis 1800 versechsfachte sich die Reiseliteratur zu Polen und Frankreich im deutschsprachigen Raum. In: Struck, Bernhard: Nicht West nicht Ost, Dissertation zu Reiseführern durch Frankreich und Polen 1750-1850, Göttingen 2006 1. Kapitel 25 der Raum-Zeit-Relation mit sich. Die Schrumpfung des Raumes und die Ökonomisierung der Zeit sollten ein neues Kapitel in der Reisekultur mit sich bringen. Der moderne Tourismus sollte zeitlich, nicht mehr räumlich, begrenzt sein.75 Die Geburtsstunde der klassischen Vertreter der Gattung sollte fast zeitgleich mit dem Reiseführer „Rheinreise von Mainz bis Köln“ (1835) vom Karl Baedeker und den „Red Book“ zu Holland, Belgien und Rheinland (1836) von John Murray eingeläutet werden (Abb. 1.22). Das Konzept des Sehenswerten an sich wurde von dem Engländer Murray mit der Einführung des Sternesystems geprägt, der dadurch gemeinsam mit dem Deutschen Karl Baedeker als einer der Propheten des Tourismus gelten kann.76 Die Reiseführer orientieren sich an den neuen Eisenbahnlinien und den Flüssen. Der Zusammenhang zwischen dem Medium und der Eisenbahn wird durch die Strukturierung der Baedeker Reiseführer nach den Eisenbahnlinien ab 1856 ersichtlich. Die Begeisterung für das neue Fortbewegungsmittel mündete in seitenlangen Beschreibungen der Strecken. Um 1870 setzt in Folge der verbesserten Infrastruktur eine Ausbreitung der Reiseziele ein, die immer exotischer und ferner werden. Zusätzlich feiert die Fotografie und mit ihr die fotografische Erfassung der Welt, ihren Siegeszug. Bereits um diese Zeit gilt die meiste Welt als fotografisch erfasst. Hier wäre der berühmteste Beadeker Reiseführer „Unter-Ägypten bis zum Foyum“ (1. Auflage, 1871), indem zum ersten Mal eine Fotografie (Sphinx) zu sehen ist, zu nennen. Die mit der Fotografie beginnende Zerstückelung der Welt läutet endgültig das Ende für den „Panoramablick“ und die Reiseberichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein.77 Den Prozess der Verbildlichung veranschaulicht der Wahn mit dem meist national besetzte Bildpostkarten bis Ende des 19. Jahrhunderts produziert und verkauft werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesellen sich zu den klassischen Reiseführern der Baedeker-Ära eine Reihe von neuartigen spezialisierten Reisebegleitern. Es ist die Stunde der Reiseführer für Frauen, Radfahrer, Angler, Katholiken, und so weiter. Neben der Differenzierung des Angebots an Reiseunterlagen ist ein steigendes Interesse für die Großstadt zu erkennen.78 Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Zeit der Filme, wie „Metropolis“ und „Die Symphonie einer Großstadt“ aus dem Jahr 1927, die noch einmal den Blick auf die Stadt revolutionieren. Der Raum wird filmisch gesehen, die Städte szenisch beleuchtet, die Zusammenhänge 75 Spielte auf Reisen Goethes und seiner Zeitgenossen der Zeitfaktor eine untergeordnete, die inhaltlich-wissenschaftliche Auseinadersetzung dagegen eine große Rolle, so kehrte sich dieses Verhältnis mit dem modernen Tourismus um. Diese Wende bei den Reisen schlägt sich bereits um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20 Jahrhundert in den Titeln der Stadtführer, die mit Schlagwörtern wie „Durch Breslau in Eile“ (1902) auf die neuen Bedürfnisse einzugehen versuchen. 76 Neben Karl Baedeker sollte für den deutschen Sprachraum der Verlag von Theobald Griebens, der ab 1850 die Griebens-Reiseführer herausgab, genannt werden; kostengünstig, übersichtlich in der Gestaltung, Hervorhebung durch fett/kursiv/Großschreibung, Sternesystem, illustriert mit Fotografien, handliches Format, alphabetisches Register, Straßenregister, etablierte den ersten Plansucher, frankierte Postkarte für Verbesserungskommentare an den Verlag; (ab 1924 Albert Goldschmidt Verlag Berlin, 1944: 250 Europa deckende Bände) 77 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beobachtet man in Europa eine wachsende Popularität von Panoramabildern, die den Besuchern ein illusionistisches Rundumbild von entfernten Orten zeigen, die noch ganz in der Tradition eines alles umfassenden Interesses der früheren Entdeckungsreisen verhaftet sind. Mit dem Ausbau der Eisenbahn ändert sich die Sicht auf die Welt. Die Eisenbahn wird zum optischen Medium eines transitorischen Panoramaerlebnisses. So wird 1831 in Breslau ein Panorama der neuen transitorischen Sichtweise angeglichen. Die Besucher fahren in einer nachgebauten Barke entlang der Bucht von Neapel. Nach: Müller, Susanne: Eine Medienkulturgeschichte des Reisens, in: Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer zu Ost- und Mitteleuropa, Tagung von Academica Baltica, Deutsches Polen Institut und Universität Kiel, Lübeck, 24.-26.10.2008 78 Im Jahr 1902 kommt die 12. Auflage des Stadtführers „Berlin und Umgebung“ aus dem Baedeker-Verlag, im Jahr 1914 erscheint die 58. Auflage des Stadtführers „Berlin und Umgebung“ aus dem Griebens-Verlag 1. Kapitel 26 neu geordnet. Kraft des Schnittes wird ein spielerischer Umgang mit dem Raum bevorzugt. Der Trend dieser Sichtweise setzt sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Die Auflösung der räumlichen Bezüge und die Fokussierung auf einzelne losgelöste Attraktionen wird in Veröffentlichungen wie „Die Sehenswürdigkeiten Europas“79 und „1000 Places to see before you die“80 deutlich, bei denen den Pariser Louvre nur wenige Seiten vom Oktoberfest in München trennen. Die allgemeine Tendenz der Verdrängung der Texte durch die Bilder ist ebenfalls bei den Reiseführern zu verzeichnen. Die modernen, so genannten „Visuellen Reiseführer“, allen voran die 1993 eingeführte Vis-à-Vis Reihe vom Dorling Kindersley Verlag, die mit dem Werbeslogan „Guides who show you what others tell you“ bis heute bereits 33 Millionen verkaufte Exemplare aufweist, zeigen, wohin die Entwicklung geht (Abb. 1.23).81 Basierend auf einer Standardisierung und Typisierung der Seitenanzahl und ihrer Gestaltung vermitteln sie mit einer Fülle von farbenfrohen Bildern und begleitendem lakonischen Text ein primär visuelles Erlebnis, das der Vision eines sonnigen und lächelnden „Global Village“ nahe kommt. Berüchtigt sind die von der Vis-à-Vis Reihe erstmals eingeführten axonomischen Schnitte durch eine zeichnerisch-malerische Architekturperspektive mit explosionsartig um diese angegliederten Fotografien zu der Innenausstattung des dargestellten Objektes. Sie zielen vorrangig auf den englischsprachigen Massenkonsumenten bei dem man glauben könnte, ein „Denkmal ist ein Ort, an dem man ein Auto parken, eine Postkarte kaufen und eine Toilette aufsuchen kann.“82 --Die Architektur ist über ihren eigentlichen Zweck hinaus eine Form der menschlichen Kommunikation. Spätestens seit der Aufstellung der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes und der Baudenkmaldebatte ist allgemein bekannt, dass sie als Teil des kulturellen Gedächtnisses Information zu dem Raum, der Zeit und ihren Bewohnern verkörpert und vermittelt. Sie selbst ist ein Medium, das auf andere Medien hinsichtlich ihrer Vermittlung, vor allem aber ihrer erinnerungskulturellen Dimension, angewiesen ist. Als eine räumlich starre, fest verortete und vergängliche Bausubstanz greift sie auf eine Vielzahl von Medien zurück, um in Erinnerung zu bleiben. Die Auslagerung und Verteilung der Information auf andere Informationsträger soll sie, analog dem menschlichen Gedächtnis, vor dem Vergessen bewahren. 79 PolyglottPolyglott-Verlag: Die Sehenswürdigkeiten Europas : 142 Sehenswürdigkeiten. Von der Akropolis in Athen bis zum Zwinger in 80 Schultz, Patricia: 1000 Places to see before you die. A Traveler`s Life List. Workman 2003 (dt. Ausgabe: 1000 Places to see before Dresden - die 142 berühmtesten Sehenswürdigkeiten von A – Z. München 1987 you die. Die Lebensliste für den Weltreisenden, Ullman/Tandem Verlag 2007); siehe auch die gleichnamigen TV-Dokumentationen auf Travel Channel sowie die Internetseite www.1000beforeyoudie.com (besucht am 19.10.2009) 81 „Vis-à-Vis ist nicht ohne Grund die weltweit erfolgreichste Reiseführer-Reihe: Nirgendwo sonst findet man eine so gelungene Mischung aus Reiseführer und Bildband, gespickt mit Aufrisszeichnungen und Detailansichten und natürlich allen weiteren Informationen, die man von einem Reiseführer erwartet. * Reiseführer, Atlas und Bildband in einem * Faszinierende Einblicke durch aufwendige Detailzeichnungen * Weltweit über 33 Millionen mal verkauft“, Werbetext zu der Vis-à-Vis Reihe von DorlingKindersley auf: http://www.dorlingkindersleyverlag.de/adults/special_reisefuehrer_visavis.php?category=Reisef%FChrer (besucht am 30.10.2009) 82 Omilanowska, Małgorzata: Das Bild der Länder und Hauptstädte Mitteleuropas in modernen, sogenannten visuellen Reiseführern, in: Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa, Tagung von Academia Baltica, Deutschen Polen-Institut und Universität Kiel, Lübeck 24.-26.10.2008 1. Kapitel 27 Die Formen der medialen Externalisierung von Architektur folgen der Entwicklung der Medien. Die vorherrschenden Medien und die hinter ihnen stehenden Technologien beeinflussen durch ihre Eigenart die erinnerungskulturelle Dimension und die gedächtnisspezifische Signifikanz der Architektur entscheidend. Der Zusammenhang zwischen der Architektur als kulturellem Gedächtnis und den Medien kann wie folgt grafisch zusammengefasst werden (Abb. 1.24). Grundsätzlich schaltet ein neues Medium die vorhergehenden nicht aus, sondern löst sie lediglich in ihrer Führungsrolle ab. So koexistieren immer verschiedene Medientypen nebeneinander. Trotzdem kann man hinsichtlich der vorherrschenden Medien, welche die menschliche Kommunikationsform ausschlaggebend prägen, eine medientechnologische Zeitaufteilung vornehmen. Die hier vorgestellte Grafik verdeutlicht einen Zusammenhang zwischen den Medien und der Reichweite der Informationsverbreitung. Es wird ersichtlich, dass mit der Entwicklung der Medien exponentielle Sprünge in der Verbreitung der Information verzeichnet werden. In Bezug auf die Architekturmedialisierung und ihre erinnerungskulturelle Wirkung wären hauptsächlich zwei wesentliche Entwicklungen festzustellen, die sich bereits in der vorangegangenen Medienvorstellung abgezeichnet haben. Mit der Erfindung des Buchdrucks und dem Siegeszug der Verschriftlichung des Wissens erfolgte die „erste Demokratisierung“ der Information. Die auf Druckplatten und Papier basierende Art der analogen Veröffentlichung der Information revolutionierte die Wissensverbreitung. Die in Gang gesetzte Entwicklung hin zur flächendeckenden und ortsunabhängigen Informationsvermittlung führte über die Zwischenstufe der elektromagnetischen Wellen der Radio- und Fernsehsender zur letzten Stufe der Allgegenwärtigkeit der Information des digitalen Zeitalters. Die modernen Verlags- und Vertriebsformen der Architekturpublikation bis hin zur Online-Veröffentlichung vergrößerten die räumliche Reichweite der Information exponentiell. Andererseits revolutionierte die Entdeckung der Fotografie schleichend die Art und Weise der Codierung der Information. Die „zweite Demokratisierung“ der Information in Bezug auf die Architektur beruht somit auf der Verdrängung der linearen Texte durch die technisch erzeugten Bilder.83 Die bereits seit der Entwicklung der Perspektive einsetzende visuelle Veranschaulichung der Architektur in Medien ermöglicht, über die sprachlichen, kulturellen und intellektuellen Barrieren hinweg, einen Zugang zu ihrem Inhalt. Die Architektur in ihrer Natur scheint als Medium räumlich codiert zu sein. Das Räumliche lässt sich wiederum visuell schneller und einfacher wahrnehmen als mit Worten. Die Verbildlichung findet gerade im Zeitalter der digitalen Virtualität neue Formen und vor allem keine Grenzen. Die neue Virtualität, unter der man im Grunde eine Bewusstseinserweiterung mit Hilfe neuer Informations- und Kommunikationstechnologien versteht, kann unsere Wahrnehmung enorm erweitern.84 Die bildliche Auflösung der realexistierenden Erde in eine unzählige Anzahl von Billiarden von digitalen Bildern, von Satellitenbildern über private Bildaufnahmen, ist nur der erste 83 Im Sinne einer solchen „Demokratisierung“ kann das Zitat Lenins „Die wichtigste Kunst ist für uns der Film“ gelesen werden. Im Jahr der Revolution 1917 schätzt man, dass etwa 90% der russischen Bevölkerung Analphabeten waren. Um einen großen Sprung zu wagen, galten im Jahr 2003 weltweit 862 Millionen Menschen als Analphabeten. In Deutschland sind 2004 nach Schätzungen 0,6% der Erwachsenen totale sowie zwischen etwa 6,5% und 11,2% funktionale Analphabeten. Auf: www.de.wikipedia.org/wiki/Analphabetismus (besucht am 20.10.2009) 84 „Die digitalen virtuellen Möglichkeiten sind die Virtualität an sich, die nichts anderes ist als eine Bewusstseinserweiterung mit Hilfe von Techniken, die wir bisher nicht kannten. Die Techniken helfen uns dabei, die Welt neu wahrzunehmen.“ Koob, Manfred: Mind‘s Eye. Digitales Virtuelles Olympisches Museum. München 2008, S. 42 1. Kapitel 28 Ausdruck der neuen visuellen Wahrnehmung des Raumes. Der stattfindende „iconic turn“ meint die Wende von textbasierter zu bildbasierter Wissensvermittlung. Die Neuen Medien des Informationszeitalters sind bereits zu Beginn im Stande, eine räumlich-visuelle Virtualität zu erzeugen, in der die junge Generation ihr „Zweites Leben“ parallel zum Ersten frei ausleben kann. „Second Life“ steht hier synonymhaft für die Aufhebung der Grenzen zwischen der realen und virtuellen Welt. Es ist einer der aktuellen Höhepunkte einer medialen Externalisierung, bei der eine begrenzte „Urwelt“ in eine andere unbegrenzte „Bilderwelt“ ausgelagert wird (Abb. 1.25). Infolge der Verbildlichung der Architektur vergrößert sich der Kreis der Weltbevölkerung, die sie zeitlebens wahrnimmt, exponentiell. Der Meinung vieler Experten nach, hat sich die Wahrnehmung jedoch nur quantitativ, nicht aber qualitativ verbessert.85 Beide „Demokratisierungsstufen“ ziehen paradoxer Weise eine Informationsflut nach sich, die wiederum eine neue „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ zum Vorschein bringt. Es war noch nie so leicht sich zu veröffentlichen, und scheinbar noch nie so schwer aufzufallen und im Gedächtnis zu bleiben.86 Die Sonderstellung des Raumes und der Architektur als Kommunikationsmedium ist ihre Konstanz und Authentizität. Die Kraft des Ortes ist die Aura seiner Originalität, wie Walter Benjamin und Aleida Assmann feststellen.87 Die Wiederentdeckung der Bedeutung des Raumes für die Kulturwissenschaft spiegelt sich im „spatial turn“, bei dem die Orte als Bühne historischer und kultureller Ereignisse ein neues Gewicht bekommen. Bei der medialen Vermittlung und Aneignung des Raumes spielen die Reise- und Stadtführer als eine Gattung der Architekturpublikation eine Sonderrolle. In erster Linie für Touristen gedacht, dienen sie vorrangig der Aneignung eines fremden Raumes. Sie bedienen sich dabei einer Vielzahl medialer Darstellungsarten mit Hilfe derer dem Reisenden ein einprägsames Bild vom Raum vermittelt werden soll. Das Medium zielt auf die Selbstdarstellung im Raum, infolge derer prinzipiell eine Konstruktion von Gedächtnislandschaften stattfindet. Dabei spiegeln die Architektur- und die Raumdarstellung die Kristallisationspunkte der Erinnerungskultur wider. Die Selbstdarstellung mittels Raumvermittlung implementiert im Umkehrschluss die Möglichkeit der Wiederinbesitznahme des konstruierten Selbstbildes. Berücksicht man die Zeit, den Herausgeber, und die Zielgruppe, reflektiert der Stadtführer vereinfacht gesagt, das Selbstbild einer Stadt.88 85 Die Verbildlichung der Architektur und der Städte, die allgemein beobachtet werden kann, ruft in erster Linie jedoch eine quantitative Verbesserung der Architekturvermittlung hervor. Die Gefahr des „iconic turns“, der Umcodierung von der textbasierten zur bildbasierten Wissensvermittlung besteht darin, dass die Menschen im Laufe der Jahrhunderte gelernt haben, die Texte zu interpretieren, wohingegen die Bilder vorbehaltlos von uns als etwas Wahres aufgenommen werden. Hier liegt die Macht der Bilder. Nach: Löw, Martina: Der Reiz der Großstadt. Sexualisierung durch Bildproduktion, in: Stadtbild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt, hg. v. Sigrid Brandt und Hans-Rudolf Meier, Berlin 2008, S. 104-114 86 So muss paradoxerweise ein Bauwerk ein dramatisches Ende erleben, um weltweit wahrgenommen zu werden. Als Beispiel hierfür sind die Buddha-Statuen von Bamiyan, die 2001 von den Taliban in Afghanistan gesprengt wurden, zu nennen. Pervertiert ausgedrückt hat erst die Dramatik der Sprengung dieser sakralen Stätte durch die Taliban dieser einen festen Platz im Menschheitsgedächtnis beschert. Ähnlicher aktueller Vergleich ließe sich mit den Türmen von World Trade Center in New York aufstellen. 87 Vgl. Anm. 20, Kap. 1. (Aura des Ortes) 88 Vgl. Anm. 67, Kap. 1. (Publikation und die Selbstkontrolle des Entwerfenden) 1. Kapitel 29 1.3. Der kulturelle Raum Breslau/Wrocław 1.3.1. Breslau - Der Bruch des Jahres 1945 Breslau, eine Stadt an der Kreuzung bedeutender mittelalterlicher Handelsstraßen, der Bernstein- und der Hohenstraße, erlebte ihre Blütezeit im 16. Jahrhundert. Die Ursprünge ihres Glanzes reichen in das historische Jahr 1000 zurück, als die kleine, von einer Wallanlage und vielen Flussarmen der Oder geschützte Wehrsiedlung, zum einen der drei Suffraganbistümer des neu gegründeten polnischen Erzbistums Gnesen auserkoren wurde. In ihrer Blütezeit war sie eine wichtige Stadt im Netz der europäischen Metropolen. Auf ihren Märkten wurde die Ware aus dem ganzen Deutschen Reich, aus dem Königreich Polen-Litauen und aus Russland umgeschlagen. Der Reichtum aus den florierenden Geschäften fand in der Architektur seinen Ausdruck. Breslau war eine prunkvolle Stadt mit weiträumigen städtebaulichen Anlagen, prachtvollen Patrizierhäusern, einem gewaltigen Rathaus und einer Vielzahl an monumentalen Kirchen. Ein Verblassen ihrer Größe setzte erst mit der Verlagerung des wirtschaftlichen Gewichtes im europäischen Wirtschaftsleben nach Norden und Westen im 17. Jahrhundert ein. Die neuen Zentren des Handels in den Niederlanden und England rangen ihr die Stellung als mitteleuropäische Metropole ab. Infolge der geopolitischen und wirtschaftlichen Verschiebung stand seit dem die Stadt, außer der ihr zugekommenen symbolischen und kulturellen Bedeutung, wie der Rolle bei den napoleonischen Befreiungskriegen, oder der 1811 gegründeten Leopoldina Universität, regelrecht im Schatten neuer Zentren. Darin vermochte auch ihre Entwicklung in Folge der Industrialisierung nichts zu ändern. Trotz des imposanten Stadtwachstums, der Ansiedlung bedeutender Industrien, wie der Linke-Hofmann AG, strahlte die größte deutsche Stadt östlich von Berlin zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eine gewisse Provinzialität und Rückständigkeit gegenüber den Städten des Ruhrgebietes und der Hauptstadt aus. Zu ihrem über die Jahrhunderte geprägten Charakterzug zählte vor allem die kulturelle Vielschichtigkeit, die ein Ergebnis wechselnder staatlicher Zugehörigkeiten, mannigfaltiger Handelsbeziehungen und der Lage in einem ethnisch heterogenen Länderdreieck war. Schlesien war ein Grenzland der kulturellen Überlagerungen von fließenden Übergängen zwischen Polen, Böhmen und Deutschen, Juden und Russen gekennzeichnet. Die Stadt an der Oder war in diesem Grenzraum das urbane Zentrum dieser sagenhaften „Brückenlandschaft“.89 Und obwohl sie um das Jahr 1900 eine deutsche Stadt war, deren Bürger, bis auf die kleine polnische Minderheit, sich als Deutsche verstanden, war ihre Verwobenheit mit dem östlichen Europa nicht von der Hand zu weisen.90 89 Bahlcke, Joachim: Die Geschichte der schlesischen Territorien von den Anfängen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, in: Schlesien und die Schlesier, hg. v. ebd., München 1996, S. 1-154, S. 14 90 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man grob behaupten, dass der Anteil der polnischen Minderheit in Breslau weniger als 5% an der Gesamtbevölkerung betrug. Die preußische Bevölkerungsstatistik ermittelte 1905 gerade mal 8.927 (2%) Polen in Breslau. Polnische Minderheitenorganisationen schätzten vor dem Ersten Weltkrieg, dass in der Stadt etwa 20.000 (5%) Bürger polnischer Nationalität lebten. Nach der neuen Staatsgründung Polens ging ihre Zahl wieder zurück, so dass in der Zwischenkriegszahl etwa 3.000 (0,5%) Polen in Breslau lebten. Zahlenangaben nach: Harasimowicz, Jan (Hg.): Encyklopedia Wrocławia. Wrocław 2000, S. 466f. 1. Kapitel 30 Diese aus der kulturellen Vielfalt stammende Eigenart Breslaus, ihre Mehrdeutigkeit, die ihr eigentlicher Reichtum und ihre Basis war, wurde seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges immer mehr als Last und Anzeichen der Rückständigkeit in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches verstanden. Der im Ersten Weltkrieg angeheizte und nach dem Versailler Friedensvertrag verstärkt entbrannte Nationalismus verwandelte den interkulturellen Raum in eine Zone immer strikterer Abgrenzung zwischen den Nationalitäten. Die durch die Staatsgründung Polens 1918 weiter an die Reichsgrenzen gedrängte Großstadt Breslau wurde immer mehr zum „Bollwerk des Deutschen Ostens“ stilisiert.91 Die Grenzkonflikte und die wirtschaftlichen Probleme Schlesiens, trugen dazu bei, dass Breslau bei den Reichstagswahlen der dreißiger Jahre zu den Wahlkreisen in Deutschland gehörte, wo die NSDAP ihre besten Ergebnisse erzielen konnte.92 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten setzte eine Scheinblüte ein, die einerseits mit der Verbesserung des Warenaustausches zwischen Deutschland und Polen nach der Unterzeichnung eines Nichtangriffsvertrages zwischen den Ländern zusammenhing, andererseits vom Ausbau zum Verkehrsknotenpunkt sowie zur Messestadt im Ost-West-Handel getragen wurde. Gleichzeitig verlor die Stadt jedoch ihre Existenzgrundlage durch die Vertreibung der Breslauer Juden. Die Vertreibung der Deutschen nach 1945 aus Breslau stellt Gregor Thum in ihrer historischen Reihenfolge fest, begann mit der Vertreibung der Breslauer Juden. Mit ihnen verabschiedete sich die Stadt von einer der Säulen des Breslauer Bürgertums, die den Handel getragen und die großen Kaufhäuser errichtet, das geistig-kulturelle Leben der Stadt maßgeblich geprägt und den hervorragenden Ruf ihrer Hochschulen mitbegründet hatte.93 Doch Breslaus endgültiger Untergang sollte noch einmal durch ihre Blütezeit im Zweiten Weltkrieg, als logistisches Zentrum für die Ostfront und als sichere Stadt außerhalb der Reichweite der alliierten Bomberverbände, einen letzten Aufschub erleben. Die Stadt erreichte im Laufe des Krieges eine Bevölkerungszahl von fast einer Million, eine Steigerung um Hunderttausende in nur fünf Jahren. Im Herbst 1944 wurde schließlich mit der Ausrufung der „Festung Breslau“ durch den Führer persönlich ihr dramatisches Ende eingeleitet. Am 15. Februar 1945 wird die Stadt durch die Rote Armee eingekesselt. Der sowjetischen 6. Armee mit 150.000 Soldaten stehen 50.000 deutsche Soldaten und Volkssturmmänner sowie schätzungsweise 200.000 Zivilisten, darunter tausende Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, entgegen.94 Die bis dahin von jeglichen Kriegszerstörungen, abgesehen von der Zerstörung der Neuen Synagoge in der Reichskristallsnacht 1938, verschonte Stadt, wird nun in einem sinnlosen Verteidigungskampf geopfert. Bis zu der Kapitulation am 07. Mai 1945 wird die Stadt im Süden und Westen durch Kampfhandlungen, die Altstadt durch Artilleriebeschuss und Bombardement größtenteils zerstört Groteskerweise fielen ganze historische Stadtteile der gezielten Brandstiftung und Sprengung seitens der deutschen Festungsbesatzung zum Opfer (Abb. 1.26). Zum Inbegriff der fanatischen Zerstörungswut zählt die Sprengung und Planierung eines Gründerzeitviertels entlang der Kaiserstraße (pl. Grunwaldzki) am nördlichen Oderufer für die Errichtung eines Flugplatzes zur Versorgung der 91 Thum, Gregor: Bollwerk Breslau. Vom ‚Deutschen Osten‘ zu Polens ‚Wiedergewonnen Gebieten‘, in: Preußens Osten - Polens Westen. Das Zerbrechen einer Nachbarschaft, hg. v. Helga Schultz, Berlin 2001, S. 227-252 92 Im März 1933 war der Wahlkreis Breslau einer der 7 von insgesamt 35 Reichswahlkreisen, in denen die NSDAP die absolute Mehrheit errang. In: Bahlcke, Joachim: Die Geschichte der schlesischen Territorien von den Anfängen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, in: Schlesien und die Schlesier, hg. v. ebd., München 1996, S. 1-154, S. 137 93 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 17 94 Ebd.: S. 21 1. Kapitel 31 eingekesselten Festungsstadt. Seine Rollbahn, von der paradoxerweise nur ein Flugzeug mit dem flüchtenden Gauleiter Karl Hanke gestartet ist, hatte die Ausmaße von 1,3 Kilometern Länge und eine Breite von 300 Metern. Bei den Arbeiten an dieser monströsen fünfzehn Hektar großen „Schneise der Verwüstung“ inmitten der dicht bebauten Stadt starben Tausende von Zwangsarbeitern und zur Arbeit herangezogene Bürger der Stadt durch die Angriffe der sowjetischen Artillerie und Tiefflieger.95 1.3.2. Grenzverschiebung Mit dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland sollte eine neue Weltordnung geschaffen werden. Im Rahmen dieser wurde bereits Ende November 1943 in Teheran entschieden, dass keine Wiederherstellung Polens in seinen Vorkriegsgrenzen vorgesehen wurde. Demnach sollten die 1939 von den Sowjets im deutsch-sowjetischen Vertrag annektierten ostpolnischen Gebiete weiterhin sowjetisch bleiben. Nach der raschen Einigung über die Zukunft der polnischen Ostgrenze, richteten sich die Verhandlungen der Alliierten darum, in welchem Umfang Polen für seine territorialen Verluste im Osten auf Kosten der Deutschen im Westen und Norden entschädigt werden sollte. Das Neue und Radikale an dieser Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg war nicht die Veränderung der Staatsgrenzen, sondern die mit ihr geplante weiträumige Verschiebung von Siedlungsgrenzen und die ethnische „Entmischung“ ganzer Regionen.96 Auch Polen sollte demnach ein homogener Nationalstaat ohne größere nationale Minderheiten werden, was die Aussiedlung der gesamten deutschen Bevölkerung zur Folge hatte.97 Die Gründe für die Entscheidung zur „Entmischung“ sind einerseits in der damaligen Auffassung zu suchen, nach der die nationalen Minderheiten in Zukunft nicht mehr politisch bei Konflikten instrumentalisiert werden sollten, andererseits in handfesten materiellen Interessen sowie in den mit ihr assoziierten Chancen bei der Umgestaltung der Volkswirtschaften, besonders in Falle Tschechiens und Polens. Am 02. August 1945 erklärte das Abschlusskommuniqué der Potsdamer Konferenz die Oder und die Lausitzer Neiße zur vorläufigen polnischen Westgrenze. Die Abtretung Ostpolens, das vor dem Krieg fast die Hälfte des polnischen Staatsgebietes ausmachte, kam für die polnische Bevölkerung sehr überraschend. Die polnischen Ostgebiete waren zwar im Vergleich zu den neuen Westgebieten weniger entwickelt und rohstoffärmer, ihre kulturelle Bedeutung für die polnische Gesellschaft war jedoch von herausragender Bedeutung.98 Der Verlust Ostpolens, der eine Ungeheuerlichkeit für die polnische 95 96 Hornig, Ernst: Breslau 1945. Erlebnisse in einer eingeschlossenen Stadt. München 1975, S. 100f. Zwangsmigrationen in Millionenmaßstab erstreckten sich von 1939-1949 und erfassten das mittlere und östliche Europa von Warschau bis Bukarest. Sie wurden von Hitler und Stalin in Gang gesetzt und durch die Politik der „Großen Drei“ nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn auch nicht mehr in Absicht des Völkermordes, fortgeführt. In: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 109 97 Fast 30% der Bevölkerung Polens in der Zwischenkriegszeit gehörte anderen ethnischen Minderheiten an, was die polnische Regierung vor viele gravierende Probleme stellte. Dazu gehörte zum Beispiel die Instrumentalisierung der deutschen Minderheit (1921 – 3,9%; 1931 – 2,3% Prozent) durch die Nationalsozialisten im Konflikt mit Polen. In: Breyer, Richard; Joachim Joachim Rogall: Die Deutschen im polnischen Staat, in: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen, hg. v. Joachim Rogall, Berlin 1996, S. 378-408 98 „Viele Gestalten des polnischen Geisteslebens hatten hier ihre Wurzeln. [...] Es war das Land der polnischen Adelskultur, wo die prächtigsten Landsitze und Schlösser zu finden waren. Besonders schmerzlich aber war der Verlust der beiden Großstädte Lemberg 1. Kapitel 32 Gesellschaft bedeutete, stellte die junge und ohnehin mit Misstrauen bei Polen konfrontierte kommunistische Regierung vor eine schwierige Glaubwürdigkeitsfrage. Polen kämpfte vom Beginn des Zweiten Weltkrieges bis zu seinem Ende an allen Fronten auf der Seite der Alliierten gegen NaziDeutschland. Man verstand sich nicht nur als Opfer der deutschen Invasion sondern auch als Sieger, der an der Seite der Alliierten in Deutschland einmarschiert ist. Die Partei versuchte, die Problematik der Grenzverschiebung durch eine geschickte Umkehrung der Sicht, bei der die Westgebiete die zentrale Rolle spielten, für sich zu instrumentalisieren. Durch eine propagandistische Konzentration auf die neuen Gebiete wurden die Kommunisten zu den größten Verfechtern der nationalen Sache erklärt. Dabei wurden die neuen Grenzen zum Ausdruck eines neuen Patriotismus stilisiert, auf dem die Kommunisten ihre Legitimation aufbauen konnten (Abb. 1.27).99 Für die Regierung in Warschau hatte die Durchsetzung der Oder-Neiße-Grenze aus Legitimationsgründen Vorrang vor ökonomischen und strukturpolitischen Überlegungen. Es galt, schnellst möglich in den Westgebieten vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Grundvoraussetzung für die Etablierung eines neuen Status quo war der rasche Bevölkerungsaustausch, der nur auf dem Weg der organisierten Massenaussiedlung der Deutschen aus Polen bewerkstelligt werden konnte. Als größeres Problem erwies sich jedoch die Beschaffung einer ausreichenden Zahl an polnischen Siedlern für die Westgebiete. Denn zum einen schrumpfte die Bevölkerung Polens extrem in Folge des Krieges, zum anderen galt es im Westen Gebiete zu besiedeln, die vor dem Krieg eine höhere Bevölkerungsdichte hatten als die verlorenen polnischen Ostgebiete.100 1.3.3. Evakuierung, Flucht, Vertreibung und „Repatriierung“ Man schätzt heute, dass im August 1945 rund 4,5 bis 5 Millionen Deutsche, über die Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung, entweder in ihren Heimatorten verblieben sind, oder nach den Kampfhandlungen zurück gekommen sind. Abzüglich der Deutschen, die in einem Ratifizierungsprozess die polnische Staatsbürgerschaft angenommen haben, den so genannten Autochthonen, mussten 3,5 bis 4 Millionen Deutsche aus Polen ausgesiedelt werden. Die Grenzverschiebung bedeutete eine doppelte Tragödie, denn auf der anderen Seite wurde mit der Deportation der noch übrig gebliebenen Polen aus den an die Sowjetunion abgetretenen polnischen Ostgebieten begonnen. Im Zeitraum von 1944 bis 1948 wurden rund 2 Millionen Polen aus dem ehemaligen Ostpolen in die Westgebiete deportiert, wobei der Transfer im Wesentlichen unter den gleichen Bedingungen verlief, unter denen die Deutschen Aussiedler zu leiden hatten. Die Ansiedlung der Polen fand zeitgleich mit der Aussiedlung der Deutschen statt. Vielerorts lebten Deutsche und Polen noch über Monate und Jahre zusammen. Nicht selten in einem Haus und einem Hof. Erst 1946 begannen die Polen nach und nach die Bevölkerungsmehrheit in den Westgebieten zu stellen. Die Regierung versuchte, angesichts des Mangels an polnischen Siedlern gezielt diese nach und Wilna - neben Warschau und Krakau die wichtigsten urbanen Zentren der polnischen Kultur.“ In: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 37 99 „Ein Grund, weswegen die Regierung Unterstützung in der Gesellschaft genießt, ist die Frage der Westgebiete. Das neutralisiert verschiedene Elemente. Die Erweiterung des Landes nach Westen sowie die Bodenreform binden die Nation an das System. Jeder Rückzug würde unsere Position im Lande schwächen.“ Władysław Gomułka, Erster Sekretär der Polnischen Arbeiterpartei, 26.05.1945, zitiert nach: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 39 100 Notierte man in der letzten Vorkriegszählung aus dem Jahr 1938 eine Bevölkerungszahl von 35 Millionen polnischen Staatsbürgern, so kam man 1950 bei der ersten Nachkriegszählung auf lediglich 25 Millionen Staatsbürger. Dies bedeutet eine Bevölkerungsreduktion von 30%, bei gleichzeitiger Staatsgebietreduktion von 20% gegenüber dem Vorkriegstand. In: ebd.: S. 112 1. Kapitel 33 Westen zu locken. In Zentralpolen warb man regelrecht mit einem Appell an den Patriotismus, in dem man die Umsiedlung als einen patriotischen Akt der „Wiederkehr“ in die einst verlorenen urslawischpolnischen Gebiete verkaufte. Erfolgversprechender bei der Werbung dürfte jedoch das unverhehlte Versprechen eines schnellen sozialen und materiellen Aufstiegs gewesen sein (Abb. 1.28).101 Doch die Propaganda der ersten Jahre trügt, denn während die Umsiedler aus Zentralpolen mehr oder weniger freiwillig in die Westgebiete kamen, handelte es sich bei den so genannten Repatrianten, den Übersiedelten aus den an die Sowjetunion verlorenen polnischen Ostgebieten, zum größten Teil um Deportierte.102 Die polnischen Repatrianten waren im Widerspruch zur Definition ihrem Namen nach selbst Vertriebene, die unter Repressionen aus ihrer Heimat in die Fremde verjagt worden sind. Sie bezogen nicht nur schlechtere Unterkünfte als die Umsiedler der ersten Stunde aus Zentralpolen, sondern litten an dem Kontaktabbruch zur Heimat und der verordneten Tabuisierung ihrer Geschichte aus politischer Rücksichtsnahme auf die Sowjetunion. Der staatlich verordnete Bevölkerungsaustausch in den polnischen Westgebieten fand innerhalb der ersten vier Nachkriegsjahre statt. Was heute generalisierend in Deutschland als Vertreibung der Deutschen bezeichnet wird, war ein komplexer Vorgang, bei dem die verspätete Evakuierung durch die deutschen Behörden im Januar 1945, die chaotische Flucht vor der Roten Armee, die völkerrechtlich nicht sanktionierte Vertreibung bis zum Abschluss der Potsdamer Konferenz und die organisierte Massenaussiedlung bis Ende 1948 unmittelbar ineinander übergingen. Angesichts der Komplexität lassen sich die Todesopfer der „Vertreibung“ nicht eindeutig einem der Prozesse zuordnen. Man schätzt die deutschen Opfer unter der Zivilbevölkerung auf bis zu 2 Millionen Menschen.103 Insgesamt wurden zwischen Mai 1945 und Dezember 1948 schätzungsweise 3,5 bis 4 Millionen Deutsche aus Polen vertrieben und ausgesiedelt (Abb. 1.29). Etwa 4,5 bis 5 Millionen Deutsche wurden vorher evakuiert oder sind vor der Roten Armee geflohen, ohne noch einmal zurück zu kehren. 101 „Landsleute! [...] Die Macht des Dritten Reiches liegt in Trümmern. Die Länder, einst geraubt von den Kreuzrittern, den Bismarcks und durch Hitler, kehren zum Mutterland zurück. [...] Die entvölkerten Gebiete warten auf uns - die rechtmäßigen Wirte. Bauern! Ihr müßt nicht mehr nach Übersee emigrieren, das neue Polen hat im Vaterland genug eigenes Land für euch, auf Ewigkeit euer Besitz. Wollt ihr Brot - im Westen gibt es Brot! Wollt ihr Land - im Westen gibt es Land! Die Stadtbevölkerung findet im Westen von den deutschen verlassenen Werkstätten und Geschäfte, die berufliche Intelligenz - Arbeit in den Büros und Ämtern. Landsleute! Auf in den Westen!“ Aufruf des Zentralen Umsiedlungskomitees vom Mai 1945, in: Szarota, Tomasz: Osadnictwo miejskie na Dolnym Śląsku w 1945-1948, Wrocław/Warszawa/Kraków 1969, S. 80, zitiert nach: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 120 102 Als Repatriant wird allgemein eine Person bezeichnet, die sich nach längerer Sesshaftigkeit in einem anderen Land, wieder in ihrem ursprünglichen Heimatland ansiedelt. Den zutreffenden Charakter der polnischen Repatriierung beschreibt Philipp Ther folgendermaßen: „Der Zynismus dieses Terminus übertrifft noch den aktivistischen Umsiedlerbegriff, denn die polnischen Vertriebenen wurden nicht in die angestammte Heimat zurückgeführt, sondern aus ihr entfernt. Die ‚Repatrianten’ kamen nicht in die Patria zurück [...], sondern sie wurden in die ehemals deutschen Ostgebiete vertrieben. Die ‚Vertreibung in die Fremde’ markiert einen wesentlichen Unterschied in der Geschichte der Polnischen gegenüber den Deutschen Vertriebenen [...].“ Ther, Philipp: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1998 103 Im Chaos der dramatischen Tage des eisigen Winters 1945 konnte keiner genau sagen wie viele Menschen auf der Flucht durch die verschneiten Landschaften Richtung Westen ums Leben gekommen sind. Die Zahl der Todesopfer der Vertreibung gehörte lange Zeit zu den ideologischen Streitpunkten des Kalten Krieges. Die immer wieder genannte Zahl von 2 Millionen Deutschen, die in den Wintermonaten 1945 den Tod fanden, ist neueren Schätzungen zufolge deutlich überhöht. Nach: Overmans, Rüdiger: Personelle Verluste der deutschen Bevölkerung durch Flucht und Vertreibung, in: Dzieje najnowsze, Bd. 26, H. 2, Warszawa 1994, S. 51-65 1. Kapitel 34 Im gleichen Zeitraum schaffte es die polnische Regierung, 4,5 Millionen polnische Bürger in den Westgebieten neu anzusiedeln (Abb. 1.30). Laut der polnischen Volkszählung vom Dezember 1948 lebten in den Westgebieten 5,526 Millionen Menschen, von denen rund 2,5 Millionen Umsiedler aus Zentralpolen (45,2%), 1,332 Millionen Repatrianten aus der Sowjetunion (24,1%), 936.000 Autochthone (16,9%), 235.000 Reemigranten (4,2%), 535.000 Kinder unter vier Jahren (9,5%) und 96.000 Deutsche waren.104 In Folge der radikalen Neuordnung Europas wurden somit innerhalb der ersten vier Nachkriegsjahre rund 9,5 Millionen Menschen allein in den polnischen Westgebieten aus- und angesiedelt. Von den rund einer Million Autochthonen, die bis 1948 in den Besitz der polnischen Staatsbürgerschaft gekommen sind, sind, bedingt durch Abwanderung in die BRD und DDR, nur 200.000 dauerhaft in Polen geblieben. Insofern kann in diesem Siedlungsraum von einem fast kompletten Bevölkerungsaustausch gesprochen werden.105 Bis Ende 1948 schaffte es die Politik der Warschauer Regierung, in den Westgebieten immerhin eine Bevölkerungszahl von über 60% des Vorkriegsstandes zu erreichen. Auch wenn starke regionale Unterschiede in der Ansiedlerdichte zu verzeichnen waren, so konnten entgegen den ausländischen Behauptungen und inländischen Vorbehalten die Westgebiete in polnischen Besitz genommen und die Westverschiebung Polens nicht mehr rückgängig gemacht werden (Abb. 1.31). Für Breslau hatte die Verschiebung Polens einen in seiner Geschichte immer wieder eintretenden Wechsel der Staatsangehörigkeit und einen historisch einmaligen totalen Bevölkerungsaustausch zur Folge. Es gibt nur grobe Schätzungen wie viele Deutsche sich bei Kriegsende in Breslau aufhielten. Die erste verlässliche Zahl basiert auf der summarischen Volkszählung vom August 1945 bei der die polnischen Behörden 189.500 Deutsche registrierten, was weniger als einem Drittel der Vorkriegsbevölkerung entsprach. Dem gegenüber zählte man zwischen 16.000 und 17.000 Polen, wobei ihre Zahl wahrscheinlich höher war, weil sich anfangs nicht alle Polen auf den Meldestellen registrieren ließen. Drei Monate nach dem Ende des Krieges war dem zufolge nur jeder zehnte Stadtbewohner ein Pole, so dass man davon ausgehen kann, dass das Stadtbild vorerst noch von Deutschen geprägt war.106 Das latente Gefühl der Minderheit in einer fremden Stadt anzugehören, erschwerte es der polnischen Bevölkerung in den ersten Jahren Fuß zu fassen. Das Dilemma zwischen der politisch gewünschten raschen Aussiedlung der deutschen Bevölkerung und der ökonomischen Notwendigkeiten der ersten Nachkriegsjahre, bei der die deutschen Arbeitskräfte, allen voran die qualifizierten Fachkräfte, im Land gehalten wurden, ließ sich in Anbetracht des Mangels an polnischer Ersatzkraft kaum lösen.107 Zur Unsicherheit führten sowohl bei den Deutschen als auch den Polen die Gerüchte, der Dritte Weltkrieg 104 Hofmann, Andreas: Die Nachkriegszeit in Schlesien. Gesellschafts- und Bevölkerungspolitik in den polnischen Siedlungsgebieten 1945 bis 1948. Köln 2000, S. 445f. 105 Die in Polen dauerhaft gebliebenen Autochthonen betonen heute ihre regionale Identität, definieren sich als „Schlesier“ oder „Masuren“, zum Teil auch als deutsche Minderheit in Polen. Nach der aktuellen Volkszählung von 2002 beträgt die deutsche Minderheit 152.897 Einwohner Polens (0,4% der Gesamtbevölkerung). Auf: www.pl.wikipedia.org/wiki/Mniejszość_niemiecka_w_Polsce (besucht am 21.10.2009) 106 Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945. München 2003, S. 135 107 „Vorrangig siedeln wir das nichtproduktive Element aus. In der letzten Etappe reisen die bei uns beschäftigten deutschen Arbeiter aus. Auch besteht die Möglichkeit, eine gewisse geringe Zahl qualifizierter Fachleute, die wir zur Zeit nicht ersetzten können, zu halten.“ In: ebd.: S. 143 1. Kapitel 35 stünde unmittelbar bevor, die auf Grund des sich abzeichneten Ost-West-Konfliktes und der Infragestellung der Oder-Neiße-Grenze prächtig gediehen.108 Zusätzlich schürte die kommunistische Regierung die Angst bei der Bevölkerung vor dem imperialistischen Westen und propagierte die Freundschaft der Sowjetunion als einzige Hüterin der polnischen Westgebiete. Bezeichnend für die ersten Jahre nach dem Krieg ist die mit der Unsicherheit verbundene Fluktuationsrate bei den polnischen Neuansiedlern. Bis 1949 meldeten 421.992 Polen ihren Wohnsitz in Breslau an, von denen aber 175.591 Personen (42%) der Stadt wieder den Rücken kehrten.109 Auch in Breslau war die Aussiedlung der Deutschen eng mit der Ansiedlung der Polen verknüpft. Der Höhepunkt der Bevölkerungsbewegung fand im Jahr 1946 statt, in dem rund 300.000 Aus- und Ansiedler in der Stadt abgewickelt worden sind. Zwischen 1945 und 1949 wurden insgesamt rund 235.000 Deutsche ausgesiedelt und gleichzeitig rund 250.000 Polen in Breslau angesiedelt. Berücksichtigt man die 175.000 Neuankömmlinge, die die Stadt bis 1949 wieder verlassen haben, so wurden in diesem Zeitraum 660.000 Menschen in der Stadt aus- und eingewiesen. Bereits Ende 1947 wurden nur noch 2.416 Deutsche in der Stadt registriert, so dass die Aussiedlung der deutschen Stadtbewohner in diesem Jahr als abgeschlossen gelten kann. Nach 1949 lag die jährliche Zuwanderung polnischer Siedler abzüglich der zahlreichen Abmeldungen immer noch weit über 10.000 Personen und sank erst von 1953 an auf eine Rate deutlich unter einem Prozent und nahm damit Form und Umfang einer normalen innerstaatlichen Migrationbewegung an. Dennoch verzeichnete die Stadt dank einer außerordentlichen Geburtenrate weiterhin ein kräftiges Wachstum, welches vorrangig mit der Niederlassung überproportional vieler junger Menschen in den Westgebieten zu erklären wäre.110 Erst 1981 sollte Breslau mit einer gezählten Bevölkerung von über 622.000 Einwohnern den Bevölkerungsstand Breslaus aus der Vorkriegszeit erreichen (Abb. 1.32). Bei aller Leichtigkeit, mit der hier mit Zahlenangaben umgegangen wird, darf nicht vergessen werden, dass hinter jeder dieser Ziffern ein Mensch mit seinen Gefühlen und Erfahrungen steht. Hinter den meisten dieser Ziffern steht, sowohl auf der deutschen wie auf der polnischen Seite, ein ähnliches Schicksal von Vertreibung und Entwurzelung, da die Menschen unter dramatischen Umständen gezwungen wurden ihre Heimat aufzugeben und neben Haus und Hof auch die Gräber ihrer Angehörigen zurückzulassen. Die Dramatik des Bevölkerungsaustausches in dem vom Krieg verwüsteten Breslau schildert auf eine literarische Art und Weise der Augenzeuge Hugo Hartung in seinem Eintrag vom 30. Juni 1945: „Schmutzige Ziegelhaufen, Brandstätten, in denen Undefinierbares schwelt, aufgerissene Wohnungen, die offen liegen wie Puppenhäuser und eine private Glückswelt neugierigen oder stumpfen Blicken zur Schau bieten. Hier noch die Familienbilder an der Wand, dort eine hübsche Kücheneinrichtung, dort, hoch oben und unerreichbar, ein schwarz poliertes Klavier, den Regengüssen preisgegeben und den kühlen Nächten, sich verstimmend und verstummt [...]. Ein anderer Menschenzug schiebt sich dem unseren entgegen, mit Karren und Kinderwagen, müde trottend, elend, endlos lang: Polen aus dem Gouvernement Lemberg. Sie sind in dieser Stadt noch 108 Berühmt war die Rede des ehemaligen britischen Premiers Winston Churchills in Fulton am 6. März 1946 und die Stuttgarter Rede des amerikanischen Außenministers James Byrnes am 6. September 1946, bei der beide Politiker die Oder-Neiße-Grenze in Frage stellten. 109 Chumiński, Jędrzej: Czynniki destabilizujące proces osadnictwa we Wrocławiu (1945-1949), Socjologia, Bd. 10, 1993, S. 56f. 110 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945. München 2003, S. 149f. 1. Kapitel 36 nicht heimisch, in der wir nicht mehr heimisch sind. Wie Marionetten eines unbegreiflichen Schicksals bewegen sich die stummen Züge aneinander vorbei.“111 Neben der ungeheuren Zerstörung der materiellen Bedeutungsträger durch den Krieg bedeutete die darauf folgende Bevölkerungsverschiebung das Abreißen einer Jahrhunderte langen Siedlungskontinuität und die Vernichtung von lokal gebundenem Wissen und von Erfahrungen, die über Generationen tradiert worden sind.112 Die daraus folgende kulturelle Erosion, welche die vom totalen Bevölkerungsaustausch gezeichneten polnischen Westgebiete prägte, wurde zum Schicksal des Raumes und der hier niedergelassenen Menschen. Es bedeutete zunächst den totalen Bruch mit der Tradition, der sowohl auf dem Lande, wie in den Städten eine Reihe von psychischen und ökonomischen Problemen nach sich zog.113 Denn im Unterschied zu Ostpolen, einem ethnisch heterogenen Raum, in dem die Polen nur eine relative Bevölkerungsmehrheit stellten, vollzog sich mit ihrer Deportation keine totale Erosion der kulturellen Träger, wie im Falle der deutschen Ostgebiete. Hier galt es in erster Linie die polnischen Siedler langfristig mit einem absolut fremden Raum eine Beziehung eingehen zu lassen. Dieser Prozess der Aneignung des Raumes gestaltete sich äußerst schwierig und dauerte über Generationen hinweg an. Für Breslau, das nach dem Willen der polnischen Führung als Großstadt erhalten, ja als Vorzeigestadt neu errichtet werden sollte, stellte die Aussiedlung der deutschen Stadtbevölkerung einen Bedarf an Großstadt erfahrenen Menschen dar. Bei der Herausbildung einer neuen städtischen Bevölkerung konnte man nicht ernsthaft auf die Breslauer Autochthonen zurückgreifen, die 1949 nur 1% der Stadtbevölkerung (2.769 Einwohner) ausmachten.114 Die Republik Polen der Vorkriegszeit war ein Agrarstaat, in dem weniger als 30% der Bevölkerung in Städten gelebt hatten, wovon ein Großteil der im Holocaust vernichteten jüdischen Gemeinden angehörte.115 Gemessen an dem Bedarf, neben Breslau galt es auch Danzig, Stettin und andere mittelgroße Städte neu zu besiedeln, war das Reservoir an städtischen Siedlern minimal. Im Falle Breslaus kam man auch schnell von der Idee weg, die Bürger aus Lemberg geschlossen als neuen Siedlungskern nach Breslau zu transferieren.116 Statt dessen wählte man bewusst den Weg der Vermischung von heterogenen Siedlergruppen zu einer ausreichend homogenen, funktionierenden Stadtgesellschaft, was einerseits der sozialen Situation und andererseits der politischen Leitlinie am ehesten entsprach. Paweł Rybicki, Mitglied des Wissenschaftlichen Rats für Fragen der Wiedergewonnenen Gebiete, formulierte die Idee mit folgenden Worten: „Wir machen aus Breslau kein zweites Lemberg, sondern müssen ein polnisches Breslau erschaffen, das nicht die Kopie einer ostpolnischen Stadt zu sein hat, sondern ein großes Zentrum der Westgebiete. Um das zu 111 Hartung, Hugo: Schlesien 1944/45. Aufzeichnungen und Tagebücher. München 1976; hier zitiert aus der Gesamtausgabe in acht 112 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945. München 2003, S. 150 Bänden, Bd. 2, München 1982, S. 347 (Breslau 30. Juni 1945) 113 Die Problematik der Neuansiedler und des Umgangs mit dem deutschen kulturellen Erbe in den Westgebieten schildert am Beispiel der Kleinstadt Liebenthal (Lubomierz) der Krakauer Soziologe Zdzisław Mach. Siehe hierzu: Mach, Zdzisław: Niechciane Miasta. Migracja i tożsamość społeczna, Kraków 1998 114 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 152 115 Laut der polnischen Volkszählung vom Dezember 1931 lebten 8,73 Millionen Bürger Polens (27,4 %) in den Städten. Von den 3,13 Millionen Juden waren 2,38 Millionen Städter. Nach: Szarota, Tomasz: Osadnictwo miejskie na Dolnym Śląsku w 1945/1948, Wrocław, Warszawa und Kraków 1969, S. 77, in: Thum, Gregor:: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 153 116 Den vielerorts noch lebendigen Mythos, dass die Nachkriegsstadt Breslau hauptsächlich Repatrianten aus Lemberg (Lwów/L’viv) aufnahm, wiederlegten bereits die frühen soziologischen Studien von Irena Turnau. Eine Detaillierte Aufschlüsselung der Zahlen in: Turnau, Irena: Studia nad strukturą ludnościową polskiego Wrocławia, Poznań 1960, Tab. II, S. 31 1. Kapitel 37 erreichen, sehe ich keine andere Möglichkeit, als Bevölkerungen aus ganz unterschiedlichen Milieus aufgrund sachlicher Kriterien herbeizuholen und sie im neuen Milieu zu vermischen.“117 Dafür sprach ebenfalls die Tatsache, dass jegliche Versuche eine koordinierte und gezielte Ansiedlung in Breslau, wie auch in den restlichen Westgebieten, voranzutreiben an der politischen Notwendigkeit einer raschen Umsetzung des Bevölkerungsumtausches im Sinne des Potsdamer Abkommens sowieso zum Scheitern verurteilt waren. Von der in Trümmern liegenden Nachkriegsstadt abgesehen, erlebte Breslau in Folge einen gewaltigen „Deurbanisierungsschub“.118 Gregor Thum stellt hierbei fest, dass die „Verländlichung“ des städtischen Raumes, ein sonst bekanntes Nachkriegsphänomen, in Breslau eine einzigartige Dimension annahm. Zahlenmäßig waren die Städter der Masse der Siedler, denen die Gepflogenheiten städtischen Lebens gänzlich fremd waren, unterlegen. 1947/48 stammten nur 18% der polnischen Bevölkerung Breslaus aus Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Über 40% der polnischen Breslauer waren Übersiedler aus kleinen und mittleren Städten. Die restlichen 40% waren ehemalige Dorfbewohner.119 Mit der Aussiedlung der deutschen Bewohner aus Breslau verschwanden in nur drei Jahren die bisherigen Träger der Stadtkultur. Damit wurde die Stadt der sozialen Basis der Urbanität beraubt, an der sich die ländlichen Immigranten bei der Suche nach Mustern und Normen eines großstädtischen Lebens hätten orientieren können.120 Diese Funktion konnten die Umsiedler aus Warschau, Lemberg oder Wilna auf Grund ihrer Minderheit und der fehlenden Bindungen an Breslau nicht übernehmen. Sie selbst waren Fremde in einer fremden Stadt. Die Zuwanderung vom Dorf setzte sich auch nach dem Bevölkerungsaustausch weiterhin fort, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß der ersten drei Nachkriegsjahre. Der Reurbanisierungsprozess konnte sich im Laufe der 50er Jahre langsam entfalten. Bis Breslau als Großstadt im kulturellen Sinne gelten konnte vergingen Jahre und Jahrzehnte, in denen eine wechselseitige Akkulturation heterogener Gesellschaften und eine Anpassung an das städtische Leben stattfanden. Die Entwicklung eines zusammenhängenden Ganzen, einer Bürgerschaft der Stadt Breslau, konnte erst bei den Kinder und Kindeskindern der Neuansiedler erreicht werden. Die Reurbanisierung der Stadt war allerdings nicht allein abhängig von der Umwandlung der bäuerlichen Ansiedler zu Städtern. Sie setzte auch die Umwandlung der Stadt in materieller Hinsicht voraus. Breslau nach 1945 konnte höchstens als eine Agglomeration lose zusammenhängender dörflicher Siedlungen inmitten ausgedehnter Trümmerwüsten aufgefasst werden. Breslau war de facto keine Stadt mehr. Ihre materielle Wiederherstellung nach 1945 ist nicht weniger gewesen als eine „zweite Stadtwerdung“.121 117 Szarota, Tomasz: Osadnictwo miejskie na Dolnym Śląsku w 1945/1948, Wrocław, Warszawa und Kraków 1969, S. 99, in: Thum, Gregor:: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 155 118 Die Ursachen, Probleme und Folgen der Deurbanisierung schildert ausführlicher Gregor Thum in: ebd.: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 150-170 119 Turnau, Irena: Studia nad strukturą ludnościową polskiego Wrocławia, Poznań 1960, S. 50-81 120 Ebd.: S. 300 121 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 169f. 1. Kapitel 38 1.3.4. Wrocław - Historiografie mit den Mitteln der Architektur Substanzverlust, Abbruch, Sanierung, Rekonstruktion, Wiederaufbau Nach dem Bevölkerungsaustausch war die Instandsetzung der verwüsteten und brach stehenden Westgebiete, im symbolischen, wie auch ökonomischen Sinne, die wichtigste Aufgabe für die polnische Regierung. Auf die massenhafte Vernichtung der materiellen Güter während der Stadtkämpfe, folgte eine Welle von Vandalismus und mit ihr verbundene Brände. Ein Grund dafür war die kriegsbedingte Verrohung der Gesellschaft und das Zusammenbrechen der bisherigen Ordnungsstrukturen. Das Einrichten des polnischen „Wrocław“ noch im brennenden Breslau war ein abenteuerliches Unterfangen.122 Durch Beschlagnahmung der Gebäude in der Blücherstraße (ul. Józefa Poniatowskiego) und in den angrenzenden Straßen im wenig zerstörten Norden der Stadt kristallisierte sich der „Nukleus des polnischen Breslaus“ heraus.123 Das Gründerzeitviertel südlich des Odertorbahnhofs wurde zur heimatlichen Insel der Polen inmitten der ansonsten noch ganz von Deutschen bestimmten Stadt. Das Odertorviertel wurde somit zufällig zum ersten polnischen Viertel, mit einem vorläufigen administrativen Zentrum um den Waterloo-Platz, von dem aus die Stadt erschlossen und besiedelt wurde. Zu der ersten Aufgabe der Bauabteilung der Breslauer Stadtverwaltung gehörte die Ausarbeitung einer Schadensbilanz zur Abschätzung der Anforderungen für den Wiederaufbau. Den Schätzungen nach verlor die Stadt während der Kämpfe um „Festung Breslau“ 68% ihrer Bausubstanz. Die Verluste an Bausubstanz verbreiteten sich nicht gleich auf die Stadtgebiete aus. Als zu 90% zerstört galten die westlich und südlich des Stadtzentrums gelegenen Stadtteile, in denen vor dem Krieg ein Großteil der Bevölkerung gewohnt hatte und wo sich auch die meisten der Industrieanlagen befunden haben. Der Norden und Nordosten Breslaus wies dagegen Schäden von 10 bis 30% auf. Das Stadtzentrum mit der historischen Altstadt verzeichnete einen Zerstörungsgrad von 50% (Abb. 1.33).124 Nach den kriegsbedingten Zerstörungen erfuhr die Stadt eine weitere systematische Fortführung des materiellen Aderlasses durch die Umsetzung der sowjetischen Demontagen im Rahmen der Reparationsleistungen. So mussten Polen der ersten Stunde ratlos mit ansehen, wie neben beschlagnahmtem Mobiliar ganze Fabrikanlagen, Schienennetze und Hafenanlagen abgebaut und in die Sowjetunion abtransportiert wurden. Aber auch seitens der polnischen Regierung wurden gezielt Demontagen in den Westgebieten durchgeführt.125 Eine Art innerpolnische Demontage, bei der ein Abfluss materieller Güter stattfand, wurde von vielen Einrichtungen aus Zentralpolen gefordert. Zu einer besonderen Art der Demontage gehörte der Abbrucherlass 666 vom 20. August 1955, der ursprünglich der Beseitigung von Kriegsschäden und der Minderung des drückenden Mangels an 122 Eine ausführliche Schilderung der administrativen Land- und Stadteinnahme durch die polnischen Regierungsbevollmächtigten und die damit verbundenen Probleme liefert Gregor Thum. Ebd.: S. 60-106 123 Ebd.: S. 71 124 Zur Bilanz der Zerstörung im Einzelnen: Bukowski, Marcin: Wrocław z lat 1945-1952. Zniszczenia i dzieło odbudowy, Warszawa 1985, S. 5-26; Małachowicz, Edmund: Stare Miasto we Wrocławiu. Rozwój urbanistyczny i architektoniczny, Wrocław 1985, S. 101-115 125 Die polnische Regierung erklärte per Dekret vom 2. März 1945 sowie durch den Erlass vom 6. Mai 1945 den gesamten von den Deutschen zurückgelassenen Besitz zum Eigentum des polnischen Staates. Alle Mobilien und Immobilien sollten in die Verwaltung der Provisorischen Staatsverwaltung (TZP) übergehen, der es im Namen des Finanzministeriums oblag, über diesen Besitz zu wachen und eine geordnete Verteilung sicherzustellen. In: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 185 1. Kapitel 39 Baumaterialien im Nachkriegspolen dienen sollte.126 Für Breslau bedeutete es in zweifacher Hinsicht eine Katastrophe. Zum einen wurde die Aktion zur Gewinnung von Ziegeln zu 90% für den Wiederaufbau von Warschau und nicht Breslaus durchgeführt. Zum anderen führte sie zum exzessiven Abbruch von Ruinen, wo ein Wiederaufbau der Gebäude oft möglich und ökonomisch sinnvoll gewesen wäre. Dabei gingen auch wertvolle Bestandteile der denkmalwürdigen Bausubstanz, wie das Hauptpostamt am Dominikanerplatz (pl. Dominikański), zur Rekonstruktion der Altstadt von Warschau verloren (Abb. 1.34). Des Weiteren verwandelte die Ziegelaktion, wie sie Gregor Thum nennt, die im Vorfeld der Breslauer „Ausstellung der Wiedergewonnen Gebiete" im Sommer 1948 von wesentlichen Trümmern befreite Stadt, wieder in eine Schuttlandschaft.127 Die Folgen der Abbruchaktion waren irreversibel und prägen mancherorts, als bestenfalls zum Parkplatz deklassierte Ödfläche, die Innenstadt bis heute. Der allgemeine Mangel des ersten Nachkriegsjahrzehnts an wirtschaftlichen Mitteln und, allen voran, an Baumaterialien führte zu einer Konzentration der Mittel auf wenige Baustellen. So konnten die Breslauer Behörden nur punktuell eine Sicherung von Baudenkmälern, kulturellen Einrichtungen, Bildungs- und Verwaltungsgebäuden durchführen lassen. Die Sicherung des städtischen Wohnraums musste zunächst der Bevölkerung überlassen werden. Diese Notlösung zog verheerende Folgen nach sich, da die wenigsten Mieter auf Grund finanzieller und materieller Engpässe Interesse an der Instandhaltung zeigen konnten. Zusätzlich verhinderte die Unsicherheit über die Zukunft der Westgebiete die Initiative zur Instandhaltung der Wohnhäuser seitens der polnischen, als auch der deutschen Stadtbewohner.128 So stellte ein Bericht von 1955 der Warschauer Zentralbehörden eine fatale Lage bei der Wohnraumsituation dar. Die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum hatte sich durch mangelnde Pflege, ausbleibende Restaurierungsarbeiten und unzureichende Bekämpfung von Pilz deutlich verschlechtert. Außerdem beanstandet der in Breslau verfasste Bericht die mangelhafte städtische Infrastruktur und vielerorts auftauchende Schutt und Trümmerhaufen. Der Bericht schließt mit dem traurigen Ergebnis: „In Folge einer gewissen Planlosigkeit des bisherigen Wiederaufbaus, was im Stadtzentrum besonders krass hervortritt, macht Breslau auf seine Bewohner wie auf Fremde den Eindruck einer verwahrlosten Stadt.“129 Der Wiederaufbau und Abriss ging auch in der Volksrepublik Polen Hand in Hand, wenn auch ein wenig behutsamer als es in Westeuropa des Öfteren der Fall war.130 Trotz der schwierigen materiellen Lage ging der Wiederaufbau jedoch von Anfang an über die Erfüllung von rein praktischen Bedürfnissen bei der Instandsetzung hinaus. Neben der punktuellen Sicherung von 126 Zu den negativen Folgen der Abbruchaktionen siehe: Saski, Kazimierz: Usuwanie śladów zniszczeń wojennych, Ochrona Zabytków, Bd. 9, H. 1-2, 1956, S. 117f.; Krzywobłocki, Aleksander: Dziesięć lat pracy konserwatorskiej w wojewodztwie wrocławskim, Ochrona Zabytków, Bd. 8, H. 1, 1955, S. 50-57, nach: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 197 127 Im Dezember 1955 näherten sich die Schutthalden im Stadtzentrum mit geschätzten 7,5 Million Kubikmeter den 8 Millionen Kubikmetern vom März 1946 und der Hälfte der geschätzten 18 Million Kubikmeter unmittelbar bei Kriegsende. In: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 200 128 Die staatlichen und sowjetischen Demontagen drohten nicht nur die materielle Basis zu vernichten und einen raschen Wiederaufbau zunichte zu machen, sondern nährten zusätzlich den sowieso vorhandenen Verdacht auf die Unbeständigkeit der Westgebiete bei den Menschen. 129 Plan etapowy m. Wrocławia 1956-1960, hg. v. Prezydium MRN m. Wr., Miejski Zarząd Architektoniczno-Budowlany und Pracownia Urbanistyczna vom Dezember 1955 (Interne Broschüre mit dem Stempel „geheim“), in: Archiv der Neuen Akten (AAN), Komitee für Bauwesen, Urbanistik und Architektur (KBUA) 11/115, Bl. 13, in: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 205 130 Durth, Werner; Gutschow, Niels: Träume in Trümmern. Stadtplanung 1940-50, München 1993 1. Kapitel 40 überlebenswichtigen Gebäuden und der Infrastruktur, konzentrierte sich die Bautätigkeit von Anfang an auch auf den Schutz wichtiger Baudenkmäler. Darunter zählt neben der historischen Rekonstruktion des Breslauer Doms (1946-1951), das Instandsetzen des barocken Universitätsgebäudes an der Oder (1946-1949) und des Breslauer Rathauses (1949-53). In Folge des Mangels an Ressourcen und der einsetzenden Raumnot beschränkte man sich im Normalfall auf Gebäude, bei denen unter minimalem Einsatz die größte Ausbeute erzielt werden konnte. Diese gezwungenermaßen zustande gekommene Konzentration auf nur wenige zerstörte Häuser führte im Großen und Ganzen zum weiteren Verfall der Stadt, die Mitte der 50er Jahre wieder von Ruinen und Trümmern gekennzeichnet war. Bis Anfang der 50er Jahre lässt sich somit nicht von einem dynamischen Wiederaufbau sprechen (Abb. 1.35). Im Zuge der politischen Veränderungen Ende der 40er Jahre wurde vielerorts zunichte gemacht, was zuvor errichtet worden ist. In der Zeit des Stalinismus sprach man dem Aufbau der Industrie die größte Bedeutung zu. Während vor allem die Schwerindustriezentren davon profitierten, stagnierte, bis auf die Hauptstadt Warschau, der Wiederaufbau anderer Städte, unter anderem der Stadt Breslau. Durch stillschweigende Vernachlässigung und verordnete Ziegelgewinnungsaktionen „verwahrlosten“ vor allem die Städte in den Westgebieten. Erst 1953 fiel die Entscheidung, die Wiederaufbauanstrengungen in Breslau zu forcieren und dabei der historischen Rekonstruktion der Altstadt eine besondere Rolle einzugestehen.131 Der Beschluss leitete eine Fülle an großen Wiederaufbauprojekten ein, die über die politische Wende der Entstalinisierung von 1956 hinaus größtenteils realisiert werden konnten.132 Dabei ging der sozialistische Realismus eine enge Beziehung mit der historischen Rekonstruktion ein. Der architekturpolitischen Generallinie zur Folge baute man auch in Breslau „sozialistisch im Inhalt, national in der Form“. Für die Rekonstruktionen der alten Bürgerhäuser an den zentralen Plätzen und Straßen bedeutete dies, dass hinter historisierende Fassaden, moderne Arbeiterwohnungen errichtet wurden. Zeitgleich wurden erste große Bauinvestitionen für die Architektur des sozialistischen Realismus aufgebracht, am Ende derer die erste vorzeige Wohnsiedlung KDM und zahlreiche Hochschulbauten nordöstlich der Oder realisiert werden konnten.133 Nach 1956 erfolgte ein Abschied von dem sozialistischen Realismus mit seiner Monumentalität, Tradition und Rückständigkeit im Hinblick auf die internationale Entwicklung der Architektur und des Städtebaus. Setzte man in den ersten 15 Nachkriegsjahren eher handwerkliche Baumethoden ein, so richtete man nun in erster Linie aus ökonomischen Gründen das Hauptaugenmerk auf die vorfabrizierte Architektur der Moderne beim Wiederaufbau der Städte. Vor dem Hintergrund der industriellen Voranfertigung standardisierter Bauteile und dem Aufkommen der Großplatte sowie der plagenden Geld und Wohnraumnot, waren die historische Rekonstruktion und der sozialistische Realismus nicht mehr vertretbar.134 Eine Ausnahme gewährte man nur noch in vereinzelten Fällen von bedeutenden Baudenkmälern. Eines der ersten und renommiertesten Projekte des neuen Baustils ergriff vom Letzten der drei für die historische Rekonstruktion freigegebenen mittelalterlichen Plätze in Breslau Besitz. In den Jahren 1961 bis 1965 wurden auf dem Neumarkt moderne Wohnhäuser, die sich lediglich in der Höhe und der Bauflucht an 131 Małachowicz, Edmund: Stare Miasto we Wrocławiu. Rozwój urbanistyczny i architektoniczny, Wrocław 1985, S. 138 132 Zu den Projekten zählten die historischen Rekonstruktionen vom Ring und Salzmarkt, den Kirchen und Klöstern der Altstadt, der Dom- und Sandinsel, sowie den mittelalterlichen Festungsanlagen und der Piastenburg auf der Dominsel. Von den großen Rekonstruktionsvorhaben konnte nur der Neumarkt nicht in ursprünglicher historischer Form wieder aufgebaut werden. 133 Die KDM-Wohnsiedlung (Kościuszkowska Dzielnica Mieszkaniowa) orientierte sich stark an der Warschauer MDM-Wohnsiedlung (Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa). Sie stellt ein gelungenes in sich abgeschlossenes Bauensemble, das alte Bausubstanz in sich integriert und im Gegensatz zu der nur bruchstückhaft gebauten Hochschulstadt an der Kaiserstrasse (pl. Grunwaldzki) steht. 134 Kalinowski, Konstanty: Der Wiederaufbau der Altstädte in Polen in den Jahren 1945-1960, in: Österreichische Zeitschrift für die Kunst und Denkmalpflege, Bd. 32, 1978, S. 81-93 1. Kapitel 41 der alten Platzstruktur orientierten, gebaut. Wurde hier anfangs noch versucht, an die Tradition des Ortes anzubinden, so verzichtete man bald aus ökonomischen Gründen auf behutsame und abwechslungsreiche Anwendung der modernen Bauweise zu Gunsten einer monotonen Massenarchitektur. Es war die Zeit einer so genannten standardisierten „Plomben-Architektur“, die vorrangig der Lückenschließung diente und mit der vorhandenen oder rekonstruierten historischen Bausubstanz radikal kollidierte. Der Massenwohnungsbau hatte 1960 zum ersten Mal auch außerhalb des Stadtzentrums eingesetzt. Im Süden lagen großflächige Bauareale, einst bürgerliche Wohnquartiere in Blockrandbebauung oder vorstädtische Siedlungen, die bei den Straßenkämpfen weitgehend zerstört wurden, brach. Hier entstand in den Jahren 1960 bis 1968 die Siedlung „Gajowice“, eines der ersten Projekte des industriellen Wohnungsbaus Breslaus. Es folgte die sukzessive Errichtung der großflächigen Siedlung „Süden“(Południe) und der Siedlung „Huby“. Mit der Bebauung des Areals um den Tscherinerplatz (Rynek Szczepiński) seit den 60er Jahren, erschloss man zum ersten Mal ein zerstörtes Stadtgebiet westlich der Altstadt. Zu einer Verbesserung der bemängelten städtischen Monotonie kam es erst Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, als man bewusst eine Lockerung der Normung und Typisierung forderte.135 In der Reihe der neu propagierten Bauprojekte steht an erster Stelle das preisgekrönte Ensemble von sechs Hochhäusern mit plastischer Fassadengestaltung und großen Pavillons von Jadwiga HawrylakGrabowska, das Ende der 60er Jahre für die südliche Kaiserstrasse (pl. Grunwaldzki) entworfen worden ist. An einer der exponiertesten Stellen Breslaus Anfang der 70er Jahre realisiert, wurde es für viele Polen zum heimlichen Wahrzeichen der Stadt. Auch der Umgang mit der historischen Bausubstanz wurde revidiert und nach einer harmonischen Verbindung zwischen alter und neuer Bausubstanz gesucht. Auf diese Weise wurde das auf der Abbruchliste stehende zerstörte Hatzfeld-Palais, zumindest in Form des Eingangsportals und der dahinter liegenden Empfangshalle, in den modernen Neubau einer Kunstgalerie 1968 aufgenommen. Die 70er Jahre sind gekennzeichnet durch die im größeren Umfang eingesetzte Plattenbauweise und durch den Versuch, sowohl durch planerische Variationen in Höhe und Anordnung der Plattenbauten zu einander, als auch in der Farbgestaltung der Siedlungen, der Monotonie entgegen zu wirken. Mitte der 70er Jahre entstand in dieser Bauweise die Wohnsiedlung „Popowice“. Um der immerwährenden Wohnraumnot der Volksrepublik Polen zu begegnen, setzte Ende der 70er Jahre ein groß angelegter Wohnsiedlungsbau ein. Im Zuge dessen wurden die Großsiedlungen Gaj im Süden und Kozanów, Kuźniki, Nowy Dwór, Gandów Mały im Westen errichtet (Abb. 1.36). Die Unbeständigkeit der Behörden und die wiederholten Brüche in den Leitlinien des Wiederaufbaus machten einen geschlossen wirkenden Wiederaufbau der Stadt jedoch nicht möglich.136 Stattdessen erstreckten sich bis Ende der Volksrepublik im Stadtzentrum als auch in der weitläufigen Peripherie, aufgrund bruchstückhaft realisierter Projekte oder der Vernachlässigung während der Phase des Großsiedlungsbaus, große Brach- und Ödflächen. Das einst erstrebte Bild baulicher Geschlossenheit, die die rekonstruierten Hauptstraßen und -plätze des Zentrums zu vermitteln vermochten, wurde 135 Latour, Stanisław: Rozwój architektury i urbanistyki na Ziemiach Zachodnich po II wojnie światowej, in: Architektura i urbanistyka w Polsce w latach 1918-1978, hg. v. PAN/Komitet Architektury i Urbanistyki, Warszawa 1989, S. 61-81, nach: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 239 136 Olechnowicz, Małgorzata: Architektura na obszarze wrocławskiego starego miasta po 1945, jej uzależnienie od planów zagospodarowania przestrzennego o przemian budownictwa (Dissertation am Fachgebiet Geschichte der Architektur, Kunst und Technik an der Technischen Hochschule Breslau), Wrocław 1997, in: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 243 1. Kapitel 42 dadurch nie erreicht. Die großflächigen Lücken im Stadtzentrum werden erst seit der überwundenen Baukrise der ersten Jahre nach dem Zusammenfall des Kommunismus mit ausländischem Kapital bebaut und vorrangig als großstädtische Büro- und Einkaufsmalls der breiten Masse zur Verfügung gestellt. 1.3.5. Mechanismen der kulturellen Aneignung des Raumes Die allgemeine Erfahrung der Menschen in den Westgebieten war die Fremdheit. Fremd waren nicht nur die Landschaft und die Architektur, fremd waren auch die Menschen, ob zunächst Deutsche oder später Polen. Dieses universelle Gefühl der fehlenden Verwurzelung gesellte sich untrennbar zu dem Entsetzen über die Kriegszerstörungen und dem Gefühl der Vorläufigkeit in den Westgebieten. Dieser latente Gefühlscocktail konnte keine erfolgreiche Basis für die Revitalisierung und den Wiederaufbau mit sich bringen. Er stellte eher die Gefährdung der Zukunft des ganzen Landes dar und musste zur höchst brisanten Angelegenheit der jungen Volksrepublik angesehen werden. Es war daher eine Sache der Staatsräson gegen diese vorzugehen. Eine erfolgreiche Integration der Westgebiete konnte nur durch eine breite Implementierung des Gefühls des „bei sich Zuhause seins“ erreicht werden, was wiederum eine Notwendigkeit der Propaganda mit sich brachte. Auf diesem Wege versprach sich die politische Führung die kollektive Aneignung des fremden Raumes, welcher über Nacht zum Mutterland Polens ausgerufen wurde. Hierbei bediente man sich der Anknüpfung an den polnischen Westgedanken, der seine Anfänge bereits im Polen der Zwischenkriegszeit hatte.137 Die zündende Generalthese dieser Anschauung steckte in der Umdeutung der Westgebiete zu den „Wiedergewonnenen Gebieten“, die 1945 nach Jahrhunderten der Trennung in einem Akt der historischen Wiedergutmachung zurückerhalten wurden (Abb. 1.37). Dieser Anschauung entsprach auch die Ähnlichkeit des Grenzverlaufs der Volksrepublik Polen nach 1945 mit den Grenzen des ersten polnischen Staates der Piastendynastie um das Jahr 1000. Der wesentliche Vorteil des Gedankenkonstruktes lag jedoch in der historischen Relativierung des polnischen Zugewinns an Land im Osten, das nach 1945 von der Sowjetunion annektiert worden ist, bei gleichzeitiger Betonung der territorialen Verluste im Westen, die stets als Raub urpolnischen Landes in Folge des ewigen deutschen „Dranges nach Osten“ dargestellt werden konnte. Die Zauberformel der mentalen Aneignung des fremden Raumes steckte in der Reduktion eines Jahrtausends mit komplexer mitteleuropäischer Beziehungsgeschichte auf einfachste Bilder. In diesen konnte der Zweite Weltkrieg leicht als der Höhepunkt eines „Tausendjährigen Ringens“ zwischen den Deutschen und den Polen, an dessen Ende eine historische Wiedergutmachung in Form der „Wiedergewonnen Gebiete“ statt fand, vermittelt werden (Abb. 1.38).138 Der millionenfache Verlust der Heimat im Osten konnte als Rückkehr zur eigentlichen Tradition Polens umgedeutet werden. Die Anknüpfung an das erste polnische Herrschergeschlecht der Piasten war der Versuch, das Trauma des Verlustes an Heimat im Osten einen positiven und einfachen Sinn zu geben. Dieses offizielle Geschichtsbild der Volksrepublik Polen stellte die kommunistische Partei in den Rang eines 137 138 Ausführlicher widmet sich der Genese und den Inhalten des polnischen Westgedankens Gregor Thum. In: Ebd.: S. 272-281 Die programmatische Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen von Zygmunt Wojciechowski, dem langjährigen Direktor des Westinstituts an der Universität Posen (Poznań), prägte bis zum Untergang des kommunistischen Regimes die Geschichtsdeutung. In: Wojciechowski, Zygmunt: Polska - Niemcy. Dziesięć wieków zmagania, Poznań 1945 1. Kapitel 43 Nachfolgers des ersten polnischen Staates und machte die Freundschaft zur Sowjetunion zum Garanten der polnischen Grenzen und des Friedens. Das Ziel der Propaganda der Volksrepublik Polen war vor allem das Überwinden der immensen psychologischen Probleme, die sich aus der Entwurzelung von Millionen von Menschen und der allgegenwärtigen Fremdheit ergaben. Der Erfolg basierte vor allem darauf, dass das Propagierte einem wirklichen Bedürfnis der Legitimation einer „Rückkehr“ innerhalb der polnischen Gesellschaft entsprach. Das Bedürfnis und das Engagement spiegelt auch die Masse der Träger des Westgedankens, von einer Vielzahl an Periodika, Monographien, Reiseführern, Rundfunksendungen und Ausstellungen über die Rituale der Feierlichkeiten und Gedenktage, den gesamten Kulturbetrieb, den staatlichen wie auch den gesellschaftlichen Initiativen, bis hin zur katholischen Kirche. Die später viel zitierten Worte aus der Predigt vom Primas Kardinal Wyszyński im Breslauer Dom vom 15. August 1965, in denen das Oberhaupt der polnischen Kirche deklariert, dass man 1945 „in das väterliche Haus“ zurückgekehrt ist, in dem die Steine „unseres königlichen piastischen Stammes“ polnisch sprechen, verdeutlichen die Tragweite des Bedürfnisses an Legitimation, bei der sowohl der Staat als auch die Kirche, zumindest in nationalen Fragen, Hand in Hand gegangen sind.139 Dieses latente Bedürfnis der Klärung der Rechtmäßigkeit, sowie das Zusammenwirken von Staat, Kirche und Gesellschaft in der Propaganda sind die Gründe, weshalb die Thesen des Westgedankens zum festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses in Polen geworden sind. Für Breslau bedeutete die Identifizierung seiner neuen Bewohner mit der Geschichte der Stadt den einzigen Weg, um mit einem fremden und abschreckenden Ort, von dem oft die Rede war, eine Beziehung einzugehen.140 Die Geschichte musste als eine Art Rettungsring für die bedürftigen Neuankömmlinge neu geschrieben werden. Dabei wurden die Historiker, wie Gregor Thum feststellt, „zu Ingenieuren eines neuen kollektiven Gedächtnisses. Sie entwarfen gegen das allgemeine Gefühl der Entwurzelung und der Heimatlosigkeit ein Bild von der Vergangenheit, das Breslau die Fremdheit nahm und die Stadt zu einem Ort machte, zu dem man als Pole ‚zurückkehren’, wo man die Wurzeln der eigenen Nation entdecken und an alte Traditionen des Polentums anknüpfen konnte.“141 Die „Mythisierung der Stadtgeschichte“ basierte auf der Suche nach polnischen Spuren in der Frühgeschichte der Stadt.142 Hierbei griff man auf die piastische Dynastie, mit deren Hilfe ein Bild von einer „urpolnischen Stadt“ geschaffen werden sollte, zurück. Dabei ging es weniger um das 139 „Wir lesen, Geliebteste, aus den steinernen Relikten. Das sind in diesen Kathedralen die Zeichen des Jahrtausends. Und diese steinernen Relikte, herrliche Zeichen der Vergangenheit, sagen: Hier waren wir, ja waren hier, und wir sind wieder hier. Wir sind in das väterliche Haus zurückgekehrt ... Diese Steine rufen zu uns von den Wänden, diese in der Krypta verbliebenen Gebeine, diese von der Erde geborgenen Überreste sprechen uns in unserer Muttersprache an [..] Wenn wir diese piastischen Gotteshäuser sehen, wenn wir ihrer Sprache lauschen, dann wissen wir deshalb, dass das kein deutsches Erbe ist. Das ist die polnische Seele. Sie waren niemals deutsch und sind nicht deutsch. Das sind die Spuren unseres königlichen piastischen Stammes. Sie sprechen zum polnischen Volk ohne Kommentar. Wir brauchen keine Erläuterungen. Wir verstehen ihre Aussage.“ Auszug aus der Rede vom Kardinal Wyszyński, zitiert nach: Marschall, Werner: Das Bistum Breslau. Von 1945 bis zur Jahrtausendwende, Kehl 1999, S. 10 140 „Einer der Gründe, dass ich mich in Breslau so schlecht fühle, ist, dass hier eine untröstliche Nostalgie in der Luft hängt. Als wäre man endlos weit von den Seinen entfernt, in der Verbannung. Als ob die Sehnsucht all der entwurzelten und hierher verpflanzten Menschenmassen von diesen ausströmen und die Luft mit einer schmerzvollen Melancholie erfüllen würde.“ Dąbrowska, Maria: Maria Dzienniki powojenne 1945-1965, 4. Bde., Warszawa 1996, Bd. I, S. 123 (5. Mai 1945) 141 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 305 142 Ebd.: S. 304 1. Kapitel 44 Wiedergeben historischer Tatsachen, als um den Versuch, eine lückenlose Kontinuität der polnischen Tradition von den piastischen Anfängen der Stadt um das Jahr 1000 bis in die Gegenwart zu konstruieren. Hier wurde Geschichtsschreibung ganz klassisch im Sinne von Jan Assmann als „fundierende Geschichte“ begriffen und umgesetzt, bei der es hauptsächlich um die Legitimierung der Gegenwart geht.143 Im Zuge wurde die Stadtgeschichte durch Verstellen und Auslassen von historischen Fakten von Spuren des deutschen Wirkens, die positiv gedeutet werden konnten, bereinigt. Mehr noch, man forcierte die Suche nach Schattenseiten der deutschen Stadtgeschichte, die fortwährend erwähnt wurden. Dem ersten Schritt der immateriellen Aneignung folgte unmittelbar die materielle Einverleibung des fremden kulturellen Raumes. Bereits 1945 begann man auf Verordnung der polnischen Regierung mit der Entfernung der Spuren des Deutschtums. Die Aktion der Entdeutschung verfolgte in erster Linie das Ziel, der neuen Umgebung ihre Fremdheit zu nehmen. Der Aktion fielen zunächst alle deutschen Schriftzüge im Stadtgebiet zum Opfer. Der Säuberung der Stadt von deutschen Zeichen wurden anschließend die Gedächtnisorte unterzogen. Alle deutschen nationalen Denkmäler, die zahlreich im Stadtzentrum vorhanden waren, wurden regelrecht gestürzt. Der Abriss des monumentalen KaiserWilhelm-I.-Denkmal an der Schweidnitzer Strasse (ul. Świdnicka) wurde seitens der polnischen Behörden in einem propagandistischen Akt in Szene gesetzt, bei dem der Sieg über das NaziDeutschland zur Schau gestellt wurde. Schwieriger erwies sich die Situation bei großen symbolbeladenen Nationalbauten, wie der Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki), die 1913 zum 100-jährigen Jubiläum des Sieges über Napoleon bei Leipzig feierlich vom Deutschen Kaiser selbst eröffnet wurde und eine Fülle preußischer Symbolik in sich vereinte. Im Fall der wichtigen Oderbrücke entschied man sich für die Umkodierung des Monumentalbauwerks mit Hilfe baulicher Maßnahmen. Zur Krönung nannte man die Kaiserbrücke in die Grunwald-Brücke um, die mit ihrem neuen Namen an den polnisch-litauischen Sieg über den Deutschen Ritterorden im Jahre 1410 bei Tannenberg (Grunwald) erinnert. Nur vereinzelt konnten Denkmäler den „Bildersturz“ der ersten Jahre überstehen, insofern sie frei von nationalen Konnotationen waren. Relativ spät, Anfang der 70er Jahre, wurde schließlich die Auflösung, Umgestaltung oder Neunutzung der deutschen Friedhöfe, der letzten im Stadtraum verbliebenen eindeutigen deutschen Spuren, eingeleitet. Auf die Säuberung der Stadtlandschaft von deutschen Zeichen folgte ein Aufbau der neuen imaginären Tradition polnischer Kontinuität und Zugehörigkeit Breslaus. Der wissenschaftlichen Erkenntnis von der „Dauerhaftigkeit der heiligen Stätten“ folgend, setzte ein Prozess des regelrechten Austausches von Denkmälern bei gleichzeitiger Beibehaltung des Ortes ein.144 Wo einst ein deutscher Erinnerungsort in Form eines Denkmals verweilte, errichtete man auf kurze oder lange Sicht ein neues polnisches Denkmal. Alle großen Erinnerungsorte der Vorkriegszeit bekamen auf diese Art und Weise einen polnischen Ersatz. Mit der Fertigstellung des Denkmals zu Ehren des Piasten Bolesław Chrobry an der Schweidnitzer Straße (ul. Świdnicka) im Jahre 2008, beendete man das Dasein des letzten bedeutenden brachliegenden Erinnerungsortes. Damit fand auch das lange Bemühen, einen passenden Ort und Gestalt für ein Denkmal des polnischen Königs aus dem Piastenhause zu finden, mit dem die polnischen Ursprünge der Stadt eng verbunden sind und der seit den ersten Nachkriegsjahren der 143 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 144 Lotman, Jurij; Uspenskij, Boris: Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur (bis zum Ende des 18. 75ff. Jahrhunderts), Poetica, Bd. 9, 1977, S. 1-40 1. Kapitel 45 kommunistischen Stadtpropaganda Pate stand, ein wenn auch verspätetes Ende. An diesem Beispiel, bei dem das bereits erwähnte 1945 gestürzte monumentale Reiterstandbild vom Kaiser Wilhelm I. am südlichen Stadtgraben 60 Jahre später durch ein Reiterstandbild vom König Bolesław Chrobry ersetzt wurde, lässt sich die These von der „Dauerhaftigkeit der Heiligen Stätten“ und der Prozess der Inbesitznahme eines fremden Stadtraumes hervorragend verdeutlichen (Abb. 1.39).145 Die erste neue nationale Weihestätte der Nachkriegszeit wurde Ende der 50er Jahre mit der Idee der Wiederzurschaustellung des „Panorama von Racławice“146 und der Errichtung einer Rotunde, in der das 120 auf 15 Meter große Gemälde aufbewahrt werden sollte, in die Wege geleitet. An diesem Symbol des polnischen Freiheitswillens, das auf Grund der russophoben Inhalte erst 1985 feierlich eröffnet werden konnte und das heute zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt zählt, offenbart sich der Einfluss der Erinnerungskultur auf die Besetzung des Stadtraumes mit architektonischen Bedeutungsträgern.147 In den Zeiten der kommunistischen Volksrepublik konnte für die Zwecke der Aneignung der Westgebiete bereits 1945 ein königliches Geschlecht der Piasten wieder zum Leben erweckt werden; die in der Leinwand steckende Symbolik eines antirussischen Freiheitswillens, musste jedoch erst bis zur Perestroika auf die Zurschaustellung warten. Eine Eigenart vieler Erinnerungsorte Breslaus ist die „Ortlosigkeit“ ihrer neuen Denkmäler.148 Auf Grund einer fehlenden ernsthaften Verbindung der Stadt in den letzten Jahrhunderten vor 1945 mit Polen, beschränkte sich die nachweisbare Polonität der Stadt meist auf flüchtige Aufenthalte polnischer Persönlichkeiten. So erklären sich die an zahlreichen Gebäudemauern angebrachten Gedenktafeln, die nicht selten mit eingemeißelten Geschichten, wie „Im August 1847 hat Wincenty Pol, der Autor des ‚Leides von unserem Lande’, den Salzmarkt betrachtet. Gesellschaft der Freunde Breslaus. 20.IV.1957 zum 150. Geburtstag W. Pols“149, die Kontinuität einer „urpolnischen“ Stadt vortäuschten. Eine Sonderstellung inmitten der Breslauer Gedächtnislandschaft stellen die Denkmäler, die mit Lemberg in Verbindung stehen, wie das bereits erwähnte Panoramagemälde, das Denkmal für die 145 Entgegen der Vermutung von Gregor Thum entsprach die neue Idee der Errichtung des Bolesław-Chrobry-Denkmals, anstelle des gestürzten Kaiser-Wilhelm-I.-Denkmals, den neuen politischen Gegebenheiten der Brüder-Kaczyński-Ära. Der Bau ist somit die späte Verwirklichung eines im Sande verlaufenen Projektes zur Erinnerung an die Rückkehr der Westgebiete nach Polen, das anlässlich der Tausendjahrfeier Polens im Jahre 1966 erörtert wurde. Vgl.: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 411 146 Das „Panorama von Racławice“ ist ein Monumentalgemälde, dass von den berühmten polnischen Malern Juliusz Kossak und Jan Styka für die Ausstellung zur Feier des 100-jährigen Jubiläums der Schlacht von Racławice in Lemberg (Lwów/L’viv) 1894 errichtet worden ist. Es stellt die siegreiche Schlacht der polnischen Truppen unter der Führung des Volkshelden Tadeusz Kościuszko gegen die russische Armee bei Racławice vom 4. April 1774 dar. Das Panorama ist, damals wie heute, ein Symbol polnischen Freiheitswillens, der 123 Jahre der Aufteilung Polens überdauerte. Das Gemälde kam 1946 aus Lemberg nach Breslau. 1966 begann man mit den Bau der Rotunde, um das Panorama erst nach den einsetzenden politischen Umbrüchen 1985 feierlich zu eröffnen. 147 Wenn man heute mit dem Auto in die Stadt hinein fährt informieren die braunen Autobahnunterrichtungstafeln an den Stadtgrenzen über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, die Symbole der Stadt, in folgender Reihenfolge (von links nach rechts): Breslauer Dom, Panorama von Racławice, Breslauer Rathaus. Damit ist das Gemälde von 1894 und die Rotunde von 1966 zu einem dem Dom und dem Rathaus ebenbürtigen Symbol der Stadt geworden. 148 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 405 149 Gedenktafelinschrift am Gebäude der Alten Börse auf dem Salzmarkt (Plac Solny) und weiter: „Breslau, 2. Juni 1848: Ich bin in Breslau - und möchte, dass Du, Sally (wenn du kannst), hier herkommst ... Juliusz Słowacki. Im Jahr der Feier des 150. Geburtstages des Dichters. Gesellschaft der Freunde Breslaus, 09.V.1959“ Gedenktafel Ecke Neue Schweidnitzer Straße (ul. Fredry) und Tauentzienplatz (pl. Kościuszki), an der Stelle wo einst das Haus stand, in dem Juliusz Słowacki während seines kurzen Breslauaufenthaltes gewohnt hatte. 1. Kapitel 46 ermordeten Lemberger Professoren oder das Aleksander-Fredo-Denkmal dar (Abb. 1.40). Sie besitzen zwar keinen direkten Ortbezug zu Breslau, sind jedoch, wie die neuen Ansiedler der Stadt, selbst Vertriebene, oder hierher Verschlagene und knüpfen an eine für die meisten greifbare Geschichte und erlebte Erfahrung an. Um so mehr Bedeutung erlangte die 1948 im Rahmen der propagandistischen „Ausstellung der Wiedergewonnen Gebiete“ aufgestellte Stahlnadel (Iglica) vor der Volkshalle, wie die Jahrhunderthalle nach dem Krieg genannt worden ist. Als erstes polnisches Monumentaldenkmal, mit einer ursprünglich 110 Metern hohen Stahlnadel auf drei Fußlagern, sollte es die aufstrebende Leistungskraft der Arbeiter-, Bauern- und Intelligenzschicht in den Westgebieten symbolisieren. Dieses Denkmal mit jüngstem propagandistischem Ortsbezug wurde von Beginn an zum Symbol der Stadt. Die Nadel ist auch das erste polnische Nachkriegsdenkmal, das bereits 1968 unter Denkmalschutz gestellt worden ist. Ihre besondere Stellung inmitten der Breslauer Erinnerungslandschaft konsolidiert sich in der 2002 an Stelle des ehemaligen Blücherstandbildes auf dem Salzmarkt (pl. Solny) aufgestellten „Kleine Nadel“. Auf eine süffisante Art und Weise holte man durch die Aufstellung der steinernen Miniaturnadel symbolisch die Stahlnadel von der Stadtperipherie unmittelbar ins Stadtzentrum (Abb. 1.41). Bis 1989 wurden jedoch vorrangig ortlose Denkmäler, die meist der Pflege des nationalen Kultes in Form des Gedächtnisses an die Märtyrer und Opfer des Kampfes gegen Nazi-Deutschland, aufgestellt.150 Mit dem Untergang des kommunistischen Regimes wurde, neben der Erinnerung an die deutsche Stadtgeschichte der Stadt, dem Bedürfnis nach einem Gedächtnis für die Opfer des Stalinismus und der sowjetischen Besatzung, ein weiterer Erinnerungsraum zugestanden.151 Gleichzeitig lässt sich die Demontage und Verfall der kommunistischen Denkmäler sowie der sowjetischen Friedhöfe feststellen. Der Austausch und die Umwandlung der Denkmäler gehörte zu der weniger schwierigen Umwandlung des fremden Raumes durch die neuen Herren. Viel schwieriger gestaltete sich in dem Prozess der Aneignung des Stadtraumes dagegen der Wiederaufbau der Altstädte. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, allen voran das Ausmaß der gezielten Vernichtung von polnischen Kulturträgern, führten in Polen zu einem im europäischen Sinne außergewöhnlichen Wandel in der Denkmalschutzdebatte. Denn neben der planmäßigen Vernichtung der polnischen Intelligenz, der später die Nation folgen sollte, zerstörte man gezielt polnische Bedeutungsträger baulicher Art. Zum Inbegriff der Zerstörung des Polentums wurde die auf Adolf Hitlers Befehl verordnete flächendeckende Sprengung Warschaus nach dem niedergeschlagenen Warschauer Aufstand im Sommer 1944. So erklärt sich die polnische Abwendung von dem damals allgemein gültigen Denkmalschutzprinzip der Nichtintervention und der 150 Eine Ausnahme in der langen Reihe der „ortlosen“ Denkmäler, bildet hier das Denkmal für die Pioniere Breslaus, das 1980 auf der Slawischen Höhe (Wzgórze Słowiańskie) aufgestellt wurde. Dieses gedenkt den heldenhaften Taten und dem Einsatz der ersten polnischen Ansiedler beim (Wieder-)Aufbau eines polnischen Breslaus. Des Weiteren folgten nach 1989 weitere ortsbezogene Denkmäler, wie das Denkmal für die Flutopfer (1998) oder zu Ehren Mitbegründers des Bistum Breslau, des Fürsten und späteren Königs Bolesław Chrobry (2008). 151 Nach 1989 erhielten die deutsche Stadtgeschichte und ihre Persönlichkeiten mit dem Denkmal für Bonhoeffer, dem Denkmal für die 1938 zerstörte Neue Synagoge, dem Denkmal für die 1914-18 gefallenen Schüler des Matthias-Gymnasiums (wieder entdeckt und vor kurzem liebevoll restauriert), der Gedenktafel an Max Born und dem Edith Stein Haus wieder einen Platz im öffentlichen Stadtraum. Zu den neuen Denkmälern des polnischen Opferkultes zählen das Sibiriaken-Denkmal, das Denkmal für die Opfer von Katyń, Denkmal am Schlossplatz (plac Wolności), aber auch zahlreiche Gedenktafeln an Kirchen, wie die Tafel zum Gedenken an die Opfer der Aussiedlungsaktion „Weichsel“ (Wisła) der Ukrainischen Minderheit aus Südost-Polen (1948). 1. Kapitel 47 Erhaltung der Objekte im „ist Zustand“, hin zur vollständigen Rekonstruktion ganzer Stadtanlagen. Dem neuen Verständnis nach, das der polnische Generalkonservator 1946 programmatisch verkündete, stellte man die Baudenkmäler direkt in den Dienst der Nationsbildung und Identitätsstiftung.152 Die neuen rekonstruieren Baudenkmäler sollten durch ihre räumliche Präsenz massenansprechend und erinnernd sein. Der bislang bevorzugten Authentizität der Denkmäler kehrte man zu Gunsten der Anschaulichkeit und Symbolträchtigkeit einer Rekonstruktion hiermit den Rücken. Nicht selten wissend, dass es sich mehr um eine Konstruktion, denn um eine Rekonstruktion des Originals handelte. Die Rekonstruktion der Hauptstadt Warschau in den Bauzustand aus dem 18. Jahrhundert diente als Modell und Vorbild für andere Städte Polens. Der Wiederaufbau der Städte in den Westgebieten verlief im Gegensatz zu dem pathosbeladenen Wiederaufbau Warschaus, der sich unter der Parole „Das ganze Volk baut seine Hauptstadt wieder auf“ hervorragend für Propagandazwecke benutzen ließ, erheblich schwieriger. Für Breslau, das 1945 de facto keine polnische Stadt war und stellvertretend für alle Städte der Westgebiete gelten kann, musste erst geklärt werden, ob eine Rekonstruktion gerechtfertigt war. Den Worten des Generalkonservators nach, der eine klare Einheit zwischen Nation und Denkmal heraufbeschwor, verband man den Wiederaufbau Breslaus unlöslich mit der Polonisierung der Stadt. Die aufwendigen Rekonstruktionen erfolgten nur, wenn ein wesentlicher Beitrag für die kulturelle Aneignung der Westgebiete und deren Verbindung zum polnischen Staat und seiner Gesellschaft geleistet werden konnte. Dem propagierten Geschichtsbild der Wiedergewonnen Gebiete entsprechend, besann man sich bei der Rekonstruktion der Altstadt Breslaus in erster Linie auf die mit den Piasten und dem Breslauer Bistum in Verbindung stehenden Baudenkmäler.153 Programmatisch wurden die Breslauer Denkmäler zur „verblassten polnischen Geburtsurkunde der Stadt“ verklärt, die mit größter Behutsamkeit für die Zukunft wiederherzustellen sind. Das polnische Breslau sollte weiterführend nach den Worten des Leiters der Arbeitsgruppe „Altstadt“ beim „Planbüro Breslau“, Emil Kaliski, die „Antithese zum deutschen Breslau“ werden und durch das bauliche Heraufbeschwören der polnischen Vergangenheit „unauflöslich“ in einer Reihe mit anderen bedeutenden polnischen Städten stehen.154 152 „Die Erfahrungen der letzten Jahre haben die Bedeutung der Denkmäler für die Nation drastisch ins Bewusstsein gerückt, haben doch die Deutschen, die uns als Nation vernichten wollten, die Denkmäler unserer Vergangenheit zerstört. Denn die Nation und ihre Denkmäler sind eins. Aus dieser politischen These ergeben sich grundlegende Folgerungen, die nicht immer mit den wissenschaftlichen Ansichten übereinstimmen mögen. Wir können uns nicht mit dem Raub unserer Kulturdenkmäler abfinden. Wir werden sie von den Grundmauern wieder aufbauen, um den kommenden Generationen, wenn auch nicht ihre authentische Substanz, so doch wenigstens die genaue Form zu überliefern, die in unserem Gedächtnis noch lebendig ist und sich aus den Dokumenten erschließen lässt.“ Zachwatowicz, Jan: Program i zasady konserwacji zabytków, Biuletyn Historii Sztuki i Kultury, H. 1-2, 1946, zitiert nach Wiederabdruck in: Zybura, Mark: Pomniki niemieckiej przeszłości. Dziedzictwo kultury niemieckiej na Ziemiach Zachodnich i Północnych Polski. Warszawa 1999, S. 52 153 Neben den Mystifizierung der Piasten und ihrer Taten, schenkte die kommunistische Regierung groteskerweise der Rekonstruktion der bedeutenden Kirchen in Breslau große Aufmerksamkeit. Der Staat erkannte hierbei die Polonität der Kirche. Das Bistum Breslau war von seiner Gründung bis zu den napoleonischen Befreiungskriegen dem polnischen Erzbistum Gnesen administrativ unterstellt. Die Kommunisten machten sich diese Tatsache für die Propaganda einer polnischen Kontinuität der Stadt zunutze. 154 „Wir sind uns ganz des Gewichtes jener Aufgabe bewusst, die uns die Geschichte übertragen hat, uns, den polnischen Stadtplanern, eine Aufgabe, deren Ziel es ist, unserem Vaterland jene Stadt zurückzugeben, die einst vielleicht polnischer war als Krakau. [...]. Im Falle Breslaus haben die Denkmäler eine spezielle, spezifische Bedeutung, denn sie sind, so würde ich sagen, die polnische Urkunde dieser Stadt. Die Geburtsurkunde ist verblasst, an einigen Stellen unklar, an anderen zerstört. Daher ist alles, was wie ein Wunder bis in unsere Zeit überdauert hat, mit der größten Behutsamkeit wiederherzustellen, um es für die Zukunft zu erhalten. Und es ist nicht nur das wiederherzustellen, was trotz der Zerstörungen am Ort überdauert hat, sondern auch, was, von den Deutschen nicht bewahrt, im Laufe der Jahrhunderte verschüttet wurde, um schließlich unter der Erde verborgen zu bleiben. [...]. Das polnische 1. Kapitel 48 In Breslau, das vor dem Krieg ein reiche und faszinierende Fülle an Vertretern verschiedener Architekturepochen von der Gotik bis zur Moderne aufzuweisen hatte, wurde die Gotik zum Symbol für die piastisch-polnischen Ursprünge der Stadt erklärt. Ganz im Sinne der Simplifizierung der Geschichte für die Propagandazwecke, galten somit alle gotischen Bauwerke auf einen Schlag als piastische und damit polnische Baudenkmäler.155 Die Polonisierung der Gotik nahm keine Rücksicht auf historische Tatsachen, auch nicht, wenn sie ganz klar offen legten, dass ein Baudenkmal, wie das berühmte Breslauer Rathaus, längst in der Zeit der habsburgischen Herrschaft, von dem und für das aufstrebende deutsche Patriziertum gebaut wurde. Das Problem vor welches das „Planbüro Breslau“ gestellt wurde, war eine der polnischen Wertschätzung der Bausubstanz unproportional entgegengesetzte Zerstörung der Baudenkmäler. Denn gerade die Architektur der deutschen Moderne mit ihren Stahlbetonkonstruktionen und die im Vergleich junge Bausubstanz aus der Zeit der wilhelministischen Gründerjahre, konnten die Belagerung der Stadt zahlreich überstehen. Die Architektur der Gotik hingegen, erlitt mit den mittelalterlichen Bürgerhäusern der Altstadt einen vernichtenden Schlag. Angesichts der städtebaulichen Situation 1945 verwundert es nicht, wenn Emil Kaliski die Lage folgendermaßen zusammenfasst: „Das alte (gotische) Breslau wurde zerstört, das moderne (preußisch-wilhelministische) Monster blieb erhalten.“156 So erklärt sich die aufwändige Rekonstruktion der baulichen Zeugnisse der Piasten-Epoche. Im Zentrum des historischen Wiederaufbaus der ersten Nachkriegsjahre standen zunächst die gotischen Kirchenbauten, die trotz der prekären Beziehung zwischen dem kommunistischen Staat und der römisch-katholischen Kirche aus der Staatskasse finanziert wurden. Einer besonderen Bedeutung erfreute sich hierbei die Dominsel. Sie galt als der symbolische Anfang der polnischen Stadt. Hier befand sich die erste piastische Wehrburg, die den Schriftquellen nach um das Jahr 1000 vom König Bolesław Chrobry besucht wurde. An ihrer Stelle wurde eine eindrucksvolle architektonischdenkmalpflegerische Rekonstruktion vollzogen. Das Gelände der einstigen Piastenburg auf der Dominsel wurde großzügig freigelegt. Während die archäologische Ausgrabung, in der die Wehrburg nachgewiesen werden konnte, als eine touristische Sehenswürdigkeit zur Schau gestellt wurde, rekonstruierte man die kleine St. Martin Kirche, in dem man sie zur ehemaligen gotischen Burgkapelle stilisierte. Schließlich wurden die Mauerreste der einstigen Piastenburg, um die ins Zentrum des neu entstandenen Platzes gerückte kleine St. Martin Kirche, kniehoch rekonstruiert. Damit schuf man ein neues Ensemble, das 1968 mit der feierlichen Aufstellung eines monumentalen Denkmals zu Ehren vom Papst Johannes XXIII., der von den polnischen Westgebieten als den von Polen „nach Jahrhunderten Wiedergewonnen Ländern“ gesprochen hatte, seine gestalterische Vollendung bekam (Abb. 1.42). In der Nachbarschaft der einstigen Piastenburg wurde ebenfalls im symbolischen Jahr 1000 das Bistum Breslau gegründet und mit dem Neubau des Breslauer Doms auf der Stelle einer früheren Steinkirche begonnen. Das wichtigste gotische Bauwerk des Breslauer Bistums, das dem urpolnischen Erzbistum Breslau wird die Antithese zum deutschen Breslau. Unauflöslich verbinden wir es mit Warschau, Posen, Lodz und Krakau. [...].“ Kaliski, Emil: Wrocław wrócił do Polski, Skarpa Warszawska, Bd. 9, 1946, S. 4, in: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 439f. 155 Die Instrumentalisierung der Gotik in der NS-Propaganda war für die kommunistische Propaganda nicht störend. Auch spielte für die Instrumentalisierung der Piasten keine Rolle, dass ihr Geschlecht im Jahre 1334 das Herzogtum Niederschlesien an Böhmen abtrat, ihre Vertreter sich immer stärker germanisierten und schließlich die Macht in der Stadt an die deutschen Patrizier abgaben. 156 Kaliski, Emil: Wrocław wrócił do Polski, Skarpa Warszawska, Bd. 9, 1946, S. 5, in: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 445 1. Kapitel 49 Gnesen bis 1821 administrativ unterstand, war für den Staat nach 1945 in erster Linie ein bedeutendes Zeugnis der als immerwährend proklamierten Zugehörigkeit Breslaus zu Polen. Mit der Rekonstruktion des zerstörten Breslauer Doms bis 1951 konnte die symbolische Hauptkirche des Bistums wieder eröffnet werden. Bis in die 80er Jahre wurde die gesamte städtebauliche Anlage der Domstraße historisch rekonstruiert, an dessen Ende 1991 der Dom zur Krönung seine gestalterisch neu interpretierten Spitzhelme aufgesetzt bekam.157 Das Bedürfnis, an die Frühgeschichte der Stadt zu erinnern, fand seinen Ausdruck auch in der Rekonstruktion von mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt. So wurde über den praktischen Nutzen hinaus das Arsenal und mittelalterliche Mauerfragmente samt Wehrturm rekonstruiert. Die Spuren einer regelrechten „Regotisierung“ der Stadt, wie Gregor Thum sie passend nennt, äußert sich bis heute in der stilistischen Offenlegung der Gotik im Stadtbild. Nicht nur die Kirchen wurden bei ihrem Wiederaufbau im Akt der Entdeutschung in einen vermeintlich „reinen“ gotischen Zustand wiederversetzt. Die unter dem Putz der alten Häuser befindlichen gotisch anmutenden Spitzbögen wurden freigelegt, oder vermutete nicht mehr existierende Bögen bewusst rekonstruiert. Piastische Spuren, wie die in der Südwand des Universitätsgebäudes verbaute Säule aus der ehemaligen Piastenburg, wurden penibel zur Schau gestellt (Abb. 1.43). Neben der herausragenden politisch motivierten Rekonstruktion der Dominsel, zählt die Anfang der 50er Jahre in Angriff genommene Rekonstruktion der drei großen Breslauer Marktplätze zu den eindrucksvollsten Wiederaufbauleistungen der Volksrepublik. Aufgrund ihrer städtebaulichen Bedeutung war ihre Instandsetzung ohnehin für einen gelungenen Wiederaufbau der Stadt unerlässlich. Die Frage konnte deswegen nur lauten, in welcher Form diese bewerkstelligt werden sollte. Widmete sich der verordnete Wiederaufbau in erster Linie dem „alten Breslau“, so erforderte an dieser Stelle die Rechtfertigung einer Rekonstruktion der Bürgerhäuser, dem Erbe des deutschen Patriziertums, welches den piastischen Herzögen die politische Macht in Breslau abgerungen hat, in einer Zeit des Stalinismus einer besonderen Argumentation. Durch die Umkehrung der Sicht, in der man vorgab, die angestrebte Rekonstruktion des Bauzustandes um das Jahr 1800 wäre als reinigende Wiedergutmachung kultureller Barbarei der Deutschen zu verstehen, gelang es einen Spagat zu schlagen. Mit der Barbarei meinte man vorrangig den Verlust der historischen Bausubstand bei der Errichtung großer moderner Einkaufshäuser und Bürobauten seit der Gründerzeit, die bereits in den 30er Jahren von deutschen Architekten und Denkmalpflegern kritisiert worden ist.158 Die doppelte Deutung dieser Wiederaufbauprojekte, als antideutsch und antikapitalistisch, kann somit als glückliche Fügung verstanden werden. In diesem Sinne konnte, bis zur Wende in der Wiederaufbaupolitik Breslaus nach dem Ende des Stalinismus 1956, der Ring und der Salzmarkt erfolgreich nach dem Warschauer Vorbild rekonstruiert werden. Hier wurde auf fantasievolle Weise die Zielsetzung, Breslau „unauflöslich“ in eine 157 Die neuen Turmhelme des Domes entsprechen, wie ihr Autor Edmund Małachowicz selbst zugibt, rein seiner Phantasie. Zur Zeit der Gotik existierte nur der Nordturm in seiner vollendeten Gestalt. Auch ist man sich unsicher wie dieser genau ausgesehen hat, weil nur spärliche und unsichere Informationen überliefert worden sind. Es scheint, als ob die Spitzhelme aus der Schedel'schen Weltchronik von 1493 abgeleitet worden wären, wobei sie in der heutigen schlanken und hohen Ausführung gotischer den je wirken mögen. Siehe hierzu: Małachowicz, Edmund: Wrocław na wyspach. Rozwój urbanistyczny i architektoniczny. Wrocław 1992, S. 210-220 158 Allen voran sei an das Engagements, Pläne und Modelle von Rudolf Stein zu einer Rekonstruktion des Breslauer Rings im Zustand um 1800 zu erinnern. Siehe hierzu: Stein, Rudolf: Der Große Ring zu Breslau, Breslau 1935, und: Das alte Breslau. Eine gotische Großstadt, Breslau 1936 1. Kapitel 50 Reihe mit anderen bedeutenden polnischen Städten zu stellen, durch eine historisierende Stadtbildkonstruktion erreicht. Die Regotisierung Breslaus begleiteten Maßnahmen zur Entfernung genuin Deutscher Architektur aus dem Stadtbild. Die bilderstürmerische Prägung des ersten Nachkriegsjahrzehnts gibt die Denkschrift der Breslauer Architekturstudenten an die Warschauer Regierung vom Mai 1947 wieder, in der das „Bewusstsein von der Aufgabe, nach dem Studium die germanischen Spuren in Schlesien zu tilgen“ zur Triebfeder der polnischen Architektenschaft erklärt wird.159 Die architektonischen Zeugnisse nur auf Grund ihrer Entstehungszeit der preußisch-wilhelministischen Art zu beschuldigen, erwies sich jedoch als undenkbar. Die Stadt würde auf diese Art und Weise auf einen Schlag größtenteils zum fremden und feindlichen Relikt erklärt. Dementsprechend erfolgte die Einstufung meist willkürlich, da zu keinem Zeitpunkt eine Definition vorhanden war, nach der ein Bauwerk eindeutig als Deutsch oder Preußisch deklariert werden konnte. Die Entscheidung, ob ein Gebäude zum Abriss freigegeben wurde, hing also von der subjektiven, sich verändernden Wahrnehmung der Gesellschaft ab und war eher von ökonomischer Motivation geprägt. Es fand zwar ein verstärkter Abriss von im Krieg zerstörten Gebäuden statt, die nach 1945 besonders mit Preußen identifiziert wurden, von einen politisch motivierten Abriss intakter Gebäude kann jedoch nicht gesprochen werden.160 So scheint es angesichts der Tatsache, dass unter anderem alle nationalsozialistischen Gebäude der Stadt erhalten geblieben sind, als ob die Hetzjagd der Entdeutschungsmaßnahmen an der unzerstörten Bausubstanz barmherzig vorbeigegangen wäre. --In Folge des Zweiten Weltkrieges und der Neuordnung Europas nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland markiert das Jahr 1945 einen historisch einmaligen Wendepunkt in der Geschichte der Stadt Breslau. Die Westverschiebung Polens und der damit verbundene Bevölkerungsaustausch in den polnischen Westgebieten ist in seiner Dimension und Tragweite einmalig gewesen. Für den kulturellen Raum bedeutete das Jahr 1945 einerseits einen an den Mongoleneinfall von 1241 erinnernden materiellen Verlust, 70 Prozent der Bausubstanz galt als zerstört, andererseits einen einmaligen Abriss der jahrhundertealten Siedlungskontinuität, denn bis 1948 entledigte man den Raum seiner bisherigen kulturellen Träger. Diese in einem einzigen historischen Augenblick politisch durchgesetzte „ethnische Entmischung“ einer ganzen Region zog eine Reihe von negativen materiellen und psychologischen Folgen nach sich, die sich allenfalls im Laufe eines langen kulturellen Prozesses überwinden lassen.161 159 Memorandum der Architekturstudenten der Technischen Hochschule Breslau an das Ministerium für den Wiederaufbau vom 29. Mai 1947, zitiert nach Gregor Thum, in: ebd.: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 477 160 So hatten zerstörte preußische Symbolbauten, wie die Schlossruine am Schlossplatz, das Schlesische Museum der Bildenden Künste, oder das Hatzfeld-Palais nach dem Krieg wenig Chancen auf die Wiederherstellung. Zu den für den Wiederaufbau uninteressanten Gebäuden zählten auch die zerstörten eklektizistischen Gründerzeitviertel der Vorkriegsstadt. 161 Vgl. hierzu: Mach, Zdzisław: Niechciane miasta. Migracja i tożsamość społeczna, Kraków 1998 1. Kapitel 51 Angesichts der unsicheren politischen Lage, des Zerstörungsgrades anderer Städte, dem Mangel an Siedlern und an Investitionsressourcen, stellte die erfolgreiche Inbesitznahme der Westgebiete die kommunistische Regierung im Nachkriegspolen vor ihre größte Herausforderung.162 Der Kunstgriff, dem sich die Regierung bei der Aneignung der Westgebiete bei gleichzeitiger Sicherung eigener Legitimation bediente, war eine propagandistische Verklärung der polnischen Westgebiete zum urpolnischen „Mutterland“. Geschickt wurde dabei die Westverschiebung, der Verlust Ostpolens und die millionenfache Zwangsmigration in die Fremde, als Wiederkehr in die eigenen „Wiedergewonnen Gebiete“ umgedeutet. Mit dieser Umdeutung des dramatischen Kriegsendes und dem gleichzeitigen Bezug auf die Anfänge des polnischen Staates um das Jahr 1000, als dessen Nachfolger die Kommunisten sich präsentierten, wurden wirksam immaterielle Stützen der Volksrepublik aufgestellt. Die kulturelle und administrative Bedeutung Breslaus als historisches Zentrum Niederschlesiens sowie ihre nachweisbaren polnischen Wurzeln bescherten der Stadt einen Symbolstatus in dem neuen Staatsgefüge. Als „zweite Stadt nach Warschau“163 wurde sie zur heimlichen Hauptstadt der Westgebiete ernannt, in der Großveranstaltungen der Propaganda, wie die „Ausstellung der Wiedergewonnen Gebiete“ (1948) und „Intellektuellen Weltkongress“ (1948), organisiert wurden. Den Erfolg der Propaganda garantierte das allgemeine Bedürfnis der Menschen, ihrem neuen Lebensraum die allgegenwärtige Fremdheit zu nehmen. Von besonderer Bedeutung bei dieser Aneignung waren vor allem Medien, die mit dem anfangs fremden Ort eine Verbindung herstellten und ein lokales kollektives Gedächtnis etablierten. Die auf diese Weise vorangetriebene Entschlüsselung der fremden Stadt basierte auf der akribischen Suche nach Spuren polnischer Vergangenheit, bei der die Historiker der ersehnten „Lesbarkeit der Stadt“ vor historischen Fakten oftmals den Vorrang gewährten. Neben der Neuschreibung der Stadtgeschichte, die Dank eines „wortreichen Schweigens der Heimatkunde“ ein urpolnisches Stadtbild projizierte, versuchte man städtebaulich und architektonisch dieses zu unterstützen.164 Die Stadt wurde dabei im übergeordneten Sinne zum „topographischen ‚Text‘ des kulturellen Gedächtnisses“, in dem die neu zu definierende Gesellschaft in ganz besonderen Maße bestrebt war, ihre spezifischen Erinnerungen auf ihre eigene Weise zu lokalisieren und zu monumentalisieren.165 In der symbolischen Bedeutung der durch Wiederaufbau und Umgestaltung geschaffenen Architektur verbarg sich also ein strategischer Schlüssel der kulturellen Aneignung der Stadt seitens der polnischen Bewohner und der Regierung. Die Architektur war in Nachkriegspolen umso mehr ein „Mnemotop“ im Sinne Jan Assmanns, eine Art materielle Stütze bei Herausbildung eines neuen kulturellen Gedächtnisses, als dass sie offiziell in den „didaktischen und emotionellarchitektonischen Dienst“ gestellt wurde.166 Diesem nach hatten die Baudenkmäler in erster Linie 162 Abgesehen von der rund 70-prozentigen Zerstörung Warschaus, lagen allein in den „Wiedergewonnen Gebieten“ Großstädte, wie Danzig zu 55% und Stettin zu 45% und viele mittelgroße Städte, wie Glogau zu95 %, Kolberg zu 80%, Schneidemühl zu 75%, Stargard zu 70%, Graudenz und Ratibor zu 60%, Neisse und Lauban zu 55%, Allenstein und Landsberg an der Warthe zu 50%, in Trümmern. In: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 212 163 Bei seinen ersten Breslau-Besuch am 28. August 1945 sprach Bolesław Bierut, der erste Staatspräsident in Nachkriegspolen, von Breslau als der nun zweiten polnischen Stadt nach Warschau. In: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 214 164 Ebd.: S. 419 165 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 59f. 166 Zur Rekonstruktion der Altstadt Warschaus äußerte sich der polnische Generalkonservator: „Das Gefühl der Verantwortung vor den zukünftigen Generationen erfordert den Wiederaufbau dessen, was man uns zerstört hat, einen Wiederaufbau im vollen Bewußtsein der Tragik dieser denkmalpflegerischen Fälschung. [...]. Denn die Denkmäler sind nicht allein für die Feinschmecker da, sondern 1. Kapitel 52 „suggestive Dokumente der Geschichte im Dienste der Massen“ zu sein. Bezogen auf Breslau, um die bereits erwähnten Worte vom Kardinal Primas Wyszyński zu wiederholen, sollten ihre Steine in der Lage sein, auf polnisch zu sprechen: „Hier waren wir, [...], und wir sind wieder hier“.167 Die Architektur und der Raum wurden als Ganzes in den Rang eines Zeichens erhoben und in den Dienst der Gesellschaft gestellt. Dabei ging es um nichts Geringeres als um die Konsolidierung des vom Krieg und den Umwälzungen zerrütteten polnischen Staates. In Breslau, wie in anderen Städten der Westgebiete, arbeiteten die Konservatoren und Architekten ganz offensichtlich im Sinne der Staatsräson an einem architektonischen Gesamtkunstwerk zur Visualisierung des offiziellen Geschichtsbildes.168 Der Wandel des lokalen kulturellen Gedächtnisses zieht stets einen Wandel der (Be-)Deutungen des Raumes nach sich. Aus der „Säuberung“ der Stadt von deutschen Zeichen und Bedeutungsträgern trat die dem offiziellen Geschichtsbild entsprechende „Regotisierung“ der Altstadt hervor. Stünde man heute, 60 Jahre nach der Wiederkehr in die „Wiedergewonnen Gebiete“, vor einem erneuten Wiederaufbau der Stadt von 1945 würde man gänzlich anders handeln. Somit liefert, wie Gregor Thum feststellt, die Rekonstruktion des Ringes und des Salzmarktes aus den 50er Jahren kein authentisches Bild von Breslau um 1800, genau so wenig wie ein Abbild von Barock oder Renaissance als Dokument der Antike gelten kann. Die rekonstruierten Baudenkmäler können stets nur als authentische Zeugnisse eines gerade gültigen kollektiven Gedächtnisses sein, in diesem Falle des konstruierten Geschichtsbildes der Volksrepublik Polen. sind suggestive Dokumente der Geschichte im Dienste der Massen. Auch ohne ihren Altertumswert werden sie weiterhin ihren didaktischen und emotionell-architektonischen Dienst leisten.“ Zachwatowicz, Jan: 1946, in: Zybura, Marek: Pomniki niemieckiej przeszłości. Dziedzictwo kultury niemieckiej na Ziemiach Zachodnich i Północnych Polski, Warszawa 1999, S. 55, in: Thum 2003, S. 437 167 Vgl. Anm. 139, Kap. 1. (Kardinal Wyszyński) 168 Teresa Jakimowicz erhebt in ihrem Beitrag „Die Polnische Schule des Denkmalschutzes – Der Mythos und die Realität“ die Konservatoren der Nachkriegszeit metaphorisch zu „Demiurgen“, die an einem architektonischen Gesamtkunstwerk zur Visualisierung des offiziellen Geschichtsbildes arbeiteten. In: Jakimowicz, Teresa: Polska szkoła konserwatorska - mit i rzeczywistość, Kwartalnik Architektury i Urbanistyki, Bd. 38, 1994, S. 421-427, nach: Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 460 1. Kapitel 53 2. Kapitel 2.1. Stadtaneignung durch Medien Bei der Suche nach Materialquellen zur Untersuchung der medialen Stadtvermittlung wurden rund 200 Printmedien, 90 Film-/Fernsehbeiträge und 70 Radiosendungen erfasst, die bei der mentalen Aneignung der Stadt Breslau durch die polnischen Neuansiedler nach 1945 eine Rolle gespielt haben könnten. Einige sind für die hier vorliegenden Fragestellungen weniger zielführend, bieten aber in ihrer Menge und Vielfalt ein abgerundetes Bild von der medialen Stadtbildkonstruktion der Stadt Breslau in den letzten 60 Jahren. Es können und sollen hier nicht alle eingehender vorgestellt, erkundet und in die Arbeit aufgenommen werden. Trotzdem ist es nützlich, das eine oder andere Medium mit in die Untersuchung hineinfließen zu lassen, um einen Tunnelblick zu vermeiden. Die Arbeit behält sich daher die Freiheit vor, zu Beginn der Untersuchung einen Blick über den Tellerrand zu wagen und erste Beobachtungen festzuhalten. Die Betrachtung der medialen Resonanz der Stadt seit 1945 verdeutlicht die Kontinuität der Printmedien im Prozess der Stadtaneignung (Abb. 2.1). Sie spiegelt aber auch das bereits im Kapitel 1.2. erläuterte Nebeneinander verschiedener Medien in der Kommunikation wider. Seit der Inbesitznahme der Stadt durch die polnische Verwaltung 1945 erscheinen regelmäßig und zahlreich gedruckte Medien, die unterschiedliche Stadtbilder konstruieren. Der chronologischen Reihenfolge, der Regelmäßigkeit und letztendlich ihrer Bedeutung wegen, wird hier der Überblick über die Medien im Aneignungsprozess des kulturellen Raumes mit den gedruckten Medien begonnen. Sie dienen in dieser Einführung als ein zeitlicher Leitfaden, in den sich die anderen Medien, wie das Radio, der Dokumentationsfilm und das Fernsehen einreihen. 2.1.1. Zeitungen, Zeitschriften und Periodika In den „Wiedergewonnen Gebieten“ unterstanden die Medien, wie im restlichen Polen bis zum Untergang des Nachkriegsregimes, einer Zensur der zentralen Regierung in Warschau. Die Gründung der regionalen und lokalen Redaktionen verfolgte vorrangig das Ziel der Aneignung des deutschen Raumes durch die polnischen Neuansiedler. Es waren die staatlich verordneten Anstrengungen, dem polnischen Nukleus in den Westgebieten das Gefühl der Fremdheit zu nehmen und eine polnische Normalität zu suggerieren. Die ersten regionalen Zeitschriften versuchten in Anknüpfung an den Westgedanken, der die Rechtmäßigkeit der Inbesitznahme von den Westgebieten propagierte, unter größten Anstrengungen von der Polonität der Gebiete zu überzeugen. Hier leisteten vor allem illustrierte Zeitschriften, wie „Śląsk“ (Schlesien) und „Sobótka“ (Zobten) ihren entscheidenden Beitrag bei der Vermittlung des kulturellen Raumes (Abb. 2.2). Bereits die Namensgebung der ab 1946 erscheinenden Printmedien ist Programm. Sie haben einen starken lokalen Bezug und stehen ganz im Dienste der Aufdeckung der polnischen Wurzeln Schlesiens.1 Im Fall Breslaus ist die zweimal im Jahr erscheinende 1 Im Vorwort der ersten Ausgabe der illustrierten Zeitschrift Śląsk wird offen die ihr zugrunde liegende Legitimation verkündet. Das höhere Ziel der Veröffentlichungen ist die „Aufdeckung der Polonität und die Berichterstattung über die aktuelle polnische Gegenwart Schlesiens“. In: Śląsk, marzec 1946 (Ausgabe vom März 1946), Wrocław 1946, S. 1 2. Kapitel 54 populärhistorische Zeitschrift „Sobótka“, die nach dem kultischen Berg Zobten bei Breslau benannt ist, besonders hervorzuheben. Hier wurden die Forschungsergebnisse namhafter Stadthistoriker auf einen einfachen Nenner heruntergebrochen und regelmäßig für eine breite Leserschaft in illustrierten populärhistographischen Artikeln zur Stadtgeschichte abgedruckt.2 Eine weitere und „wahre Fundgrube des Wissens“ zur Stadtgeschichte stellt der seit 1958 von der Gesellschaft der Liebhaber Breslaus (TMW) kontinuierlich herausgegebene „Breslauer Kalender“3 dar, der als Grundlage für Rätselbücher zu Wissenswettbewerben über die Stadt herangezogen wird (Abb. 2.3). Neben den historiographischen Zeitschriften und Periodika wäre die unter dem Namen „Unser Breslau“ 4, später „Pionier“ genannt, erscheinende Wochenzeitschrift zu erwähnen. Sie stellt seit Januar 1946 die erste illustrierte Zeitschrift für die polnische Stadtbevölkerung, die mit knappen, einfach geschriebenen und bebilderten Artikeln ebenfalls eine breite Leserschaft vermuten lässt, dar.5 Ihre Bedeutung lässt sich in der Neuauflage ihrer ersten Ausgaben zum 35. Jubiläum der Stadtbefreiung im Jahre 1980 ablesen.6 Seit der Wende ist die Regionalausgabe des populären polnischen Tagesblattes „Gazeta Wyborcza“ mit ihren Themenreihen und Sonderbeilagen interessant hinsichtlich der Stadtvermittlung. Bemerkenswert sind Beiträge, wie beispielsweise die Reihe „Magische Orte in Breslau“, bei denen Journalisten besondere (meist deutsche) Orte aufspüren, oder die Sonderbeilagen „Zeitung über das Alte Breslau“ mit Kommentaren von Beata Maciejewska, in denen alte Breslauer Zeitungsartikel eins zu eins übernommen, übersetzt und abgedruckt werden, so dass die verloren gegangene Stadt wieder ins Bewusstsein gerufen wird (Abb. 2.4).7 2 Die erste Ausgabe der populärhistographischen Zeitschrift „Sobótka“ beginnt mit einer klaren Ansage „einer kulturellen und mentalen Aneignung des Raumes“ mittels der Bild- und Artikelauswahl. Die Vorstellung der Zeitschrift im Vorwort wird dem prominentesten Stadthistoriker Karol Maleczyński überlassen, der später selbst in „Sobótka“ eine Vielzahl an populärhistorischen Artikeln veröffentlicht. In: Sobótka, 1. Ausgabe. 1. Halbjahr. Wrocław. 1946. 3 Der seit 1958 jährlich erscheinende „Kalendarz Wrocławski“ (bis heute 43 Bände) diente unter anderem Andrzej Konarski bei der Zusammenstellung der Fragen und Antworten für sein Rätselbuch zu der Stadtgeschichte. In: Konarski, Andrzej: 434 zagadki o Wrocławiu, Wrocław 1999, aus seinem Vorwort 4 Die Wochenzeitung „Nasz Wrocław“ erschien bereits seit der vierten Ausgabe (1.-7. Juli 1945) unter dem Namen „Gazeta Dolnośląska (Niederschlesische Zeitung). Später wurde sie „Pionier“ zu Ehren der ersten Generation der neuen Einwohner der Westgebiete genannt. 5 Genaueres zu den Anfängen und der Entwicklung der Presse bis 1970 schildert der Beitrag „So begann die Pressearbeit in Breslau“. 6 Zum 35. Jubiläum der Rückkehr der Stadt zu Polen druckte die Gesellschaft der Stadtliebhaber (TMW) eine Reihe von der In: Daleszak, Bogdan: Bedeker Wrocławski, Wrocław 1970, S. 65ff. Zeitschrift „Nasz Wrocław“ (später „Pionier“) aus den Jahren 1945, 1946, 1947, 1948 und 1949 wieder ab. Darüber hinaus würdigte die TMW anlässlich des Jubiläums die 1946 herausgegebene illustrierte Wochenzeitschrift „Wrocław“ in einer eigenständigen Reproduktion. 7 Aus der Reihe „Magiczne miejsca we Wrocławiu” (1997) ging ein Jahr später die Fernsehserie „Ślady na bruku“ (Spuren auf dem Pflaster) im Auftrag des lokalen Fernsehanstalt „TVP 3 Wrocław“ hervor; die Sonderbeilage „Zeitung über das Alte Breslau” behauptet sich erfolgreich seit dem Jahr 2000 (Erstausgabe 3./4. Juni 2000), in: Gazeta Dolnośląska (Regionalausgabe der Gazeta Wyborcza) 2. Kapitel 55 2.1.2. Bildbände Über die Bedeutung der lokalen Zeitschriften hinweg, konstruieren und transportieren die Bildbände seit Ende der 40er Jahre ein Stadtbild des polnischen Breslaus. Das Medium erzielt mit seinen großformatigen Bildern und kurzen Textbeschreibungen die größte Aufmerksamkeit über die optische Darstellung durch ansprechende Bilder. Charakteristisch scheint im Falle dieser Publikationen zu Breslau eine konsequente visuelle Konzentration auf die „alte“ und „neue“ Stadt. Bis zum Untergang der Volksrepublik verkörperte neben den spärlichen Überresten der Romanik vor allem der Nachlass der Gotik das ehrwürdige Alte und der jeweils baupolitisch aktuelle Baustil der Volksrepublik das verheißungsvolle Neue. Eine Sonderstellung bilden in dieser Reihe die Bildbände aus der Zeit des Sozialistischen Realismus, in denen die Stilisierung der Arbeiterschaft und ihre heroischen Taten beim Wiederaufbau inhaltlich und visuell im Vordergrund stehen (Abb. 2.5).8 In den Publikationen überwiegt die Fokussierung auf die heldenhaften Taten der Gegenwart und die glanzvolle Zukunft, die stets vor dem Hintergrund der in Ruinen liegenden mittelalterlichen Stadt beschrieben und verbildlicht werden. Dabei werden die „alten roten Ziegel“ der Altstadt pathetisch als Lesezeichen polnischer Tradition gedeutet und zur lokalen Pflichtlektüre erhoben.9 Charakteristische Züge für die Jubiläumsausgaben beinhaltet der Bildband „Breslau 1945-1955“10, der bereits in seiner inhaltlichen Dreiteilung maßgebend ist. Es beginnt mit dem Kapitel „Wir werfen keine Wörter in den Wind“, das mit dem Bild eines bis zur Unkenntlichkeit zerstörten Gebäudes beginnt und das Ausmaß an Zerstörung bildhaft schildert. Die Verantwortung, das Versprechen und die Hoffnungen von 1945 werden im zweiten Kapitel „Unser Breslau heute“ der Gegenwart von 1955 gegenübergestellt. Die Gegenwart ist vor allem von den Prestigeprojekten der frühen fünfziger Jahre geprägt, die im letzten Kapitel „Breslau der Zukunft“ in der modellhaften Vision einer glorreichen und glücklichen Zukunft aufgehen (Abb. 2.6). Die Glücksverheißung kommt in dem Medium in Bild und Schrift auf Schritt und Tritt offen zu Tage, wenn es beispielsweise abschließend heißt, „Wir werden bald in wunderschönen, hellen Häusern wohnen; wir werden auf breiten, sonnengefluteten Strassen schreiten“ (Abb. 2.7).11 8 Das Bildband „Auf den Baugerüsten Wroclaws“ zeigt das arbeitende Volk auf den vorzeige Baustellen des Sozialistischen Realismus und vermittelt ein zuversichtliches und stolzeinflüsterndes Gefühl den Bewohner der Stadt. Das Bildband beginnt mit den Worten, „Wir schreiten durch unser Wroclaw im Jahr 1954 - dem neunten Jahr der Freiheit - wir laufen und halten den Kopf immer höher. ...“. Es werden auch die typischen Bilder reproduziert, so fehlt natürlich nicht der bildfüllende Bauarbeiter mit der Schaufel und der Planer mit dem Bleistift, flankiert mit dem Schriftzug bezüglich der ersten neuen Wohnsiedlung KDM: „Damit jeder ‚Wroclawer’ bald gemütlich in seiner Wohnung wohnen kann - arbeiten die kreativen Geister der Architekten Hand in Hand mit den Bauarbeitern, die es jetzt Realität werden lassen.“ In: Skalecki, Janusz: Na rusztowaniach Wrocławia, Wrocław 1954 9 „Die Geschichte Breslaus beginnt für uns nicht mit dem Moment der Befreiung der Stadt durch die siegreiche Rote Armee und die Einheiten der Wiedergeborenen Polnischen Armee. Die Stadt hat ihre polnische, lange und reiche Geschichte, die durch die Arbeit der letzten Jahre lediglich mit einen neuen Kapitel beschert wird. Die Züge der mittelalterliche Stadt als auch die erhaltenen Baudenkmäler überliefern uns uralte polnische Tradition der Piastenzeit. Man muss nur diese Zeichnung der Geschichte aus den alten roten Ziegeln, die vor 600 Jahren mit den Händen des polnischen Maurers und Künstlers zusammengesetzt wurde, lesen können, [...]“. In: Lewański, Julian: Wrocław, Warszawa 1953, S. 5; aus dem Inhalt: Die Stadt des polnischen Mittelalters (S. 9), Breslau in der Zeit der Gotik (S. 25), Die Jahrhunderte der Blüte und die Zeit des Untergangs (S. 41), Polnische Basis Breslaus unter dem preußischen Joch (S. 61), In den Ruinen und Trümmern (S. 67), Die Menschen des neuen Breslaus (S. 103) 10 Sado, Stanisł Stanisł aw; Joffe, Henryk; Kaczmarek, Bolesł Bolesł aw (Hg.): Wrocław 1945-1955, Wrocław 1955 11 Ebd.: letzte Seite 2. Kapitel 56 Die Bildbände zum zwanzigsten Jubiläum der wiedergewonnen Stadt von 1965 bringen die kontrahärbipolare Betrachtung, bei der die deutsche Geschichte der Stadt visuell ausgeklammert wird, noch schärfer zum Ausdruck.12 Der Bildband „Breslau 1945-1965“13 gliedert sich in Anlehnung an die Ausgabe von 1955 vorrangig in einen textlastigen Abschnitt zu der Zerstörung der Stadt 1945, dem ein kurzer historischer Werdegang der Stadt vorangeht, sowie einem breiten Bilderkapitel zum Wiederaufbau und der Entwicklung der Stadt. 1965 galt der historische Wiederaufbau der Altstadt als abgeschlossen und die industriell vorgefertigte Moderne hatte seit dem Beginn der 60er Jahre ihren Einzug in die Stadt längst gemeistert. Die Jubiläumsausgabe zeigt eindrucksvoll im Hauptkapitel „Wiederaufbau“ jeweils auf einem Doppelblatt links ein in Trümmern liegendes Bauwerk im Jahr 1945 und auf der gegenüber liegenden Seite das Jahr 1965 mit einer geglückten Rekonstruktion, oder einem modernen Neubau (Abb. 2.8). Bezeichnend für die Zeit nach 1960 ist die ausführliche Darstellung der zeitgenössischen Stadt, die den Siegeszug der industriell vorgefertigten Architektur dokumentiert, aber auch die junge, vitale und kulturelle, sowie industriell gediehene Stadt ablichten lässt. Typisch scheint hierbei die omnipräsente deutschorientierte Schuldzuweisung am Untergang der Stadt 1945, die Rückbesinnung durch vermehrte Abbildung der piastischen Gotik auf die polnische Vergangenheit und die Vermittlung der Zuversicht einer besseren in Beton gegossener Zukunft (Abb. 2.9).14 Die ersten beiden Punkte dienen der Legitimierung des Rechtsanspruchs Polens an der Stadt und werden im Laufe der Zeit immer stärker von der Darstellung der neuen Nachkriegsstadt und ihrer Einwohner flankiert. Wir sehen eine blühende, junge, fleißige, ihrer Geschichte bewusste und optimistisch in die Zukunft blickende Stadt, die sich 1968 in dem Katalog zu der Fotografieausstellung „Breslau - Eine polnische Stadt an der Oder“ sowie im Bildband „Breslau – gestern und heute“ (1973) ganz selbstbewusst ins Szene setzt (Abb. 2.10).15 Der medial herbeigeführte Spagat zwischen einer als urpolnisch deklarierten Gotik und der als sozialistisch proklamierten Moderne führte zu einer Kluft im realen Stadtbild, in dem die deutsche Architektur der Gründerjahre und der Zwischenkriegszeit immer noch dominierte, jedoch als eine Art verrufene Stieftochter der Stadt verdrängt wurde.16 Dieses Bild wird im Umschlag des Bildbandes von Janina Mierzecka aus dem Jahre 1967 besonders deutlich. Die Zweiteilung der Stadtsicht in ein polnisches Mittelalter und die polnische Gegenwart drückt sich aus in der mittelalterlichen 12 Das Deutsche beschränkt sich in den Publikationen auf die Darstellung der Zerstörungswut 1945, die mit zeitgenössischen Bildern, Bekanntmachungen und Zitaten aus Paul Peikerts Chronik der Festung Breslau untermalt ist, die so könnte man meinen das schandhafte Ende der deutschen Ostkolonisation markiert. In: Olszewski, Tomasz und Rutkiewicz, Ignacy (Hg.): Wrocław 1945-1965, Warszawa 1966, S. 10f. und S. 32f. 13 14 Ebd.: Wrocław 1945-1965, Warszawa 1966 Zu der langen Reihe dieser Bildbände gehören: Mierzecka, Janina: Stary i nowy Wrocław, Wrocław 1960; Broniewski, Tadeusz; Arczyński, Stefan: Wrocław. Warszawa 1963; Olszewski, Tomasz; Żabiński Ryszard: Wrocław 1945-1965, Warszawa 1965; Czerner, Olgierd; Olszewski, Tomasz: Nowe budownictwo Wrocławia, Kraków. 1965; Mierzecka, Janina: Stary i nowy Wrocław, Wrocław 1967; Olszewski, Tomasz: Moje Miasto, Wrocław 1972; Zlat, Mieczysław; Arczyński, Stefan: Stefan Wrocław, Warszawa 1975 (deu. Ausgabe: Wrocław, Warszawa 1975); Czerner, Olgierd; Arczyński, Stefan: Stefan Wrocław – krajobraz i architektura, Warszawa 1976 (deu. Ausgabe: Wrocław – Landschaft und Architektur, Warszawa 1976) 15 Rutkiewicz, Ignacy: Wrocław - Polskie miasto nad Odrą, Wrocław 1968; und ebd.: Wrocław – wczoraj i dziś, Warszawa 1973, (deu. Ausgabe: Wrocław – gestern und heute, Warszawa 1979) 16 vgl. Anm. 156, Kap. 1. 2. Kapitel 57 Holzschnittansicht der Stadt, unter der die Plattenbausilhouette der sozialistischen Nachkriegszeit ein Pendant zu den Kirchtürmen bietet (Abb. 2.11).17 Erst nach der Wende widmet sich eine Reihe von Bildbänden einer neuen visuellen Schilderung der Stadt und einer gleichzeitigen Wiederentdeckung der deutschen Stadtgeschichte.18 Der in drei Sprachen erschienene Band von Tadeusz Drankowski, „Breslau - Ein Stadtportrait“ von 1991, steht an der Schwelle zu den neuzeitlichen Bildbänden der Stadt. Er schildert in der Einleitung die multikulturelle Stadtgeschichte, in der die deutschen Verdienste offen ausgesprochen werden. Der angehängte Bildteil vermittelt, neben dem altbekannten Repertoire der rekonstruierten „urpolnischen“ Architektur (St. Martin Kirche) und der neuen „fruchtbaren“ Plattenbauarchitektur (Drillinge), auch das untergegangene deutsche Breslau (Restaurant auf der Liebig-Höhe), welches keinen Bezug zu der bisherigen Konstruktion der polnischen Stadt hatte (Abb. 2.12). Dieser Trend schreitet voran und führt zu einer verstärkten Aufdeckung der verschwiegenen Vergangenheit. Als Beispiel können hier die thematischen Bildbände zum Stadtbild Breslaus aus der Zeit des Deutschen Kaiserreiches und der Zwischenkriegszeit aufgeführt werden, in denen die Stadt in einer deutschen Bilderflut neu aufgedeckt und angeeignet wird (Abb. 2.13).19 Interessant hinsichtlich der Stadtarchitektur erscheint auch der drei Mal aufgelegte dreisprachige Bildband „Breslau – Zeit und Architektur“ 20, der eine den Baustilen und Bauepochen angemessene Auswahl an Architekturen bildhaft mit der Benennung des Bauwerkes, seiner Adresse und einer Kurzbeschreibung vermittelt. Bei näherer Betrachtung liegt der Schwerpunkt des Bandes auf der Architektur der preußisch-wilhelminischen Zeit und der Zwischenkriegszeit, was trotz einer an die alte Sicht erinnernden Titelblattgestaltung ein verstärktes Interesse an dieser Zeit und für die Aufdeckung ihrer Spuren vermuten lässt (Abb. 2.14). Besonders bemerkenswert hinsichtlich der aktuellen Entwicklung ist der ebenfalls dreisprachige Bildband „Trzy epoki - Drei Epochen - Three epochs“21, welcher dem heutigen Bedürfnis nach der Entdeckung der Vorkriegstadt, bei gleichzeitiger Dokumentation der Wiederaufbauleistung der Nachkriegszeit, gerecht wird. Die neue zeitliche Dreiteilung führt zu einer eindrucksvollen Zusammenstellung der Stadtbilder aus der Zwischenkriegszeit, der Wiederaufbauphase und heute, welche eine Bilanz der Stadt, ihre Erfahrungen und Wunden offen legen soll, wie Marek Krajewski in dem Vorwort schildert (Abb. 2.15). Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre erfreuen sich Bildbände mit flächendeckenden Luftaufnahmen der Stadt, die dem Leser einen ungewöhnlichen Blick auf die Stadtstruktur und ihre Architektur gewähren, einer großen Beliebtheit. Bezeichnend ist auch hier, dass nach dem dreifach wiederaufgelegen 17 18 Mierzecka, Janina: Stary i nowy Wrocław, Wrocław 1967 Drankowski, Tadeusz (Hg.): Wrocław - portret miasta, Wrocław 1991; Welder, Michael; Łagiewski, Maciej (Hg.): Reise nach Breslau. Spurensuche in der Metropole Schlesiens, Rautenberg-Verlag 1993; Łagiewski, Maciej; Budnik, Rafał (Hg.): Wrocław wczoraj, Wyd. Wokół Nas 1996; Szwed, Tadeusz: Mój Wrocław, Wrocław 1999; RomyekoRomyeko-Bacciarelli, Krystyna (Hg.): Wrocław - wczoraj i dziś, Wyd. UNIGRAF 2004 19 Bińkowska, Iwona; Smolak, Marzena (Hg.): Nieznany portret miasta, Fotografie Wrocławia z 2 połowy XIX i początku XX w., Wrocław 1992; Bińkowska, Iwona (Hg.): Breslau - Fotos aus der Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert, Wrocław 1993; Konieczny, Alfred: Stary Wrocław na pocztówkach dr Trenklera, Wrocław 1996; Łagiewski, Maciej: Breslau auf alter Postkarte 1897-1938, Wrocław 1998; Szafkowska, Magdalena: Dawne zaułki Wrocławia. Malarstwo, grafika, fotografia, Wrocław 2001; Bińkowska, Iwona (Hg.): Breslau - Fotografien aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, Wrocław 2004 20 Dobesz, Janusz (Hg.): Wrocław - czas i architektura, Wrocław 1993, (2. Auflage, 1995; 3. Auflage, 1997) 21 Dyduch, Mariusz (Hg.): Wrocław-Breslau. Trzy epoki - Drei Epochen - Three epochs, Bielsko-Biała 2008 2. Kapitel 58 Bildband „Breslau aus der Luft“ und seiner Fortsetzung durch den Verlag VIA NOVA, der Luftbildaufnahmen der Stadt zwischen 1976 und 2006 abbildet, Ende 2008 der Bildband „Breslau im Luftbild der Zwischenkriegszeit“ mit der Veröffentlichung des Luftbildmaterials aus dem HerderInstitut in Marburg für Furore in den Stadtbüchereien sorgte.22 Auch in diesem Bildbandformat wird zur Zeit darüber nachgedacht, eine Dreiteilung nach dem Vorbild des Bildbandes „Trzy epoki - Drei Epochen - Three epochs“ (2008) vorzugeben. Nur dass diesmal die sensationellen Luftbildaufnahmen der polnischen Luftwaffe zur Dokumentation der Stadtzerstörung von 1947 an Stelle der Stadtbilder von „1968“ herangezogen werden sollen. 2.1.3. Zwischen Bildbänden, Stadtführern und Sachbücher Die Bildbände zu Breslau sind neben den Stadtführer das Medium der Stadtaneignung, das mit seinen Inhalten, der Regelmäßigkeit und der ungebrochenen Kontinuität besonders aus dem Quellenmaterial heraussticht. Manchmal ist der Übergang des Mediums Bildband in einen Stadtführer fließender Natur. Besonders dann, wenn ein Bildband visuell einen mit kurzer Textinformation versehenen Spaziergang durch die Stadt anbietet, oder als Anhang einen touristischen Informationsteil, den sogenannten Informator, aufweist.23 Der Übergang vom Bildband zum Stadtführer kann fließender Art sein kann, eine Grenze zwischen Stadtführer und Sachbuch kann ebenfalls schwer zu ziehen sein. Als Grenzgänger dieser Art kann der „Breslauer Baedeker“24 (1970) vorgestellt werden. Dem Namen nach als Stadtführer einzuordnen, erzählt er in einer Ansammlung von Stadtgeschichten über Orte, Räume und Menschen. In einer Erzählung zu dem Messegelände und der „Ausstellung der Wiedergewonnen Gebiete“ von 1948, wird die vor der Volkshalle aufgestellte Stahlnadel (Iglica) mit einer illustrierten Überschrift endgültig zu „dem symbolträchtigsten Zeichen Breslaus“ stilisiert (Abb. 2.16).25 Die Etablierung des neuen Stadtsymbols zeichnet sich bereits in der Reihe „Wissen über unser Land“ (1960, 1965) unter der Feder von Michał Komaszyński ab, in der die Iglica als „eines der Symbole vom neuen Breslau” deklariert wird (Abb. 2.17). 26 22 Drankowski, Tadeusz (Hg.): Wrocław z lotu ptaka, Wrocław 1976 (2. Auflage, 1985; 3. Auflage, 1992); Klimek, Stanislaw; Okólska, Halina: Halina: Nad Wrocławiem, Wrocław 2006 (deu. Ausgabe: Breslau aus der Luft, Wrocław 2006); Brzezicki, Sławomir; Eysymontt, Rafał: Wrocław na fotografii lotniczej z okresu międzywojennego, Marburg und Wrocław 2008 (deu. Ausgabe: Breslau im Luftbild der Zwischenkriegszeit, Marburg und Wrocław 2008); Tyszkiewicz, Jakub; Karczmarek, Michał: Wrocław 1947. Fotografie lotnicze, Wrocław 2009 (dt. Ausgabe: Breslau 1947. Luftaufnahmen, Wrocław 2009) 23 Die im Zusammenhang mit dem 20. Jubiläum der „Befreiung Breslaus“ in polnisch, englisch und französisch veröffentlichte Heftchen „Wrocław“ gehören zu so einen Zwitter. Sie führen in kurzen Text durch die Stadt und ihre Geschichte mit zur Hilfenahme von zahlreichen großformatigen Bildern und einer Stadtkarte mit der Auflistung der Sehenswürdigkeiten. Des Weiteren beinhaltet es am Ende einen reiseführerartigen Informator mit Angaben zu Cafes, Restaurants, Hotels, usw. In: Czerner, Olgierd und Olszewski, Tomasz: Wrocław, Kraków 1965; siehe auch das Bildband: Rutkiewicz, Ignacy: Ignacy: Wrocław - wczoraj i dziś, Warszawa 1973 (dt. Ausgabe: Wrocław – gestern und heute, Warszawa 1979) mit touristischen Informationen von Olgierd Czerner 24 Daleszak, Bogdan: Bedeker Wrocławski, Wrocław 1970 25 Ebd.: S. 11 26 „[...] Ein Souvenir von der WZO 1948 verkörpert die Stahlnadel (Iglica). Die Breslauer habe sich an diese gewöhnt, wie die Pariser an den Eiffelturm, den man zur Weltausstellung 1889 aufgebaut hatte. [...] Die Stahlnadel wurde zu einem der Symbole der Stadt.” Komaszyński, Michał: Wrocław nowy i najnowszy, Wrocław 1965, S. 166; siehe auch: Ebd.: Tysiąc lat Wrocławia, Wrocław 1960 2. Kapitel 59 Aber auch die Veröffentlichungen „Breslau, so wie wir es nicht kennen“ (1972) sowie „Spaziergänge durch Breslau aus dem 19. Jahrhundert“ (1989) lassen sich schwer einordnen, denn sie führen mit ihren Schilderungen durch den kulturellen Raum.27 Ganz der Staatsräson im sozialistischen Polen verschrieben, schaffen es auch die letzten beiden Positionen nicht die erwartete Aufdeckung und Vermittlung auch der deutschen Seite der Stadt zu leisten, sondern rekonstruieren auf Schritt und Tritt die Spuren der Polonität.28 In diesem Genre zwischen Stadtführer und Sachbuch widmet sich erst im Jahr 2005 die ihrem Namen nach an den Vorgänger von 1972 anknüpfende Veröffentlichung „Breslau, so wie ihr es nicht kennt“29 mit der Vervollständigung des Stadtbildes um die deutschen und jüdischen Zeichen. Der Entdeckung der Stadt aus neuen Blickwinkeln widmet sich ebenfalls der „Breslauer Spaziergänger“30 (2008), der aus den gleichnamigen Zeitungsartikeln in der Gazeta Dolnośląska 2007/2008 und den hierzu organisierten Führungen unter der Obhut der Autorin hervorgegangen ist. Die Führungen, die Artikel und die dazu gehörige Publikation gehen auf das Engagement der zeitgenössischen Stadthistoriker zurück, die den neuen Bedürfnissen nach Entdeckung verloren gegangener Geschichte nachgehen, zurück. Auffallend ist im diesem Genre eine neue Art der Mystifizierung der Stadtgeschichte, die den aktuellen Buchmarkt erobert.31 Die neue Dimension und Qualität steckt in einer Auflösung der Stadt in unzähligen Legenden und Anekdoten, die unbekannte Geschichten zu den Stadthäusern, Strassen und ihren ehemaligen Einwohnern vermitteln. Eine andere, an historische Fakten anknüpfende Mischform zwischen Stadtführer und Sachbuch repräsentieren „Breslau – Ein historischer Stadtführer“ (1997) von Teresa Kulak sowie „Breslau Geschichte der Stadt“ (2002) von Beata Maciejewska, bei denen die ehemals verrufene deutsche Geschichte der Stadt unter anderem in Kapitelnamen wie „Die schöne Epoche 1870-1914“ einen regelrechten Bedeutungswandel erlebt (Abb. 2.18).32 Nicht eindeutig einzuordnen sind auch die im Auftrag der Stadtverwaltung gedruckten Veröffentlichungen, die eine imposante und aufschlussreiche Eigensicht auf die Stadt Mitte der 90er Jahre vermitteln. Sie sind eine Mischform zwischen Bildband, Stadtführer und Sachbuch, das einerseits das offizielle Selbstbild, wenn man von so einem nach der politischen Wende sprechen kann, andererseits einen stadtführerartigen Werbebildband für Gäste und Investoren darzustellen scheint. „Breslau - Die kulturelle Landschaft der Stadt“33 (1994) schildert in seinen acht Kapiteln, von denen eins der Geschichte, sechs der Kulturlandschaft, unterteilt in Humanistik, Theater, Musik, Plastik, 27 Kwaśniewski, Krzysztof: Wrocław jakiego nie znamy, Wrocław 1972; Zakrzewski, Bogdan: Przechadzki po dziewietnastowiecznym Wrocławiu, Wrocław 1989 28 Bezeichnend ist hierbei die Ausgabe von 1989, in der Bogdan Zakrzewski im Geiste der untergehenden sozialistischen Zeit ausschließlich die Polonität der Stadt zum Wort lässt. Seine Themenauswahl erfolgt „nach dem Grad der Verknüpfung zur polnischen Tradition Breslaus“. In: Zakrzewski, Bogdan: Przechadzki po dziewietnastowiecznym Wrocławiu, Wrocław 1989, S. 7 29 Chądzyński, Wojciech: Wrocław jakiego nie znacie, Wrocław 2005 30 Maciejewska, Beata: Spacerownik Wrocławski, Wrocław 2008 31 Lamparska, Joanna: Tajemnicze podziemia, Wrocław 1999; ebd.: Tajemnicze zakątki na północny wschód od Wrocławia, Wrocław 2007; Chądzyński, Ch ądzyński, Wojciech: Wojciech : Wędrówki po Śląsku i jego stolicy, Wrocław 2006; Mierzwa, Sł Sł awomir: Wrocław dla dociekliwych. Pomniki, tajemnice kościolów i klasztorów, kresowe pamiątki, Wrocław 2008 32 Kulak, Teresa: Wrocław - Przewodnik historyczny, Wrocław 1997 (dt. Ausgabe: Breslau - ein historischer Stadtführer, Wrocław 2002); Maciejewska, Beata: Wrocław - Dzieje miasta, Wrocław 2002 33 Dziedzic, Danuta (Hg.): Wrocław - krajobraz kulturalny miasta, Wrocław 1994 2. Kapitel 60 Museen und Architektur, und einen abschließenden Informationsteil mit Adressen und Telefonnummern, eine nüchterne Sicht auf die Stadt. Dies geht bis hin zur Einräumung von Versäumnissen der Vergangenheit, vor allem im Bezug auf Investitionen, versäumt aber nicht, von dem großen, kulturellen Potential der Stadt zu sprechen. Die kulturelle Landschaft in Form der Architektur zeugt auch hier in erster Linie von der Rückbesinnung auf die Leistung der deutschen Stadtära. So werden sieben großformatigen Architekturbildern der Breslauer Baumeister nur zwei Architekturschöpfungen ihrer „Wrocławer“ Kollegen gegenübergestellt, was einen kompletten Blickwechsel zu der Zeit vor der Wende bedeutet (Abb. 2.19).34 Im gleichen Ton, einer Informationsbroschüre ähnelnd, zeigt sich die von der Stadtverwaltung in Auftrag gegebene Publikation „Breslau - Die soziale und kulturelle Landschaft“35 (1996). Bereits der Auftakt des ersten Kapitels unter dem Namen „Die tausendjährige Stadt“ beginnt mit einem Zitat vom Juliusz Słowacki, „Dieser Erdfleck ist ein Gasthaus auf unserer großen Reise“36, das auf eine poetische Art und Weise mit der bis dahin stets proklamierten polnischen Siedlungskontinuität und nationalen Rechtsanspruch auf die Stadt bricht.37 Die Stadt scheint nun alle Menschen, die dieses „Gasthaus auf ihrer Reise“ prägten, zu würdigen und die mulikulturelle Vielschichtigkeit positiv zu erkennen. Im Kapitel „Schöpfer und Zerstörer“ wird Max Berg als Hauptarchitekt der Stadt, „[...] eng zusammenarbeitend mit dem hochverdienten Oberbürgermeister Georg Bender“38, dargestellt (Abb. 2.20). Im weiteren Kapitel „Triumph des Geistes und die Erfurcht vor der Materie“ wird der jüdischen und deutschen Nobelpreisträger der Stadt gedacht, um schlussendlich im Kapitel „Wer bist du Breslauer?“ einen fließenden Übergang zu den heutigen Bewohnern der Stadt zu schlagen. Die Publikation versucht, die Stadt mit Hilfe eines genealogischen Baumes zu vermitteln. „Die Stadt sind die Menschen“39, die ihre Spuren, die Guten und die Schlechten, hinterlassen und deren Erben die heutigen Bewohner sind. Hier kommt eine neue Konstruktion einer Siedlungskontinuität zum Vorschein, die einen neuen Blick auf die anderen Kulturen der Stadt erlaubt und eine neue Identität der Stadtbewohner erahnen lässt. Zeitgleich gesellt sich ein demographischer Wandel hinzu, der hier im Kapitel „Wer bist du Breslauer?“ am Rande erwähnt wird. Aus der einstigen Stadt der Jugend, wird eine Stadt der Alten. Es entsteht hier fast der Eindruck, als ob die „Junge Stadt“ beim alt werden einen gewissen Reifungsprozess hinter sich gebracht hat, bei dem sie einem ausgeweiteten Ahnenkult zugänglich geworden ist. Die Aneignung der fremden Stadt von 1945 scheint hier in den Nachkriegsjahrzehnten eine aussöhnende Reife durchschritten zu haben. 34 In dem Kapitel zur Architektur dominiert die visuelle Vermittlung der deutschen neuzeitlichen Baudenkmäler. Die Jahrhunderthalle (M. Berg, 1913) wird gleich zwei mal, von Innen und Außen, dargestellt. Gefolgt von 4 sezessionistischen und modernistischen Kaufhäusern und dem Wasserturm (K. Klimm, 1903). Der polnischen Architektur wird bildlich nur marginal Raum gewährt. So schafft es nur das Wohnhochhausensemble am Plac Grunwaldzki (J. Hawrylak-Grabowska, 1968) und das DOLMED-Bürogebäude (A. und. J. Tarnowscy, 1979) der Breslauer Architektur vor 1945 die Stirn zu bieten. In: Ebd. 35 Urząd Miejski we Wrocławiu (Hg.): Wrocław - krajobraz spoleczny i krajoznawczy, Wrocław 1996 36 Ebd.: S. 6: „Bo ta ziemia to gospoda w ogromnej naszej podróży“, Juliusz Słowacki 37 Auf dem polnischen Dichter folgt zu Beginn des zweiten Kapitels unter dem Namen „Die Menschen und die Stadt“ keine geringere Persönlichkeit des deutsche Kulturkreises als Friedrich Schiller, der mit seinen Zitat „Hier öffne sich die Heimat dem Verbannten, hier endige des Dulders Dornenbahn“ aus seinem 1786 veröffentlichten Gedicht „Resignation“ den zuvor zitierten Juliusz Słowacki zur Hilfe eilt. In: Ebd.: S. 14 38 Ebd.: S. 30 39 Ebd.: S. 7 2. Kapitel 61 An der Schwelle von den Bildbänden zu den Sachbüchern wäre die Publikation „Mach dir Breslau“40 (1997) zu nennen, die einem Kinderbilderbuch gleich, die Stadtgeschichte für Erwachsene schreibt. Es handelt sich hierbei um eine Parodie mit Hilfe einer Architekturverfremdung und begleitenden Geschichtsschilderungen, die einen spöttischen Umgang mit den alten verbitterten Dogmen der kommunistischen Zeit fördert und gleichzeitig tiefer liegende Stereotype offenbart (Abb. 2.21).41 Darüber hinaus weist das Büchlein unterschwellig bereits mit seinem Titel auf die mediale Konstruktion einer Stadt, bei der die Architektur die eine oder andere Symbolik zugeteilt bekommt. Mit der architektonischen Bildsprache, bei der die Architektursymbole der Stadt aus alltäglichen Gebrauchsgegenständen comichaft verfremdet werden, gewann Tomasz Broda den ersten Preis im Wettbewerb „Souvenir Breslaus“ (Pamiątka Wrocławska). Der Erfolg des Büchleins bewegte den lokalen Verlag FUNNA „Breslau - 1000 Jahre, das heißt Geschichte Breslaus für Kinder und Jugendliche“42 (1998) herauszugeben. Das Kinderbuch schildert mit einfachen Texten und expressiven Bildern den Werdegang der Stadt. Auffallend ist hier die Abrechnung mit der Volksrepublik Polen, die für eine Stagnation in der Entwicklung und eine Stadtschändung mit der Plattenbauweise verantwortlich gemacht wird (Abb. 2.22).43 Immerhin schafft die Stahlnadel (Iglica) und die Panoramarotunde, neben den abschreckenden Plattenbausiedlungen, als positives Wahrzeichen zwei Kapitel der Nachkriegsgeschichte für sich zu besetzten. 2.1.4. Fach-, Sachbücher und Nachschlagewerke Auch Fach- und Sachbücher erscheinen seit den 40er Jahren über die Stadt. Die Fachbücher richten sich an die Spezialisten eines bestimmten wissenschaftlichen oder auch handwerklichen Fachs, so dass ihre Leserschaft begrenzt ist. Aus diesem Grund eignen sie sich weniger für die Untersuchung einer breitgefassten medialen Stadtvermittlung. Ein dennoch interessanter Vertreter ist die wissenschaftliche Publikation aus dem Jahre 1948 „Geschichte Breslaus. Erster Teil bis zum Jahre 1526“44 (1948) des Stadthistorikers Karol Maleczyński, der seine fachlichen Ausführungen in der bereits erwähnten Zeitschrift „Sobótka“ stückweise und simplifizierend unter das Volk bringt. Bezeichnend ist auch hier die programmatische Ausblendung der deutschen Geschichte Breslaus, was man alleine an der 40 Broda, Tomasz; Urbanek, Mariusz: Zrób sobie Wrocław, Wrocław 1997 41 „Unter den Heinrichs wurde Breslau nach dem deutschen Recht eine echte Stadt, und nicht nur eine Siedlung, was uns die Deutschen bis heute vorwerfen. [...] Die letzten Breslauer Piasten kannten die polnische Sprache nicht, in den Gerichten erlaubte man nur deutsch zu Sprechen. Die wichtigsten Posten in Klöstern und Ämtern überließ Heinrich der Bärtige den hergeholten Deutschen. Das Geld hatten hauptsächlich die Juden, die sich deswegen in der Nähe der Fürsten ansiedelten. Die Juden handelten mit dem Osten und liehen den Fürsten Geld mit Zinsen, d.h. sie machten das, was sie gewöhnlich überall tun. Wenn die Schulden zu groß wurden, verbrannte man die Juden auf dem Scheiterhaufen, was das Problem der Rückzahlung nach hinten verschob.“ Ebd.: S. 5; „[...] Im Oktober 1944 kam die ersten sowjetischen Flugzeuge über Breslau. In sieben Monaten der vereinigten deutschsowjetischen Anstrengungen wurden 21.600 von 30.000 Häuser in eine Ruine verwandelt.“ In: Ebd.: S. 27 42 Urbanek, Mariusz; Kuszej, Justyna: Wrocław - tysiąc lat, czyli historia Wrocławia dla dzieci i młodzieży, Wrocław 1998 43 Im Kapitel zur Nachkriegsarchitektur, das mit einen spuckenden Bild einer versackten Baustelle einer Plattenbausiedlung untermalt ist, heißt es: „Breslau verlor im Nachkriegspolen sehr viel von seiner früheren Größe. Die Stadt war nicht mehr mit Krakau, wie zur Zeit der Piasten, vergleichbar. Sie war nicht mehr die zweite Stadt nach Prag, wie zur Zeit der tschechischen Krone. Sie war auch nicht mehr die reichste Stadt im Staate, wie in der preußischen Zeit. [...] In den am meisten zerstörten Stadtteilen des Zweiten Weltkrieges, [...], wo einst wunderschöne Stadthäuser standen, schossen Betonblöcke in die Höhe. Riesige graue Blöcke (blokowisko - polnisch, abwertend für Plattenbausiedung) wurden auch in Nowy Dwór, [...] errichtet.“ In: Ebd.: Kapitel „Die Stadt am Rande“ 44 Maleczyński, Karol: Dzieje Wrocławia. Cześć I. do roku 1526, Katowice und Wrocław 1948 2. Kapitel 62 Zeitspanne bis 1526, als Breslau an die habsburgische Krone ging, ablesen kann. Eine Erweiterung der Geschichtsaufarbeitung bis in das Jahr der Stadtbefreiung durch Napoleon erfolgte in zwei Stufen innerhalb der nächsten zehn Jahre.45 Eine ernsthafte Fortschreibung der Stadtgeschichte seitens der lokalen Stadthistoriker über die preußischen Gründerjahre und die Weimarer Republik hinaus, wurde in der Volksrepublik erfolgreich vermieden. In Bezug auf die Stadtaneignung dürften die Sachbücher, die ein bestimmtes Sachthema für ein Laienpublikum darstellen, aussagekräftiger sein. Hierzu zählen Stadtmonographien, wie das 1956 herausgebrachte „Breslau - städtebauliche Entwicklung“, das ebenfalls mit Karol Maleczyńskis historischer Einführung beginnt und deren Akzente der Zeit entsprechend auf die Zukunft der im Sozialistischen Realismus aufblühenden polnischen Stadt setzt.46 Die zweite und letzte breitgefasste Stadtmonographie aus der Zeit der Volksrepublik Polen erschien 1978 unter dem Titel „Breslau – Die Geschichte und Kultur“.47 Es ist ein seltener Versuch einer sachlichen, von nationalen Konnotationen befreiten, Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte anhand einer illustrierten Darstellung seiner Kunst- und Architekturentwicklung bis über das Veröffentlichungsjahr hinaus.48 Zu den historiographischen Stadtmonographien nach der politischen Wende zählt vor allem die in drei illustrierten Bänden veröffentlichte „Geschichte Breslaus“49 (2001), die in Bezug zu den ersten wissenschaftlichen Publikationen zur Stadtgeschichte aus den Jahren 1948 und 1958 von Karol Maleczyński und seinen Kollegen zu sehen ist (Abb. 2.23). Es handelt sich hierbei um die Fortsetzung des vom städtischen Büro für Stadtpromotion 1997 in Auftrag gegebenen Werkes „Breslau - Erbe der Jahrhunderte“50. Der erste Band stellt eine Art Revision des sozialistischen Blicks auf die Stadtgeschichte, bis zum Einmarsch der Preußen 1741 in die Stadt dar. Der zweite Band schließt die in der Volksrepublik marginal behandelte Zeitspanne von der friderizianischen Königsresidenzstadt bis zur Festung Breslau ab und behandelt die deutschen Verdienste für die Stadtentwicklung und ihr Erbe auf eine selbstbewusste Art. Der dritte Band andererseits unternimmt zum ersten Mal den Versuch, die Zeit nach 1945 selbstkritisch zu vermitteln. Dem Bedürfnis einer neuen Geschichtsschreibung zur Jahrtausendwende geht ebenfalls die Stadtverwaltung nach, die den populären Historiker Norman Davies beauftragt, ein Buch über die Stadt zu schreiben. Im Jahr 2002 erscheint das monographische Werk unter dem Titel „Die Blume Europas“51, das die Stadt in einem europäischen Zusammenhang darstellt. Fast zeitgleich kommt das 45 Maleczyński, Karol: Dzieje Wrocławia do roku 1618, Warszawa 1958; Długoborski, Wacław; Gierowski, Józef; Maleczyński, Karol: Dzieje Wrocławia do roku 1807, Warszawa 1958 46 Maleczyński, Karol; Morelowski, Marian; Ptaszycka, Anna: Wrocław - rozwój urbanistyczny, Warszawa 1956 47 Świechowski, Zygmunt (Hg.): Wrocław - Jego dzieje i kultura, Wrocław 1978 48 Der Kunsthistoriker Zygmunt Świechowski gehört zweifellos zu den seltenen Vertretern seiner Zeit und Profession, die seit den fünfziger Jahren einen von der Ideologie befreiten Standpunkt vertaten. Sein Debut feierte er mit der Monographie zur romanischen Baukunst unter dem Titel „Architektur in Schlesien bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts”. Ebd.: Architektura na Śląsku do połowy XIII. w., Warszawa 1955 49 Leszek: eszek: Historia Wrocławia. Od pradziejów do końca Buśko, Cezary; Goliński, Mateusz; Kaczmarek, Michał; Ziątkowski, L czasów habsburskich, Bd. 1., Wrocław 2001; Kulak, Teresa: Historia Wrocławia. Od twierdzy fryderycjanskiej do twierdzy hitlerowskiej, Bd. 2., Wrocław 2001; Suleja, Włodzimierz: Włodzimierz Historia Wrocławia. W Polsce Ludowej, PRL i III. Rzeczpospolitej, Bd. 3., Wrocław 2001 50 Kaczmarek, Michał; Goliński, Mateusz; Kulak, Teresa; Suleja, Włodzimierz: Wrocław - dziedzictwo wieków, Wrocław 1997 51 Davies, Norman und Moorhouse, Roger: Mikrokosmos. Portret miasta środkowoeuropejskiego. Vratislavia, Breslau, Wrocław, Kraków 2002 (dt. Ausgabe: Die Blume Europas. Breslau, Wroclaw, Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, 2. Kapitel 63 Buch „Breslau 1945. Die Fremde Stadt“52 (2003) auf den Markt, das die Ergebnisse der Dissertationsarbeit von Gregor Thum an der Viadrina Universität (2002) zu dem Phänomen des totalen Bevölkerungsaustauschs und der Stadtaneignung durch die polnischen Neuansiedler auf eine bis dahin nicht gesehene Art und Weise präsentiert. Das Buch erfreut sich einer großen Beliebtheit, sowohl in Deutschland (2004, 2. Auflage) als auch in Polen (2008, 3. Auflage), wo es einem breiten Leserpublikum auf der einen Seite die Komplexität und auf der anderen Seite die Banalität der Stadtaneignung vor Augen führt. Vor allem seine anschaulich präsentierten Beobachtungen zum Wiederaufbau und Aneignung der Stadt unter der Berücksichtigung der sozialen und historischen Hintergründe tragen zum Verständnis des heutigen Stadtbildes bei. Zu weiteren relevanten Sachbüchern zählen die Veröffentlichungen der Stadtpioniere, wie die „Wrocławer“ der ersten Stunde nach 1945 in Anbetracht ihrer Leistungen beim Wiederaufbau genannt werden. Interessant scheint die Beobachtung, dass anlässlich des 40. Jubiläums der Stadtbefreiung weniger Bildbände, vertreten durch die zweite Auflage des Luftbildbandes „Breslau aus der Luft“, als Sachbücher von großen Persönlichkeiten des Wiederaufbaus erscheinen. Zum einen ergreift Marcin Bukowski, der Architekt des historischen Wiederaufbaus, das Wort, in dem sein „ Breslau aus dem Jahren 1945-1952“53 (1985) veröffentlicht wird. Zum anderen erscheint das große Buch „Altstadt von Breslau - Die städtebaulich-architektonische Entwicklung, die Kriegszerstörungen und der Wiederaufbau“54 (1985) von Edmund Małachowicz, dem Wiederaufbauarchitekten der zweiten Generation. Damit gewährt man zwei Helden des Wiederaufbaus einen sachspezifischen Rückblick auf die ersten Nachkriegsjahre. Der gravierende Unterschied zu den vorausgegangenen Jubiläen scheint darin zu bestehen, dass hier kein zukunftsweisender Ausblick gewährt wird. Stattdessen konzentriert man sich auf die Heldenehrung der Wiederaufbaujahre, ohne auf das Jetzt und Morgen in Bild und Wort einzugehen. Es scheint, als ob hier ein erstes Anzeichen einer Stagnation zu spüren wäre, die fünf Jahre später in den politischen Umbrüchen ihr jähes Ende finden wird. Vor diesem Hintergrund kann die vom Statistischen Wojewodschaftsamt in Breslau herausgebrachte Publikation „Breslau - 40 Jahre“, als ein statistisches Vermächtnis der Volksrepublik Polen, oder als das Ende einer Fahnenstange, die auf dem Umschlag in Form der Iglica noch zu glänzen scheint, betrachtet werden (Abb. 2.24).55 Besonders bemerkenswert im Hinblick auf die mediale Aneignung der Stadt sind die Veröffentlichungen von Zygmunt Antkowiak. Der Autor erschließt seit 1970 unterschiedliche Sachgebiete der Stadt, in dem er mit Bild und Wort die „Straßen und Plätze“ (1970), die „Alten und neuen Wohnsiedungen“ (1973), die „Patronen der Straßennamen in Breslau“ (1982), die „Denkmäler Breslaus“ (1985) und die „Kirchen Breslaus“ (1991) den Stadtbewohnern näher bringt.56 In diese Reihe München 2002). Die Publikation begleitend wurde 2002 der Dokumentationsfilm „Breslau - Die Stadtnamen“ von der lokalen Fernsehanstalt mit Norman Davies gedreht und gesendet. In: „Wrocław - Imiona miasta”, TVP3 Wroclaw 2002 52 Thum, Gregor: Die Fremde Stadt Breslau 1945. Berlin 2003 (pl. Ausgabe: Obce miasto. Wrocław 1945 i potem, Wrocław 2005) 53 Bukowski, Marcin: Wrocław z lat 1945-1952, Warszawa 1985 54 Małachowicz, Edmund: Stare miasto we Wrocławiu - rowzój urbanistyczno-architektoniczny, zniszczenia wojenne i odbudowa, Warszawa 1985 (2. überarbeitete Auflage) 55 Wojewodzki Urzad Statystyczny Statystyczny we Wrocławiu (Hg.): Wrocław - 40 lat, Wrocław 1985; vgl. Hierzu weiter interessante Statistiken: Pierwszy rok w odzyskanym Wrocławiu. Wrocław 1946; Widomski, Jerzy: XX lat Wrocławia, Wrocław 1965; Wrzosek, Antoni: Wojewodzctwo Wrocławskie, Warszawa 1952; Siwoń, Bolesław: Wrocław - rozwój miasta w Polsce Ludowej, Warszawa 1971; Wrocław - Miasto polskie w procesie przemian, studia nad Wrocławiem. Wrocław 1993; Raport o stanie miasta Wrocławia 1990-1994, Wrocław 1994; Wrocław 2000 plus - studia nad strategią miasta, Wrocław 2004 56 Antkowiak, Zygmunt: Ulice i place Wrocławia, Wrocław 1970; ebd.: Stare i nowe osiedla Wrocławia, Wrocław 1973; ebd.: Patroni ulic Wrocławia, Wrocław 1982; ebd.: Pomniki Wrocławia, Wrocław 1985; ebd.: Kościoły Wrocławia, Wrocław 1991 2. Kapitel 64 der Sachbücher, die wiederum an der Schwelle zum Nachschlagewerk stehen, gehört auch das Buch „Brücken in Breslau“ (1989) von Maciej Łagiewski.57 Zygmunt Antkowiak schafft schließlich mit seinen letzten Werk „Breslau von A bis Z“ (1997) die Veröffentlichung eines ersten polnischen alphabetischen Nachschlagewerks zu der Stadt, das als eine Antwort auf Fritz Marx „Breslau von A bis Z“ (1968) nur bedingt gesehen werden kann, das aber umso mehr den Zeitgeist trifft.58 Im selben Jahr erscheinen neben Antkowiaks letztem Werk zwei weitere Nachschlagewerke zur Architektur der Stadt. Zum einen die dritte und letzte Auflage des Bildbandes „Breslau - Zeit und Architektur“, der bereits bei den Bildbänden vorgestellt worden ist, zum anderen der erste Band des Nachschlagewerks „Atlas der Architektur Breslaus“59 von Jan Harasimowicz, der hiermit seinen Aufstieg zum „Stadtenzyklopädisten“ ebnet (Abb. 2.25). Der erstgenannte Bildband darf als ein Vorläufer und zwangsläufig als Vorbild des Letzteren gesehen werden. Das Bedürfnis zum Ende des Millenniums in Breslau scheint, ganz wie einst im 18. Jahrhundert, im Zeichen der Aufklärung und der enzyklopädischen Erschließung der Welt zu stehen. Bereits drei Jahre nach der Veröffentlichung des Architekturatlasses erscheint pünktlich zur Jahrtausendwende die „Enzyklopädie der Stadt Breslau“60, ein 1000 Seiten umfassendes Mammutwerk, das mit finanzieller Unterstützung der Stadtverwaltung unter der redaktionellen Leitung von Jan Harasimowicz die Stadt akribisch in ihren Einzelheiten dokumentiert und vermittelt. Die Enzyklopädie verkörpert einen wichtigen Meilenstein bei der Aufarbeitung, Wiederentdeckung und Neuordnung der Stadtgeschichte nach der politischen Wende der 90er Jahre, in der jedem bedeutenden Stein und jeder wichtigen Persönlichkeit ihrer multikulturellen Vergangenheit ein Platz gewährt wird.61 2.1.5. Literatur Neben den Zeitungsartikeln, den Bildbänden, den Stadtführern, den Sach- und Fachbüchern sowie den Nachschlagewerken ist die Stadt ein Sachgegenstand der polnischen Nachkriegsliteratur. Die Stadt bildet automatisch den Hintergrund für die literarischen Geschichten, so dass eine Stadtvermittlung von ihr erwartet werden kann. Die Vorstellung dieses Genres liegt bei der Untersuchung der medialen Aneignung der Stadt Breslau nicht so nahe wie die der Bildbände oder Stadtführer. Trotzdem wird anhand einer Veröffentlichung der Universität Breslau zu diesem Thema aus dem Jahr 1971 und der literarischen Aneignung der Stadt nach der Wende der Versuch unternommen, dieses Medium kurz zu beleuchten. 57 58 Łagiewski, Maciej: Mosty Wrocławia, Wrocław 1989 Antkowiak, Zygmunt: Wrocław od A do Z, Wrocław 1997; vgl. auf deutscher Seite: Marx, Fritz: Breslau von A bis Z, Der Schlesier-Verlag, 1968; Scheuermann, Gerhard: Das Breslau-Lexikon, 2. Bde., Dülmen 1994 59 Harasimowicz, Jan (Hg.): Atlas architektury Wrocławia. Budowle sakralne, świeckie budowle publiczne. 1. Band, Wrocław 1997; Atlas architektury Wrocławia. Budowle mieszkalne, budowle inżynieryjne i przemysłowe, parki cmentarze, pomniki. 2. Band, Wrocław 1998 60 Ebd. (Hg.): Encyklopedia Wrocławia. Wrocław 2000, 2001 (2. Auflage, 2001; 3. Auflage, 2006) 61 Die erste Auflage der Enzyklopädie aus dem Jahr 2000 hatte 988 Seiten mit rund 7000 Synonymen. Im vergleich hatte die dritte Auflage aus dem Jahr 2006 bereits 1060 Seiten mit rund 7400 verzeichneten Begrifflichkeiten, die von 3200 Illustrationen begleitet wurden. 2. Kapitel 65 In der wissenschaftlichen Abhandlung „Landschaft Breslau - Eine Fragestellung des Stadtbildes in zeitgenössischer Literatur“62 (1971) sucht Andrzej Cieński nach dem Bild der Nachkriegsstadt in der Prosa. Der Autor räumt einleitend den Schriftstellern die „Organisation des Bewusstseins und des kollektiven Gedächtnisses“ ein, und fragt sich nach ihren Stadtbildkonstruktionen.63 In der Entwicklung der literarischen Stadtbilder werden bis Anfang der 70er Jahre unterschiedliche Sicht und Vermittlungsweisen festgestellt. Die Jahre bis 1949 sind gekennzeichnet durch die Beschreibung eines Lebens in Zwischenräumen. Die Hauptakteure leben zwischen den Ruinenfeldern und den spärlichen intakten Lebensräumen. Sie verkehren in Angst und Unsicherheit zwischen „toten Vierteln“ und flüchten in die geschützte Zone des „Heims“, das aber paradoxerweise nur ein Ersatzheim zu sein scheint, wie es Wojciech Żurkowski in seiner Erzählung „Die Ehefrau“ (1948), ohne den Namen der Stadt preiszugeben, beschreibt.64 Ein anderes Beispiel aus der Zeit verkörpert eindrucksvoll der Beitrag von Anna Kowalska aus dem Jahr 1949, in dem die Schriftstellerin aus eigenen Beobachtungen und der Lektüre von Zeitungsartikeln eine Erzählung über das Leben in der Stadt verfasst.65 Das Buch befasst sich mit der Überwindung des Gefühls der Einsamkeit und der Fremdheit in der Stadt. Charakteristisch ist hierbei, dass die Protagonistin die Stadt zuerst als äußerst hässlich und bedrohlich wahrnimmt, um mit der Zeit immer mehr positive Zwischenräume für sich zu entdecken, so dass die Botschaft im Grunde einen positiven Kern beinhaltet.66 Die Erzählung zeichnet eine positive Veränderung des Verhältnisses der polnischen Neuansiedler zu der fremden Stadt und zeigt eine erstaunliche Ähnlichkeit zu der in der Presse vermittelten Sicht der Stadt. Die Autorin beschlagnahmt für ihre Geschichte das von offiziellen Medien konstruierte Stadtbild, einer „zwar völlig zerstörten, aber in seinen Fragmenten wunderschönen“ Stadt, wie Andrzej Cieński korrekterweise feststellt. Die Protagonistin gewinnt im Verlauf der Erzählung zumindest die Oder und die grünen Vorstadtsiedlungen lieb. Der auf diese kurze Episode folgende Sozialistische Realismus, der von einer literarischen Konzentration auf den Wiederaufbau Warschaus gekennzeichnet ist, zog eine „Verarmung der Breslauer Literatur“ nach sich. In den wenigen Werken, die einen Bezug zu der Stadt haben, dominiert Breslau als ein „neues Land, als Endhaltestelle einer Wanderung, wo man glücklich Leben und Arbeiten kann.“67 Nach 1955 tritt in der literarischen Landschaft eine „Wachablösung“ ein, wie 62 Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze; in: Acta Universitatis Wratislaviensis No 131. Prace literackie XI-XII, Wrocław 1971, S. 79-110; einen tieferen Einblick in das frühe kulturelle Lebens der „Wrocławer“ Literaten liefert die Chronik von: Kubikowski, Zbigniew: Wrocław literacki, Wrocław 1962 63 „Wir werden also nach dem Stadtbild Breslaus in der literarischen Prosa Ausschau halten. Wir werden versuchen dieses in den ganzen Werk, in seinen kleineren und größeren Kapiteln, als auch in kleineren Auszügen zu erfassen. Wir wollen erfahren, wie Breslau in den Augen aussieht, die unser Bewusstsein und das kollektive Gedächtnis organisieren, in den Augen der Schriftsteller. [...].“ Nach: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 81 64 Żurkowski, Wojciech: Żona, in: Piórkiem flaminga, czyli opowiadania przewrotne, hg. v. ebd., Warszawa 1948, nach: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 94 65 Kowalska, Anna: Uliczka Klasztorna, Warszawa 1949, nach: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 95 66 „Vom ersten Moment an, als Ewa aus dem Odertorbahnhof herausging und einen Blick auf die Stadthäuser und Plätze warf (damals war an dieser Stalle ein Soldatenfriedhof und große Ruinenfelder), sagte sie sich, dass sie diese Stadt nie lieb gewinnen werde. Ihre Geburtsstadt war hell und fröhlich, umhüllt von dörflichen Grün, [...].“ In: Kowalska, Anna: Opowieści wrocławskie. Uliczka Klasztorna, Warszawa 1955, S. 9-121, nach: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 95 67 Als Beispiel wird hier Stanisław Lem’s Roman „Unvergeudete Zeit“ aufgeführt, in dem der Protagonist nach unmenschlichen Strapazen des Krieges in Breslau eine neue psychische Wiedergeburt erlebt und ein neues Zuhause gründet. Es wird hier literarisch ein Feuerwerk an erfüllten individuellen und kollektiven Träumen projiziert, der ganz der Propaganda der Zeit entspricht. Lem, 2. Kapitel 66 Andrzej Cieński den Übergang zu den Schriftstellern nennt, die bereits ihre Jugend oder Kindheit in der Nachkriegsstadt erlebt haben. Hier stellt der Literaturwissenschaftler einen Bruch zu den vorherigen Topografien der Stadt fest. In der neuen Strömung der Jugend weichen die Zierelemente und repräsentativen Fragmente der Stadt der Schilderung von Orten in ausgebrannten Stadtteilen und ruinierten Fabrikhallen. Es ist ein schweres Leben in einer grauen Stadt, wo ein Spaziergang nicht entlang der Oder zu den Domtürmen führt, sondern zu einer Bierstube und zum Schwarzmarkt auf dem Ritterplatz (Pl. Nankiera).68 Andrzej Cieński stellt hier korrekterweise fest, dass die neue Sicht „im scharfen Kontrast zum offiziellen Modell der Stadt Breslau steht, wie ihn seit dem Kriegsende die lokale Presse für das kollektive Bewusstsein konstruierte.“69 Anstelle eines optimistischen Stadtbildes zeigt eine andere junge Autorin eine Stadt, in der ihre junge Protagonistin stundenlang in überfüllten Straßenbahnen zur Arbeit fährt, ihr Wohnhaus inmitten einer Ruinenlandschaft steht und selbst einzustürzen droht, von den Straßen, in denen der Schnee nicht gekehrt wird, die Stadt dreckig und die Läden leer sind.70 Die Problematik und der Eigensinn dieses Themas aus der Sicht der frühen 70er Jahre besteht in der nicht vorhandenen literarischen Tradition, die „durch die Jahrhunderte lange Trennung vom Mutterland“ zustande kommt, der ständigen Notwendigkeit der Festigung und Dokumentation der Rechte auf die Stadt, die „unserer (psychischen) Stabilisierung und dem Gefühl der Sicherheit“ vorrangig dient und schließlich dem dominierenden Schema „Die Vergangenheit - Der Weg nach Breslau - Die ersten Tage - Die Stabilisation“, in dem die Stadt als „Ersatzheimstadt“ im Gegensatz zu der verlorenen Geburtsstadt gesehen wird.71 Ebenfalls zu den rückwärts gewandten literarischen Werken zu Breslau zählen die Erinnerungen der ersten Neuansiedler in der Stadt, der so genannten Pioniere. Diese vermitteln ausgehend von eigenen Beobachtungen ein Bild des Lebens in einer fremden Umgebung und sind ein Zeugnis der Pionierleistung einer neu geschaffenen Stadt. Zu den bekanntesten zählen die 1987 veröffentlichten Tagebucheinträge von Joanna Konopińska, einer jungen Studentin an der Universität Breslau, die sehr bildhaft und ausdruckstark das Leben in der Stadt beschreibt.72 Die persönlichen Erinnerungen und die Schilderungen des Alltagslebens in den ersten Jahren der Nachkriegszeit erleben in der ersten Hälfte der 90er Jahre ihren Höhepunkt. Die Veröffentlichung der Dissertation von Marek Ordyłowski „Das Stanisław: Czas nieutracony, Kraków 1955, nach: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 96 68 Mikołajek, Tadeusz: Po deszczu, Wrocław 1960; und weiter ebd.: Żarówka. Wrocław 1961, nach: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 97 69 Der Literaturwissenschaftler erkennt die Rolle der populärhistorischen Periodika bei der Gestaltung des lokalen Patriotismus, wie er es nennt. Er sehnt sich nach ihrer Untersuchung im Bezug auf die Stadtaneignung, die erst mit der Arbeit des Historiker Gregor Thum dreißig Jahre später stattgefunden hat. Das konstruierte Modell bis 1970 umreißt er lediglich, wenn er sagt: „An dieser Stelle können wir nur feststellen, dass es stets ein optimistisches Modell war, das [...] immer gleichbedeutend mit der Erkenntnis war, dass Breslau eine wunderschöne Stadt (trotz dem einen oder anderen Straßenloch) ist, dass es sich hier gut und schön (trotz dem einen oder anderen Transport- und Versorgungsengpass) leben lässt.“ In: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 98 70 Drzewińska, Elżbieta: Agnieszka, Wrocław 1963, nach: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we 71 Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 102f. 72 Konopińska, Joanna: Tamten wrocławski rok 1945-1946, Wrocław 1987 współczesnej literaturze, Wrocław 1971, S. 98 2. Kapitel 67 Alltagleben in Breslau 1945-1948“ macht einen wichtigen Schritt zur objektiven Darstellung der Verhältnisse in der Nachkriegsstadt.73 Die Hoffnungen der polnischen Literaturwissenschaftler auf eine verstärkte Darstellung des zeitgenössischen Stadtbildes seitens des lokalen Schriftstellertums, scheinen nicht in Erfüllung zu gehen. Der berühmte Nachkriegsaufruf von Tadeusz Mikulski: „Man bräuchte 100 Federn, um die Rückkehr der polnischen Lebensfreude in die Stadt, welche die Oder umschlingt, zu beschreiben. In dem von deutschen Trümmern der Sezession des 19. Jahrhunderts zugeschütteten Breslauer Gässchen, liegt ein Thema zum großen Schreiben, nach dem vielleicht endlich jemand greifen wird, das Thema Breslau.“74 Der Aufruf, an den Andrzej Cieński in seiner „Landschaft Breslau“ anknüpft, scheint angesichts der fortwährenden Rückwärtsgewandtheit nicht gewirkt zu haben. Der Aufrufverfasser leistet immerhin eine große literarische Leistung für die Nachkriegsstadt, in dem er zuvor in seinen „Begegnungen mit Breslau“75 (1950) akribisch die früheren, noch so spärlichen Kontakte polnischer Schriftsteller mit der Stadt aufzeigt, um die literarische Tradition bei den neuen Einwohnern ins Bewusstsein zu rufen. In diesem Licht scheint das spektakuläre Essay von Andrzej Zawada, unter dem Titel „Bresław“76 (1996), das den deutschen und polnischen Stadtnamen kombiniert, die Anstrengungen und Träume Mikulskis endgültig zu untergraben. Der ebenfalls an der Universität Breslau arbeitende Polonist und Schriftsteller versucht, das psychologische Problem seiner Stadt in Worte zu fassen und macht die erschreckende Erkenntnis, dass Breslau eine Stadt ist, „der man das Gedächtnis amputiert hat.“77 Er bemängelt eine fehlende „Gegenwart der Tradition“, die für ihn einen Aufenthalt in anderen traditionsbewussten Städten so angenehm macht. Die Konstruktion einer polnischen Tradition in Breslau musste erst einmal durch eine Verdrängung der deutschen Stadtgeschichte angestoßen werden. Der Autor hat die Erkenntnis, dass, so sehr dies für die polnischen Ansiedler der ersten Stunde hilfreich gewesen sein mag, um in der fremden Stadt mental Fuß zu fassen, so sehr stand die künstliche Konstruktion einer polnischen Tradition auf lange Sicht einer tieferen Verwurzelung im Weg. Denn die Stadt war trotz einer „regotisierenden“ Rekonstruktion der Altstadt, die sichtbare Bezüge zu den polnischen Ursprüngen der Stadt aufbauen sollte, und dem Abriss von preußischen Symbolbauten, mehr mit Berlin als mit Krakau oder Warschau vergleichbar. Dem hier zu Wort kommenden neuen Bedürfnis der 90er Jahre folgen die Romane von Marek Krajewski, die unter dem Titel „Der Tod in Breslau“ 1999 ihre Inauguration fanden und den Lesern die Stadt Breslau ab 1933 mit den Augen deutscher Helden in nie zuvor gesehenen Licht erscheinen 73 Ordyłowski, Marek: Życie codzienne we Wrocławiu 1945-1948, Wrocław 1991; Towarzystwo Miłośników Wrocławia (Hg.): Pionierzy miasta Wrocławia. Biogramy pionierów miasta Wrocławia, Wrocław 1994; Suleja, Włodzimierz (Hg.): Wspomnienia wrocławskich pionierów, Wrocław 1995; Zawisza, Alicja: Prawdy Polaków, Wrocław 1995; Kosmulska, Anna: Niewolnicy w Breslau, wolni we Wrocławiu, Wrocław 1995; Dąbrowska, Maria: Dzienniki powojenne 1945-1965, 4. Bd., Warszawa 1996 74 Mikulski, Tadeusz: Temat Wrocław, in: Temat Wrocław. Szkice śląskie, hg. v. ebd., Wrocław 1961, S. 25 75 Mikulski, Tadeusz: Spotkania wrocławskie, Wrocław 1950 76 Zawada, Andrzej: Bresław, Wrocław 1996 77 „Breslau ist eine Stadt, der man das Gedächtnis amputiert hat. Ich habe mich nur mit Schwierigkeiten an diese Stadt gewöhnt, weil mich ihre Versehrtheit auf jeden Schritt störte und quälte. Man kann die Breslauer Strassen nicht entlanggehen, ohne daran zu denken. Daher ist es wohltuend, wegzufahren und sich in anderen Städten aufzuhalten, in Städten, die ihrer Vergangenheit gedenken, wo die Tradition die Gegenwart bestimmt. [...] Breslaus Vergangenheit wurde verheimlicht wie in einer sogenannten besseren Familie das peinliche Geheimnis von der anstößigen Herkunft eines Familienmitglieds gehütet wird.” Ebd.: Bresław, Wrocław 1996, S. 41-63, S. 52, nach: Gregor, Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 499 2. Kapitel 68 lassen.78 Der große Erfolg des ersten Bandes setzt sich in den immer wieder neu erscheinenden Bänden fort, in denen die Stadt vom Zeitpunkt der Machtübernahme des Naziregimes bis zum Fall von Festung Breslau penibel bis hin zu den Speisesälen samt den Speisekarten der einstigen deutschen Einwohner literarisch „serviert“ wird. Krajewski schafft eine literarische Reise, eine Illusion, die Stadt vor 1945 auf der Suche nach den Mördern abzuschreiten, sie zu sehen, zu fühlen und zu schmecken. Das Brisante dabei ist die konkrete Verortung von der Handlung in der Stadtarchitektur und die gekonnte Verknüpfung des nicht mehr existierenden mit den noch vorhandenen Spuren deutscher Identität der Stadt.79 Eine zeitgemäße Beschäftigung mit der Literaturlandschaft der Stadt repräsentiert die Veröffentlichung „Literarisches Breslau“ 80 (2007). Dabei handelt sich um ein Panorama der Stadt in literarischen Beiträgen deutscher Autoren bis 1945 und polnischer nach 1945, die in deutsch-polnischer Zusammenarbeit herausgegeben wird. Es ist kein Zufall, dass den Umschlag ein romantisierendes Bild eines der wenigen noch existierenden deutschen Denkmäler der Stadt schmückt, sondern ein weiterer Ausdruck der neuen Deutung der Stadt (Abb. 2.26). 2.1.6. Wettbewerbe und Ausstellungen Um die Gruppe der Printmedien abzuschließen, seien die von der Gesellschaft der Stadtliebhaber (TMW) seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre ausgetragenen Wettbewerbe und die mit ihr zusammen hängenden Publikationen zu nennen. Zu den Interessanteren gehören die jährlich stattfindenden Preisaustragungen zum Wissen über die Stadt, in deren Rahmen zwei Rätselsammelbände erschienen sind, die rund 30 Jahre auseinander liegen und unterschiedliche Sichtweisen auf die Stadt darstellen.81 Beide ordnen die Fragen in unterschiedliche Sachgebiete ein, von den Ursprüngen, über die beliebtesten lokal verankerten Lieder bis hin zu den neuen Siedlungen und Gebäuden der Stadt, auf die am Ende die Antworten geliefert werden. Beide richten sich an die Jugend und dienen vorrangig der Vorbereitung auf den Wettbewerb. Auch hier stellt man den Wechsel in der Sichtweise und Ausrichtung dieser Hilfsmittel der Stadtaneignung, die der Ausbildung des Lokalpatriotismus dienen sollen, auch wenn der Autor der zweiten Ausgabe auf die erste anzuknüpfen scheint. Dem Bild eines „auf alten piastischen Traditionen gewachsenen jungen Lebens in Breslau“ von 1971 steht ein gemäßigteres an die Tochter des Autors und ihre Altersgenossen gerichtetes Werk von 1999 „mit der Hoffnung, dass es ihnen hilft, Breslau kennen und ihre Stadt lieben zu lernen, um, wenn sie groß 78 Krajewski, Marek: Śmierć w Breslau, Wrocław 1999. (dt. Ausgabe: Tod in Breslau, München 2002); ebd.: Koniec świata w Breslau, Wrocław 2003; (dt. Ausgabe: Der Kalenderblattmörder, München 2006); ebd.: Widma w mieście Breslau, Wrocław 2005; (dt. Ausgabe: Gespenster in Breslau, München 2007); ebd.: Festung Breslau, Wrocław 2006; (dt. Ausgabe: Festung Breslau, München 2008); ebd.: Dżuma w Breslau, Wrocław 2007 79 Längs erobert Eberhard Mock die Museumssäle und die Flimmerschirme der Stadt. Das Architekturmuseum organisierte eine Ausstellung zu den Orten aus den Romanen von Marek Krajewski und die lokale Fernsehanstalt TVP 3 Wrocław drehte einen Dokumentationsfilm mit dem Autor auf dem Spuren seines Protagonisten. 80 Kopij, Marta; Kunicki, Wojciech; Schulz, Thomas (Hg.): Wrocław literacki, Wrocław 2007; die Veröffentlichung ist das Ergebnis einer Tagung zum gleichnamigen Thema und der ihr zugrunde liegenden Publikation von: Schieb, Roswitha: Literarischer Reiseführer – Breslau, Berlin 2004 81 Szumski, Tadeusz: 500 zagadek o Wrocławiu, Warszawa 1971; Konarski, Andrzej: 434 zagadki o Wrocławiu, Wrocław 1999 2. Kapitel 69 werden, aufopfernd dieser zu dienen“.82 Bei Tadeusz Szumski 1971 rührt die Verantwortung aus dem ewigen Kampf um das Polentum in der Stadt. Im Gegensatz dazu steht der revidierende Ansatz von Andrzej Konarski von 1999, der die Themen seines Vorgängers der neuen Sichtweise anzupassen gedenkt und die Verantwortung in der Pflege des kulturell vielschichtigen Erbes sieht. Daneben gesellen sich weitere Wettbewerbspublikationen, die von den „Stadtliebhabern“ (TMW) herausgegeben werden. Dazu zählt ein Bildband „Breslau in den Augen der Kinder“, der mit dem viel zitierten Satz „Breslau ist die Stadt der Jugend“ beginnt und das Interesse bekundet „die Augen der Kinder [...] auf das Thema Breslau [...] zu lenken“ und somit eine frühe Stadtbeobachtung zu fördern.83 Bei dem 1960 durchgeführten Wettbewerb wurden rund 1000 Zeichnungen aus den Grundschulen der Stadt bewertet und die besten Arbeiten der Öffentlichkeit in einem Bildband präsentiert (Abb. 2.27). Im selben Jahr fand ebenfalls ein Wettbewerb zum Stadtbild Breslaus in der Poesie statt. Als Ergebnis präsentiert die TMW 1961 den Sammelband „Gedichte zu Breslau und Niederschlesien“, in dem „die Gedichte ihren Platz fanden, die einerseits die künstlerischen Grundvoraussetzungen eines Gedichtes erfüllten, andererseits einen kommunikativen Wert, […], die also über die Schönheit der Landschaft und die Tradition der Region in möglichst einfacher Sprachen sprechen können.“84 Die Sammlung äußert, ähnlich wie zuvor Mikulski und danach Cieński für die Prosa, die Hoffnung, die Leere in der „Geographie der Poesie“ der Stadt bald zu füllen. Dem geht offenbar die 1982 herausgebrachte Vervollständigung des ersten Bandes mit „Breslau in der Poesie“ nach, die „vor allem die piastische Wehrsiedlung (piastowski gród) rühmen.“85 Eine weitere Veröffentlichung hinsichtlich der Sicht der Stadt stellt die Zusammenfassung der Antworten auf die Frage „Was ist für dich die Stadt Breslau?“ dar. Bei dem vom Kulturpräsidium des Nationalrates der Stadt und den Stadtsoziologen ausgetragenen Wettbewerb wurden die Einwohner aufgefordert ihre Assoziationen und ihre Stadtbilder an die Wettbewerbsorganisatoren einzusenden, die wiederum von Bohdan Jałowiecki in Buchform mit ausgesuchten Aussagen und Arbeiten 1970 veröffentlicht werden (Abb. 2.28).86 Ein Randphänomen stellen die Ausstellungspublikationen dar, bei denen die Stadtdarstellung ihren Kern ausmacht. Bei der vorangegangenen Schilderung wurde bereits der Bildband zur Fotografieausstellung im Architekturmuseum erwähnt, aber auch neuere sollten genannt werden, wie die Ausstellung der umfassenden Sammlung der historischen Postkarten und Grafiken zu der Stadt im 82 Zitate aus den Vorworten von Tadeusz Szumski (1971): „Breslau ist eine Symbolstadt des neuen Nachkriegsordnung der Kräfte, ein Symbol der Niederlage des germanischen Imperialismus, ein Symbol des Sieges der sozialistischen Friedenskräfte. Die Parole „Breslau - unsere Stadt“ hat hier eine besondere Aussprache, denn um das Polentum der Oderwehrsiedlung kämpften hier viele Generationen der Polen, die in dem Kampf dieses der Stadt endgültig beschert haben. Und deshalb ist es wert die Stadt kennen und lieben zu lernen.“ und Andrzej Konarski (1999): „Manche der früheren Themen (von Tadeusz Szumski) fanden hier wieder ihren Platz, andere waren nicht mehr aktuell, oder weniger wichtig - es vergingen ja viele ereignisreiche Jahre, Ereignisse vom Belang für den Staat, für die Stadt, für die junge Generation der Breslauer.“ 83 Towarzystwo Miłośników Wrocławia (Hg.): Wrocław w oczach dzieci, Wrocław 1960, aus dem Vorwort 84 Towarzystwo Miłośników Wrocławia (Hg.): Wiersze o Wrocławiu i Dolnym Śląsku, Wrocław 1961, S. 8 85 Towarzystwo Miłośników Wrocławia (Hg.): Wrocław w poezji, Wrocław 1982, S. 3 und weiter: „Wie oft schreiten wir durch die Strassen der Hauptstadt Niederschlesiens und beachten nicht die Schönheit, die in ihren Mauern verschlossene Geschichte, die neuen im Frühjahr grün blühenden Vierteln - die Nachkriegsfrucht des Wiederaufbaus und der Erweiterung unserer Stadt. Wahrscheinlich sind die Künstler am besten für einen unkonventionellen, nicht alltäglichen Blick auf die piastische Wehrburg und die Offenbarung ihrer Schönheit in künstlerischer Form prädestiniert.“ 86 Jałowiecki, Jał owiecki, Bohdan (Hg.): Związani z miastem ... Opracowanie i fragmenty wypowiedzi na konkurs: Czym jest dla ciebie miasto Wrocław, Wrocław 1970; ausgehend von dem Wettbewerb und der daraus hervorgegangenen Publikation geht in der ersten Hälfte der siebziger Jahre ebenfalls eine Radiosendung unter dem gleichen Namen hervor 2. Kapitel 70 Nationalen Museum 2008/09.87 Natürlich wurde die Stadt multimedial im Rahmen der Ausstellungen seit 1945 aus verschiedenen Warten betrachtet und vermittelt. Vor allem zwei Ausstellungen sollten stellvertretend genannt zu werden. Zum einen die große Leistungsschau der „Ausstellung der Wiedergewonnen Gebiete“ von 1948, zum anderen die Millenniumsausstellung „Breslau 2000 - meine Stadt“ im Jahr 2000.88 Beide Ausstellungen fanden in den Sommermonaten in und um die Jahrhunderthalle (ehemals Volkshalle) statt, beide zählen zu den größten Ausstellungen, in denen die Stadt der Öffentlichkeit präsentiert wurde und beide legen den Schwerpunkt auf die Zeit nach 1945. Konzentrierte sich die propagandistische Ausstellungspublikation von 1948 neben der Veranschaulichung der polnischen Tradition der Westgebiete vorrangig auf die Leistungsschau der letzten drei Jahre des Wiederaufbaus in der Region, die in der empor ragenden Stahlnadel (Iglica) manifestiert wurde, so stellt sich die Stadt 42 Jahre später ganz selbstbewusst und kritisch dar. Die Ausstellungsinstallation „Breslau 2000 - meine Stadt“ beginnt mit dem Jahr 1945 und vermittelt politisch unverfärbt die jüngste, die polnische Geschichte der Stadt. Bezeichnend ist die Identifikation der Stadtbewohner mit der Stadt, die sich in der alphabetischen Veröffentlichung aller im Jahr 2000 angemeldeten Einwohner Breslaus wiederspiegelt.89 Bestimmten 1948 neben einem kleinen eingebauten Stadtführer und der historischen Einführung von Karol Maleczyński die Informationen zum Wiederaufbau der Produktionsleistung den Katalog, so verlagerte sich das Gewicht im Ausstellungskatalog von 2000 auf die Erinnerung an die letzten 55 Jahre und die Aufführung jeden Einwohners, der hiermit offiziell zu einem Teil der Erfolgsgeschichte der Stadt gehört (Abb. 2.29) 2.1.7. Radio Bei der Untersuchung der medialen Stadtvermittlung wurde das Archiv des lokalen Radiosenders, das seit 1946 in dem Funkhaus des Breslauer Senders in Betrieb genommen wurde, auf interessantes Material hin untersucht (Abb. 2.30).90 In diesem Medium taucht die Stadt und ihre Architektur bis in die 80er Jahre kontinuierlich in Berichterstattungen von den aktuellen Großbaustellen auf. Die ersten Sendungen dieser Art fallen auf die Zeit des Sozialistischen Realismus und vermitteln analog den Printmedien der damaligen Zeit vor allem ein lebendiges Bild von den Helden der Baustelle und ihrer Leistung für eine glücklichere und bessere Zukunft.91 Bei ihrer Lektüre ahnt man eine Propaganda, in der die sozialistische Stadt von der Baustellenleitung und ihren Bauarbeitern „schöner denn je“ gesehen wird. Es ist eine akustische Szenerie voll von Pathos, Schwärmerei, erfüllten Normen und Zukunftsvisionen, die greifbar nahe zu sein scheint. Sie bildet im Grunde genommen jedoch eine Parallelwelt, wenn es stellvertretend in der Sendung „Breslau - gestern und heute“ zu Anfang heißt: „Unsere geliebte Stadt, das alte piastische Breslau, zeigt sich heute als eine einzige Großbaustelle. [...], 87 Muzeum Narodowe we Wrocławiu (Hg.): Ikonografia Wrocławia – Pocztówki, Bd. 1., Wrocław 2008; ebd.: Ikonografia 88 WZO (Hg.): Wystawa Ziem Odzyskanych 1948, Łódź 1948; Urząd Miejski (Hg.): Wrocław – moje miasto, Wrocław 2001 Wrocławia. Grafika, Bd. 2., Wrocław 2008 89 Die heutige Identifikation der Einwohner der polnischen Westgebiete offenbart sich in Landsberg (Gorzów Wielkopolski) in der Integration jeden Einzelnen auf einen Gruppenfoto zum 750 Jubiläum der Stadt unter dem Titel „Das sind wir, die Landsberger“. In: Sonderbeilage zur Gazeta Wyborcza: 750 lat Gorzowa (750 Jahre Landsberg), 30. Juni 2007 90 Weiterführende Informationen zum lokalen Sender liefert die Jubiläumsausgabe zum 25-jährigen Wirken aus dem Jahre 1971. In: 91 aus dem Radioarchiv: Tu były gruzy i zgliszcza, 27.07.1954; Wrocław, wczoraj i dziś - Odbudowa miasta akademickiego, Towarzystwo Towarzystwo Miłośników Wrocławia (Hg.): XXV-lat rozgłośni Polskiego Radia we Wrocławiu, Wrocław 1971 30.07.1954; Na wrocławskim MDM-ie, 25.11.1954 2. Kapitel 71 wo man nur hinschaut, erstreckt sich ein Wald aus Baugerüsten, überall schießen Wände komfortabler Wohnhäuser aus dem Boden empor, [...]. Nebenan die wunderschöne Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) und eine bezaubernde Perspektive auf die voran schreitende Arbeit (gemeint ist die Baustelle im akademischen Viertel).“92 Denn die Stadt litt gerade in dieser Zeit an massivem Baustillstand, abgesehen von einigen wenigen Leuchtturmprojekten, wie der Wohnsiedlung KDM oder den Hochschulbauten am nördlichen Oderufer. Dieser Trend der Berichterstattung von Baustellen als Schaustellen des Wiederaufbaus und der materiellen Aneignung der Stadt setzt sich erstaunlich lange in der Landschaft elektromagnetischer Wellen fort. In den 60er Jahren verändert sich lediglich der Ton der Sendungen, von einer „harten“, emotional aufgeladenen zu einer „rosigen“, gemäßigteren Sachschilderung.93 Die Propaganda bekommt eine Verankerung in der Realität, in welcher Dank des massiven Einsatzes der industriell vorgefertigten Bauweise die Metaphern der 50er Jahre, in denen Breslau als „Wald aus Baugerüsten“ gesehen wird, der Wahrheit zu entsprechen beginnt. In dieser Zeit entstehen sehr viele Sendungen, die im zeitlichen und inhaltlichen Ablauf ihren Vorgängern ähneln, in dem die Leitung und die Arbeiterschaft zu Fakten und Zielen Vorort befragt wird.94 Die Fülle der Sendungen, die von großen und innovativen Bauprojekten zeugen, schaffen tatsächlich ein Gefühl, dass die Stadt ein neues Gesicht, eine neue moderne Prägung polnischer Natur bekommt und mit ihr die Verheißung einer besseren Zukunft langsam Einkehr findet.95 Anfang der 70er Jahre ändern sich diese Sendungen in zweifacher Hinsicht. Einerseits gesellt sich ein kritischer Ton in der Darstellung der Großbaustellen hinzu, andererseits gehen die Sendungen mehr auf das Individuum und seine Bedürfnisse ein, die ganz klar von der Wohnungs- und Versorgungsnot gekennzeichnet ist. Das architektonische Thema der Stadt ist somit der Wohnungsplattenbau und damit zusammenhängend immer öfter die Probleme auf den Baustellen, zu denen die Leiter und Arbeiterschaft Zeugnis ablegen müssen.96 Zum Synonym des penetranten und schonungslosen Blicks 92 aus dem Radioarchiv, Beginn der Sendung „Wrocław, wczoraj i dziś - Odbudowa miasta akademickiego“ vom 30.07.1954 93 Andrzej Cieński schildert das stets optimistische Modell der Stadt in den lokalen Medien der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte und unterscheidet lediglich zwischen der anfänglich „hart-optimistischen“ und später „rosa-optimistischen“ Sicht der Stadt. In: Cieński, Andrzej: Pejzaż Wrocław - zagadnienie obrazu miasta we współczesnej literaturze. In: Acta Universitatis Wratislaviensis No 131. Prace literackie XI-XII. Wrocław 1971. S. 98 94 aus dem Radioarchiv: Przegląd roczny Wrocławskiego dnia - Otwarcie Mostu Wojewódzkiego (Pokoju), na budowie os. Gajów, 7 nowych szkół we Wrocławiu, 30.12.1959; Ładne, ale czy praktyczne - na placu budowy os. na Piaskowej Górze, 10.11.1960; Ruszła budowa trzonolinowca, 16.04.1963; Na budowie Wojewódzianki, 06.08.1963; Ruszyła budowa dzielnicy Południe, 27.04.1964; Ruszyła budowa Diory, 02.05.1964; Nowa szkoła 1000-lecia na Krzykach, 07.03.1964; Budowa Domu Studentek, 07.07.1964; Zabudowa Placu Grunwaldzkiego, 23.08.1964; Szkoła 1000-lecia im. Polonii Belgijeskiej, 19.10.1964; Najwiekszy budynek w kraju, 20.03.1965; Na budowie wrocławskiego oś. TV, 31.08.1965 95 aus dem Radioarchiv, Beginn der Sendung „Największy budynek w kraju“ vom 20.03.1965: „In der Gutenbergstrasse (ul. Drukarska) in Wrocław, ein Anblick wie viele in der Stadt zum Frühlingsanfang. In der Nähe der Baugrube, in der eine riesiger Bagger arbeitet, stauen sich die Lastwagen. Bisher nichts verwunderliches, aber in dieses Loch könnte unser Batory (MS Batory, ein Kreuzschiff der polnischen Passagierflotte) Platz nehmen. [...] Hier entsteht das größte Gebäude in Polen.“ 96 aus dem Radioarchiv: „Wrocławska Sobotynka“ - Na budowie os. przy ulicy Wieczorka. ZPO Nr. 2. W szkole nr. 37 - remonty. Na budowie os. Wojszyce - praktyki studenckie. Kąpielisko na stadionie Olimpijskim, 07.08.1971; Budujemy własny dom - Patronat ZMS nad budownictwem mieszkaniowym. Problem terenów budowlanych. Front robót. O całości akcji mówi Lech Bartnik, 02.12.1971; O własny domek - Budownictwo jednorodzinne, spółdzielcze, przyzakładowe, indywidualne. Zakres pomocy państwa i urzędów administracyjnych, 02.03.1972; Dzień dobry pierwsza zmiana - Tempo prac na nowych osiedlach mieszkaniowych WPBU. Rozmowy na tematy kadrowe, 08.02.1973; „Wrocławska Sobotynka“ - Mieszkania. Na budowie. W sklepie meblowym. Upodobania mieszkaniowe Wrocławian. Wnetrza mieszkań, 28.04.1973; Na wrocławskiej antenie - Mój dom - Budownictwo mieszkaniowe, 26.10.1973; „Wrocławska Sobotynka“ - Nowe mieszkania. Na budowie os. Huby. W biurze Sp. Mieszkaniowej. 2. Kapitel 72 hinter die Baugerüstkulissen der entstehenden Plattenbausiedlungen Breslaus ist die Reporterin Anna Piwowarska aufgestiegen. Ihre Beiträge aus der Rubrik „Ökonomisches“ zwischen 1978 und 1980 rechnen am deutlichsten mit der architektonischen Fehlentwicklung der Großinvestitionen der Volksrepublik Polen ab.97 Die Führungen durch die Siedlungen und in die Wohnungen grenzen, aus heutiger Sicht, des öfteren an eine Komödie, wenn beispielsweise die stolze Mieterin einer neuen Plattenbauwohnung befragt wird, ob sie Wasser hat. Auf die Antwort: „Ja. Kaltes.“, reagierte die Reporterin gleich mit einer neuen Frage nach der Lebensqualität, in der nun scheinbar erreichten Verheißung der besseren Zukunft von früher.98 Die Parodie der Tristesse der polnischen Plattenbauarchitektur findet Mitte der 80er Jahre ihren Höhepunkt in der Fernseh-Kultserie „Alternatywy 4“99 von Regisseur Stanisław Bareja, in der dem Leben in der Großplatte ein nationales Denkmal gesetzt und gleichzeitig ihre Glücksverheißung ein für alle Mal geraubt wird. Die freche Reporterin markiert das Ende der Berichterstattung zu den sozialistischen Baustellen Breslaus, die mit der Sendung „Aus kurzer Entfernung - 20.000 junge Familien warten in Breslau auf eine kommunale Wohnung. Rotationswohnungen und die Regeln ihrer Zuteilung“100 eine erschütternde Bilanz der letzten Jahre, angesichts des zuvor medial kreierten Bildes von einem anhaltenden Bauboom in der Stadt, zieht. Die Wende der 70er Jahre in der Betrachtung und Vermittlung der Stadt wurde von einem neuen Format begleitet. Die fachlichen Diskurse unter Teilnahme von Architekten und Entscheidungsträgern des Bausektors zum Thema der Architektur gewannen in den 80er Jahren an Aktualität, nach dem die Miesere der Lage, vor allem auf dem Gebiet des Wohnungsbaus, zum öffentlichen Thema wurde. Die Reihe der Architekturdebatten beginnt leise mit „Breslau 2000 - Bericht zum Stand der Stadt“101 von 1972, in dem zu ersten Mal ein unkonsequenter und planloser Wiederaufbau bemängelt wird. Die Äußerung des Wunsches nach mehr formaler Vielfalt beim Plattenbau entspricht ganz der erkannten Monotonie des Plattenwohnungsbaus der 60er Jahre. Die Prognose, dass Dank der modernen Bauverfahren bis 1990 mit der Verdopplung der Wohnungen „eine weitere Stadt geboren wird“, als Zakupy dla domu. Zaplecze handlowe nowych osiedli, drogi i ulice. Mgr. Władysław Piętka o realizacji inwestycji, 15.02.1975; Kolorowe osiedla - Z architektem Zenonem Nasterskim na Nowym Dworze. Rozmowa na placu budowy o projekcie, nowych technologiach, pracach przygtowawczych. Rozmawiają: inspektor nadzorczy i kierownik budowy, 01.01.1976; „Wrocławska Sobotynka“ - Jakość mieszkań. Wizyta w os. Różanka, 21.08.1976; Dobry, ale nie za bardzo - Przedsiębiorstwo Budownictwa Uprzemysłowionego. Dyr. R. Tarkowski mówi o jakości wykonania w budownictwie, 21.11.1977; Budowlany rok - Tadeusz Opolski, Witold Molicki, Romuald Temkin, Stanisław Janiak analizują przyczyny niepowdzeń w budownictwie, 29.12.1977; „Sobotynka“ - Młodzieżowe patronaty w budownictwie mieszkaniowym, jako droga do szybkiego uzyskania mieszkania przy wkładzie własnej pracy, 22.11.1980 97 aus dem Radioarchiv unter der Rubrik „Ökonomisches“ von Piwowarska, Piwowarska, Anna: Stare problemy na Nowym Dworze, 01.06.1978; W pustych scianach, 16.11.1978; Jak być mistrzem - problem budownictwa, 19.10.1978; Rozliczenia - Nowy Dwór, 17.03.1979; Inwestycja i co dalej - niewykorzystane moce produkcji wrocławskich fabryk domów, 14.06.1980; Domek dla Kowalskiego, 17.06.1980; Co pod ziemią - problemy związane z uzbrojeniem osiedli, 28.06.1980; Kto tu zamieszka - O jakości budownictwa, 18.02.1980; Stare domy wyczekują - remonty starych budynków, 12.04.1980; Inwestycja i co dalej - losy niedoszłego „mister Wrocławia“, który ma poważne usterki, 20.09.1980 98 aus dem Radioarchiv von Piwowarska, Anna: Stare problemy na Nowym Dworze (Alte Probleme in der Wohnsiedlung „Nowy Dwór“), vom 01.06.1978 99 Regisseur Stanisław Bareja: Alternatywy 4, Telewizja Polska 1983 (Erstausstrahlung aufgrund der Zäsur im Jahr 1986) 100 aus dem Radioarchiv: Widzenie z bliska - 20 tys. młodych rodzin oczekuje we Wrocławiu na mieszkania spółdzielcze. Mieszkania 101 aus dem Radioarchiv: Wrocław 2000 - Raport o stanie miasta. O stanie i przyszłości urbanistyki Wrocławia, o całej miejskiej rotacyjne, zasady ich przydzielania (z cyklu: społeczna), 26.02.1980 aglomeracji dyskutują: prof. Andrzej Frydecki, doc. Tadeusz Zipser, inż. Kazimierz Wilkowski i inż. Stefan Miller, 27.03.1972 2. Kapitel 73 auch die Hoffnung, dass „Breslau bis zum Jahr 2000 nicht nur ausgebaut, sondern umgebaut und zum Ausdruck des Fortschritts wird“ zeigt immerhin einen noch vorhandenen betonverschriebenen Optimismus.102 In den Debatten seit Beginn der 80er Jahren weht ein kritischerer Wind. Es ist die besorgniserregende Erkenntnis, dass „man sich in Polen der Architektur als eines kulturellen Raumes, als einer Umgebung für den Menschen“ entledigt hat.103 Hier ist nun die Rede von der genormten „Falle der Menge“, die auf Kosten der Qualität von Wohnungen und Siedlungen gedeiht. Die generelle Abkehr vom Plattenbau, der fortan abwertend als Betonödnis (blokowisko) im Sprachgebrauch degradiert wird, kommt im Laufe der 80er Jahre verstärkt zum Ausdruck.104 In der Sendungsreihe „Mensch, Architektur, Umwelt“ werden zwischen 1984 und 1991 die Zuhörer einer regelrechten Erziehung in Sachen Architektur durch Witold Molicki unterzogen, ausgerechnet einem der Planer der großen Plattenbausiedlungen der 70er Jahre im Westen der Stadt. In seiner „Prognose 2000“ zum Wohnungsbau in Breslau spricht er offen über „die Hässlichkeit uns umgebener Häuser, die eine Krankheit der Emigration und eine Bewunderung des Auslandes hervorrufen“. Im Jahr 1991 schließt er seine Reihe, die nun unter dem programmatischen Namen „Schönheit in der Architektur“ läuft, mit einen „Terminus der ‚Wrocławheit’“ ab.105 Das Interessante hierbei ist, dass für ihn die beschworene Eigenart der Stadt die frühe Europäisierungsbereitschaft der Piastenherrscher, das im 13. Jahrhundert festgelegte Ausmaß der städtebaulichen Situation und die architektonische Vielfältigkeit auszeichnet. Die „systembedingte Prägung“, wie Witold Molicki den Städtebau der industriell vorgefertigten Architektur nennt, „ist immer noch ein Buckel, der das Stadtbild erdrückt“. Dieser Wechsel der Sicht auf die Stadt, der ebenfalls in den Printmedien erkannt worden ist, kommt überraschender Weise bereits 1984 in der Sendung zum 40. Jubiläum der Befreiung Niederschlesiens vor.106 Nach der offiziellen Einleitung, beginnend mit der Schilderung der polnischen Ursprünge bis zum Jahr 1000 und der direkten Überleitung in das Stadtbild des Jahres 1945, diskutieren der Architekt Stanisław Ołpiński und der Schauspieler Igor Przegródzki über Architektur und Baukultur in Breslau. Dabei entwickelt sich ein Gegenpol der Bewunderung der „einst bemängelten Architektur, [...] der Bourgeoise“ zum Standpunkt des Leiters vom „Miasto Projekt“, der zentralen Planungsstelle der Stadt. Es entwickelt sich ein interessantes zwiespältiges Gespräch, in dem die Stadt von zwei Seiten 102 Interessant scheint hier der Handgriff nach den „verwahrlosten“ Vierteln nördlich der Oder, die von der Gründerzeitarchitektur der wilhelministischen Ära geprägt sind. Zum Umbau heißt es hier, „Wir dürfen nicht vergessen, dass nördlich der Oder ein ganzes Meer an Schabracken, diese Bebauung des 19. Jahrhunderts, vor sich hin wuchert.“ 103 Weiter heißt es dazu, „Wir wissen, dass die Architektur als gebauter Lebensraum, eindeutige Aussagen über den Stand eines Staates liefern kann. Schlechte Architektur zeugt eindeutig davon, dass ein Land sich nicht sachgerecht entwickelt. [...] Wir, die Architekten, haben den Kontakt zum Abnehmer, dem Mensch, verloren. Unser Abnehmer war die kommunale Wohnungsgesellschaft.“ “ In: W kręgu lampy - Andrzej Gretschel, Włodzimierz Szostek i Jan Tarczyński, architekci wrocławscy, rozmawiają o problemach związanych z architekturą i budownictwem w naszym mieście i kraju, 07.10.1980; siehe auch die Kritik an der Platte und dem Städtebau in der Sendung mit dem Stadtarchitekten Stanislaw Lose. In: „Rozmowy na dziś - O architekturze. Dr Stanisław Lose mówi o architekturze, urbanistyce, małych osiedlach i o wpływie architektury na organizację życia społecznego, 04.05.1981 104 aus dem Radioarchiv: „Człowiek, architektura, środowisko“ - Witold Molicki: „Prognoza 2000“ dotycząca budownictwa mieszkaniowego, 20.02.1988 105 aus dem Radioarchiv: „Piękno w architekturze“ - Witold Molicki mówi o funkcji piękna w architekturze i o tym, co jest charakterystczne dla architektury Wrocławia, 03.11.1991 106 aus dem Radioarchiv: XXXX-lecie Dolnego Śląska - Fragment wypowiedzi Bolesława Drobnera. O architekturze i budownictwie we Wrocławiu mówi Stanisław Ołpiński. Rozwój gospodarki i kultury na Dolnym Śląsku. Wypowiedzi Igora Przegrodzkiego, 07.07.1984 2. Kapitel 74 betrachtet wird, einmal als immer hässlichere, charakterlose Betonödnis und ein anderes Mal als Ergebnis guter Ausbildung an der hiesigen Architekturfakultät. Bedenkt man, dass es sich hier um eine Jubiläumssendung zur Befreiung der Stadt von der deutschen Besatzung handelt, dann erscheint der Blickwechsel fast schon subversiv, wenn behauptet wird, „[…] und die Stadt wird irgendwie immer hässlicher. Sie verliert ihren Charakter. Beton, Plattenbaublöcke, Siedlungen, Hotels. Wo sind die alten, man möchte fast schon sagen, die alten, guten Zeiten, einschließlich der Sezessions- und Biedermeierzeit.“107 Dem gegenüber stehen die Sendungen zum 30. Jahrestag der Befreiung, in denen die Befragungen der Einwohner auf den Strassen der Stadt einen Rückblick auf die ersten Jahre liefern und gleichzeitig einen positiven Blick auf die Stadtentwicklung vermitteln. In der Sendung „Breslauer Mittag - über das Wachsen der Stadt“ (1974) lädt der Reporter zu Anfang auf einen Spaziergang durch die Stadt ein, „deren Schönheit in der Eile des Alltags oft nicht beachtet wird.“108 Aus der Perspektive der Zeit lässt sich unterschwellig bereits im Titel der Zenitstand der Stadtentwicklung in der Volksrepublik Polen ablesen. Im „Breslauer Mittag“ melden sich noch einmal die einfachen Menschen zu Wort, die sich „heimisch“ fühlen und die Entwicklung, wenn auch banal, so doch überaus positiv bewerten.109 Auch die Sendung „Die Stadtlandschaft“110 (1975) gehört zu dieser Sorte, bei der die Einwohner der ersten Tage gedenken und eine positive Bilanz des Wiederaufbaus bei der Betrachtung der Architektur ziehen. Im Allgemeinen lässt sich in der ersten Hälfte der 70er Jahre ein vermehrtes Zeugnis von der Identifikation der neuen Einwohner mit ihrer Stadt feststellen. In der Serie „Die Stadtverbundenen“, die an den gleichnamigen Wettbewerb aus dem Jahr 1966 anknüpft, dessen Ergebnisse 1970 in Buchform publiziert werden, melden sich bekannte Persönlichkeiten, die über die Stadt und ihre Beziehung zu dieser sprechen. Die fehlenden Archivbestände der Radioanstalt nach 1991 erklären sich aus den politischen und strukturellen Umwälzungen, die mit dem Untergang des bisherigen Systems zusammenhängen. Diese machten auch vor dem Radio keinen Halt, das seit dem auf musikalische Unterhaltung mit kurzen Unterbrechungen für Nachrichten und Werbung setzt. 2.1.8. Film und Fernsehen Betrachtet man das Archiv des 1965 an das Funkhaus angebauten Plattenbaukolosses der lokalen Fernsehanstalt TVP 3, dann stellt man fest, dass seit ihrer Gründung 1962 eine Vielzahl an Filmmaterial zu der Stadt produziert worden ist (Abb. 2.31). Anhand des Materials lässt sich über die Zeit hinweg die Medialisierung der Stadt im Fernsehen rekonstruieren. Seit den 60er Jahren taucht die 107 Ebd.: Igor Przegródzki zum Thema der Architektur in Breslau, 07.07.1984 108 aus dem Radioarchiv: Wrocławskie popołudnie - O tym jak rośnie Wrocław, o swoim stosunku do miasta mówią Wrocławianie, 14.07.1974 109 ebd.: Erstes Interview mit einer Frau: „Die Stadt wächst wie auf der Hefe. [...] Ich wohne hier seit 1950. Ich habe zwei Kinder, die hier geboren wurden. Ich betrachte die Stadt als meine Heimatstadt.“, zweites Interview mit drei Männern, die vor 1950 in die Stadt kamen: „Damals (vor 1950) wären sie (der Reporter) da nicht hineingegangen. Aber heute ist es sauberer, man kann einen Ort zum hinsetzten finden. Es gibt Bänke. Schauen Sie, heute haben wir die neue Welt, das Neue!“ 110 aus dem Radioarchiv: Pejzaż miasta – Spacer po Wrocławiu. Stare i nowe budowle. Stare miasto. Trasa WZ, hala targowa, wędkowanie nad Odrą. Roymowy y mieszkańcami i wspomnienia z pierwszych lat odbudowy, 16.04.1975 2. Kapitel 75 Stadt und ihre Architektur in der Kategorie der Kulturreportagen als Hauptprotagonist auf.111 Bei der medialen Vermittlung und Aneignung der Stadt spielen vor allem populärhistorische Reportagereihen eine bemerkenswerte Rolle, die unter einem bestimmten Aspekt die Stadt beleuchten und oft bereits im Titel ihre Botschaft tragen. Auf die Reihe „Die Steine sprechen polnisch“ von 1964 treffen beide Aussagen zu. Diese Kulturreportagen von jeweils rund 30 Minuten Länge sind wohl ursprünglich unter dem Titel „Geschichte in Stein“ gesendet worden und tragen seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Worte von Kardinal Wyszyński anlässlich des 20. Jubiläums der Stadtbefreiung in ihrem programmatischen Titel.112 In der Sendereihe treten Persönlichkeiten der Stadtaneignung auf, die sich der Aufdeckung der polnischen Stadtgeschichte für breite Bevölkerungsschichten gewidmet haben.113 Mit ihrer Hilfe gelangt der Zuschauer an die „polnisch sprechenden Steine“, die den Worten des Kardinals nach zu ihnen polnisch sprechen. Gemeint sind ursprünglich gotische Kirchen, die in dem Fernsehformat auf weit begriffenes Erbe der piastischen Herzöge ausgeweitet werden. Die Rolle der Zunge der Steine übernehmen hier die fachkundigen Führer, wie Olgierd Czerner, der eine Folge von 1984 mit charakteristischen Worten beginnt: „Lasst uns ins Mausoleum hineingehen. Diese Einladung gilt nicht nur Ihnen (Reporter und Kameramann). Sie richtet sich an die Breslauer, vor allem an unsere Jugend. Wir müssen bedenken, dass diese Kirche im Krieg zerstört und wieder aufgebaut wurde. Hier kann man die Geschichte des Piastengeschlechts und der mit ihr zusammen hängenden Stadtentwicklung in einem Raum erleben (Abb. 2.32).“114 Dieser Duktus der Einladung auf eine Reise entlang der piastischen Spuren der Stadt setzt sich bis Mitte der 80er Jahre fort und breitet sich auch über die Grenzen der Stadt hinaus aus, wobei die Verbindung zu Breslau über die Piastenherzöge aufrecht erhalten bleibt. Die Führungen in die Architektur der Piastenzeit, begleiten immer wieder Museumsbesuche, bei denen die Exponate in den tradierten Kontext und in einen konkreten Bezug zur Stadtarchitektur hineingestellt werden. Das Ziel der Sendung kann bei einem Besuch im Archäologischen Museum der Stadt erfahren werden, bei dem der Museumsdirektor 1984 anhand eines Modells der ersten Wehrsiedlung an der Oder die Geschichte zum König Bolesław Chrobry im Modell verortet, um anschließend die rekonstruierte St. Martin Kirche (koś. św. Marcina) mit folgenden Worten zu lokalisieren: „Die Bauten behandeln wir als Denkmäler unserer Tradition. Was 1945 zerstört wurde, wurde liebevoll wieder aufgebaut. Sie sollen von der Schönheit der polnischen Vergangenheit unserer Stadt zeugen.“115 Erstaunlich scheint einerseits, dass in der Zeit der Volksrepublik über 20 Jahre keine Entwicklung und keine Konkurrenz zu diesem Format der Aneignung des kulturellen Raumes auftritt. Andererseits ist man verwundert, dass ähnliche Formate der Vermittlung der Stadtgeschichte erst nach einer fast 15- 111 Aus dem Archiv der Fernsehanstalt TVP 3 Wrocław: Wyspy wrocławskie, 1968; Piwnica Świednicka, 1968; Fabryka Wagonów, 1969; Miasto nad Odrą, 1969; Plenery Wrocławia: Most Grunwaldzki, ..., 1969; Katedra Wrocławska, 1971 112 Die populärhistorische Reihe „Kamienie mówią po polsku“ ist laut der Jubiläumsband anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Lokalsenders seit 1964 auf den Bildschirmen der Stadt zu sehen. In: Towarzystwo Miłośników Wrocławia (Hg.): X-lecie Wrocławskiego Ośrodka Telewizyjnego. Wrocław 1972; Die Recherche im Archiv konnte ihre Produktion bis 1984 belegen. Vgl. Anm. 139, Kap. 1. (Kardinal Wyszyński) 113 Zu den Persönlichkeiten gehören allen voran die Historiker der ersten Stunde, wie Marian Morelowski sowie das Ehepaar Ewa und Karol Maleczyński. Im Flimmerkasten (TV) sind es jedoch ab Mitte der sechziger Jahre vorrangig die Historiker der ersten Nachkriegsgeneration, Olgierd Czerner, Ryszard Gładkiewicz sowie Andrzej Jochelson, der den ersten polnischen Stadtführer zu Breslau 1946 verfasste, und die Direktoren der verschiedenen Abteilungen des Städtischen Museums. 114 Kamienie mówia po polsku - odcinek poświecony Mauzoleum Piastów, TVP Wrocław 1984 115 Aus dem Archiv der Fernsehanstalt TVP 3 Wrocław: Kamienie mówia po polsku - odcinek poświecony spacerowi po zabytkach Wrocławia, TVP Wrocław 1984 2. Kapitel 76 jährigen Pause zur Jahrtausendwende ihre Rückkehr auf die Wohnzimmerbildschirme der Stadt feiern.116 An dieser Stelle beobachtet man den bereits bei den vorangegangenen Medien festgestellten inhaltlichen Blickwechsel, eine Verkürzung der Sendezeit der Reihen sowie eine Diversifizierung der Themen. Allein innerhalb von fünf Jahren, zwischen 1997 und 2002, werden sechs populärhistorische Sendungen notiert, die der Stadt sowie ihrer Architektur verhaftet sind und von ihr leben.117 In der Reihe „Denkmäler der Technik“ (1997) werden nacheinander die bis dahin nicht beachteten technischen Baudenkmäler der Stadt gerühmt, wie die Wasserelektrizitäts- und Wasserhebewerke, aber auch die Straßenbahnen, oder die Konstruktionen Max Bergs. Es ist für die Zeit bezeichnend, dass es sich hierbei fast ausschließlich um deutsches Erbe handelt. Fast möchte man meinen, der Blickwechsel sei eine Art Gegenreaktion zu zwanzig Jahren der Monotonie „polnisch sprechender Steine“ des Volksfernsehens. In der in Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum der Stadt entstandenen Reihe „Spuren auf dem Straßenpflaster“ (1998) wird andererseits lebendige Lokalgeschichte betrieben. In den Folgen erschließen alte Lokalmatadoren, wie Olgierd Czerner, live vor Ort die Straßen der Altstadt (Abb. 2.33). Das Augenmerk liegt dabei neben der Wiederaufbauleistung auf der Schönheit der bislang verrufenen Sezessionskaufhäuser. Es sind Führungen von Fachkundigen, die bis 1945 aus eigener Erfahrung zu den Straßenzügen berichten können und mit medialen Hilfsmitteln, wie eingeblendeten Filmen, Fotos und Stichen die Schönheit der Strassen vor ihrer Zeit, fast ausschließlich aus der deutschen Ära zeigen.118 Der Kern des Wandels erschließt sich in der Reihe „Tausend Jahre“ (1999), in der die Stadtgeschichte zum tausendjährigen Jubiläum medial aufgerissen wird. In einer der Folgen unter dem Namen „Neue Orte, alte Adressen“119 werden die einstigen (vor 1945) und die heutigen Breslauer (1999), die über den Ort, an dem sie einst lebten beziehungsweise gerade leben, miteinander in Verbindung gebracht und interviewt. Zu dem angeschnittenen Thema der Beseitigung deutscher Zeichen der Stadt heißt es seitens der alteingesessenen polnischen Einwohner: „Für meine Generation ist es eine Piastenstadt; eine uralte, slawische, wunderschöne, polnische Stadt. Gleichzeitig können wir heute aber sagen, dass es eine wunderschöne deutsche Stadt ist.“ Dieser Einsicht folgen auch die weiteren Sendungen, bei denen um die Jahrtausendwende eine ausgewogene Behandlung der deutschen Stadt vor 1945 und der polnischen nach 1945 beobachtet werden kann.120 Dabei sei das vermehrte Hinschauen auf die Helden und Taten 116 Die 18-teilige Reihe „Perlen der schlesischen Architektur“ (Cykl: Perły architektury Śląskiej) von 1994 behandelt nur in einer Folge zur Aula Leopoldina die Architektur Breslaus, so dass sie bei der Untersuchung der medialen Stadtaneignung nicht ins Gewicht fällt. 117 Aus dem Archiv der Fernsehanstalt TVP3 Wrocław: Zabytki techniki, 1997; Ślady na bruku, 1998; Tysiąc lat, 1999; Akta W, 2000; Prawdziwy koniec wojny, 2002; Czas przemian, 2002 118 So wird die Konditorei in der Reusche Strasse (ul. Ruska), die seit 1946 unverändert betrieben wird, als „Teil der Geschichte der Strasse“ präsentiert. In: „Ślady na bruku - ul. Ruska“, TVP3 Wrocław 1998; höre als Vergleich die Radio Sendungen „Die Strassen Breslaus“ (Ulice Wrocławia) zwischen 1968 und 1977 119 „Tysiąc lat - Nowe miejsca, stare adresy“ TVP3 Wrocław 1999 120 Seit dem Zusammenfall der Volksrepublik Polen erscheinen im lokalen Fernsehen die Gesichter der einstigen Bewohner Breslaus. Erstmals in den Reportagen zu den Stadtbesuchen der Heimatvertriebenen, später in den Ausstellungen zu Breslau, seiner deutschen Architektur, als auch den Berichten über große Persönlichkeiten Breslaus. Vor allem in den Interviews mit den Vertriebenen zeichnet sich ein halbes Jahrhundert lang verlorengegangenes Stadtgesicht. In: „Hotel miejski - niemieccy turyści we wrocławiu“ (Stadthotel – Deutsche Touristen in Breslau) TVP3 Wrocław 1990; „Wrocławscy Niemcy” (Breslaus Deutsche) TVP3 Wrocław 1991; „Wrocław nieznany“ (Unbekanntes Breslau) TVP3 Wrocław 1992; „Cykl 1000 lat - Nowe miejsca, stare adresy“ (1000 Jahre Breslau – Neue Orte, alte Adressen) TVP3 Wrocław 1999; „Album wspomnień ‚Klausa Ulricha‘“ (Erinnerungsalbum von Klaus 2. Kapitel 77 des Wiederaufbaus nach 1945 im direkten Zusammenhang mit der Problematik des Übergangs vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis zu sehen.121 Die Rückbesinnung auf die ersten Pionierjahre rührt demnach aus der erinnerungskulturellen Notwendigkeit der Sicherung des Wissens um die Leistungen der aussterbenden ersten Generation der heutiger Stadtbewohner. In diese Reihe ist die Sendung „Die Akte W“ (2000) anzusiedeln, die eine Mischung aus dem Gedenken an die polnische Stadtgeschichte nach 1945 unter gleichzeitiger Hervorhebung des deutschen vorgefundenen Erbes darstellt. Stellvertretend kann die Folge „Die Nadel, ein Spiegel des Himmels“122 (2005), die der symbolträchtigen Stahlnadel (Iglica) vor der Volkshalle (Jahrhunderthalle) gewidmet ist, vorgestellt werden. Die Folge versäumt nicht, neben den vielen Augenzeugenaussagen zu der Aufstellungsaktion und Spiegeldemontage der Iglica von 1948, „den hervorragenden deutschen Architekten (Max Berg) und seine sagenhafte Konstruktion“ der Jahrhunderthalle einen ehrenwerten Tribut zu leisten (Abb. 2.34). In die Sparte der Wiederaufarbeitung der neusten Geschichte fallen ebenfalls die Sendungen aus der Reihe „Das wirkliche Ende des Krieges“ und „Die Zeit des Wandels“, die beide im Jahr 2002 die Stunde Null der Stadt ins Zentrum des Interesses rücken und vorgeben, die Wirklichkeit, gegenüber der Unwirklichkeit der frühen Darstellungen, abbilden zu wollen.123 Einen weiteren medialen Spiegel der Stadt liefern Dokumentationsfilme, allen voran das Material der Polnischen Filmchronik (PKF), die zwischen 1944 und 1994 das Leben in Polen dokumentieren.124 Die meist 10-minütigen Kurzfilme wurden in der Volksrepublik Polen vor einen Kinofilm geschaltet und stellten ein wichtiges Informationsinstrument im Staatsdienste dar. Die Stadt Breslau verdankt ihrer Bedeutung als heimliche Hauptstadt der Westgebiete eine Fülle an Filmchroniken, die ab den 70er Jahren durch Fernsehdokumentationsfilme ergänzt werden. Breslau wird kurz nach der Kapitulation der deutschen Festungsbesatzung zum ersten Mal von einem Kameramann erfasst. Die Stadt liefert vom Rathausturm ein 360° Panoramabild eines endlos brennenden Ruinenmeers. Während die am Turm befestigte polnische Flagge vor dem traurigen Antlitz der Stadt hoffnungsvoll weht, hören wir die standhafte Stimme des Sprechers, während die Bilder der Zerstörung vorbeiziehen: „Nach sechs Jahrhunderten der deutschen Herrschaft in Breslau kehrt die Ulrich) TVP3 Wrocław 1999; „Breslau Rudolfa Tauera“ (Breslau von Rudolf Tauer) TVP3 Wrocław 2003; „Jestem Karla z Breslau“ (Ich bin Karla aus Breslau) TVP3 Wrocław 2007 121 Vgl. Anm. 8, Kap. 1. 122 „Akta W - Iglica, lustro nieba“, TVP3 Wrocław 2000; siehe auch die gleichnamige Buchveröffentlichung zu der Fernsehsendung von: Dybalska, Anna (Hg.): Akta W, Wrocław 2005 123 „Prawdziwy koniec wojny - Odbudowa, czyli rozbiórka; Grabieże zwycięzców“ (Das wirkliche Kriegsende - Wiederaufbau, d.h. Abbau; Beute der Sieger) und „Czas przemian - Breslau, Wrocław; Groby wojny; Szaber“ (Die Zeit des Wandels - Breslau, Wrocław; Friedhöfe des Krieges; Schwarzmarkthandel), TVP3 Wrocław 2002; Im Kontrast steht hierzu die Sendungsreihe anlässlich des 25. Jubiläums der Stadtbefreiung: „Dzien pierwszy“ (Erster Tag), „Geneza powrotu“ (Genese der Rückkehr), „Rzecz o zagładzie miasta“ (Zerstörung der Stadt), TVP3 Wrocław 1970 124 Ein umfassenderes Bild von der Medialisierung Breslaus in den Filmchroniken der Volksrepublik Polen ist nachzulesen in der Dissertationsarbeit am Historischen Institut der Universität Breslau, in: Leśniewska, Inga: Obraz „Ziem Odzyskanych“ w dokumencie filmowym w latach 1945-1989, Wrocław 2010 (dt.: Das Bild der „Wiedergewonnenen Gebiete“ im Filmdokument der Jahre 1945-1989). Des Weiteren führt das öffentliche Interesse an alten Filmen und Bildern der Stadt zu einer erfolgreichen Kinoreihe unter dem Titel „Kadry Wrocławia - Przegląd ponad 20 filmów dokumentalnych o Wrocławiu oraz Kronik PKF“ (dt.: Die Filmbilder zu Breslau - Vorführung von 20 Dokumentations- und Chronikfilmen von PKF) im März 2008. Hervorstechend ist bei den Werbeblättern und Postern die Werbung mit dem Zusatz: „Seltene Bilder aus der Festung Breslau“, die als Köder eingesetzt werden, als ob die Bilder aus der fremden Stadt Breslau auf größeres Publikum hoffen lassen würden. 2. Kapitel 78 uralte schlesische Hauptstadt der Piasten zum Vaterland zurück. [...]. Hier verteidigten sich die Deutschen mehrere Wochen lang, die Stadt mit großen Eifer zerstörend, von der sie wussten, dass sie ihnen für immer weggenommen wird. [...] Wir werden die Spuren des Deutschtums in Schlesien entfernen, wir werden ein polnisches Breslau wieder aufbauen.“125 Vier Jahre später etabliert sich in dem Beitrag „Zum Jahrestag der Befreiung Breslaus“126 (1949) ein Grundschema der Stadtdarstellung, das sich bis zum Untergang der auf dem Westgedanken ideologisch aufgebauten Volksrepublik halten wird. Das Medium benutzt erstmals die Bilder aus der ersten Filmchronik von 1945, mit denen es eine spektakuläre Blende zwischen der Stunde Null und dem Zeitpunkt der Produktion bekommt. Auf diese Überblendung, bei der es heißt: „Die Brände zeigten den ersten Polen den Weg in die Ruinenstadt (Schnitt über die Ostfassade des Rathauses 1945/1949). Wie anders sieht Breslau heute aus. ...“, folgen Bilder des wieder aufgebauten Rathauses, dem in Betrieb genommen „größten Kaufhaus Polens“ RENOMA (ehemals Wertheim), der Baustelle am Domportikus, der Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) und dem „stolzen Industriebetrieb PAFAWAG (ehemals Linke-Hofmann AG) der ca. 6000 Arbeiter beschäftigt (Abb. 2.35).“ Selbstverständlich fehlt in der Chronikausgabe von 1949 nicht die Erwähnung der „Großartigen Ausstellung der Errungenschaften Breslaus (Ausstellung der Wiedergewonnen Gebiete, 1948), die uns zeigt, dass die Stadt ein neues, großartiges Leben begonnen hat.“ Der Filmfluss wird über einen harten Schnitt von der Iglica am Messegelände auf den Ring befördert. Von dem 110 Meter hohen Symbol des neuen Aufschwungs, zu den die Tauben fütternden Kindern am historischen Ring, wo vor der Kulisse der sich im Wiederaufbau befindlichen Baudenkmäler die Schlusssätze gesprochen werden: „Wir dürfen nicht vergessen wie viel noch zu leisten ist. Unser Enthusiasmus und Fleiß wird jedoch zum vollständigen Wiederaufbau der Hauptstadt Schlesiens verhelfen.“ Der propagandistische Ton mit Bildern von Architekten am Reißbrett und Bauarbeitern an den Baustellen blüht in den 50er Jahren weiter auf. Die Ähnlichkeit mit den Bildbänden aus der Zeit, in denen nicht nur die selben Gesichter und Bauwerke, sondern auch die selben Parolen abgedruckt werden, ist verblüffend.127 Zum Schema der Überblendung gesellt sich sechs Jahre später ein weiteres Merkmal. Die Sonderausgabe der PKF „Zum 10-jährigen Jubiläum der Befreiung Breslaus“128 (1955) blendet von der Kranzniederlegung am Ehrenfriedhof der Sowjetischen Offiziere zu den spektakulären Bildern von den Kämpfen in der Festung Breslau „des am letzten Kriegstag bei den Dreharbeiten getöteten sowjetischen Kameramanns Suszczyński.“ Nach der Zwischenschaltung von 1945 aufgenommenen Bildern der Zerstörung, zieht an den Zuschauern die Wiedergeburt der Stadt vorbei. Es sind die gewöhnlichen Bilder von „Professoren und Studenten, die ihre Universität aufbauen“, von „Arbeiterschaften, die ihre 125 PKF 12/45; 12/45 siehe auch PKF 10/46 10/46 „Niemcy opuszczają Wrocław“ (Die Deutschen Verlassen Breslau); PKF 41/46 „Na Ziemiach Odzyskanych“ (In den Wiedergewonnen Gebieten - Wiederaufbau der Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki)); PKF 44/47 „Odbudowa Wrocławia“ (Wiederaufbau Breslaus) 126 127 PKF 17/49 „W rocznice wyzwolenia Wrocławia” (Zum Jahrestag der Befreiung Breslau) „Bis 1960 wird Breslau wiederaufgebaut sein. Bei uns wirft man die Wörter nicht in den Wind“ in: PKF 44/52 „Wrocław będzie odbudowany“ (Breslau wird wiederaufgebaut); vergleiche mit: „Die Worte der Partei gingen nicht in den Wind … Breslau lebt, Breslau steht, Breslau blüht …“. Im Bildband: Sado, Stanisław; Joffe, Henryk; Kaczmarek, Bolesław: Wrocław 1945-1955, Wrocław 1955, Anfang des ersten Kapitels 128 Sonderausgabe der PKF 1955 „W dziesięciolecie wyzwolenia Wrocławia“ (Zum 10-jährigen Jubiläum der Befreiung Breslaus); vergleiche auch hier die Szene im Planungsbüro, „ ... hier noch ein Modell, dort draußen bald schon Realität, ...“, mit den Bildbänden aus den fünfziger Jahren 2. Kapitel 79 Waggonfabrik PAFAWAG aufrichten“ und den in der Ausstellung 1948 gezeigten Errungenschaften des geglückten Neuanfangs. Als ein neuer Kanon hält hier die Stilisierung der „Jungen Stadt“ Einzug.129 Es heißt „Breslau erlebt seine zweite Jugend. [...] In den letzten 10 Jahren verzeichnete die Stadt 120.000 Neugeborene“. Diesem Motto folgt die Kamerafahrt. Vor dem Zuschauer eröffnen sich Krankenhäuser, in denen einer Fabrikanlage gleich, Neugeborene zu Dutzenden auf Rollwagen ausgefahren werden. Von nun an dominieren neben den Leuchtturmprojekten der Stadt, den Gebauten und denen auf dem Reißbrett, die Kinderwagen mit Müttern in den großzügig angelegten Parkanlagen (Abb. 2.36). Zu diesen stoßen Bilder von lachenden, modisch angezogenen, Frauen, die fröhlich ihre Einkäufe in der gut versorgten Stadt machen. Es ist die Suche nach einer glücklichen Normalität, die der Sozialistische Realismus zu erfüllen versprach und welche die Dokumentationsfilme mit den Worten „Neue Menschen, neue Häuser, neues Leben“ zu vermitteln versuchen.130 Es ist bezeichnend, dass die folgenden Beiträge zu den Jubiläen der Stadt dem Muster von 1955 folgen. Es werden zwar neue Bilder gesucht und gefunden, die grundlegenden Inhalte ändern sich aber nicht. So beginnt die Jubiläumschronik „Breslau 1945-1965“131 mit einer NS-Wochenschau, in der deutsche Pioniere die Sprengung der Passbrücke (m. Zwierzyniecki) vorbereiten. Über die Bilder der Zerstörungswut der deutschen Festungsbesatzung wechselt der Blick auf die sonnenüberflutete und stark befahrene Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki), „Dieselbe Stadt 20 Jahre später. [...]. polnisches Breslau, die Hauptstadt Niederschlesiens mit einer halben Million Einwohnern, Wirtschafts- ,Handels-, und Kulturzentrum, das zu den lebendigsten im Lande gehört. [...]. Außer dem, was mit Zahlen und Fakten ausgedrückt werden kann, ist Breslau einfach eine wunderschöne Stadt, deren Alltagsleben sich im Schatten der wieder aufgebauten Mauer seiner ehrwürdigen Baudenkmäler abspielt.“132 Breslau ist auch hier „die Stadt der Jugend“, die Stadt der Parks und Blumen, für die lachende 18-jährige „Breslauer-Drillinge“ auf der Dombrücke posieren dürfen und die Bilder der kleinen Vierlinge im Kindergarten das lebendige Zeugnis eines gesicherten Fortbestandes für die Wirtschaft-, Bildungs- und Kulturzentren liefern (Abb. 2.37). Die in den Filmchroniken etablierten Schemata setzten sich auch in den Dokumentationsfilmen fort. Der halbstündige Beitrag „Festung Breslau“ von 1972 ist „der jüngsten Generation der Breslauer 129 Bereits die Schlussblende von der Stahlnadel (Iglica) zu den die „Friedenstauben“ fütternden Kindern am Ring in der PKF 17/49 von 1949 zeigt die Anfänge dieser neuen Stadtbildkonstruktion. 130 WFD 1959 „Wrocław 1959 r.“, Wytwórnia Filmów Dokumentalnych 1959; als Zeugnis der Normalität und Alltagsglücks werden unter dem Motto „Neue Menschen, neue Häuser, neues Leben!” (Nowi ludzie, nowe domy, nowe zycie!) Bilder von einer Dame beim Einkaufsbummel mit ihrem Hund, modisch angezogenen Frauen vor dem Einkaufshaus RENOMA und CENTRAL, die vitale Universität sowie Bilder von einer Herzoperation gezeigt 131 PKF 19B/65 „Wrocław 1945-65“, Polska Kronika Filmowa 1965 132 Die Filmchronik „Wrocław 1945-65“ (1965) zeigt die Überblendung von der NS-Wochenschau auf die Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) gefolgt von Universitätsplatz, Südfassade des Rathauses, Westseite des Ringes, Neues Rathaus, Operplatz (Blumen und Gemüse), Fachgebiete der Technischen Hochschule, Rechner „Odra“ aus den ELWRO Betrieb, Universitätsgebäude, Kunsthochschule, Pantomime-Theater, Oper, Kino, (Trillinge/Vierlinge) Parkanlagen, Pergola, Japanischer Garten. Siehe auch: PKF 19B/70 „25. Jubiläum der Befreiung Breslaus“, Feierlichkeiten im Olympischen Stadion (Enthusiasmus der Massen) und auf dem Friedhof der Sowjetischen Offiziere (Verantwortung der Jugend); PKF 46/74 „30 Jubiläum der Befreiung Breslaus“, Bilder des Kameramanns Suszczyński, staffelartige Übergang zu Bildern des polnischen Fotografen Adam Czelny (siehe: „Godzina z Wrocławiem“ (dt.: „Eine Stunde mit Breslau“), TVP Wrocław 1982, Schnitt von Ruinenfeldern mit Panzern und Artillerie zur wiederaufgebauten lebhaften Altstadt, junge Frauen mit Kinderwagen, junge Paare, Bildungsstätten, Ausstellungen, PantomimeTheater, usw. 2. Kapitel 80 gewidmet, die hier geboren und erzogen wurden, so dass sie die in Ruinen liegende Stadt nicht kennen können. Der Film soll an die Stadtgeschichte erinnern, als Breslau aufhörte ‚Festung Breslau’ zu sein und anfing polnisches ‚Wrocław’ zu werden.“133 Der Dokumentationsfilm inszeniert den Einstieg über die Bilder der deutschen Kapitulation und der Ankunft erster Repatrianten, um direkt auf die spazierende, Eis leckende Jugend in der wiederaufgebauten Altstadt zu blenden. Die Anknüpfung an die Stunde Null und den Wiederaufbau geschieht über Interviews mit den Pionieren an ausgesuchten Stellen der Stadt. In Folge hören wir Geschichten aus dem Wohnzimmer, an der Passbrücke (m. Zwierzyniecki), im PAFAWAG, an der Universität, dem Rathaus, der Oper und in der Wohnsiedlung KDM, die im Geist der 70er Jahre ganz der Etablierung des Heimgefühls stehen.134 Den Erinnerungsbildern der Stadtpioniere wird das heutige und zukünftige Breslau gegenüber gestellt.135 Den zukunftsgerichteten Worten des Architekten am KDM folgt eine Reihe an Interviews mit jungen Einwohnern Breslaus im Arbeitsalter, die, von einem Lehrer, über eine Künstlerin und einem Ingenieur bis hin zum Wissenschaftlichen Mitarbeiter der Universität, ihre Vision der sozialistischen Stadt schildern. Es ist ein Zeugnis der Nachkriegskinder mit Verbesserungsvorschlägen, das trotz der einen oder anderen Bemängelung der Gegenwart, mit den zukunftsgerichteten Worten des Ingenieurs abschließt: „Unser Enthusiasmus und Arbeitswille wird alle Probleme lösen.“ Den eingeschlagenen Pfad schreitet auch der zehn Jahre später produzierte Dokumentationsfilm „Eine Stunde mit Breslau“136 (1982) ab. Die Stadtdarstellung erfolgt hier in einer inhaltlichen und zeitlichen Zweiteilung, bei der zunächst eine „Begegnung mit der Geschichte und den Baudenkmälern“ und anschließend eine „Begegnung mit der zerstörten Stadt und der Aufbauleistung der Pioniere“ stattfindet. Der historische Teil glorifiziert die Taten des Piastengeschlechts anhand der Darstellung ihrer gotischen Architektur und endet in der mittelalterlichen Fleischerstraße (ul. Jatki), in der vom wirtschaftlichen Niedergang Breslaus und dem Verfall der Lebensqualität nach der Trennung von Polen gesprochen wird.137 Diese Entwicklung führt in der Halbzeit direkt über die NS-Wochenschau zur Festung Breslau in die Bilder des Rotarmisten Suszczyński. Die seit 1949 bekannte Überblendung erfährt durch die voran geschaltete historische Aufklärung bis 1945 eine neue Dimension, welche die Rechtmäßigkeit der „Wiedergewonnen Gebiete“ verstärkt zum Ausdruck bringt. Die Begegnung mit den ersten Nachkriegsjahren wird über „lebendige Zeugnisse“ in der Gestalt von Adam Czelny, Henryk Makarewicz, Andrzej Jochelson und Marcin Bukowski in Szene gesetzt.138 Es ist in erster Linie ein Loblieb an die Pionierleistung der neuen Stadteinwohner, die Erinnerung an die Helden von damals. 133 Aus dem Archiv der Fernsehanstalt TVP3 Wrocław: „Festung Breslau”, TVP Wrocław 1972 134 Eine ältere Frau umgeben von ihren Kindern und Enkeln im Wohnzimmer sitzend, bekundet in der Dokumentation „Festung Breslau” (1972): „Ich fühle mich als Einwohner dieses Hauses, dieses Hauses ‚Wrocław‘“. Vgl. mit den Publikationen und Radiosendungen aus den frühen 70er Jahren, wie beispielsweise „Związani z miastem“ (Die Stadtverbundenen“) 135 siehe auch weitere Beiträge aus dem Jahr 1972 zur Zukunftsvision der sozialistischen Stadt. In: „Wizerunek Wrocławia” (Stadtbild Breslaus), TVP Wrocław 1972; „Wrocław przyszłości” (Breslau der Zukunft), TVP Wrocław 1972 136 „Godzina z Wrocławiem”, TVP Wrocław 1982 137 Hier ist eine Ähnlichkeit, inhaltlicher und personeller Natur, mit der Fernsehserie „Die Steine sprechen polnisch“ (1980er Jahre) zu sehen. Zum einen werden die piastisch-antideutschen Inhalte transportiert, zum anderen tritt im Architekturmuseum vor dem Modell der Stadt aus dem 16. Jahrhundert der Historiker Ryszard Gładkiewicz wieder auf. 138 Adam Czelny - Kriegsfotograph an der Seite des gefallenen Rotarmisten Suszczyński: „In erster Linie war ich bestrebt alles zu Fotografieren was polnisch war und polnische Spuren bezeugte.“; Henryk Makarewicz - Mitarbeiter des ersten Stadtpräsidenten Dr. Bolesław Drobner; Andrzej Jochelson - Lokalhistoriker und Autor des ersten Stadtführers zu Breslau 1946; Marcin Bukowski Architekt des „regotisierenden“ Wiederaufbaus: „Die zerstörte Stadt war das beste Lehrbuch der Architekturgeschichte der Stadt.“ (Zitat von Marcin Bukowski aus der Radiosendung „Rozmowa o Architekturze”, 1980) 2. Kapitel 81 Für den Wandel der Zeit und seine Auswirkung auf die Stadtvermittlung nach dem Fall des Kommunismus stehen die von der Stadtverwaltung und dem Stadtpräsidenten in Auftrag gegebenen Filme „Breslau“ (1991) und „Breslau und Architektur“ (1998). Die Stadt repräsentiert sich 1991 über das wieder eingesetzte Stadtwappen von 1530. Damit bezieht sich die Stadt auf die kulturelle Vielschichtigkeit der Bürgerstadt, die im 20. Jahrhundert mit dem nationalen Banner, dem deutschen bis 1945 und dem polnischen bis 1990, zeitweilig untergraben wurde. Es ist eine vom nationalen Pathos befreite Stadtdarstellung, in der sowohl die altehrwürdigen Baudenkmäler, als auch die Kultureinrichtungen, sowie die deutsche Architektur der Neuzeit gerühmt werden (Abb. 2.38).139 An dieses Beispiel schließt konsequenterweise die Produktion „Breslau und Architektur“ (1998) an, die einer Stadtführung gleich rund 50 Bauwerke, Straßen- und Platzbilder behandelt. Der Spaziergang richtet sich nach der Entstehungszeit der Architektur und bildet die Vielfältigkeit der Stile und Formen der Stadtarchitektur ab. In dem medialen Architekturkaleidoskop befinden sich die Baudenkmäler des preußischen Breslaus in einer Überzahl (20x) zu dem Erbe der Volksrepublik Polen (4x) und der Architektur nach der Wende (1x), die lediglich in einem Architekturentwurf für den DominikanerPlatz (pl. Dominikański) ihren Ausdruck findet.140 Den aktuellsten Blick auf die Stadt liefern die ebenfalls von der Stadt in Auftrag gegebenen Werbefilme anlässlich der Bewerbung um internationale Großereignisse.141 Beide Kurzfilme versuchen von einer auf Tradition aufgebauten Lebendigkeit im hervorragend angeschlossenen und technologisch erschlossenen Zentrum Mitteleuropas zu zeugen. Beide schießen jedoch über ihr Ziel hinaus, in dem sie die Stadt bis zur Unkenntlichkeit im Filmfluss zerschneiden und in einer taktlosen Flüchtigkeit begraben. Fast schon beschämend wirkt der Werbebeitrag „Futurallia - Breslau 2006“, in der die Stadt als „Rocklaw“ im Munde ausländischer Touristen sexualisiert wird und anschließend in einen Bildersturm zwischen Firmenniederlassungen, Banken, Einkaufsmalls und dem historischen Ring förmlich aufgelöst wird (Abb. 2.39). Die Taktlosigkeit, Flüchtigkeit und Beliebigkeit der Bilder, die ebenfalls im Werbefilm zur Expo 2012 verwendet wurde mag eher nicht bei der Bewerbung der Stadt um die Expo 2012, die bekanntermaßen nach Südkorea ging, geholfen haben. --Die breit gestreute Betrachtung der Medialisierung der Stadt Breslau nach 1945 zeigt den Facettenreichtum der Stadtvermittlung und die Bedeutung der Medien bei der Stadtaneignung. Die Stadt wird mit Hilfe einer Fülle von unterschiedlichen Medien dargestellt. Die Bandbreite erstreckt sich von den visuellen und textbasierten Printmedien, über die Radiosendungen, die Filmdokumentationen und Fernsehsendungen. Innerhalb der Mediengruppen entwickeln sich mannigfaltige Formate, mittels derer die Stadt erschlossen und vermittelt wird. Die Erschließung des kulturellen Raumes folgt dem 139 Wrocław, TVP3 Wrocław 1991 (mit Maciej Łagiewski und Stanisław Lose); Bei der Führung durch die Architektur der Neuzeit vom Stanisław Lose heißt es: „Eines der bedeutendsten Bauwerke der Stadt [Kaufhaus Kameleon], gebaut von dem phänomenalen deutschen Architekten Erich Mendelsohn. [...] Max Berg entwarf das wunderschöne Bauwerk [Jahrhunderthalle], das ein Denkmal der früh konstruktivistischen Architektur darstellt.“. Siehe auch: Przewodnik po Wrocławiu (Führer durch Breslau - aus der Reihe „Sommer in Polen“), TVP3 Wrocław 1993 (mit Maciej Łagiewski vom Rathausturm aus) 140 Wrocław i Architektura, TVP3 Wrocław 1998. Siehe auch: Film o Wrocławiu (Film über Breslau), TVP3 Wrocław 1998 141 „Futurallia - Wrocław 2006“, Wrocław 2006; „Wrocław - EXPO 2012“, Wrocław 2007; beide zu sehen auf: www.youtube.com 2. Kapitel 82 Prinzip der Verortung des Gedächtnisses im Raum, bei dem eine „erinnerungskulturelle Topografie“142 aufgerissen wird. Im Fall der Stadt Breslau, einer fremden Stadt von 1945, erfährt der kulturelle Raum als Bedeutungsträger einer sozialen Gruppe eine neue Geschichtsschreibung nach 1945. Die mediale Konstruktion von „polnisch sprechenden Stadtbildern“, die Umdeutung der Konnotation des Stadtraums, täuscht bei den polnischen Neuansiedlern das Gefühl einer Kontinuität vor und fördert ihre Integration in der Fremde. Die Strategie der Retouchierung der deutschen Vergangenheit der Stadt scheint die Grundvoraussetzung für die Überwältigung des Fremdheitsgefühls gewesen zu sein. Die Wiederentdeckung der tabuisierten deutschen Geschichte nach der Wende der 90er Jahre füllt die dadurch entstandene Leere, die schließlich zum Hindernis bei der Identitätsbildung wurde.143 Nach der Entledigung der bisherigen Träger des kulturellen Gedächtnisses stellen im Falle Breslaus somit die Medien im Hinblick auf die Stadt als kulturellen Raum eine zentrale Rolle bei dessen Vermittlung dar. Die Betrachtung der Stadtmedialisierung Breslaus nach 1945 spiegelt den Prozess der Stadtaneignung und der lokalen Identitätsbildung wider. Die dabei verwendeten Schemata der Stadtvermittlung bilden kein medienspezifisches Phänomen, sondern können in den verschiedenen Medien und ihren Formaten beobachtet werden. Als Aneignungsstrategien des kulturellen Raumes sind sie zeitspezifisch und damit universal. Die Intermedialität der Inhalte und Formate lässt sich beispielsweise an der Assimilation des Wettbewerbs „Die Stadtverbundenen“ (Związani z miastem) von 1966, dessen Ergebnisse in Buchform 1970 veröffentlicht werden und woraus Mitte der 70er Jahre eine gleichnamige Radiosendung hervorgeht, erkennen. Einen umgekehrten Weg beschreitet die Buchveröffentlichung „Die Akte W“ (Akta W) von 2005 zur gleichnamige Fernsehsendung aus dem Jahr 2000 (Abb. 2.40). Der Aktualität und Attraktivität der Krimiromane von Marek Krajewski nach zu urteilen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Stadt Eberhard Mocks verfilmt wird. Die Aufzählung ließe sich um zahlreiche weitere Beispiele verlängern. Bei der Untersuchung der medialen Aneignung der Stadt nach 1945 sticht das Medium der Stadtführer, das bislang nur kurz angerissen worden ist, aus der Medienvielfalt besonders hervor. Der Stadtführer mag zwar als „Gebrauchsanweisung zur Wahrnehmung der Umwelt (gleich ob Einzelobjekt oder Ensemble, Stadt, Region oder Land), Einblicke in historische Prozesse und Zusammenhänge“ verwehren und somit hinsichtlich der Geschichtspräsentation Mängel aufweisen.144 Als Sehanleitung, die Sehenswürdigkeiten „markiert“ und dem Orientierungslosen unbekannte Landschaften in ein bekanntes Zeichensystem übersetzt, „erweisen sie sich […] bei der Erforschung zeitgenössischer Denkmuster, Wahrnehmungen und Identitäten als ergiebige und aussagekräftige Quellen.“145 Das Medium konstruiert Bilder einer Stadt und schafft gleichzeitig Deutungs- und Identitätsmodelle, in 142 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift Erinnerung, politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 59f.; vgl. auch Kapitel 1.1. 143 Vgl. Anm. 77, Kap. 2. (Marek Zawada) 144 Lauterbach, Burkhart: Berlin-Reiseführer heute. Zum Umgang mit Geschichte in einem touristischen Gebrauchsmedium, in: Erinnern und Vergessen, Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses, Göttingen 1989, hg. v. Brigitte Bönisch-Brednich, Göttingen 1991, S. 382 145 Schäfer, Benjamin: Die Präsentation von Erinnerungsorten im Reiseführer am Beispiel der Stadt Poznań (Posen), in: Erinnerungsorte, Mythen und Stereotypen in Europa, hg. v. Heidi Hein-Kirchner, Jarosław Suchoples und Hans Henning Hahn, Wrocław 2008, S. 28 2. Kapitel 83 dem es herrschende Vorstellungen bedient und aktuelle Trends in der Politik, Kultur und Wissenschaft berücksichtigt. Das Medium spielt für Breslau nach 1945 eine bemerkenswerte und gleichzeitig paradoxe Rolle. Als reisepraktische Informationsquelle für Fremde richtet es sich anfangs stark an die eigenen Stadtbewohner. Als eine Art mediale Krücke, hilft es den Neuansiedlern in der fremden Stadt Breslau ihre Stadt „Wrocław“ zu erkennen. Vor allem aus dieser Erkenntnis heraus ergibt sich die Bedeutung des Mediums bei der Erkundung der Medialisierung der Stadtarchitektur im erinnerungskulturellen Prozess der Stadtaneignung. Die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien, die Möglichkeiten der GPSNavigation und der Verknüpfung der ortspezifischen Informationen über neue Schnittstellen, lassen neue Dimensionen für das Medium erahnen. Die fortwährend steigende Mobilität der Menschen und der Drang nach Allgegenwärtigkeit der Information, die Dank technologischer Entwicklung erreichbar zu sein scheint, stellt gerade für das Medium Stadtführer eine neue Herausforderung dar. Es geht schlichtweg um die Frage, wie das Medium als Vermittlungsinstanz des kulturellen Raumes eine „Route der Erinnerung“146 konstruieren und vermitteln wird. Denn eins steht fest: das mediale Format des Reiseführers gewinnt mit der steigenden Mobilität und dem knapper werdenden Zeitkontingent der Reisenden weiter an Bedeutung.147 Für die folgende Untersuchung des Mediums wird eine Auswahl an Stadtführern nach 1945 vorgenommen, da es im vorgegebenen Rahmen unmöglich ist, sämtliche Stadtführer einzubeziehen (Abb. 2.41). Für die chronologische Betrachtung ihrer Gestaltung und Vermittlung werden 12 Stadtführer ausgewählt, die hinsichtlich der Erschließung der städtischen Umwelt fast ausschließlich zu den Vertretern der „linearen Erschließung in Routenführern“ gezählt werden.148 Die Auswahl betont zusätzlich das Interesse an der gestellten Frage nach der medial konstruierten und vermittelten „Route der Erinnerung“, die dem Medium zugesprochen wird. Sie ergibt sich aber auch aus der Erkenntnis, dass diese Art der Raumerschließung dem Massenmedium des Stadtführers am besten entspricht. Darüber hinaus werden Internetseiten untersucht, die als Vermittlungsinstanz eine Ähnlichkeit mit den gedruckten Stadtführern aufweisen, bzw. eine Verwandtschaft selbst vorgeben. Einer besondern Betrachtung wird dabei das Internetportal der Gesellschaft Wratislaviae Amici unterzogen, die in den letzten Jahren eine einzigartige Eigendynamik entwickelt hat und auf jeden Fall als ein wichtiges Medium der mentalen Raumaneignung mit den Neuen Medien gesehen werden muss. 146 Király, Edit: Edit: Die unsichtbare Metropole. Wien in ungarischen Reiseführern der Jahrhundertwende. Ein Problemaufriss, in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik, 2001, S. 93-109 147 148 Die steigenden Bedeutung des Mediums lässt sich unter anderem an der kontinuierlich steigenden Angebot ablesen. Wolfgang Isenberg stellt in seiner geographischen Dissertation drei verschiedene Typen der Erschließung der städtischen Umwelt vor: die „lineare Erschließung in Routenführern“, die „punktuelle regionale Darstellungen in alphabetischer Ortslexika“ und die „erlebnisbezogene Gebietsbeschreibung in Essaysammlungen“. In: Isenberg, Wolfgang: Geographie ohne Geographen. Laienwissenschaftliche Erkundungen, Interpretationen und Analysen der räumlichen Umwelt in Jugendarbeit, Erwachsenenwelt und Tourismus, Osnabrück 1987, S. 172-175 2. Kapitel 84 2.2. Analyse der Printstadtführer nach 1945 2.2.1. „Führer durch Breslau“ (1946) Der erste Nachkriegsstadtführer zu Breslau entstammt der Feder des Juristen Andrzej Jochelson, der als ein „Pionier“ der Nachkriegsstadt und leidenschaftlicher Lokalhistoriker bis in die 80er Jahre in Radio und Fernsehsendungen, in denen es um die Stadtaneignung geht, zu hören und sehen ist. Sein im staatlichen Verlag „Przełom“ 1946 veröffentlichter Stadtführer verkörpert den ersten Versuch, dem „fremden Raum“, um in Worten von Gregor Thum zu bleiben, seine Fremdheit zu nehmen.149 Es ist anzunehmen, dass die Veröffentlichung sich in erster Linie an die polnischen Neuansiedler, deren Zahl bis Ende des Jahres 1946 auf 185.000 stieg, richtete. Denn von einem klassischen Tourismus in der unmittelbaren Nachkriegsstadt kann nicht die Rede sein. Angesichts der marginalen Anzahl der bis 1948 verbliebenen Autochthonen und der extrem hohen Fluktuationszahlen bei den polnischen Neuansiedlern, kann die unmittelbare polnischsprachige Nachkriegsbevölkerung im übertragenen Sinne selbst als eine Touristenschar aufgefasst werden, die von den staatlichen Medien zum Sesshaftwerden im „Hotel Breslau“ angeregt werden sollte.150 Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Der „Führer durch Breslau“151 (1946) gliedert sich in drei Teile, dem „Kurzen Aufriss der Stadtgeschichte“ (S. 3-16) mit der „Geographische Lage der Stadt“ (S. 17-18), dem „Führer durch Breslau“ (S. 19-39) und dem „Praktischen Teil“ (S. 39-41) mit einem Straßen- und Stadtviertelverzeichnis (S. 43-59) sowie einem abschließenden Inhaltsverzeichnis (S. 60). Die Einleitung beschwört die seit dem Beginn der Siedlungsgeschichte nachweisbare Zugehörigkeit der Stadt zu Polen. Hier wird die Rechtmäßigkeit der „Wiedergewonnen Gebiete“ und das ideologische Fundament der Volksrepublik Polen, der „Westgedanke“, einleitend postuliert. Die daran anschließende „Führung durch Breslau“ beinhaltet einen historischen Stadtrundgang und einen an ihn anschließenden praktischen Anhang. Es ist auffallend, dass von den 60 Seiten des Stadtführers 18 Seiten für die historisch-geographische Einleitung, 19 Seiten für die eigentliche Führung und 21 Seiten für die praktischen Alltagshinweise beansprucht werden. Der stark ausfallende praktische Anhang, in dem wiederum 15 Seiten das Straßennamenverzeichnis mit „ehemaligen“ deutschen und „derzeitigen“ polnischen Bezeichnungen in Anspruch nimmt, widmet sich offensichtlich den ersten Orientierungsnöten der neuen Einwohner der Stadt. 149 Im gleichen Jahr erscheint im Rahmen der „Polnischen Kulturtage in den Westgebieten“ (8.-11. Juni 1946) ebenfalls der Stadtführer von Gostomska, Zofia (Hg.): Przewodnik po Wrocławiu, Wrocław 1946; aus dem Inhalt: „Rys historyczny” (historische Skizze) (S.5-14), „Rzut oka na Wrocław dzisiejszy” (Ein Blick auf heutiges Breslau) (S.14-17), „Wykaz urzedów i instytucji publicznych m. Wrocławia” (Verzeichnis der Ämter und öffentlicher Institutionen der Stadt Breslau) (S.19-29); A6-Format, rund 30 Seiten 150 Unter Berücksichtigung der multikulturellen Einflüsse, die Breslau im Laufe seiner Existenz durchschritt, wird die Stadt 1996 metaphorisch als „Hotel Breslau“ bezeichnet. Vgl. Anm. 36, Kap. 2. (Juliusz Słowacki) 151 Jochelson, Andrzej: Przewodnik po Wrocławiu, Kraków 1946 2. Kapitel 85 Als Übergang zum praktischen Teil platziert der Autor auf einer Seite eine Zusammenfassung der wichtigsten Baudenkmäler und der „heute zugänglichen“ Kunstwerke der Stadt.152 Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der erste Stadtführer macht den Auftakt mit einem hervorstechenden farbigen Bildumschlag, auf dem pathetisch die Rückkehr der Stadt zu Polen symbolisiert wird. Das Titelblatt des im A5 Format herausgegebenen 60-seitigen Heftes wird von einer geneigten polnischen Nationalfahne dominiert, auf der das neue, noch unausgegorene, Stadtwappen der Stadt waagerecht aufgesetzt ist (Abb. 2.42). Das Innenleben des Mediums gestaltet sich mit ausgedehnten Textpassagen ohne stilistische Hervorhebungen und ohne Bildunterstützung weit monotoner und spartanischer (Abb. 2.43). Neben dem ausdruckstarken Titelblatt ist die dem Heft angehängte Stadtkarte bemerkenswert. Es handelt sich hierbei um den ersten Nachkriegsstadtplan Breslaus, der wahrscheinlich aus Zeit- und Materialmangel den ihm zugrunde liegenden deutschen Pharus-Plan Breslau von 1938 hindurchscheinen lässt. Die grafische Überarbeitung des deutschen Originals zeigt die Schwierigkeiten bei der Darstellung der anfangs „fremden Stadt“. Vor uns erstreckt sich ein Stadtplan mit namenlosen Straßen, ausradierten Stadtvierteln und miniaturisierten Sehenswürdigkeiten, von denen der deutsche Stadtplan fälschlicherweise nicht bereinigt worden ist.153 Die Karte liefert eindrucksvoll die schwierige Momentaufnahme der Stadt an der Schwelle zwischen einer deutschen und polnischen Stadt (Abb. 2.44). Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) In seinem Führer nimmt Andrzej Jochelson den Leser auf einen historischen Spaziergang mit, in dem er den „Führer so gestaltet, dass die Baudenkmäler in der Reihenfolge aufgelistet sind, wie sie während des vorgeschlagenen Weges aufkommen.“154 Die Führung beginnt am Hauptbahnhof im Süden der Stadt, geht die Schweidnitzer Strasse (ul. Świdnicka) zum Ring herauf. Von dort macht sie einen Schlenker über das ehemalige Wallonenviertel in der Gegend um die Klosterstrasse (ul. Traugutta), die Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki), die Dom- und Sandinsel, über die ehemalige Neustadt zurück zur St. Elisabeth Kirche (koś. św. Elżbiety), um durch die westliche Altstadt zum Endpunkt am Schlossplatz (pl. Wolności) zu gelangen. Dem Autor gelingt hierbei nicht, eine nachvollziehbare Route zu vermitteln. Vergebens scheint auch die Suche nach der Orientierung im Stadtplan, bei dem keine Route eingezeichnet, geschweige denn, die erwähnten Baudenkmäler markiert sind. Spätestens bei der Wiederankunft an der St. Elisabeth Kirche verliert der Leser den eingeschlagenen Pfad und irrt von einem Objekt zum anderen. Charakteristisch für die Vermittlung des kulturellen Raumes steht bei Andrzej Jochelson die subjektive, stark wertende und partielle Schilderungsweise, bei der das Augenmerk krampfhaft darauf gerichtet ist, Zeugnisse der polnischen Vergangenheit ans Licht zu holen. Der ausgebildete Jurist schreckt keineswegs davor zurück, als selbsternannter Kunstkritiker die genuin deutsche Architektur niederzureißen. Zu dem immerhin erwähnten Kaiser-Wilhelm-I.-Denkmal, heißt es: „[...] der Sockel eines nachdeutschen („poniemiecki“) Monumentaldenkmals, [...], das jedoch mit sehr unästhetischen Verzierungen, 152 Die zehn Kunstwerke werden nach den Kunststilen unterteilt. Auf sieben Vertreter der Romanik und Gotik entfällt ein Vertreter der Renaissance und zwei Zeugnisse aus dem Barock. 153 So sehen wir im Stadtplan Denkmäler, die der folgenden Entdeutschungsaktion zum Opfer gefallen sind, wie zum Beispiel: das Bismarckdenkmal, das Kaiser-Wilhelm-I.-Denkmal und das Denkmal für die Gefallenen von 1914-1918. 154 Ebd.: S. 19 2. Kapitel 86 hässlichen Jungfrauenstatuen und unproportionalen Adlern verunstaltet ist.“155 Der Autor fährt weiter fort: „Gegenüber dem schönen, so polnischen im Geist und Stein, Gotteshaus (Corpus Christi Kirche/koś. Bożego Ciała), liegen zwei neuzeitliche Gebäude aus den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts: die frühere Kommandantur im Stil einer falschen italienischen Renaissance, heute ausgebrannt, und Stadttheater, imposanter und im Inneren gemütlicher Bau, jedoch unproportional in seiner Masse und im äußeren Erscheinungsbild.“156 Gemeint sind hier Bauten von so namhaften Architekten wie Carl Ferdinand Langhans. Die ausdruckstarke Sprache macht bei der gotischen Architektur eine Kehrtwende und bildet einen Gegenpol, wenn es poetisch heißt: „Die Schweidnitzer Strasse (ul. Świdnicka) mündet in den Ring und eröffnet vor uns einen wunderschönen Ausblick: Ein Kleinod aus dem saubersten Wasser der gotischen Architektur, das Breslauer Rathaus, [...].“157 Bei der Schilderung der gotischen Kirchenbauten wird das „Krakauer Dreiecksgewölbe“ (krakowskie potrójne sklepienie) als Indiz für die polnische Zugehörigkeit des Bauwerks gedeutet.158 Auffallend ist auch die In- und Exklusion von Architektur, wenn es darum geht, eine polnische Stadt vor dem Besucher auferstehen zu lassen. Hierzu wird in der Gegend der mittelalterlichen Neustadt ein surrealistisches Stadtbild suggeriert, bei dem existierende Bauwerke, wie die imposante Markthalle von 1908, zu Gunsten einer rhetorischen Rekonstruktion zerstörter polnischer Architektur verschwiegen werden. Anhand der Schilderung wird ein ideologischer Kampf zwischen den Polen und Deutschen heraufbeschworen, der sich in der rekonstruierten Architektur vor dem Besucher entfaltet und in einen Akt deutschverschuldeter städtebaulicher Barbarei endet.159 Zudem wird nicht versäumt, die kurzfristigen Aufenthaltsorte von Polen in der Stadt auf ihren Durchreisen im 19. Jahrhundert zu dokumentieren, um eine Kontinuität der polnischen Geschichte bis ins 20. Jahrhundert nachzuweisen. Auf diese Weise werden Baudenkmäler kreiert, die sich sonst schwer den Platz in einem Stadtführer sichern könnten, wie das in der Schweidnitzer-Vorstadt vorgestellte ausgebrannte Haus unter der Nummer 3d, „in dem fünf Wochen lang Juliusz Słowacki (1849) lebte“.160 Andrzej Jochelson leistet den ersten Versuch, die Stadt mit einer polnischen Brille zu sehen. Seine Führung beginnt pragmatisch am Ankunftsort Hauptbahnhof und konzentriert sich vorrangig auf die Altstadt innerhalb des Stadtgrabens sowie der Dom- und Sandinsel. Im Vorbeigehen wird 155 Ebd.: S. 20f., vgl. Anm. 145, Kap. 1. 156 Sowohl die „so polnische im Geist und Stein“ Corpus Christi Kirche (koś. Bożego Ciała), als auch die Bemerkungen zur Oper führt 1948 Stanislaw Sevatt in seinen stark an Andrzej Jochelson angelehnten Stadtführer weiter fort. In: Sevatt, Stanisław: Przewodnik po zabytkach Wrocławia, Wrocław 1948, S. 21 157 Jochelson, Andrzej: Przewodnik po Wrocławiu, Kraków 1946, S. 23f. 158 Ebd.: Das „Krakauer Dreiecksgewölbe“ (krakowskie potrójne sklepienie) wird in der Heilig-Kreuz-Kirche (koś. św. Krzyża) (S. 31) und der Marienkirche a. d. Sandinsel (koś. NMP na Piasku) (S. 33) lokalisiert. Bei der St. Elisabeth Kirche (koś. św. Elżbiety) heißt es zum gleichen Thema: „Unter architektonischen Gesichtspunkten besitzt diese mit ihrer Größe imponierende Kirche keine erwähnenswerten Elemente. [...] Das Krakauer Dreiecksgewölbe besitzt sie nicht, von all der polnischen Architektursprache blieb hier als Überbleibsel das flache Profil ihrer Pfeiler.“ (S. 36). Weitere Indizien des Polentums stellen die spitzen gotischen Gesimse dar. Hierzu heißt es bei der Corpus Christi Kirche (koś. Bożego Ciała) lakonisch „vom Polentum des Baudenkmals zeugend“ (S. 20) und zu der St. Adalbert Kirche (koś. św. Wojciecha): „Hier steht die Ruine eines der bedeutendsten gotischen Gotteshäuser Breslaus, die St. Adalbert Kirche, [...]. Von der italienischen Baukunst hat man hier die Gesimsverzierung entliehen, übrigens identisch wie in Krakau. Es weist darauf hin, dass hier ein Transfer aus Krakau stattgefunden hat.“ (S. 35) 159 Zu der Polnischen Strasse (ul. Polska) heißt es „[...] so genannt seit dem 14. Jahrhundert bis 1827, als man sie in Basteigasse umbenannte. Es war eine nur von Polen bewohnte Strasse. Ihre wunderschönen Renaissance-Häuser hat man im 19. Jhd. zerstört, um sie durch schreckliche Mietskasernen und Industriebauten zu ersetzten.“ Ebd.: S. 34 160 Zu der Eckhausruine in der Junkerstrasse Nr.27/29 heißt es drei Seiten weiter: „Hier ‚Unter der goldenen Gans‘ aßen zu Mittag und zum Abendessen Fryderyk Chopin und Juliusz Słowacki, wahrscheinlich auch Stanislaw Staszic und Adam Mickiewicz.“ Ebd.: S. 20 2. Kapitel 87 notgedrungen auch das Gründerzeitviertel der Südstadt, das „als ein einziger riesiger Friedhof mit eine Fläche von 16 km² Ruinen, einen einzigartigen Blick“ bietet, vorgestellt und ein Ausblick in die Gegend der mittelalterlichen Wallonensiedlung in der Gegend der Klosterstrasse (ul. Traugutta) gewährt. Beim „Aufzeigen des kürzesten Besichtigungsweges der bedeutendsten Baudenkmäler der Stadt“ wird der Weg stark verkürzt, bei dem neben Rathaus und den Bürgerhäusern des unzerstörten Westrings vorwiegend gotische Kirchenbauten als Flagschiffe der Stadt aufgelistet werden.161 Wenn der Stadtführer aus heutiger Perspektive als unbeholfen und unprofessionell erscheinen mag, so zeigt er um so mehr wie schwierig es in den ersten Jahren gewesen sein muss, einen Fachkundigen für diese Aufgabe zu gewinnen. Die Schwierigkeit bestand auch darin, dass man sich an den deutschen Vorgängern zumindest inhaltlich nicht orientieren konnte. 2.2.2. „Breslau, Brieg, Trebnitz, Zobten“ (1948) Ein verstärktes Aufkommen an Stadtführern ist in Verbindung mit der großen Propagandaausstellung der „Wiedergewonnen Gebiete“ 1948 (WZO) zu beobachten. Bereits die gezählten zwei Millionen Besucher lassen einen großen Bedarf an einem Medium der Stadtvermittlung erahnen, der nicht alleine von dem im Ausstellungskatalog eingebundenen kurzen Stadtführer gedeckt werden konnte.162 Im Unterschied zum ersten Stadtführer dürften die Stadtführer von 1948 deshalb an die auswärtigen Besucher der Stadt gerichtet gewesen sein. Auch das Werk von Andrzej Jochelson findet eine Fortführung im „Stadtführer durch die Baudenkmäler“163 von Stanisław Sevatt, in dem an der Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) eine Unterbrechung der historischen Route für eine Besichtigung der Ausstellung angeboten wird. In die Reihe der Stadtführer anlässlich der WZO 1948 ist „Breslau, Brieg, Trebnitz, Zobten“164 von Józef Sykulski einzugliedern, der von der Touristikabteilung des Ministeriums für Kommunikation in einer Auflage von 20.000 Exemplaren vor der Ausstellungseröffnung herausgegeben wurde. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) In Anlehnung an die Ausstellung behandelt der Stadtführer neben Breslau auch andere Städte der Region, wobei die ersten 43 von 64 Seiten der schlesischen Hauptstadt vorbehalten werden. In umgekehrter Reihenfolge zum ersten Stadtführer beginnt dieser mit den praktischen Hinweisen zum öffentlichen Verkehrssystem, den touristischen Informationszentren und Herbergen (S. 3-7), gefolgt von der Darstellung des „Heutigen Breslaus“ und „Von der Vergangenheit Breslaus“ (S. 7-21). Fast 161 Rathaus, St. Elisabeth Kirche, St. Maria Magdalena Kirche, St. Matthias Kirche, Ursulinenkirche,, St. Vinzenz Kirche, Marienkirche a. d. Sandinsel, Heilig-Kreuz-Kirche, Dom. Ebd.: S. 42 162 WZO (Hg.): Wystawa Ziem Odzyskanych, Łódź 1948; sowie ein kurzer Ausstellungsführer: WZO (Hg.): Wystawa Ziem Odzyskanych. Wrocław VII-IX. Krótki przewodnik, Łódź 1948; des Weiteren auf Englisch und Französisch: Instytut Śląski (Hg.): Lower Silesia and the City of Wrocław, Wrocław 1948 163 Sevatt, Stanisław: Przewodnik po zabytkach Wrocławia, Wrocław 1948; Der Führer listet in der Bibliographie Andrzej Jochelsons Werk an erster Stelle, vor den deutschen Autoren, die anscheinend doch zu Rat gezogen wurden. Aus dem Inhalt: „Wrocław po wojnie“ (Breslau nach Dem Krieg) (S. 1-3), „Pare słów o przeszłości Wrocławia“ (Ein Paar Wörter über die Vergangenheit Breslaus) (S. 3-5), „Przewodnik po zabytkach Wrocławia“ (Führer durch die Baudenkmäler Breslaus) (S. 5-22), „Informator miasta Wrocławia“ (Praktische Informationen) (S. 23-76) und ein Schwarzweiß-Stadtplan 164 Sykulski, Józef: Wrocław, Brzeg, Trzebnica, Sobótka, Wrocław 1948 2. Kapitel 88 schon programmatisch formuliert der Stadtführer die Überleitung von der heutigen zur gestrigen Stadt, wenn es heißt: „Derjenige der Breslau im Mai 1945 gesehen hat und die Stadt heute sieht, der kann mit Stolz von seinen Landsleuten sagen: Wir sind ein sehr lebhaftes Volk, wir können mit schwierigen Situationen umgehen, und dass ‚was uns fremde Macht genommen hat‘ (Zitat aus der polnische Nationalhymne) führen wir zu solchem Glanz, dass die Stadt nicht nur von uns (Einwohnern), sondern auch von Fremden (Besucher) bewundert wird. Bevor wir die Führung durch diese zerstörte Stadt bekommen, sollten wir uns seiner Vergangenheit widmen. Vor allem den Fragmenten, die vom Polentum der Stadt zeugen. Denn ‚Breslau - das ist unsere Stadt‘ [...].“165 An dieser Stelle taucht der Geist des Sozialistischen Realismus auf, der vom Stolz und Zuversicht nur so strotzt. Dieser paart sich mit der offensichtlichen Kundgebung einer neuen Geschichtsschreibung, bei der einem Puzzle gleich die Stadt aus polnischen Fragmenten wieder auferstehen soll. An die historische Schilderung schließt anschließend das Kapitel „Wir besichtigen die Stadt und deren Denkmäler“ an. Die hier dargebotene Führung unterscheidet zwischen einem alten, auf die Altstadt begrenzten Breslau (S. 21-38), und einem außerhalb dessen liegenden neuen Breslau (S. 38-42). Józef Sykulski versäumt es ebenfalls nicht, eine Zusammenfassung der wichtigsten Sehenswürdigkeiten auf einer Seite anzubieten, die diesmal als Auftakt des Führers auf der zweiten Seite platziert wird. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Den 64-seitigen Stadtführer im Taschenformat (A6) schmückt ein Titelblatt, in dessen oberer Hälfte ein ungewöhnliches Schwarzweißbild über einer weißen Aufschrift „Wrocław“ (groß), Brzeg, Trzebnica, Sobótka (klein) auf schwarzen Hintergrund steht. Unerklärlicherweise wird für das Titelbild ein ungewöhnliches Motiv mit dem Opernhaus und der im Hintergrund schlummernden St. Dorothea Kirche (koś. Św. Doroty) mit davor fahrenden Lastwagen gewählt (Abb. 2.45). Scheinbar ein unspannendes Titelblattmotiv, das aus einer beliebigen Großstadt stammen könnte.166 Diese Bildsprache setzt sich im Inneren durchgehend fort. Die 18 Schwarzweißbilder zu Breslau werden ohne einen Zusammenhang zum Textfluss angebracht. Sie werden größtenteils durch die Bildunterschriften erschlossen. Im Text werden die als „unbedingt zu sehen“ deklarierten Denkmäler durch stärkere Lettern (bold) hervorgehoben (Abb. 2.46). In der Hälfte des Heftes wird ein Stadtplan mit einer kurzen Legende zu den im Plan hervorgehobenen und nummerierten Sehenswürdigkeiten angebracht. Der Planausschnitt richtet sich eindeutig an die bevorstehende Ausstellung WZO 1948. Sein Ausschnitt reicht von der Altstadt bis weit nach Osten zum Ausstellungsgelände (Abb. 2.47). Zur weiteren Kuriosität zählt die Platzierung des 1948 abgesetzten alten Stadtwappens aus dem Jahr 1530 am rechten unteren Rand. Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Józef Sykulski konzipiert den Rundgang anfangs, wie bereits Andrzej Jochelson, ab dem Hauptbahnhof im Süden, die Schweidnitzer Straße (ul. Świdnicka) herauf zum Ring, wo der Leser bereits zu Beginn den eingeschlagenen Pfad verliert. Auch hier liefert der Blick in den Stadtplan keine Hilfe, denn er beinhaltet keine Wegführung. Der Weg setzt sich unklar entlang der ehemaligen Bernsteinstraße am Dominikaner- (pl. Dominikański) und dem Ritterplatz (pl. Nankiera) auf die Sand- und Dominsel 165 Ebd.: S. 11; Es mag ein Zufall sein, dass das hier zitierte Motto „Breslau - das ist unsere Stadt“, ein paar Monate später als „Breslau deine Stadt“ zum offiziellen Motto der Ausstellung der „Wiedergewonnen Gebiete“ (1948) avancierte. 166 Die Wahl überrascht um so mehr, da das Motiv als „schweres und architektonisch unproportionales“ Bauwerk regelrecht denunziert wird (in: Andrzej Jochelson, 1946; und in: Stanisław Sevatt, 1948). Des Weiteren überrascht die Beliebigkeit des Motivs, das nur Dank der darunter angebrachten Bildunterschrift sofort der Stadt Breslau zugeordnet werden kann. 2. Kapitel 89 fort, von wo aus Sprünge zum Universitätsgebäude an der Oder gemacht werden. In einer eleganten Wendung, um einen „falschen Eindruck von Breslau“ bei einer einseitigen Betrachtung des Alten zu vermeiden, bricht der Stadtführer „zu den neueren Stadtteilen und an die mit Leben und Arbeit sprudelnde Oder“ auf.167 Spätestens hier entsteht eine vollständige Orientierungslosigkeit. In einem Rundumschlag werden auf vier Seiten zusammenhanglos Stadtviertel, Parkanlagen, Bauwerke und Industriebetriebe, in allen Himmelsrichtungen der Stadt durcheinandergeworfen, so dass an Stelle eines zusammenhängenden Stadtbildes ein Gefühl von fallengelassenen Puzzlesteinen geweckt wird. Inhaltlich verlässt der Stadtführer keineswegs den Bann des „Westgedankens“. Es wird keine Anstrengung gescheut eine Verbindung zwischen der Architektur und einer polnischen Vergangenheit zu schlagen, wenn auch von einer abwertenden Kritik an der genuin deutschen Bausubstanz Abstand genommen wird. Das Rathaus wird als „wunderschönes gotisches Bauwerk“ vorgestellt, „zu dem Juliusz Słowacki sagte: ‚Wunderschön! [...] man muss sich ihm genauer zuwenden, [...].‘“168 Das frappierende an dem Stadtwahrzeichen, das für den Machtverlust der piastischen Herzöge zugunsten des deutschen Patriziertums steht, umgeht Józef Sykulski geschickt durch die neutralen Worte des polnischen Poeten und die pedantische Aufzählung von dem im Bauwerk versteckten Wappen mit Bezügen zu Polen und Schlesien. Den selben Kunstgriff wendet der Autor erneut bei der Hala Ludowa (Jahrhunderthalle, 1913) an, in dem er lediglich das Baujahr nennt, um ausführlich von den in der Vorhalle frisch angebrachten polnischen, in der Haupthalle schlesischen Stadtwappen zu berichten, die im Kuppelzenit vom piastischen Wappen der Stadt gekrönt sind. Diese stillschweigende Vereinnahmung von ausgewählten Monumentalbauwerken, der sonst gern ausgeblendeten Stadtgeschichte, ist an dieser Stelle besonders auffallend. Als weiteres Charakteristikum wiederholt sich bei Józef Sykulski die Instrumentalisierung von Persönlichkeiten und sozialen Gruppen sowie die Polarisierung des kulturellen Raumes. Tritt bei Andrzej Jochelson der Bernhardinerorden und ihr Kloster (heute Sitz des Architekturmuseums) als polophil hervor, so wird bei Józef Sykulski der Dominikanerorden und die St. Adalbert Kirche (koś. św. Wojciecha) als eine Bastion des polnischen Kampfes gegen das Deutsche ausgewiesen.169 Auf der Bühne der Helden gegen das Deutsche etabliert sich ebenfalls der Bischof Nankier, dessen Namen der ehemalige Ritterplatz bis heute trägt. Dicht gefolgt von dem zum „Märtyrer“ aufgestiegenen Stifter der Heilig Kreuz Kirche (koś. Św. Krzyża), Herzog Heinrich IV., dessen Sarkophag dank des deutschen Rassenwahns im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs seiner Gebeine beraubt worden ist. Um den Kreis vom Klerus, über den Adel zu den Kunstschaffenden zu schließen, wird während der Besichtigung Jan Jerzy Urbański, ein Bildhauer des Barocks, zum wichtigsten Künstler der Stadt gekürt. Die besondere Rolle der Kirche für die Annexion des kulturellen Raumes spiegelt sich neben dem heroischen Klerus in der Gestalt der geistlichen Ordensgemeinschaften und des Bischofs Nankier, in der Hervorhebung von sonst unscheinbaren Kirchen und Kapellen, in denen polnische Messen nachweisbar sind, wider.170 Es wundert ein wenig, dass der Stadtführer auf die von Andrzej Jochelson aufgezeigten Indizien des Urpolnischen in Form des „Krakauer Dreiecksgewölbes“ nicht zurückgereift. Auch fehlen die vom 167 Ebd.: S. 38 168 Ebd.: S. 25 169 Vgl.: Andrzej Jochelson, 1946, S. 34 mit Józef Sykulski, 1948, S. 29 170 Vgl.: Andrzej Jochelson, 1946, S. 35 (St. Josef Kirche/koś. św. Józefa) mit Józef Sykulski, 1948, S. 28 (St. Christophori Kirche/koś. św. Krzysztofa) und Stanisław Sevatt, 1948, S. 20 (St. Josef Kirche/koś. św. Józefa und St. Christophori Kirche/koś. św. Krzysztofa) 2. Kapitel 90 Vorgänger lokalisierten Aufenthaltsorte der Polen, die von einer polnischen Kontinuität im schwierigen 19. Jahrhundert zeugen sollen. Die stattfindende Erweiterung des Betrachtungsfeldes über den Stadtgraben, die Sand- und Dominsel mit ihren historisch relevanten Baudenkmälern hinweg, entspricht ganz der Zeit. Das Jahr 1948 markiert zum einen den Beginn des Sozialistischen Realismus in Polen, zum anderen steht das Jahr für die große Schau der Wiederaufbauleistung in den „Wiedergewonnen Gebieten“, als deren geheime Hauptstadt Breslau gilt. Beide Ereignisse rücken die Industrie und ihre Produktionsleistung ins Zentrum der Betrachtungsweise. Insofern folgt der Stadtführer der vorgegebenen Linie, in dem er den Vorzeigebetrieben der Stadt huldigt. In einem Zuge wird die Arbeiterschaft und die PAFAWAG (ehemals Linke-Hofmann AG) in den Rang des Stolzes von ganz Polen erhoben (Abb. 2.48).171 Neben der Industrie mit ihrer gern präsentierten Produktionsleistung halten die Erholungsgebiete und die „Grünen-Vorstädte“ Einzug in die Sicht der Stadt. Die Führung durch die „neuen Stadtteile“ zeigt paradoxerweise nur deutsches Erbe, dass wiederum stillschweigend assimiliert wird. Eine Ausnahme bildet der im Süden der Stadt errichtete Friedhof der Sowjetischen Offiziere. Der Stadtführer versucht, in einer Stadt ohne eigene Tote mit Hilfe des sowjetischen Friedhofs und des Grabes des Sozialisten Ferdinand Lassalle auf dem Jüdischen Friedhof einen ersten Schritt in die Richtung eines eigenen Totenkultes zu machen.172 Es ist für den Stadtführer bezeichnend, dass er in der halbseitigen Zusammenfassung der wichtigsten Sehenswürdigkeiten die aus heutiger Sicht völlig belanglose Besichtigung der Ausstellung der niederschlesischen Produktionsschablonen und der staatlichen Waggonfabrik gleich mit dem 1000jährigen Dom stellt. 2.2.3. „Vier Spaziergänge durch Breslau“ (1952) Der Stadtführer „Vier Spaziergänge durch Breslau“173 aus der Reihe „Populäre Bibliothek der Heimatkunde“ (PBK) der 1950 gegründeten Polnischen Gesellschaft für Touristik und Heimatkunde (PTTK) vervollständigt das breite Angebot an illustrierten Stadtführern zu den polnischen Städten. In einer Auflage von 15.100 Stück, dem Charakter der staatlichen Organisation des Touristiksektors und seinem Aufbau nach zu urteilen, richtet sich dieser in erster Linie an die auswärtigen Besucher der Stadt. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Die Publikation steigt über eine kurze Bedienungsanleitung direkt in die Führung entlang der im Titel erwähnten Besichtigungswege ein (S. 3-53) und bietet zum Schluss zwei allgemein gehaltene Ausflüge in die südlichen Vororte der Stadt (S. 53-55). Dabei zeigt die vierte Route ähnlich dem Stadtführer von 1948 eine Überleitung vom Ausstellungsgelände der WZO 1948 zu den neuen Vororten der Stadt im Süden. Den Abschluss bildet das Inhaltsverzeichnis (S. 56). 171 „Das größte Industriewerk Breslaus ist die staatliche Wagonfabrik (PAFAWAG). [...] Diese Fabrik ist nicht nur Breslaus Stolz, sondern der Stolz ganz Polens. Sie stand, fast schon wörtlich genommen, durch den charakteristischen polnischen Fleiß und Tatendrang aus den Ruinen wieder auf.“ Ebd.: S. 42 172 „Ungefähr in der Mitte des Wohnviertels Krietern (Krzyki) befindet sich ein Friedhof, auf dem der sozialistische Theoretiker Ferdinand Lassalle, geboren in Breslau 11.04.1825, gestorben am 31.08.1864, begraben liegt. Das Grab wurde von den Teilnehmern des XXVII Kongresses von PPS (Polnische Sozialistische Partei) erneuert.“ Ebd.: S. 40 173 Łomnicki, J.; Morelowski, M.; Walczak, W.: Wrocław. Cztery przechadzki po mieście, Warszawa 1952 2. Kapitel 91 Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Das Titelblatt des 56-seitigen Stadtführers im Taschenformat (A5) trägt eine aussagekräftige Stadtbildkollage. Auf dem grünen Karton des Umschlages sticht das in weiß abgebildete Symbol der Ausstellung WZO 1948, die stählerne Nadel (Iglica) mit drei durchlaufenden Stahlbogen, vor dem in dunklen Brauntönen gehaltenen, altehrwürdigen gotischen Rathaus hervor. Mittig im Vordergrund ist die schwarze Aufschrift „Wrocław“ positioniert. Die stilistische Hervorhebung der strahlenden Iglica vor der abgedunkelten Vergangenheit der Stadt stilisiert eindrucksvoll, neben der Konstruktion neuer Stadtsymbolik, die Verbindung einer glanzvollen sowie aufwärtsgerichteten Gegenwart vor dem im Hintergrund wiederaufgebauten historischen Baudenkmal (Abb. 2.49). Der Stadtführer stellt seinen vier Routen jeweils eine textliche Zusammenfassung der beschrittenen Straßen und Plätze sowie einen abstrakten Stadtplan voran. Die vier beigefügten Pläne bilden ein aus dem Stadtgefüge herausgelöstes Besichtigungsgerüst des jeweiligen Weges ab und tragen eine numerische Aufführung der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Strecke. Die aufgeführten Nummern lassen sich wiederum am Textrand an der Stelle auffinden, wo das entsprechende Objekt vorgestellt wird. Die jeweilige nummerierte Sehenswürdigkeit wird durch einen kursiven Schrifttyp zusätzlich im sonst einheitlich gehaltenen Textfluss hervorgehoben. Den touristischen Ausflügen in die Stadt werden sieben Schwarzweißbilder beigefügt, die in Bezug zu dem Text stehen und jeweils eine kurze Bildunterschrift aufweisen. Des Weiteren werden inhaltliche Verknüpfungen mit Verweisen auf die Objektnummer innerhalb der Führung geboten.174 Durch eine Aufteilung der Stadtführung sowohl in klar definierte und visuell dargestellte Besichtigungswege, als auch die numerische Markierung der behandelten Sehenswürdigkeiten im Plan und im Text, wird den Touristen ein hilfreiches Instrument bei der Stadtaneignung in die Hand gelegt (Abb. 2.50). Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Führer umgeht die trockene historische Einleitung geschickt, in dem er den Leser direkt mit auf die Stadttour nimmt, die mit der Ankunft am Hauptbahnhof eingeleitet wird. Zu Beginn der ersten Route fügt der Autor auf dem Hauptbahnhofsplatz rhetorisch eine Rückblende in das Jahr 1945 ein, auf die das mit „stolz erfüllende Heute“ folgt.175 Einen historischen Rundumschlag präsentiert der Stadtführer wenige Schritte weiter bei der Ankunft an der Kreuzung der Schweidnitzer Straße (ul. Świdnicka) mit dem Stadtgraben. In einer inszenierten Vorortvermittlung wird vor den Augen der Besucher am mittelalterlichen Südeingang die Stadtgeschichte von ihrer Bedeutung als „eines der wichtigsten polnischen Städte des 11. Jahrhunderts“ bis hin zum Jahr 1939, in dem „die polnische Messe in der St. Martin Kirche (koś. św. Marcina) verboten wurde“ unter Einbeziehung der Architektur ausgebreitet .176 Dabei wird die Vermittlung einer sich im Stadtbild und ihren Bauwerken widerspiegelnden polnischen Kultur und ihres Kampfes gegen die deutsche Kolonisation weiter in der Art und Weise seiner Vorgänger perfektioniert. 174 „Es ist eine von zwei Stellen, von der aus ein wunderschöner Ausblick auf den ältesten Stadtteil links der Oder gegeben ist. Die zweite Stelle liegt in der Nähe der St. Adalbert Kirche/koś. św. Wojciecha (siehe unter 44), an der Ecke [...].“ Ebd.: S. 7; als auch der Verweis bei den romanischen Löwen im Arsenal zum Portal aus Elbing in der St. Maria Magdalena Kirche, ebd.: S. 44 175 „[...] - vergegenwärtigen wir uns Breslau von 1945. Dann begreifen wir nämlich das Ausmaß unserer hier verrichteten Arbeit in den Wiederaufbau der Stadt aus den Ruinen. [...] Heute schauen wir mit Stolz auf unsere Errungenschaften, auf das Aufblühen des uralten Herdes polnischer Kultur, die nicht einmal von dem schrecklichsten Terror des deutschen Nationalsozialismus erstickt werden konnte.“ Ebd.: S. 5f. 176 Ebd.: S. 6-11 2. Kapitel 92 Der historische Exkurs setzt sich in der eingeschlagenen Führung entlang der historischen Baudenkmäler fort. Gleich am Anfang wird mit der Corpus Christi Kirche (koś. Bożego Ciała) eine stilistische Verbindung zu der Sakralarchitektur Krakaus geschlagen, die bei weiteren vier Baudenkmälern im Laufe der Führung untermauert wird.177 Des Weiteren bekommt das „Krakauer Dreiecksgewölbe“, das hier als „piastisches Gewölbe“ (piastowskie sklepienie) aufgeführt wird, in der Person des „aus vielen Dokumenten bekannten ‚Magister Murator‘, den begabtesten Baumeister des 14. Jahrhunderts mit dem urpolnischen Namen Pieszko“ ein personifiziertes Gesicht, das immer wieder bei der Führung auftaucht.178 Im Zuge der Polonisierung der Stadt wird festgestellt, dass im Rathaus „auf Schritt und Tritt deutlich die starken Bindungen zu sehen sind, die Breslau mit Polen verbanden, [...].“179 Dem vorausgehend werden die im Rathaus angebrachten polnischen Wappen behandelt sowie die „Tür mit den Spuren der Axteinschläge vom polnisch angeführten Weberaufstand des Jahres 1418“ lokalisiert (Abb. 2.51). Einer besonderen Aufmerksamkeit erfreuen sich neben der Gotik die Fragmente der Romanik, die als Zeugnisse einer kulturellen Blütezeit vor der deutschen Kolonisation nach 1241 gesehen werden. Der Stadtführer greift die verstreuten Fragmente auf und setzt sie in ihrem ursprünglichen Kontext wieder ein. In diesem Zusammenhang werden die romanischen Löwen im Arsenal erwähnt, die ursprünglich von der 1529 zerstörten Elbinger Abtei stammen und „einen Beweis ernsthafter Blütezeit der Kunst im Herzogtum Breslau vor dem Mongoleneinfall“ (1241) darstellen.180 In der Stadtschilderung werden weitere Schemata der Stadtvermittlung und Aneignung der Vorläufer von 1946 und 1948 gefestigt. Zum einen wird die Kontinuität der polnischen Messen um weitere Kirchen ausgeweitet.181 Zum anderen werden die Werke polnischer Künstler, sowie Grabtafeln und Epitaphen polnischer Bürger zahlreicher gesichtet. Schließlich werden die mittelalterlichen Stadtplätze weiter polonisiert. Nach dem Ritterplatz (pl. Nankiera) folgt der Salzmarkt, der als ehemals „polnischer Markt“ vorgestellt wird, und der Neumarkt, „auf dem unter anderem polnische Handwerker und Künstler wohnten, [...]. Hier wohnte 1463 der Maler Piotr Stryczko, der Werke für die St. Elisabeth Kirche schuf. Hier wohnte in den Jahren 1355-1360 der berühmte Baumeister Pieszko. Einer von den mittelalterlichen Häusern (Nr. 20) nannte sich bis ins 20. Jahrhundert „Unter dem polnischen Gott, [...].“182 Die Vereinnahmung des unumgehbaren deutschen Erbes wird weiter vorangetrieben und eine Begriffskonstellation „zerstört und wieder aufgebaut“ als fester Bestandteil der Architekturvermittlung 177 Ebd.: Bezüge zu Krakau werden bei folgenden Bauwerken festgestellt: Corpus Christi Kirche (koś. Bożego Ciała) (S. 11), St. Dorothenkirche (koś. Doroty i Wacława) (S. 12), Residenz der Piasten aus Oppeln (S. 27); Marienkirche a. d.. Sandinsel (koś. NMP na Piasku) (S. 29) und St. Adalbert Kirche (koś. św. Wojciecha) (S. 39) 178 Ebd.: S. 9; ähnlich den „piastischem Gewölbe“ zieht der „‚Magister Murator‘ Pieszko“ einen roten Faden gleich durch die gotische Architektur der Stadt. Der Besucher begegnet ihm in der Corpus Christi Kirche (S. 11), St. Maria Magdalena Kirche (S. 24) und der Marienkirche a. d. Sandinsel (S. 29) 179 Ebd.: 14 180 Ebd.: S. 44; die krampfhafte Suche nach vermeintlichen Spuren einer polnischen Vergangenheit münden in einer akribischen Aufzählung jeder Entdeckung: „[...], Prof. Morelowski fand vor kurzem am Ufer des Altarmes der Oder zwei Säulen im romanischen Stil, die aus dem ehemaligen Dom des 12. Jhd. stammen, [...].“ Ebd.: S. 31; darüber hinaus werden gotische Fragmente der nicht mehr existierenden Stadtbefestigung lokalisiert, wie beispielsweise die in der modernen St. Josef Kirche (koś. św. Józefa) angebrachten gotischen Reliefs vom mittelalterlichen Nikolaitor; ebd.: S. 51 181 St. Martin Kirche (koś. św. Marcina) bis 1939, Heilig Kreuz Kirche (koś. .św. Krzyża) bis Ende 19. Jhd., St. Christopher Kirche (koś. św. Krzysztofa (17.-18. Jhd., St. Josef Kirche (koś. św. Józefa) bis 18. Jhd. 182 Ebd.: S. 37 2. Kapitel 93 eingeführt. Dies führt dazu, dass monumentale Bauwerke wie die Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) auf ihre Materialität, in diesem Fall dem „schlesischen Granit“, und die Information zum Zerstörungsgrad sowie der Wiederaufbauleistung reduziert werden.183 Der Stadtführer greift, wie bereits bei Andrzej Jochelson, auf stark abwertende Beschreibungen ausgewählter deutscher Architektur zurück. Allem voran konzentriert sich die Empörung auf die Umgestaltung des mittelalterlichen Ringes um die Jahrhundertwende, als viele historische Baudenkmäler den modernen Einkaufshäusern weichen mussten.184 Der Umstand, dass dabei wertvolle Zeugnisse der Renaissance beseitigt wurden, wird dabei gerne zum Anlass genommen, die deutsche Baukultur als Akt der Barbarei anzuprangern. Zu den bekannten Aneignungsmustern stoßen Verweise auf weiterführende Besichtigungen von Institutionen. Hierzu werden Umwege in Kauf genommen, um auf angebotene Führungen durch Ausstellungen aufmerksam zu machen, bei denen beispielsweise im Stadtarchiv ein „geheimes Nazidokument, das die Zahl der Polen in Schlesien auf 400.000 schätzt“ als Zeugnis polnischer Tradition in der Stadt und Region gesehen werden kann.185 In Anknüpfung an den Führer von 1948 wird am WZO Gelände der Sprung in die Neuzeit eingeführt. Die vierte Route dient als Übergang, bei dem, ausgehend von der mittelalterlichen Wallonensiedlung, ein Schritt über die Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) durch das Zeugnis deutscher Zerstörungswut entlang der Kaiserstrasse (pl. Grunwaldzki) in Richtung des Ausstellungsgeländes gesetzt wird. Die Darstellung des Ausstellungsgeländes dient der Erinnerung an die WZO, die aus einer deutschen Architektur, der lediglich die stählerne Nadel, „[…] ein Symbol unserer Mühen bei der stetigen Steigerung der wirtschaftlichen und kulturellen Leistung der Volksrepublik Polen“, aufgestülpt wird, ein symbolträchtiges Zeichen einer neuen polnischen Stadt macht. Von hier aus wird die Führung durch die Vororte, mit den Stadien, Parkanlagen und Badeanstalten bis hin zur Stalinstrasse (ul. Jedności Narodowej, bis Mitte der 50er Jahre ul. Józefa Stalina) eingeleitet, an der dem Beginn der polnischen Neuansiedlung nach 1945 gedacht wird, eingeleitet. Daran schließen zwei knapp gehaltene Stadtausflüge im Geiste des Sozialistischen Realismus an. Es handelt sich hier um inszenierte Wegführungen. Einerseits führt der Weg vom Hauptbahnhof nach Süden über das Ruinenmeer der Südstadt zum Friedhof der Sowjetischen Offiziere, der den Südeingang in die Stadt seit 1945 markiert und als Huldigung an die Befreier einen neuzeitlichen Erinnerungsort und einen festen Programmpunkt verkörpert. Andererseits gewährt uns der Führer einen Ausflug entlang der Gräbschener Strasse (ul. Grabiszyńska) nach Opperau (Oporów), bei der eine Idealstadt im Sinne des Sozialistischen Realismus mit blühenden Industriebetrieben, sowie den im Einklang lebenden Intellektuellen und Arbeitern, rhetorisch aufgemalt wird. 183 Ebd.: S. 35; siehe auch die anschließende Beschreibung zum Wojewodschaftsamt (ehemals Gauamt): „[…]mehrere hundert Zimmer, […], stark zerstört, […], vor kurzem wieder aufgebaut.“ 184 „[…], an seiner Stelle (gemeint ist das Haus „Unter der Golden Krone“) ein schreckeinflössendes (ohydny) Einkaufshaus mit übergroßen Fenstern. Andere, in ihren Fensterausmaßen ähnelnde übergroße Häuser errichtete man auf dem Ring im 19. und 20.Jhd. Der Spekulation, die man dabei verfolgte, wurden auf barbarische Art und Wiese wunderschöne Baudenkmäler geopfert.“ Ebd. S.18; „Wir passieren die Markthalle; ein aufdringliches, stilloses, im 20.Jhd. gebautes Gebäude.“ Ebd. S. 28; siehe auch die Beschreibung des Gerichts- und Sparkassengebäudes; ebd.: S. 42 185 Ebd. S. 19; siehe auch: Führung durch die Ausgrabung an der St. Martin Kirche (koś. św. Marcina), S. 30; und: Führung im Schlesischen Museum (heute National Museum), S. 35 2. Kapitel 94 2.2.4. „Führer durch die Baudenkmäler Breslaus“ (1956) Der „Führer durch die Baudenkmäler Breslaus“186 wird von der Kreiskommission der Denkmalpflege des lokalen PTTK in einer Auflage von 20.000 Exemplaren herausgegeben. In dem Vorwort wird die Notwendigkeit eines Stadtführers unterstrichen, die darauf schließen lässt, dass der Stadtführer von 1952 und seine Vorläufer die Nachfrage qualitativ und quantitativ nicht stillen konnten. Der Stadtführer konzentriert sich auf die wichtigsten Baudenkmäler der Stadt und begrenzt sich damit auf den Altstadtbereich. Die am Ende des Vorwortes versteckte Bitte um Rückmeldungen bezüglich festgestellter Unschlüssigkeiten, „vor allem von den Lesern, welche die Geschichte der Stadt und ihren heutigen Zustand am besten kennen“, verrät die eigentliche Zielgruppe des Mediums. Die Annahme, dass es sich dabei um die eigenen Stadteinwohner handelt wird im Vorwort der zwei Jahre später erscheinenden Neuauflage mit 13.000 Exemplaren unter dem Titel „Lerne das alte Breslau kennen“ bestätigt.187 Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Dem Stadtführer werden einleitend drei Kapitel vorangestellt. Der politische Auftakt „Gestern und Heute Breslaus“ (S. 8-12) wird einem Staatssekretär vorenthalten, der eine Rückbesinnung auf das Jahr 1945 hervorruft und die Errungenschaften des Wiederaufbaus in Zahlen bis 1960 schildert. Im anschließenden Exkurs „Historiografische Skizze der Stadt“ (S.13-23) bietet der Historiker Kazimierz Ślązak ein kurzgefasstes Bild von den Ursprüngen der Stadt bis in die Gegenwart, bei dem sich der Westgedanke mit dem Sozialistischen Realismus vermischt. Die Wiedergutmachung des Unrechts und die Wiederinbesitznahme des Raumes wird mit dem ewigen Klassenkampf in Verbindung gesetzt, bei dem die polnischen Arbeiter und Intellektuelle letztendlich einen siegreichen Kampf gegen das deutsche Patriziertum und den Imperialismus führen. Die Einleitung schließt mit dem Kapitel „Verdienst Polens an der kulturellen Entwicklung Breslaus“ (S.24-40), in dem der Historiker Marian Morelowski eine Wiederinbesitznahme der Geschichte bewerkstelligt ab. Hier wird eine kunstgeschichtliche Lektion erteilt, infolge derer eine an der Architektur zu erfahrende polnische Geschichte der Stadt aufgedeckt wird. Das Kapitel „Wir besichtigen die Baudenkmäler der Stadt“ (S. 41-153) beinhaltet die eigentliche Stadtführung, die sich in drei Besichtigungswege aufteilt (1. Weg: S. 42-93, 2. Weg: S. 94-123, 3. Weg: S. 124-153). An die historische Stadtführung schließt ein Glossar (S. 154-165) an, das die kunsthistorischen Begrifflichkeiten für ein Laienpublikum erläutert. Abschließend wird der Stadtführer mit einen „Reisepraktischen Informator“ (S. 167-201), den lokalen „Anzeigen“ (S. 203-221), einen „Alphabetisches Straßenverzeichnis“ (S. 231-253) und einem Inhaltsverzeichnis (S. 255) unterfüttert. 186 Król, Gwidon: Przewodnik po zabytkach Wrocławia, Wrocław 1956 187 „Das PTTK wünscht sich mit diesem kleinen Album die Kenntnis über die lokalen Baudenkmäler unter den Breslauern zu stärken, als auch die Idee des Denkmalschutzes zu popularisieren. Den Besuchern wollen wir damit ein nettes Souvenir schenken.“ In: PTTK Oddział Wrocławski: Wrocławski Poznaj Stary Wrocław, Warszawa 1958, S. 4 2. Kapitel 95 Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Den horizontal zweigeteilten Umschlag des im Taschenformat (A6) erschienen 256-seitigen Stadtführers schmückt eine Detailaufnahme des Sarkophags von Herzog Heinrich IV., unterhalb dessen der Titel „Führer durch die Baudenkmäler Breslaus mit einen Stadtplan“ steht (Abb. 2.52). Zu Beginn der drei Stadtbesichtigungen wird jeweils eine Zusammenfassung des beschrittenes Weges anhand der Straßennamen, die in Form skizzenhafter Wegbeschreibung virtuell abgelaufen werden, präsentiert. Der Stadtführer arbeitet im Textfluss mit Hervorhebungen ausgewählter Objekte durch stärkere Lettern (bold). Ähnlich seinem Vorgänger von 1952 ordnet das Medium am Textrand den hervorgehobenen Objekten Nummern zu, die wiederum im angehängten Stadtplan zu verorten sind (Abb. 2.53). Im Gegensatz zu den gerüstartigen Planausschnitten des Vorgängers sind die drei Wegführungen aus dem abstrakt gehaltenen Stadtplan nicht ersichtlich (Abb. 2.54). Das Medium setzt im größeren Maße visuelle Informationsträger als textunterstützendes Element ein.188 Die Beschreibung der Objekte wird im Text mit Verweisen auf dazugehörige Abbildungen bereichert.189 Auffallend ist der Einsatz der Fotografie auf den Doppelblättern, bei denen einem zerstörten Baudenkmal rechtsseitig sein geglückter Wiederaufbau entgegengesetzt wird. Dieses Motiv beginnt mit der Rekonstruktionszeichnung zur St. Maria Magdalena Kirche (koś. św. Marii Magdaleny) und wiederholt sich neun Mal auf Doppelseiten in der erwähnten Gegenüberstellung des Jahres 1945 und 1955.190 Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Stadtführer unter der Redaktion des Architekten Gwidon Król richtet sein Augenmerk auf die altehrwürdigen Baudenkmäler, so dass den Autoren die Darstellung des schwierigen Erbes jüngeren Datums erspart bleibt. Als ihr Repräsentant wird lediglich die Markthalle von 1908 am Rande erwähnt, um eigentlich auf ein an ihrer Stelle nicht mehr existierendes mittelalterliches Hospital zu verweisen.191 Dies mag ein Grund sein, weshalb die Führung ohne den abwertenden Sprachgebrauch seiner Vorgänger hinsichtlich des deutschen Erbes weitgehend auskommt. Die Vermittlung der Stadt entlang der vorgeschlagenen Routen richtet sich stark nach der historischen Einleitung von Marian Morelowski. Das Gespann aus fundiertem Fachwissen und seiner späteren Redundanz an Ort und Stelle schafft eine glaubwürdige und einprägsame Vermittlungsweise des kulturellen Raumes.192 In diesem Kontext kann stellvertretend für andere Beispiele die Abtei in Elbing (Ołbin) genannt werden. In der Einleitung wird diese als Zeugnis polnischer Kultur in Person des Stifters Peter Wlast (Piotr Włost) und dem Benediktiner Orden aus Tyniec bei Krakau personifiziert. Mit der Platzierung einer historischen Abbildung der Abtei von 1562 wird die Pracht des Komplexes 188 54 Schwarzweißbilder, 3 Rekonstruktionszeichnungen, 1 Rekonstruktionsplan der Stadt um 1260, 3 historische Abbildungen aus der Vogelperspektive von 1562, 1650 und 1750 sowie eine Architekturzeichnung aus dem 19. Jahrhundert. In: Król, Gwidon: Przewodnik po zabytkach Wrocławia, Wrocław 1956 189 „Über das Aussehen der romanischen Kirche (Marienkirche a. d. Sandinsel/NMP na Piasku) verrät uns mehr der romanische Tympanon, der heute im Inneren des Gotteshauses untergebracht ist (siehe Abb. 33).“ Ebd.: S. 63; siehe auch: S. 72 190 Ebd.: S. 45f., gefolgt von S. 56f., 66f., 76f., 80f. 88f., 98f., 102f., 138f., 150f. 191 Ebd.: S. 62, vgl. auch Anm. 69, Kap. 1. (In- und Exklusion) 192 Ebd.: Marian Morelowski verweist in seiner Einleitung neben seiner eigenen Werke auf mehrere deutsche Fachkollegen, die er geschickt für seine Zwecke benutzt. Genannt werden Dagobert Frey (S. 34), Dehio und Franz Landsberger (S. 35) 2. Kapitel 96 visuell vermittelt, die „vom barbarischen deutschen Patriziertum“ zerstört wurde.193 Die Elemente der historischen Schilderung Morelowskis tauchen während der Führung im Stadtgefüge wieder auf. Neben dem Elbinger Portal wird „aufgrund fehlender Baudenkmäler auf längerer Strecke (hinter dem Botanischen Garten), eine Begegnung“ mit der Lebensgeschichte von Piotr Włost und dem romanischen Klosterkomplex in Elbing auf ganzen zwei Seiten ins Leben gerufen (Abb. 2.55).194 Der Stadtführer macht den Anschein das Werk seines Vorgängers von 1952 fortschreiben zu wollen. Der Hauptunterschied liegt in der Konzentration auf die Altstadt und ihrer fundierten Vermittlung, die eine neue Qualität der Stadtvermittlung injiziert. Der Fokussierung auf die Altstadt entspricht die Strukturierung der Routen, die allesamt am historischen Ring beginnen und inhaltlich die tradierten Wege nicht verlassen. Die einst eingeschlagen Schemata der Stadtvermittlung wiederholen sich auch hier. Zu den mittelalterlichen Plätzen, denen bisher die polnische Zugehörigkeit nachgewiesen werden konnte, gesellt sich schließlich auch der Ring. Die polnischen Ursprünge des Ringes, die bereits am Anfang der ersten Route postuliert werden und spätestens seit dem Fund unter dem Haus Nr. 43 als bewiesen gelten, finden in dem Haus unter der Goldenen Krone ihren würdigen Abschluss.195 Hier wird der 1952 an gleicher Stelle zitierte Dehio, zum Garanten einer polnisch konnotierten Renaissance herangeholt.196 Die Annexion des Ringes infolge der Aneignung seiner Ursprünge mitsamt seines Baustils, der „polnischen Renaissance“, steht in einer Reihe mit der zuvor erfolgten Aneignung anderer mittelalterlicher Plätze Breslaus. Der Fortschreibung einer polnischen Stadt dienen weiterhin die bekannten Persönlichkeiten der vorangegangene Stadtführer. Der Leser wird mit dem „Magister Murator“ Pieszko konfrontiert und seinen „Piastischen Gewölben“, die einen Bogen nach Krakau auf die Burg Wawel schlagen. Er erfährt aber auch im erwähnten Gespann aus dem einleitenden Historikerwissen und dessen erneuten Weckruf bei der Stadtführung von dem Sarkophag Heinrich IV., das in einen Kontext zu romanischen Kunsthandwerk in Paris steht und somit einen weiten Bogen um den deutschen Kulturkreis macht.197 Die schwierige Zeit des Nachweises polnischer Kontinuität ab dem 18. Jahrhundert wird über die polnischen Messen und die Verortung der Gaststätten und Häuser, in denen namhafte Polen auf ihrer Durchreise einkehrten und deren literarische Spuren Tadeusz Mikulski 1950 aufzeigte, gemeistert.198 193 Ebd.: S. 31f. 194 Ebd.: S. 46; sowie ebd. S. 84f.; hier erfährt der Leser auf fast zwei Seiten unter anderem die Gründe für den Machtverlust der piastischen Herzöge und ihren Untergang. Schuld daran ist die List und Hass ihrer deutschen Frauen. 195 Unter dem Haus Nr. 43 fand man beim Wiederaufbau 1952 Fragmente „eines Holzhauses, das seine Ursprünge im 12. Jhd., wenn nicht früher hatte. Also wieder ein Beweis der Existenz einer ausgedehnten polnischen Siedlung aus der Zeit vor der Kolonisation, […].“ Ebd.: S. 94 196 Ebd.: „[…], der loyale deutsche Wissenschaftler Dehio stellte fest, dass die Attika hier ‚nach polnischen Vorbildern’ gebaut wurden.“ (S. 35; und weiter: „Wir begeben uns in Richtung der Ohlauer Strasse (ul. Oławska) an deren Ecke das wunderschöne, große ‚Haus unter der Goldenen Krone’ stand. Erbaut im Jahre 1521, stellte es ein frühes Beispiel eines neuen sich entwickelnden Baustils, der eng mit der polnischen Renaissance verbundenen war. Der obere Teil des Hauses war von einer reichverzierten Attika gekrönt. Diese galt als typisch polnisch und hatte ihre Ursprünge in Italien. Dieses Haus wird Wiederaufgebaut, wie auch andere Häuser des Ringes.“ (S. 147f.); auch an dieser Stelle verzichtet der Führer auf eine Abrechnung mit der deutschen Baukultur, die dieses Haus für ein modernes Einkaufshaus um die Jahrhundertwende abreißen ließ. 197 Ebd.: S. 33; und weiter: S. 70f. 198 „Hier hielten durch Breslau durchreisende Polen an. Unter anderem der Autor der polnischer Hymne ‚Noch ist Polen nicht verloren’, Józef Wybicki, […]. Hier verkehrte auch Karol Lipiński, der am 29. Mai 1840 im Saal „Hotel de Pologne“ ein Konzert gab - und andere (siehe „Spotkania Wrocławskie“ – prof. T. Mikulski).“ Ebd.: S. 95 2. Kapitel 97 Bei der historischen Stadtbesichtigung wird die Berücksichtigung der Zerstörung und des Wiederaufbaus, die in dem Vorwort bekundet wurde, in Bild und Wort konsequent folge geleistet. Damit findet auch dieses Muster der Stadtvermittlung einen festen Platz im Repertoire des Mediums Stadtführer. Das besondere an dem Stadtführer ist die deutlich hervortretende Absicht einer Kontrastierung der kulturellen Landschaft der Stadt, bei der es den Autoren in erster Linie auf die Distanzierung von den kulturellen Strömungen und Einflüssen „von der Elbe oder dem Rhein“ ankommt.199 Die wissenschaftliche Basis liefern hier die Historiker mit dessen Steinen die Straßen und Plätze bei der Führung gepflastert werden. Dieser Strategie folgend wird das gotische Rathaus als 61. Objekt von insgesamt 68 hervorgehobenen Baudenkmälern behandelt, obwohl jede Route zu seinen Füßen am Ring beginnt. Die Deklassierung aufgrund seiner stilistischen Bezüge zum Deutschen kann die ausgeprägte Behandlung mit drei angehängten Schwarzweißbildern nicht entgegen wirken.200 Die Führung durch das Rathaus lässt sich zum einem auf die Vorstellung der Ausstellung zu der Ausgrabung auf der Dominsel, bei der das Rekonstruktionsmodell der ersten Wehrsiedlung „einer besonderen Aufmerksamkeit verdient“, reduzieren (Abb. 2.56).201 Zum anderen tauchen die bekannten Muster der Vermittlung, wie die Vorstellung der Wappen mit Bezügen zum Geschlecht der Piasten, Schlesien und Polen, oder die zur Ikone stilisierte Tür mit den Spuren der Axteinschläge vom polnisch Angeführten Aufstand des Proletariats 1418, wieder auf. Neue Impulse setzt der Stadtführer im Bereich der Rekonstruktion der herzoglichen Burg auf der Dominsel und der späteren Residenz im Bereich der heutigen Universität, denen Beschreibungen und historische Stiche aus der Vogelperspektive zugeordnet werden.202 Interessant erscheint auch die aus den Bildbänden bekannte Abbildung der Baudenkmäler mit vorbeigehenden Müttern mit ihren Kinderwägen, die ein Bild vom neuen Leben in Mitten alter Tradition vermitteln. Überraschender Weise wird das Hatzfeld-Palais, „errichtet an der Stelle der Residenz piastischer Herzöge […]“, mit einem Bild aus dem Jahre 1939 dargestellt und sein Architekt Karl Langhans, als „’Pionier des Klassizismus in der deutschen Architektur’ und Schöpfer des bekannten Brandenburger Tores“ gleich doppelt geehrt.203 199 „Sie (Benediktiner Orden) bringen mit sich eine hohes Wissen und Kunst von der Weichsel. Ganz entgegen der Meinung der 200 „[…]. Es ist die bezeichnende Charakteristik der weiteren Entwicklung Schlesischer Kunst, das sie nur in einen gewissen Grade einen Fälscher, die behaupteten, dass sie hierher nur von der Elbe oder vom Rhein kam.“ Ebd.: S. 32 Bezug zum deutschen Stil hatte, wie zum Beispiel im wunderschönen Breslauer Rathaus vom 14. und 15. Jhd. Jedoch wird Sie immer zum allgemein polnischen Bestreben zurückfinden, die den verschwisterten Strömungen der fortgeschrittenen romanischen Gesellschaften ähnelt, sowohl in der Plastik als auch in der Architektur. Das beste Beispiel ist die leichte, subtile, fast schon gläserne Heilig Kreuz Kirche (koś św. Krzyża) aus dem 14. Jhd. […]“ Ebd.: S. 34 201 Ebd.: S. 140 202 Ebd.: S. 90 (Burg auf der Dominsel); S. 106ff. (Residenz auf dem Gelände der heutigen Universität) 203 Ebd.: S. 52 2. Kapitel 98 2.2.5. „Führer durch Breslau“ (1960) Der „Führer durch Breslau“204 wird von der Gesellschaft der Liebhaber Breslaus (TMW) in einer Auflage von 5.000 Exemplaren publiziert. Die heute noch existierende Vereinigung wurde 1956 mit dem Ziel der Förderung des Lokalpatriotismus gegründet.205 Ihr Stadtführer zu Beginn der 60er Jahre erscheint als erster nach der Abkehr vom Sozialistischen Realismus und lässt eine neue Vermittlung erwarten. Seinen behandelten Inhalten und der Satzung der Vereinigung nach zu schätzen, richtet sich auch dieser Stadtführer an die eigenen Stadtbewohner. Wenn auch schwer anzunehmen ist, dass ein Einwohner der Stadt die sechs vorgeschlagenen Besichtigungswege, die jeweils als Tagestouren angelegt sind, jemals zu Fuß bewältigen würde. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Strukturell wird das Medium in seinen Grundzügen ähnlich der Ausgabe von 1956 ausgestattet. Der Eintritt in die Materie wird mit der politisch motivierten und statistisch abgesicherten Wanderung durch „Breslau 1945-1965-1985“ (S. 7-17) eingeleitet. Nach dem Gestern, Heute und Morgen in Zahlen folgt der historische rundum Blick in der „Historischen Skizze Breslaus“ (S. 19-37), bei der die mittelalterliche Stadt als eine „Arena sozialer Kämpfe“ zwischen dem deutschen Patriziertum und dem mehrheitlich polnischen Plebs weiterhin bestehen bleibt. Der Bogen bis 1945, als die Rote Armee die Stadt von den „terrorisierenden SS-Einheiten“ befreit, wird mit einer Ahnengalerie polnischer Persönlichkeiten der Stadtgeschichte gespannt.206 Die Führung gliedert sich im Kapitel „Spaziergänge durch Breslau“ entlang sechs vorgeschlagener Wege, bei denen der erste eine zusätzliche Variante bekommt. Die ersten vier Wege ziehen ein Geflecht über die Altstadt, wobei sie auch Randgebiete hinter dem Stadtgraben einbeziehen (1.: S. 41-64, 1.a: S. 65-68, 2.: S. 69-82, 3.: S. 83-95, 4.: S. 97-110). Der fünfte Weg stellt die Überleitung zu einem Ausflug aus dem Zentrum dar, der mit dem Ausstellungsgelände und seinem Vorort Bischofswalde (Biskupin) eingeleitet wird (5.: S. 111-122). Der letzte Weg führt die Ausflugsgelüste weiter fort und sticht weit nach Norden (Psie Pole) und Süden (Oporów) vor (6.: S. 123-129). An die Stadtbesichtigung wird die „Nähere Umgebung Breslaus“ (S. 131-134) angeknüpft, die zu Ausflügen in die benachbarten Städte einlädt. Abschließend werden ebenfalls „Informationen zu Breslau“ (S.137-175), Anzeigen (S.177-189) sowie eine Werbung für weiterführende Literatur (S. 190) angehängt. Das Ende bildet das Inhaltsverzeichnis (S. 191-192). Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Den in gelb gehaltenen Umschlag des 192-seitigen Stadtführers (A5) schmückt eine bemerkenswerte Stadtbildcollage. Auf der Vorderseite teilt die senkrecht verlaufende Oder das Blatt in eine rechte und linke Seite. Die horizontal gereihten, abstrakten Ansichten der Baudenkmäler kreuzen das Flussband über die Vorder- und Rückseite in der oberen Hälfte. Auf der unteren Hälfte sticht die schwarze 204 Towarzystwo Miłośników Wrocławia (Hg.): Przewodnik po Wrocławiu, Wrocław 1960 205 „TMW stellt sich zur Aufgabe die Förderung einer herzlichen Verbindung seiner Einwohnern zur Stadt, der Liebe zu ihrer schönen 206 Auf die Bühne der Stadtgeschichte treten der „Gründer des Bistums Breslau“ (Bolesław Chrobry), der „Bezwinger Heinrich des V.“ Tradition und der Verantwortung ihr gegenüber.“ Ebd.: S. 56 (Bolesław Krzywousty), der Stifter Peter Wlast (Piotr Włost), Herzog Heinrich IV., „ein Pole aus dem Dorf Oltaschin (Ołtaszyn) bei Breslau“ (gemeint ist Magister Murator Pieszko)“, der Künstler Jan Jerzy Urbański, Wincenty Pol und vielen anderen durchreisende Polen des 19. Jhd. hervor. 2. Kapitel 99 Aufschrift „Führer durch Breslau“ hervor. Es sind ausschließlich Ansichten historischer Baudenkmäler, die über die 1910 vom Kaiser Wilhelm II. eingeweihte Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) zusammengeführt werden (Abb. 2.57). Die jeweiligen Spaziergänge werden mit den Schlüsselorten der Strecke zusammenfassend vorgestellt. So beginnt der erste Besichtigungsweg mit folgender Kurzanweisung: „I. Hauptbahnhof - Tauenzienplatz (pl. Kościuszko) – Ring (Rynek)”. Zur Orientierung wird der stichwortartigen Vorstellung ein künstlerisch aufgearbeiteter Planausschnitt beigefügt. Dieser erinnert an die abstrakt gehaltenen, gerüstartigen Pläne des Führers von 1952. Im Gegensatz zu seinem Vorläufer schmücken miniaturisierten Abbildungen sehenswerter Objekte die Planausschnitte, die in ihrer Bildsprache vom Titelblatt abgeleitet sind. Die Hervorhebung der Objekte durch ihre Miniaturisierung gilt hier auch der neuen Plattenbauweise. Die kreisförmig umrundete Nummerierung bezieht sich auf die in der Ecke angesetzte Planlegende, in der die Namen der Objekte hinter den Nummern preisgegeben werden. Eine Verbindung der Nummerierung mit der textbasierten Führung ist nicht gegeben (Abb. 2.58). Der Text arbeitet mit gestalterischer Akzentuierung. Besonders sehenswerte Objekte werden durch stärkere Lettern (bold) hervorgehoben und den Textpassagen vorangestellt. Die jeweiligen Objekte werden durch Absätze von einander getrennt. Zusätzlich unterscheidet der Stadtführer zwischen zwei Absatztypen. Ein nach rechts eingerückter, mit kleinerer Schriftgröße versehener Absatz gewährt vertiefende Einblicke. Die Objekte, denen sich die Vertiefung widmet, werden durch Silbentrennung in die Länge gezogen und somit hervorgehoben (Abb. 2.59). Das Medium greift verstärkt auf die visuelle Unterstützung bei der Stadtvermittlung zurück.207 Dabei werden bei der Einleitung und im Laufe der Führung, insgesamt an sieben Stellen gebündelt (jeweils auf 4 Seiten), eine Fülle an Schwarzweißbildern gezeigt. Aufgrund der Menge handelt es sich hier um vorwiegend kleine, aussageschwache Bilder, die auf Untertitelung angewiesen sind. Ihre Loslösung vom Text führt zusätzlich zu einer Zusammenhanglosigkeit, die ihre unterstützende Wirkung mindert (Abb. 2.60). Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Stadtführer führt eine neue unbefangene Vermittlungsweise ein, bei der das Medium den Leser in Form eines „sympathischen ‚Führers’“ an die Hand nimmt.208 Die Gesellschaft der Liebhaber Breslaus beginnt die Führung an den Ankunftsorten, dem Haupt- (1. Weg) und den Odertorbahnhof (1a. Weg) und führt den Gast auf zwei Wegen direkt zum Ring. Dabei offenbart sich der neue Vermittlungsansatz in einem heiteren Spaziergang, bei dem neben den sachlichen Informationen auch Insidertipps vermittelt werden. So erfährt man im Vorbeigehen am „süßen Laden ‚Wawel’, den verführerischen Schaufenstern von ‚Dessa’“ von dem Studentenclub „Palästchen“ (Pałacyk) in dem abends, wie es heißt, die schönsten Breslauerinnen anzutreffen sind.209 Der stark wertende Ton der Schilderungsweise, der vor allem mit der Blockrandbebauung der Gründerzeit abrechnet, scheint hier weniger politischer, als ästhetischer Natur zu sein. Denn „nicht alles in dem denkmalwürdigen Breslau ist ein Denkmal. Zu den einfachen, stillosen Gebäuden gehört unter anderem der Odertorbahnhof, erbaut in den Jahren 207 Bei der Untersuchung der 70 Bilder fällt folgende inhaltliche Aufteilung auf: Neubauten 16x, Baudenkmäler 24x, deutsche Baudenkmäler 12x, historische Abbildungen 9x, sonstige 9x 208 „Wenn du Breslau kennen lernen willst, dann schreite ohne Eile die sechs Spazierwege ab und höre genau den Erzählungen des (sympathischen?) ‚Führers’ zu.“ Ebd.: S. 39 209 Ebd.: S. 47; siehe auch: „Einen Junge, der sich gerade für sein Studium vorbereitete, fragte man einst, wo er einen fremden Besucher seiner Stadt denn hinführen würde. Der Junge antwortete ohne lange zu überlegen - Zum ‚Monopol’.“ Ebd.: S. 53; es folgt die Beschreibung des Hotels und des Restaurants sowie der Tanzveranstaltungen. 2. Kapitel 100 1864-72, [...].“210 Ganz ihrer Satzung verschrieben widmet sich die Gesellschaft in Gestalt des „sympathischen Führers“ der Förderung des lokalen Patriotismus, in dem sie die lokale Geschichte regelrecht ins Stadtbild einmeißelt. Damit wird der Wille die polnische Geschichte der Stadt, sowohl in der Preußenzeit als auch nach 1945, ins Bewusstsein zu bringen zum Ausdruck gebracht. Dies tut das Medium einerseits durch die Vorstellung von Orten und Räumen, die von der Wiederinbesitznahme der Stadt zeugen. In dieser Reihe wird an die ersten polnischen Vorführungen im Kino „Warszawa“ und in der Oper erinnert, als auch der polnischen Siegesparade auf dem zum Parkplatz deklassierten, wie es heißt „schön aufgeräumten“, Schlossplatz (pl. Wolności) gedacht.211 Andererseits werden die Aufenthalts- und Wirkungsorte polnischer Persönlichkeiten verstärkt ins Visier genommen. Hierzu wurde im Vorfeld von der Gesellschaft der Liebhaber Breslaus eine eigens dafür geschaffenen Gedenktafelkultur etabliert. Wie ein roter Leitfaden folgen die Gedenktafeln den Besichtigungswegen und verleihen einer Terra Incognita ein heimisches Gesicht, wenn es beispielsweise heißt: „Wir biegen rechts ab und finden – gleich hinter der Ecke – das Haus an der Salzstrasse 17 (ul. Cybulskiego). Die hässliche Mietskaserne schmückt eine Gedenktafel: In diesem Haus lebte und wirkte in den Jahren 1887-1888 JAN KASPROWICZ. Zum 30. Jahrestag seines Todes - TMW 1.VIII.1956.“212 Die Personifizierung der Architektur, wie sie bei den Vorgängern beobachtet wurde, setzt sich weiter fort. Der Stadtführer hat aber weniger Schwierigkeiten neben Namen, wie Murator Pieszko oder Jan Urbański, auch deutschen Baumeister der Vergangenheit zu huldigen. Dabei scheint, als ob, wie im Fall der Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) im Stadtführer von 1952, der „schlesische Granit“ reichen würde, um das Bauwerk als regional polnisch zu deuten und es 1960 auf das Titelblatt zu setzten. So werden die Überreste vom Hatzfeld-Palais, „[...] gebaut 1766-74 vom berühmten schlesischen Architekten Karl Gotthard Langhans […], bekannt als der Autor von dem Brandenburger Tor [...]“, neben neutraleren Skulpturen deutschsprachiger Meister gewürdigt.213 Der Zeit entsprechend räumt der Stadtführer viel Platz und Lob der neuen Architektur Breslaus ein, die polnischen Architekten stets beim Namen nennend. Damit gesellt sich zu der etablierten Konstellation „zerstört und wieder aufgebaut“ samt den Helden der Pionierjahre eine neue Generation und neue Baukultur hinzu. Deutlich bekommt man dies bei der Vorstellung der einstigen „Vorzeigebaustelle“ KDM des zu Ende gegangenen Sozialistischen Realismus, die „nicht mehr modern anmutet“ und vor allem abends mit seinen Neonlichtern attraktiv zu sein scheint, zu sehen.214 Dem gegenüber stehen strahlende „Baudenkmäler“ der vorgefertigten Baukultur. An Stelle des Vorzeigeprojektes KDM kommt das Wohn- und Dienstleistungsviertel PKWN.215 In dem Stolz spiegelt sich der technologische Fortschritt und in dem Lob die Hoffnung auf eine rasche Lösung der Wohnungsnot wieder. Es 210 und weiter: „ [...]. Breslau heißt uns von dieser Seite mit gedrungenen, hässlichen Mietskasernen. Zum Glück gehen wir entlang des grünen Streifens, der die Mitte des großen Benderplatz (pl. Stanisława Staszica) schmückt.“ Ebd.: S. 65, sowie: S. 107 (Nicolai Strasse/ul. Mikołaja) 211 Ebd.: S. 43 (Kino „Warszawa“), S. 50 (Oper und Schlossplatz/pl. Wolności), S. 109 (Schlossplatz/pl. Wolności) 212 Ebd.: S. 67 213 Ebd.: S. 72; siehe auch J. B. Fischer von Erlach, „einer der begabtesten Architekten Europas der damaligen Zeit“, S. 82 214 „[...] wir kommen auf einen mit Sonne gefluteten Platz (das Wetter für den Ausflug wurde bestellt), den Tauentzienplatz (pl. Kościuszki), das Zentrum von KDM. [...]. (weiter in Kleinschrift) Heute mutet das Quartier nicht modern an, vor ein paar Jahren aber, [...], war KDM der Traum von Tausenden Breslauern, die auf der Suche nach einer Wohnung waren. [...] Die Breslauer mögen das KDM am liebsten Abends, wenn es in den bunten Neolichtern zu strahlen beginnt. Es ist dann lebendig und laut, und überhaupt, wie man sagt - europäisch.“ Ebd.: S. 45 215 „Die Baustelle des PKWN-Viertels nähert sich dem Ende zu. Hier fanden ca. 10.000 Breslauer eine moderne Wohnung. [...] Es ist das erste Beispiel der modernen Bauweise mit der Großplatte.“ Ebd.: S. 110f. 2. Kapitel 101 brillieren auch hier die Vorzeigeobjekte, wie der „Galerowiec“, „Dom Naukowca“, oder „das neuste Kind des großstädtischen Breslaus“ die Friedensbrücke (m. Pokoju), zu denen die Bauinformationen stolz präsentiert werden. Spätestens an dieser Stelle wundert es, dass die Herausgeber für das Titelblatt an Stelle dieser auf die Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) von 1910 zurückgegriffen haben. Zu den wichtigsten Zeugen „unserer Vorväter“ zählt der Stadtführer das Rathaus, das Elbinger Portal in der St. Maria Magdalena Kirche (koś. św. Marii Magdaleny) und die gesamte Dominsel mit der Heilig Kreuz Kirche, „der wahrscheinlich schönsten Kirche Breslaus“.216 Im Zusammenhang mit dem Rathaus ist die Hervorhebung des Aufstandes von 1418 auffallend, dem ein vertiefender Absatz gewidmet wird. Dieser stellt die Aufführung „Die Steine sprechen Nachts“ vor, die bei den „Breslauer Tagen“ 1957 zum ersten Mal vorgeführt wurde und die Geschichte das proletarischen Aufstandes vor Ort erlebbar macht.217 Der Stadtführer gewährt in den vertiefenden Kleinschriftabsätzen ausführliche Information, die bei der Lektüre übersprungen werden können. In ihnen führt er die Aufdeckung der polnischen Geschichte weiter fort, liefert kurze Biografien zu polnischen Protagonisten der Stadtgeschichte und schließt weitere Archive mit „polnisch sprechenden“ Dokumenten auf. Die Schemen der Stadtaneignung werden lediglich weiter gedacht und vervollständigt. Nebenbei wird ganz ungeniert das Kriterium der Stadtvermittlung offenbart, bei dem eingestanden wird, dass Baudenkmäler vorrangig über ihren Bezug zu Polen in jeglicher Art und Weise definiert werden. Die seit 1946 geführten Ausflüge in die Gegend der St. Mauritius Kirche (koś. św. Maurycego) lassen sich hiernach auf die „Waffenfreundschaft“ mit den hier einst ansässigen Wallonen herleiten.218 Bei der St. Christopher Kirche (koś. św. Krzysztofa) heißt es: „[...] die Kirche hätte keine größere Bedeutung, wenn sie nicht so eng mit der polnischen Geschichte Breslaus verbunden wäre. Die polnische Bevölkerung der Stadt pflegte mit Liebe die Tradition der polnischen Sprache. Wir wissen aus den Schriftquellen, dass noch im 18. Jahrhundert in dieser Kirche die protestantische Messe auf Polnisch gehalten wurde.“219 Des Weiteren wird der Erinnerung der Waffenbruderschaft mit der Roten Armee und ihren Toten, den Helden der Stadtbefreiung, ausgiebig auf dem Friedhof der Sowjetischen Offiziere gedacht. Die Erinnerung an 1945 wird um die Vermittlung der Schreckensorte der deutschen Festungsbesatzung erweitert, die wiederum mit den romantisierenden Bildern kombiniert werden.220 216 Als Herleitung zur Dominsel: „Um uns herum altehrwürdige Mauern, die sich an die Zeit unserer Vorvätern erinnern. Alles ist hier Denkmal, alles ist hier sehenswert. Wir werden ihren Blick auf die wichtigeren Bauwerke lenken.“ Ebd.: S. 77 217 Ebd.: S. 63 „Der Aufstand ist Thema der historischen Freiluftvorstellung unter dem Namen „Kamienie mowią nocą“ (dt.: „Die Steine sprechen nachts“, geschrieben von Wojciech Głuzińskiego, ausgezeichnet TMW und vorgeführt an den „Bteslauer Tagen“ („Dni Wrocławia“) vor dem Rathaus im Jahr 1957 218 Bei der Schilderung der St. Mauritius Kirche (koś. św. Maurycego): „[...] früher Zentrum der Webersiedlung der ‚Wallonen’. Die ‚Wallonen’, [...], waren mit der polnischen Stadtbevölkerung befreundet, so dass sie zusammen mit dieser an den Aufständen gegen die deutsche Stadtverwaltung teilnahmen. [...].“ Ebd.: S.91 219 Ebd.: S. 92 220 „Die Liebigshöhe (Wzgórze Partyzantów) ist ebenfalls eine alte Wehrbastion. Hier hatte für kurze Zeit der Oberbefehlshaber der Festung Breslau 1945, General Niehoff, unterschlüpf gesucht. Die sowjetische Armee, ein Haus nach dem Anderen befreiend, räucherten hier den mörderischen Stadtzerstörer aus, der in Folge seinen Befehlsstand unter die Universitätsbibliothek auf die Sandinsel verlagerte. Lasst uns kurz auf die Bank neben die schöne Mutter mit schlafendem Kind im Wagen ausruhen.“ Ebd.: S. 93; daneben sichert sich der Grunwald-Platz (pl. Grunwaldzki) anstelle der gesprengten und geebneten Kaiserstrasse als Ort des Martyriums von Zwangsarbeitern einen festen Platz bei den Mahnstätten des deutschen Terrors, ebd.: S. 113 2. Kapitel 102 Charakteristisch für den Stadtführer ist die „Institutionalisierung“ der Architektur. Dahinter verbirgt sich die Vermittlung einer Architektur über die neuen Nutzer, in erster Linie Institutionen und Organisationen. Es ist eine Strategie der Stadtaneignung, bei der unangenehmes Schweigen infolge fehlender Verbindungen zur polnischen Geschichte entlang eines Besichtigungsweges mit beliebigen Zahlen und Fakten gefüllt werden kann. Es ist die Optimierung der Aneignungsstrategie früherer Stadtführer, bei denen Bauwerke über den „schlesischen Granit“, „Piastische Wappen“ oder die Zimmeranzahl bewerkstelligt wurde.221 Der Stadtführer leitet beim fünften Spaziergang einen Sprung über das Ausstellungsgelände mit der stählernen Nadel, die im Gegensatz zu der Jahrhunderthalle (Hala Ludowa) mit einem vertiefenden Exkurs geehrt wird, aus der Innenstadt in die Vorstadt hinaus (Abb. 2.61). Der Ausblick führt im letzten Spaziergang gleich in zwei entgegengesetzte Himmelsrichtungen. Im Norden wird Hundsfeld (Psie Pole) angesteuert. Das Interesse gilt hier neben der Industrie vorrangig dem legendären Schlachtfeld von 1109, auf dem der polnische König Bolesław Krzywousty als „Bezwinger Heinrich des V.“ und seiner Kriegerscharen gefeiert wird. Den südlichen Gegenpol bildet die Vision der Wiederauferstehung der Südstadt in vorfabrizierter Großplatte sowie die Ehrerweisung auf dem „Heldenfriedhof“ der sowjetischen Offiziere, der in den Rang eines „nationalen Heiligtums“ erhoben wird.222 2.2.6. „Breslau – Stadtführer durch die alte und neuzeitliche Stadt“ (1963) „Breslau – Stadtführer durch die alte und neuzeitliche Stadt“223 von Wanda Roszkowska wird in einer Auflage von 15.205 Exemplaren herausgegeben. Es erscheint in dem Verlag „Sport und Touristik“ dem Nachfolger des Verlags „Kraj“ vom PTTK. Die Veröffentlichung verfolgt den Anspruch ein im Angebot „fehlendes Buch für Alle“ zu der Stadt nachzureichen und richtet sich laut dem Vorwort in erster Linie an die eigenen Stadteinwohner, die Breslauer.224 Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Der Stadtführer ist mit einer stark differenzierten und ausgebauten historischen Einleitung ausgestattet, welche sich nach dem Vorwort (S. 5-7) und den allgemeinen Daten zur Lage, Klima, Fläche und der Einwohnerzahl (S. 8-9) auf rund 100 Seiten erstreckt. Das Kapitel „Von der Wehrsiedlung zur Großstadt“ (S. 10-25) zeigt einen historischen Überblick, der von einer Kontinuität polnischen Wirkens in der Stadt zeugt. Daran gliedert sich das Kapitel „Einkesselung der Stadt – 1945“ (S. 26-27) an, das die Stunde Null einläutet und mit Prozentangaben sowie Diagrammen den Status Quo am Tag der Wiederinbesitznahme der Stadt 1945 dokumentiert. Mit dem Kapitel „In der sozialistischen Stadt“ (S. 28-43) setzt sich die Geschichtsschreibung unter statistischer Auflistung der Aufbauleistung und den Vergleich mit anderen polnischen Städten fort. Ein historisches Intermezzo bietet eine dreispaltige Tabelle mit den wichtigsten Fakten der Stadtgeschichte 221 Bezeichnend ist der Anfang des dritten Weges, bei dem das Gebäude des ehemaligen Gauamtes (Wojewodschaftsamtes/Wojewódzka Rada Narodowa) vorgestellt wird, um anschließend in Kleinbuchstaben die Statistik der Wojewodschaft Schlesien aufzuschlüsseln, ebd.: S. 86; siehe auch Bernhardinerkloster (Sitz des Baudenkmalamtes und des Architektur Museums der Stadt), ebd.: S. 90 222 Ebd.: S. 128 223 Roszkowska, Wanda (Hg.): Wrocław – przewodnik po dawnym i współczesnym mieście, Warszawa 1963 224 Ebd.: S. 5 2. Kapitel 103 bis 1961 aus den Kategorien: wirtschaftliche und politische Ereignisse, Sprache und Kultur, Kunst und Architektur (S. 44-89). Das zwischengeschaltete Kapitel „Aus der polnischen Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (S. 90-101) spiegelt das im Vorwort ausgesprochene Verlangen, die Vielfalt der Entwicklung polnischer Kultur trotz der „raffinierten Germanisierung“ zu zeigen, wider. 225 Die Einleitung schließt mit dem Kapitel „Architekturentwicklung Breslaus“ (S. 102-113) ab, das einen direkten Übergang in die sieben Besichtigungswege darstellt. Der Stadtführer ordnet seine Besichtigungen nach der Chronologie und der Bedeutung, die den Stadtvierteln beigemessen wird. Der erste Besichtigungsweg wird der Altstadt auf knapp 100 Seiten gewidmet. Der Weg beginnt auf der „Dominsel“ (S. 114), führt über die Sandinsel (S. 135) zu der „Neustadt“ (S. 140) und mündet in der „Hauptaltstadt“ (S. 144) mit seinen Zentrum am Ring. Daran schließen ebenfalls auf knapp 100 Seiten die Vororte der Stadt an. An erster Stelle in der Hierarchie wird ein Ausflug in das „Akademische Viertel“ (S. 213) und in die Südstadt (S. 232) vorgestellt, die laut dem Vorwort auch für auswärtige Besucher attraktiv sind. Nach den Vorstadtvorreitern wird das Odertorviertel mit Hundsfeld (S. 251), die Ohlauer Vorstadt (S. 269) und die Nikolai Vorstadt mit dem Industriegürtel (S. 289) behandelt. Im Anhang wird ein Informator (S. 302), eine Bibliografie (S. 331) sowie Namens-, Ort- und Objektverzeichnis (S. 338), als auch ein Inhaltsverzeichnis (S. 368) untergebracht. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der rund 370 Seiten umfassende Stadtführer im Taschenformat (A6) präsentiert sich äußerlich zurückhaltend. Die Umschlagsgestaltung spielt mit einer Reduktion der Stadt auf einen abstrakten gotischen Spitzbogen, der in Schwarz auf rotem Hintergrund am rechten unteren Rand platziert ist. Über ihm am oberen Rand ist die Aufschrift „Wrocław“ untergebracht. In der Zwischenzone fällt der schwarze Punkt auf, über dem senkrecht der Schriftzug „Stadtführer“ steht (Abb. 2.62). In der formalen Gestaltung lassen sich Analogien zum Vorgänger von 1960 feststellen. Zu Beginn einer Besichtigungsroute wird der Weg über Stichpunkte auf einen Blick vorgestellt. Die typografische Gestaltung arbeitet mit einer knappen historischen Beschreibung eines Objektes, an den wahlweise weiterführende Exkurse im rechtseingerückten Absatz angeboten werden. Diese setzen sich durch Wahl einer Kleinschrift von der Kurzvorstellung der Objekte weiter ab und können optisch übersprungen werden. Die Hervorhebung der Objekte erfolgt bei der Kurzvorstellung über eine Schriftweise in Großbuchstaben, bei den Exkursen durch die Silbentrennung (Abb. 2.63). Den Objekten werden in eckigen Klammern Nummer zugeordnet, die sich auf die den einzelnen Routen beigefügten Stadtplanausschnitte beziehen. Die schwarzweißen Stadtpläne sind abstrakt gehalten und beinhalten neben der grafischen Hervorhebung der behandelten Objekte die dazugehörige Nummerierung. Ein an die Karten angeschlossenes Inhaltsverzeichnis der Objekte erleichtert ihre Lesbarkeit. Eine Wegdarstellung in den Planausschnitten ist nicht gegeben (Abb. 2.64). Zur besseren Orientierung tragen sowohl die im Textfluss eingebauten Hinweise hinsichtlich der Wegbzw. Blickrichtung, als auch die konsequente Angabe der aktuellen Strassen- und Platznummer der Objekte bei. Das Medium unterstützt die Führung mit zahlreichen visuellen Hilfsmitteln.226 Zum einen werden künstlerische Illustrationen sowie Plangrundrisse zu ausgewählten Objekten eingeführt. Zum anderen 225 Ebd.: S. 7 226 Schwarzweißbilder und Stiche 36x (auf gebündelten Seiten), Schwarzweißillustrationen 24x, Grundrisse 4x, Schwarzweißpläne 9x 2. Kapitel 104 wird der Führer in regelmäßigen Abständen mit einer Fülle an Bildern auf jeweils vier bis acht Seiten bestückt. Neben den Fotografien fallen besonders die historischen Stiche, bei denen die Bildbeschreibung ausführlicher ausfällt, auf. Dem Stadtführer ist ein herausnehmbarer Stadtfaltplan beigefügt (Abb. 2.65). Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Stadtführer verfolgt das Ziel ein vollständiges Bild der Stadt für Alle abzubilden. Diese im Vorwort geäußerte Vorstellung führt zu einer ausgewogenen Abbildung der Altstadt und ihrer Vororte, denen jeweils rund 100 Seiten zugestanden werden. Die Kurzbeschreibungen zu den Objekten stehen in der Tradition der Vermittlungsmuster ihrer Vorgänger, die beim ersten Objekt auftreten und fortgesetzt werden.227 Die rechtseingerückten Exkurse folgen dem Schema von 1960, bei dem die Institutionalisierung der Architektur eine wichtige Rolle spielt.228 Die Polonisierung der Stadt setzt sich in der Lokalisierung weiterer Werke Jan Jerzy Urbańskis in der St. Vinzenz Kirche (koś. Św. Wincentego), der polnischen Messe in der St. Barbara Kirche (koś. Św. Barbary) sowie der Entdeckung weiterer Fragmente der Romanik aus der Stiftung von Piotr Włost im mittelalterlichen Arsenal fort.229 Der Stadtführer greift auf das tradierte Arsenal der Stadtaneignung zurück und baut es weiter aus. Die ausführliche und fundierte Beschreibung der Objekte, die von Zitaten, Literaturverweisen und einer angegliederten Bibliografie begleitet wird, zeugt von einer neuen inhaltlichen Qualität der Stadtvermittlung. Neben der akribischen Suche nach polnischen Elementen tauchen vermehrt Informationen zum deutschen Erbe der Stadt auf, die im Gegensatz zu den Vorgängern auch großen Lob ernten. Vor allem gilt die Ehre der „originellen und gewagten“ deutschen Moderne und ihren Architekten, der bis dahin wenig Beachtung und Wert beigemessen worden ist. Besonders auffällig schlägt sich das Interesse an der deutschen Moderne in der Person Richard Plüddemanns und seinen Bauwerken nieder. Auf das Lob seines modernistisches Entwurfes der Markhalle mit parabolischen Stahlbetonkonstruktion von 1908 folgt wenige Seiten später ein abwertendes Urteil über sein „aufdringliches neogotisches“ Sparkassengebäude von 1891.230 Auffallend an den Beispielen ist die Fortschreibung einer polnischen Geschichte der Baudenkmäler mit Hintergrundinformationen bezüglich ihrer derzeitigen Funktion und ihr beiwohnenden Institution, die beispielsweise an der Ohlauer Strasse und dem Einkaufshaus Erich Mendelsohns ablesbar sind.231 Im Falle des Sparkassengebäudes wird die hier nach 1945 untergerbachte Universitätsbibliothek mit ihren Sammelwerken samt den Telefonnummern und Öffnungszeiten präsentiert. Einer steigenden 227 „[1] PETER UND PAUL KIRCHE (koś. św. Piotra i Pawła), einschiffig, gemauert, steht an der Stelle eines älteren von 1174 (?), heutiges gotisches Bauwerk aus dem 15.Jhd. gehört zu den interessanten und bemerkenswerten Baudenkmälern. Es ist ein Gotteshaus mit einer Säule im der Mitte des Innenraums. Wiederaufgebaut und in die Ursprungsform zurückversetzt durch Dr. M. Bukowski in den Jahren 1952-1953. Im Inneren ein polnisches Epitaph mit einem Adler und St. Georg zu Ross (Pogoń), gewidmet Jan Szleński, aus dem Jahr 1710: grauer schlesischer Marmor mit Stuck.“ Ebd.: S. 118 228 Ebd.: S. 136f. (Universitätsbibliothek auf der Sandinsel), S. 164 (Ossolineum); S. 238 (städtische Druckerei), S. 256 (Staatsarchiv) 229 Ebd.: S. 151 (St. Vinzenz Kirche/koś. Św. Wincentego), S. 194 (St. Barbara Kirche/koś. Św. Barbary und Arsenal) 230 Ebd.: S. 144 (Markthalle), S. 201 (ehemaliges Sparkassengebäude/heute Universitätsbibliothek) 231 In der Ohlauer Str. 7 taucht das Gasthaus „Unter dem Blauen Hirsch“ mit dem Revolutionär Robert Blum (1849) auf, an dessen Stelle Erich Mendelsohn sein „überaus fortschrittliches“ Kaufhaus errichten konnte, in dem Heute „gut organisierte und ausgestattete“ Werke der Textilindustrie untergebracht sind. Ebd.: S. 173f. 2. Kapitel 105 Beliebtheit erfreuen sich ebenfalls die neutralen Skulpturen deutscher Bildhauer, wie der „Fechter“, die Komposition „Kampf und Sieg“ und der „Amor auf dem Pegasus“.232 Die Auf- und Abwertung, die den einzelnen Objekten wiederfährt, scheint ähnlich wie im Stadtführer von 1960 weniger politischer als ästhetischer Natur zu sein. Letztendlich entscheidet die vorherrschende Mode, ob ein Bauwerk mit dem Adjektiv „aufdringlich“ oder „originell und gewagt“ geschmückt wird. Es gehört eher zur Ausnahme, dass deutsche Bauwerke, wie das Gerichtsgebäude am Stadtgraben, mit eindeutig negativer Assoziation in Verbindung gesetzt werden.233 Neben dem deutschen Erbe führt der Stadtführer die jüdische Geschichte der Stadt vor. Ausgehend vom Karlsplatz (pl. Bohaterów Getta) wird die jüdische Gemeinde mit ihren „angeborenen Talent“ präsentiert. Die Vorurteile bedienend stellt der Führer große Persönlichkeiten der Gemeinde und die Schauplätze ihres Wirkens, wie die Synagoge „Unter dem Weißen Storch“ und die von den „Hitleristen zerstörte“ Neue Synagoge, vor.234 Der Rang, den die Dominsel einnimmt, verdankt sie einerseits der Chronologie, andererseits der Sonderrolle der Kirche, die im kleingeschrieben Exkurs offenkundig wird. Der Stadtführer präsentiert ein polnisches Bollwerk, bestehend aus dem Klerus der Dominsel, dem die Stadt in Form des deutschen Patriziertums des Ringes entgegensteht.235 Der Ausflug in die urpolnische Stadt wird in der Neustadt, die analog der Dominsel zum Bollwerk des polnischen Proletariats gegen das Patriziertum aufsteigt, fortgesetzt. Bezeichnend für den Stadtführer ist die Visualisierung der Schauplätze polnischer Tradition mit einer Fülle an historischen Stichen. Auf diese Weise bekommt der Leser unter anderem zum ersten mal eine Vorstellung von der Clemenskirche (koś. św. Klemensa), die den Ausgangspunkt des polnisch angeführten Aufstandes 1418 gegen das im Rathaus sitzende deutsche Patriziat darstellt. Diese Strategie der Verbildlichung der polnischen Geschichte und ihrer mentalen Rekonstruktion wiederholt sich in dem Medium durchgehend (Abb. 2.66).236 Der Ring mit seinem symbolischen Zentrum in der Gestalt des Rathauses, dessen „Entwicklung [...] Hand in Hand mit der Loslösung der Stadt von der herzoglichen Macht“ einhergeht, bildet den Endpunkt der ersten Besichtigungstour.237 Bemerkenswert erscheint die 6-seitige illustrierte Abhandlung des Bauwerks von Außen und Innen sowie die Schilderung der an dem Bauwerk 232 „Auf einen kleinen Platz steht die Skulptur „Amor auf dem Pegasus“. Ein ausdruckstarkes, von den Breslauern geschätztes, Kupferwerk von Theodor von Gosen (1913).“ Ebd.: S. 206; siehe auch Fechter-Skulptur von H. Lederer (1904) auf dem Universitätsplatz, der als „Breslauer Manequin Pis“ mit einer akademischen Tradition nach 1945 beschlagnahmt wird, ebd.: S. 161f. 233 „Im Hintergrund (des Schlossplatzes) schimmerten, wie Heute, die aggressiven Konturen der kreuzritterlichen Silhouette der Gerichte (krzyżackiej sylwety sądów).“ Ebd.: S. 203, siehe auch: S. 263 (Odertorbahnhof) 234 Ebd.: S. 197ff. und S. 203 (Neue Synagoge) 235 „Zwischen der Stadt und der Dominsel setzt sich eine Dauerfeindseligkeit fest, die in der Reformation weiter vertieft wird. […] Als Friedrich II. den Wiederstand des Dom- und Heilig-Kreuz-Kapitels bricht, wird diese in die Fortifikation der Sternbastion einbezogen; die Stadt siegt endgültig über die Dominsel.“ Ebd.: S. 116 236 Bildbeschreibung zum Kupferstich von F. G. Endler, 1808: „Die Clemenskirche (koś. Św. Klemensa) in der Neustadt in der Polnischen Strasse 7 (ul. Polska) (existiert nicht mehr) – „Kirche der Polen und Fischer“, schrieb im Jahr 1512 Bartholomäus Stenus, der dem kleinen polnischen Tempelchen abgeneigt war. Ludwig Burgemeister, der eine Bestandsaufnahme zu Breslaus Baudenkmäler machte, erwähnte diese im 19. Jhd. abgetragen Kirche nicht einmal. Von hier gingen 1418 die aufständischen Zechenarbeiter auf das Rathaus los; […] polnische Messen sind im 16. Jhd. nachgewiesen. […], 1773 wurde an seiner Stelle eine Kaserne errichtet.“ Ebd.: S. 128ff.; siehe auch die Zeichnung von H. Mützel, 1827, S. 144ff.; sowie das Bild von 1909 und Zeichnung von F.B. Werner, um 1750, S. 176ff.; oder Wappen der nicht mehr existierenden Gaststätte „Unter dem grünen Polen“, S. 192ff. 237 Ebd.: S. 176 2. Kapitel 106 vorgenommen Rekonstruktionsarbeiten von deutscher und polnischer Seite. Der aufkläririschen Vermittlungsweise fällt dabei die Rathaustür mit den Axtspuren von Aufstand des Jahres 1418 zum Opfer, die schließlich als Legende offenbart wird.238 Die anschließenden Besichtigungswege führen den Leser auf eine Entdeckungsreise in die Vororte der Stadt, denen rechtseingerückte mit Kleinschrift versehene Absätze, die sogenannten „Routenerweiterungen“ beigefügt, sind. Bei der Vorstadtvermittlung fällt der Schwerpunkt auf die städtebauliche Entwicklungsgeschichte unter besonderer Darstellung der zugrundeliegenden Geschichte der polnischen Dörfer. Allen voran steht die tradierte Beschreibung der Elbinger Abtei, der eine Ausgrabungskarte beigefügt wird.239 In der Vermittlungshierarchie der Vorstädte wird das „Akademische Viertel“ und die Schweidnitzer Vorstadt vorangestellt. Dabei fällt bei der Objektauswahl und ihrer Vermittlung ein starkes Gewicht auf die deutsche Architektur. Stellvertretend kann an dieser Stelle das Verhältnis der „Stahlkonstruktion der [123] IGLICA von Prof. S. Hempel, 1948“ zu der „[124] HALA LUDOWA (Jahrhunderthalle) – der größten Attraktion Breslaus am rechten Ufer“ genannt werden.240 Immerhin schafft die Iglica in der beigefügten Illustration fragmentartig die „größte Attraktion“ zu flankieren. An der „prächtigen Eiche [119] von P i o t r W ł o s t “ vorbei, gewährt eine an das Messegelände angeschlossene „Routenerweiterung“ den ersten Einblick in die modernistische Architektur der „Wohn- und Werkraumausstellung“ von 1929.241 Ein weiterer Schwerpunkt des Mediums liegt auf der Industrie und den bereits erwähnten Institutionen, die den Bezug zum polnischen Breslau nach 1945 herstellen. Dies führt überraschender Weise zur lakonischen Vermittlung bedeutender Erinnerungsorte der Nachkriegszeit, die sich einvernehmlich im Einzeiler zum Friedhof der Sowjetischen Offiziere, bei dem lediglich auf die aufgestellten Panzer aus der Schlacht von Kursk hingedeutet wird, äußert.242 Die Rolle der polnischen Nachkriegsarchitektur nimmt wiederum eine marginale Stellung ein. Dem prominenten Wohnviertel KDM der frühen fünfziger Jahre, wird als „Fragment des neuen Breslaus“ weniger Platz gelassen, als dem direkt davor zitierten „zweitgrößten Panoramakino „Śląsk“ (Projekt der zwanziger Jahre vom Architekt W. Hentschel)“.243 Aber auch die aktuellen Großbauprojekte Breslaus, die auf vorgefertigte Bauweise zurückgreifen, geraten angesichts der ausgiebigen städtebaulichen Schilderung und einer auffallenden Berücksichtigung des deutschen Erbes ins Hintertreffen. Fast schon verwunderlich stellt man fest, das der Führer am Neumarkt (Nowy Targ) keine Andeutung des Wiederaufbaus in moderner Bauweise anspricht.244 Stattdessen wird die 1945 verlorengegangene Substanz in historischen Ansichten mehrmals rekonstruiert (Abb. 2.67). Auch die knappe Beschreibung der „großen Möglichkeiten, die das Ruinenfeld der Südstadt, den Stadtplanern von Heute in Aussicht stellt“, steht in keiner Relation zu der Vermittlung der altehrwürdigen Baudenkmäler der Innenstadt 238 „Zum Gedächtnis dieses Ereignisses (Aufstand, 1418) hinterließ man an der Tür Spuren von Axteinschlägen. Wir sollten jedoch 239 Ebd.: 253f. (historische Beschreibung der Abtei), S. 266ff. (Objekte und Ausgrabungskarte) 240 Ebd.: 224f.; siehe auch die Vermittlung des Wohnviertels „Wanda“ mit „großen modernen Wohnblöcken“ (nach 1945) im ihrer Authentizität keinen Glauben schenken.“ Ebd.: S. 183 Verhältnis zum Kino „Przodownik“, einen „hochmodernen Werk der Zwischenkriegszeit vom Architekt A. Rading (1925-1926), S. 247 241 Ebd.: S. 223 242 Ebd.: S. 249 243 Ebd.: S. 237 244 Ebd.: S. 145f. 2. Kapitel 107 und der Vorstadt samt der deutschen modernistischen Bauweise.245 Es scheint, als ob die größten Bauvorhaben der Nachkriegszeit, die drei Jahre zuvor vorgestellt wurde, stiefmütterlich in die städtebauliche Vermittlung der Südstadt implementiert worden wäre. 2.2.7. „Breslau – Stadtführer“ (1970) „Breslau – Stadtführer“ unter der Redaktion von Wanda Roszkowska erfährt sieben Jahre nach der spezifischen, auf die Einwohner der Stadt zugeschnittenen, Veröffentlichung von 1963 eine spektakuläre Überarbeitung. Der Verlag „Sport und Touristik“ publiziert noch einmal den Stadtführer von 1963 in einer Auflage von 20.230 Stück.246 Begleitet wird dieser von einer jeweils rund 5.000 Stück umfassenden fremdsprachigen Neukonzeption.247 Die inhaltliche und gestalterische Neugestaltung folgt den Bedürfnissen eines zeitgemäßen Stadtführers für die fremdsprachigen Touristen. Das hiermit eingeführte neue Format, das im Folgenden vorgestellt wird, behauptet sich bis 1989 und darüber hinaus. Es feiert unter der Federführung von Janusz Czerwiński seit 1976 einen einmaligen Erfolg. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Der Stadtführer behält im groben seine Struktur von 1963 bei. Nach dem „Allgemeinen“ (S.11), folgt der „Blick in die Vergangenheit“ (S. 13) der in vier Unterkapitel geteilt wird und bis 1945 den deutschverschuldeten Stadtuntergang dokumentiert. Das Kapitel „Breslau der Gegenwart“ (S. 34) zeigt statistisch belegtes Aufwärtsstreben der Stadt nach 1945. Die tabellarische Aufführung bedeutender Ereignisse der Stadtgeschichte geht in den Kapitel „Blick in die Vergangenheit“ auf. Nach dem Kapitel „Architektur von Breslau“ (S. 45) werden „Berühmte Persönlichkeiten in Breslau“ (S. 57) sowie „Festlichkeiten und Festivals“ (S. 61) vorgestellt. Der Stadtführer bietet ein Besichtigungsprogramm (S. 64) für 4 Tage an. Die „Stadtrundgänge“ (S. 64) werden auf vier Routen reduziert, die Altstadt (S. 65) und drei die Stadt durchquerende Vorstadtrouten (S. 104). Darüber hinaus schlägt das Medium sieben „Ausflüge in die Umgebung“ (S. 152) vor. Der Besichtigung wird ein ausgebauter „Informationsteil“ (S. 168) und ein Sachverzeichnis (S.186) angehängt. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Formal vollzieht der Führer eine starke Metamorphose. Der 196-seitige Stadtführer im länglichen Taschenformat (DIN A lang) gibt sich ganz modern. In der oberen Hälfte des gelben Umschlags steht in schwarzen Großbuchstaben „STADTFÜHRER“ geschrieben. Die Aufschrift ist oberhalb eines abstrakten Stadtplans angebracht, der mit der Stadt Breslau nicht in Verbindung gebracht werden kann. Unter diesem erstreckt sich die schwarze Aufschrift „WROCŁAW“. In der linken unteren Ecke ruht das ebenfalls abstrakt gehaltene Wappen der Stadt von 1948 (Abb. 2.68). 245 Ebd.: S. 243 246 Roszkowska, Wanda: Wrocław – przewodnik po dawnym i wsółczesnym mieście, Warszawa 1970; dabei handelt es sich eine Aktualisierung des Stadtführers von 1963, bei der ein an die Zeit und Interessen angepasstes Besichtigungsprogramm angeboten (S. 102-104), eine Nummeriung der Objkete am Textrand und innerhalb der Karten (siehe Stadtführer von 1952) eingeführt, das Einzuggebiet innerhalb der 9 Routen um weitere Vororte ausgeweitet und die gebündelten Bildseiten aufgegeben werden 247 Ebd.: Wrocław – Stadtführer, Warszawa 1970; A guide to Wrocław, Warszawa 1970; beide Titel werden 1973 noch einmal mit jeweils 8.200 Stück aufgelegt 2. Kapitel 108 Der Stadtführer integriert die bewährten Gestaltungsmittel von 1963. Die Wegführung wird zu Beginn einer Route in Stichworten zusammengefasst. Die Objekte werden im Text durch stärkere Lettern (bold) und Großschreibung hervorgehoben. Hintergrundinformationen werden in klein geschriebenen Absätzen angeboten. Zur besseren Navigation bietet der Stadtführer die Anbringung einer Objektnummerierung (Orange) am äußeren Rand der Texte, die in den beigefügten Stadtplanausschnitten gefunden werden können. Die Stadtpläne liegen in zwei Maßstäben vor. Der große Maßstab zeigt die Gesamtansicht der jeweiligen Route (Abb. 2.69). Der kleinere Maßstab zeigt einen vergrößerten Ausschnitt der Strecke und weist Richtungspfeile auf, die an eine Schnitzeljagd erinnern und die Laufrichtung vermitteln sollen(Abb. 2.70). Separate Absätze in kursiver Schriftart weisen zusätzlich den Weg an. Der Stadtführer arbeitet hauptsächlich mit einer textbasierten Vermittlung. Außer dem Kartenmaterial und ausgewählten Grundrissplänen, die aus der Ausgabe von 1963 bekannt sind, kommt es ohne visuelle Unterstützung aus. Ein „schematischer Plan der Durchfahrtstrassen“ stellt die Stadt in ihrer Gesamtheit vor den Stadtrundgängen visuell vor. Ein loser Faltstadtplan mit einem Straßenverzeichnis liegt der letzten Seite bei. Der praktische Teil „Informator“ wird mit roten Rändern abgesetzt. Einen neuen gestalterischen Impuls setzt der Stadtführer mit der Kopfzeile, die bei den nachfolgenden Publikationen zum festen Bestandteil wird. Diese wird mit einer waagerechten Linie vom Text abgesetzt. Die linke Seite trägt den Namen der Route, die rechte die Strassen- und Platznamen, so dass eine zusätzliche Orientierung bei der Handhabung ermöglicht wird. Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Die Führung im Stadtführer wird durch eine neue Routenaufteilung seiner gegenwärtigen Kundschaft angepasst. Sie beginnt am Hauptbahnhof und setzt sich von hier unter Beschreibung „der wertvollsten Bau-, Kultur- und Kunstdenkmälern – zum Großteil nach dem Kriege wieder aufgebaut – sowie neuen Wohnvierteln und Industrieanlagen“ fort.248 Im Unterschied zu der ursprünglichen Auflage von 1963 fallen die Hintergrundinformationen schwächer aus. Das omnipräsente polnische Dorf der Vorstadt verlässt die Szene zu Gunsten der 1963 stiefmütterlich behandelten Großbaustellen der Nachkriegsstadt. Dem Großbauprojekt „Breslau - Süd“ (Wrocław-Południe) und seinen Protagonisten, den nach weiblichen Namen benannten vorfabrizierten Wohnsiedlungen, wird gebührend Raum gelassen. 249 Daran beginnt sich die neue Vorzeigearchitektur der Stadt zu reihen, wie das „‚Haus des Wissenschaftlers’ (Dom Naukowca), welches 1961 den Titel ‚Mister Breslau’ errang.“250 Im Großen und Ganzen sind die Texte der ersten Auflage entnommen und an der ein oder anderen Stelle um vertiefende Hintergrundinformation bereinigt.251 248 Ebd.: S. 9 249 „GAJOWICE und die südlichen WOHNSIEDLUNGEN ANNA, BARBARA, CELINA (im Bau) und DOROTA (im Entwurf) zeigen eine aufgelockerte Bebauung, die durch Grünstreifen unterteilt ist. Hier diente die PKWN-Wohnsiedlung in modernisierter Form zum Vorbild. Bis jetzt ist dies in Breslau der größte realisierte Abschnitt des städtebaulichen Programms der Nachkriegszeit. Neu sind die hohen Vertikalakzente. Die Reihe der schräggestellten Hochhäuser (10-12 Stockwerke) verleiht dieser Wohnsiedlung großstädtischen Charakter.“ Ebd.: S. 108; siehe auch: S. 135 (PKWN-Wohnsiedlung); sowie: S. 101 (Neumarkt/Nowy Targ) 250 Ebd.: S. 113; Der Architekturpreis für besonders gute und innovative Architektur der Stadt wurde seit 1961 unter dem Namen „Dom Wrocławia“ (dt.: „Das Haus Breslaus“) verliehen. 251 Als Beispiel kann hier die Beschreibung der WuWA (1929) aufgebracht werden, bei der auf die Beschreibung der ihr zugrunde liegenden polnischen Siedlung „Dąbie“ sowie die Vorstellung der „Eiche P i o t r W ł o s t “ im Vergleich zu der Ausgabe von 1963 verzichtet wird. Ebd.: S. 119 2. Kapitel 109 2.2.8. „Breslaus – Stadtführer“ (1972) „Breslau – Stadtführer“252 von Andrzej Konarski, der seit den siebziger Jahren im TMW aktiv ist, wird in polnischer und deutscher Sprache bei dem Niederschlesischen Informationszentrum der Touristik (DOIT) herausgegeben. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Der Stadtführer gliedert sich in zwölf Kapitel, den ein propagandistisches Vorwort „Breslau – Stadt des Friedens“ vorangestellt wird, in dem das Repertoire vergangener Jahre rezitiert wird. Das Kapitel „1. zwölfmal Breslau“ (S. 9) stellt in zwölf Schlagsätzen einprägsam die Stadt vor. Kapitel „2. auf den spuren derer – die vor uns waren“ (S. 15) geht auf die symbolischen Vorfahren ein, die einen Bezug zur polnischen Kultur haben.253 Es ist bezeichnend, dass in der Ahnengalerie keine Persönlichkeit der deutschen Stadtgeschichte vorkommt. Von der Ausklammerung der deutschen Vergangenheit zeugt auch das Kapitel „3. Die wichtigsten Ereignisse aus der Geschichte Breslaus“ (S. 23), die bis ins 20. Jahrhundert einen Akzent auf die polnische Note der Stadt legen.254 Mit dem Kapitel „4. Die Denkmäler und Gedenkstätten des Märtyrertums“ (S. 29) beginnt eine mahnende Vermittlung der Stadtarchitektur, die sich über die folgenden Kapitel „5. Die historischen Kulturdenkmäler von Breslau“ (S. 35), „6. Das neue Bauwesen“ (S. 49) und „7. Die Parkanlagen, Erholungsstätten, Stadien und Sportanlagen“ (S. 63) erstreckt. Abschließend werden die reisepraktischen Tipps abgehandelt; „8. Museen, Ausstellungen, Theater, Kinos“ (S. 71), „9. Nachtlager, Gaststätten, Handel, Dienstleistungen“ (S. 79), „10. Touristeninformation – Reisebüros“ (S. 86), „11. Verkehr“ (S. 92) und „12. Mit dem Auto durch Breslau“ (S. 98). Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Das hellbraune Titelblatt des 107-seitigen im Längsformat (DIN A lang) herausgegebenen Stadtführers trägt eine am linken Rand senkrecht aufgestellte weiße Aufschrift „Wrocław“, die fächerartig um den Buchstaben W nach rechts umklappt und dabei in schwarzer Schrift vervielfältigt wird. Die obere rechte Ecke ist mit hellbraun gehaltenen Stadtwappen von 1948 auf weißem Hintergrund besetzt, das zur Linken von der Aufschrift „Stadtführer“ flankiert wird (Abb. 2.71). Der Führer setzt sich von seinen Vorgängern gestalterisch stark ab. Das Inhaltsverzeichnis beinhaltet grafisch abgesetzte Kapitelnummern zur Linken, denen es zur Rechten die jeweiligen Kapitelüberschriften entgegensetzt. Auf Seitenzahlen wird gänzlich verzichtet. 252 Konarski, Andrzej: Wrocław. Przewodnik, Wrocław 1972; (dt. Ausgabe: Ebd.: Wrocław. Stadtführer, Wrocław 1972); siehe auch sein Rätselbuch zu Wrocław unter dem Titel „434 Zagadki o Wrocławiu“ (dt.: „434 Rätsel zu Breslau“) von 1999 „ 253 „Julian Ursyn Niemcewicz – Publizist und Dichter. Beobachtete während seines Aufenthaltes in Breslau im Jahre 1821, das zahlreiche polnische Milieu. Einer Messe in der Heilig Kreuz Kirche beiwohnend, hörte er eine „vortreffliche polnische Predigt“. (Es berichtet davon eine Gedenktafel an der Südwand der Kirche).“ Ebd.: S. 21 254 „1848/49 – Blutige Straßenkämpfe in der Stadt. Teilnahme der Polen in den Kämpfen. 1890 – Entstehung des ersten polnischen Gesangvereins ‚Lutnia Wrocławska’. 1894 – Gründung des Polnischen Verbandes ‚Sokół’. 1912 – In Breslau wird die polnische Jugendorganisation ‚Związek Harcerstwa Polskiego w Niemczech’ (dt.: „Vereinigung der polnischen Jugendpioniere in Deutschland“) gegründet.“ Ebd.: S. 27f. 2. Kapitel 110 Die Kapitel werden durch farbig akzentuierte Trennblätter, die rechts oben die jeweilige Kapitelnummer und Namen auf weißem Hintergrund tragen, getrennt. Die Kapitelzugehörigkeit wird in der Kopfzeile mitgetragen. Die behandelten Objekte werden durch Großschreibweise, beziehungsweise durch stärkere Lettern (bold) hervorgehoben. Dabei strukturiert der Führer die Seiten ähnlich dem Inhaltsverzeichnis in zwei Teile. Schlagwortartig werden die Objekte in den rechts eingerückten Textpassagen vorgestellt. Weitere Hervorhebungen in den Passagen erfolgen durch Großschreibweise oder Silbentrennung. Eine Leerzeile dient der Trennung der Objekte untereinander. Zur visuellen Unterstützung wird den farbigen Seiten der Kapitelaufmacher eine Bildseite nachgestellt. Es handelt sich dabei um 29 Schwarzweißbilder, von denen 18 der Nachkriegsarchitektur und neun der historischen Bausubstanz gewidmet werden. Die Bildzusammensetzung versucht thematisch dem Kapitel Folge zu leisten. Den Bildern werden erklärende Bildunterschriften zugeordnet (Abb. 2.72). Eine dem Führer angehängte abstrakte und maßstabslose Stadtkarte soll der Orientierung dienen. Die „Erklärung“ am rechten Stadtplanrand weist der Nummerierung innerhalb der Karte die dazugehörigen Objektnamen zu. Rund ein drittel der 33 Nummer werden „Neubauten“ zugewiesen. Die numerische Objektfolge steht in keinen Verhältnis zu der Reihenfolge ihrer Vermittlung im Text. Eine nachvollziehbare Wegführung ist sowohl dem Text, als auch dem Stadtplan nicht zu entnehmen (Abb. 2.73). Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Die Führung durch die Stadt wird thematisch in Kapitel unterteilt. Andrzej Konarski beginnt seine Vorstellung mit den mahnenden Erinnerungsorten der Stadt nach 1945. Seine Aufzählung der Gedenkstätten des Märtyrertums, unter denen fünf Friedhöfe weilen, zeichnet als Auftakt die Verantwortung der polnischen Stadt gegenüber den eigenen Opfern ab.255 Die eigentliche Stadtführung setzt sich in der Besichtigung der Altstadt fort, die vom Ring aus, einen Bogen über den Ritterplatz (Pl. Nankiera), die Sand- und Dominsel macht, um über die mittelalterliche Neustadt am Stadtgraben mit der Blickbeziehung zum „Haus unter der Goldenen Krone“ am Ring zu enden. Bei der Abhandlung der Baudenkmäler wird dem Leser keine wegweisende Hilfe geboten, so dass keine Orientierung gegeben ist. Die Führung gestaltet sich bruchstückhaft. Die knapp gehaltenen Beschreibungen rezitieren die Vermittlungsschemen der Vorgänger. Es treten die Institutionen, das „piastische Gewölbe“, die polnischen Messen, altehrwürdige Persönlichkeiten sowie die Konstellation „zerstört und wieder aufgebaut“ auf.256 Charakteristisch wird das Rathaus als „eines der herrlichsten Denkmäler der gotischen, weltlichen Baukunst in Europa“ vorgestellt, dessen Ausbau mit dem „Losreißen der Stadt von der 255 Vgl. mit dem Stadtführer von J. Łomnicki, M. Morelowski und W. Walczak, 1952; der Totenkult nach 1945 begann mit dem Friedhof der sowjetischen Offiziere und dem Grab des Sozialisten Ferdinand Lassalle auf dem Jüdischen Friedhof; im Stadtführer von 1972 kommen die Nekropolen in folgender Reihenfolge vor: 1.) Friedhof der sowjetischen Offiziere (764 Gräber), 2.)Friedhof der sowjetischen Soldaten (7128 Soldaten), 3.) Polnischer Soldatenfriedhof (700 Gräber), 4.) Massengrab der Soldaten vom Warschauer Aufstand 1944 (10 Soldaten), 5.) Grabstätte der Miliz- und Sicherheitsdienstsfunktionäre; demnach kommen die Erinnerungsorte an polnische Opfer in dem Medium nach den der „Sowjetischen Waffenbrüder“ 256 Ebd.: S. 42 (Ossolineum, wertvolle Manuskripte, wie „Pan Tadeusz“ von Adam Mickiewicz), S. 43 (Marienkirche a. d. Sandinsel/koś. NMP na Piasku: „Piastisches Gewölbe“), S. 44 (Martini-Kapelle/koś. św. Marcina: „polnische Messe“ und „zerstört und wiederaufgebaut“) 2. Kapitel 111 Fürstenherrschaft“ unter dem deutschen Banner des Patriziertums verbunden ist.257 Dem gegenüber wird der Eintritt in den Dom als Einzug in eine urpolnische Nische inszeniert. Einen Prozessionszug ähnelnd beginnt die Besichtigung am Hauptportikus mit seinen romanischen Pfeilern, führt an dem im „Eingang ausgehängten Fotos, welche die Ausmaße der Zerstörung des Doms illustrieren,[…] am ersten Pfeiler rechts mit einem Alabasterrelief von Jan Jerzy Urbański, welches den polnischen Bischof Nankier darstellt, […] weiter zur Barockkanzel, […]die von Urbański mit Reliefs geschmückt ist.“258 Die Domführung schließt mit der Vorstellung der „Vitragen […], welche polnische Heilige und mit der Rückkehr Schlesiens an Polen verbundene Szenen darstellen“, die „von Kunstmalern aus Breslau entworfen“ wurden.259 Zu der Konstellation „zerstört und wieder aufgebaut gesellt sich verstärkt die Architekturrekonstruktion lange vor 1945 zerstörter Architektur, die ein mittelalterliches Stadtbild, beziehungsweise ein Zeugnis polnischer Vergangenheit ablegen sollen.260 Programmatisch erscheint an dieser Stelle, dass die Führung am Rathaus gegenüber einem „nach alten Plänen rekonstruierten Renaissancehaus ‚Unter der goldenen Krone’“ beginnt und mit dem Blick auf dessen „im Renaissancestil rekonstruierte Attika“ endet.261 Der Stadtführer klammert bei der Vermittlung der Architektur das genuin deutsche Erbe aus. Zu den Ausnahmen zählen das Neue Rathaus und das Staatstheater, bei denen das Baujahr, beziehungsweise das Datum der ersten polnischen Aufführung preisgegeben werden.262 Ein weiterer Schwerpunkt der Führers liegt in dem neuen Bauwesen, dem ein der Altstadt ebenbürtiges Kapitel gewidmet wird. Dieser spiegelt sich bereits in der Auswahl der Bilder wider. Es kann kein Zufall sein, dass „einem der herrlichsten Denkmälern“ der Stadt, dem gotischen Rathaus, zumindest in der fremdsprachigen Ausgabe kein Recht auf ein Bild zugesprochen wird. Das Bildverhältnis von 2:1 zu Gunsten der Nachkriegsarchitektur zeigt eindeutig, dass der Führer ein modernes Stadtbild konstruiert, in dessen Hintergrund die Vergangenheit schlummert (Abb. 2.74). Die Führung durch die Nachkriegsmoderne beginnt mit einer historischen Vorstellung der Bauetappen und ihrer vorherrschenden Bauweise, an welche direkt die Abhandlung der einzelnen Baustellen anknüpft. Dem Leser wird eine von Baustelle zur Baustelle springende Einführung in die Schauplätze der Bautätigkeit geboten, die einerseits ein Zeugnis vom polnischen Engagement des Wiederaufbaus, andererseits den Stolz auf die Modernität der Stadt vertritt. Das Kapitel zu den „Parkanlagen, Erholungsstätten, Stadien und Sportanlagen“ rundet das Bild der modernen Plattenbausiedlungen und der Betonarchitektur ab. Die asphalt- und betonverschriebene Urbanität bekommt hier ihre Wiesen, Wälder und Badestrände, die um das Kulturangebot des reisepraktischen Teils zusätzlich bereichert wird. 257 Ebd.: S. 38f. 258 Ebd.: S. 44f. 259 Auszug aus der deutschen Fassung, ebd.: S. 46 260 Die Rekonstruktion umfasst die Mauergrundrisse der Wehrburg auf der Dominsel, den romanischen Wohnhaus der „Trebnitzer Frauen“ (Panien Trzebnickich) am Ritterplatz (pl. Nankiera), dem mittelalterlichen Wehrturm samt Mauerfragmenten hinter der Markthalle, die bei Bauarbeiten entdeckte Wehrbastion am Dominikaner Platz (pl. Dominikański) und das „Haus unter der Goldenen Krone“ gegenüber dem Rathaus. 261 262 Ebd.: S. 40 und S. 48 „Neues Rathaus – ein neogotischer, länglicher Bau, der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstand.“ Ebd.: S. 39; „Im Opernhaus (Mitte des 19. Jhd.) wurde am 8. September 1945 die polnische Nationaloper „Halka“ von Stanisław Moniuszko, unter Spielleitung von Stanisław Drabik aufgeführt.“ Ebd.: S. 47 2. Kapitel 112 2.2.9. „Breslau und Umgebung – Stadtführer“ (1976, 1980, 1989) „Breslau und Umgebung – Stadtführer“263 von Janusz Czerwiński erscheint im Verlag „Sport und Touristik“ mit einer Auflage von 20.275 Exemplaren als überarbeitete Neuausgabe des fremdsprachigen Stadtführers von 1970. Sowohl der Stadtführer von 1976, der bis 1989 zweimal wiederaufgelegt wird und insgesamt eine Auflage von rund 70.000 Stück erreicht, als auch sein Autor, der bis heute aktiv ist und ein Dutzend bedeutende Stadtführer zu Breslau herausgegeben hat, avancieren zum bedeutendsten Vertreter des Genres in Breslau. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Der Stadtführer teilt sich klassisch in drei Teile auf: die Einleitung, die Rundgänge und die praktischen Informationen. Die Einleitung beginnt mit dem „Allgemeinen“ (S. 7) und endet in der historischen Skizze der Stadt. Im Kapitel „Die Stellung Breslaus in der Geschichte der polnischen Länder“ (S. 13) vom Historiker Stanisław Michałkiewicz, der in unveränderter Form bis 1989 einen integrativen Bestandteil des Stadtführers ausmacht, wird die sozialistische Geschichtsschreibung der „Wiedergewonnen Gebiete“ gepflegt. Die statistische Grundierung der Nachkriegserrungenschaften Breslaus unter polnischer Führung wird im anschließenden Kapitel „Breslau im Volkspolen“ (S. 27) genüge getan. Die explizit der Architektur, den Persönlichkeiten und Festlichkeiten der Stadt gewidmeten Kapitel von 1970 werden zwischenzeitlich aufgegeben.264 Zu Anfang der Besichtigung zeichnet ein „Besichtigungsprogramm“ (S. 33) die optimale Aufteilung der Routen in Abhängigkeit zur Verweildauer der Besucher auf. Die Führung unterteilt sich in eine Stadtund eine Umgebungsbesichtigung. Die Stadt wird in neun zusammenhängenden Routen vermittelt, beginnend mit dem „Altstadtring“ (S. 36) und endend mit dem „Neuen und neusten Breslau“ (S. 103). Das Kapitel „Objekte außerhalb der Besichtigungswege“ (S. 113) vervollständigt die Routen. Die Stadtbesichtigung endet mit der Vorstellung der Stadtmuseen, die dem angehängten praktischen Teil entnommen werden. Der weiter ausgebaute Teil „Ausflüge in die Umgebung“ (S. 123) bietet sechs Routen in alle Himmelsrichtung an. Ein reisepraktischer „Informator“ (S. 181), eine weiterführende Literaturliste (S. 191) sowie das Sachverzeichnis bilden den Abschluss des Stadtführers. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Die Gestaltung der Titelseite und das Format des 196-seitigen Stadtführer entsprechen dem fremdsprachigen Stadtführer von 1970. Eine Veränderung befindet sich in dem schematischen Stadtgrundriss, der diesmal eindeutig der Altstadt von Breslau zugeschrieben werden kann (Abb. 2.75). Die formale Gestaltung folgt ebenfalls der Ausgabe von 1970. Die Routennamen bilden über Bindestriche eine Kette aus Kristallisationsorten der jeweiligen Besichtigungswege, die zu Beginn einer Route durch weitere Strassen- und Platznamen in ihrer Länge erweitert und zitiert werden. Eine kurze inhaltliche Zusammenfassung der Strecke folgt.265 263 Czerwiński, Janusz: Wrocław i okolice. Przewodnik, Warszawa 1976 264 Die Kapitel „Festlichkeiten und Festivals“ kehren 1980/1989, die „Berühmten Persönlichkeiten“ 1993 bei Czerwiński wieder 265 „Die Route (Nr. 2) erlaubt uns die nord-westliche Altstadt kennen zu lernen, wo viele romanische und gotische Objekte erhalten zurück. geblieben sind. Zu den bedeutendsten zählen unter anderem das romanische Elbinger Portal, Renaissance- und Barockhäuser, 2. Kapitel 113 Die textbasierte Vermittlung arbeitet weiterhin mit der Hervorhebung besonders sehenswerter Objekte durch stärkere Lettern (bold) und Großschreibweise. Die Übergänge infolge einer Distanzbewältigung zwischen dem Sehenswerten werden durch Absätze gekennzeichnet. Einen neuen Absatz leitet eine kursiv geschriebne Wegeinweisung ein, die eine zusätzliche Orientierungshilfe darstellt. Darüber hinaus bieten die Klammern einen Platz für Anweisungen hinsichtlich der zu beachtenden Blickrichtung.266 Weiterführende Exkurse befinden sich in separaten Absätzen, die durch Kleinschrift einen Eigencharakter bekommen und visuell übersprungen werden können. Eine am Textrand angebrachte Nummerierung (Orange) ausgewählter Objekte steht im Bezug zu den Kartenausschnitten. Diese an den Anfang der Route gestellte, nicht genordete visuelle Orientierungshilfe markiert mit roten Pfeilen die Wegführung. Besondere Objekte werden mit schwarzer Schraffur aus dem abstrakten Kontext der Bebauungsblöcke herausgeholt und mit Nummern versehen, die mit der orangenen Nummerierung am Textrand korrespondieren (Abb. 2.76). Ein Routenübersichtsplan legt im Kapitel „Besichtigungsprogramm“ die Kartenausschnitte einzelner Routen übereinander. Die Nummer und der Bindstrichname der Route wird in der Kopfzeile über einer horizontalen Linie fortgeführt und erleichtert die interne Routensuche. Eine Übersichtskarte Breslaus in den administrativen Grenzen wird dem ersten Kapitel „Allgemeines“ zwischengeschaltet und beherbergt neben der schematischen Verkehrsanbindung die Nummern der „Objekte außerhalb der Routen“. Die dominierenden Farben sind Schwarz und Orange. Zu den visuellen Mitteln zählen sieben ausgewählte Grundrisse, die um zusätzliche Erläuterungen ergänzt werden und aus dem Stadtführer von Wanda Roszkowska bekannt sind. Das Repertoire von 1970 und 1963 wird durch das Piastenmausoleum und den Botanischen Garten ergänzt (Abb. 2.77). Des Weiteren wird die Perspektivzeichnung zur visuellen Hervorhebung von sieben ausgewählten Objekten eingesetzt (Abb. 2.78).267 Der Stadtführer verzichtet weiterhin auf fotografische Darstellungen. Der praktische Teil wird durch die roten Seitenränder optisch vom restlichen Stadtführer abgesetzt. Ein Faltstadtplan mit einem Straßenverzeichnis steckt in der Rücktasche des Umschlags. Analog dem Pharus-Plan von 1938, der als Grundlage beim ersten Nachkriegsstadtplan diente, werden elf ausgesuchte Objekte in der Karte durch Miniaturperspektiven in dem Faltplan hervorgehoben (Abb. 2.79).268 Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Stadtführer verfolgt das Ziel, „dem Touristen Wege vorzustellen, die ihm eine Stadtbesichtigung unter Vermittlung sowohl der Baudenkmäler und der Souvenirs (pamiątki) als auch der sakrale Baudenkmäler und das Mausoleum der Breslauer Piasten. Die Route endet an der Sandbrücke, die zur Sand- und Dominsel führt.“ Ebd.: S. 44 266 „Vom Ring in Richtung Osten, entlang der Ohlauer Strasse (ul. Oławska), anschließend nach links in die Schuhbrücke (ul. Szewska). Auf der rechten Seite (an der Kreuzung ul. Szewska und ul. Oławska) ein prächtiger Bau der Bekleidungsbetriebe ‚1. Mai’ mit dem Kaufhaus ‚Kameleon’. Errichtet 1927 nach dem Entwurf vom Architekten E. Mendelsohn, […].“ Ebd.: S. 44 267 vgl. mit den Illustrationen in: Roszkowska, Wanda: Wrocław – przewodnik po dawnym i współczesnym mieście, Warszawa 1963 und 1970 268 Im Uhrzeigersinn vom Ring aus gesehen: Rathaus, Papst-Denkmal an der St. Martin Kirche (koś. św. Marcina), NS-Gauleiter-Amt (Wojewodschaftsamt), Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki), Denkmal der ermordeten Lemberger Professoren, Stahlnadel mit der Jahrhunderthalle (Hala Ludowa), Japanischer Garten, Holzkirche im Scheitninger Park, Hauptbahnhof, Ehrendenkmal der gefallenen Milizsoldaten, Philharmonie. In: Czerwiński, Janusz: Wrocław i okolice – przewodnik, Warszawa 1976 2. Kapitel 114 zeitgenössischen sozial-wirtschaftlichen Entwicklung ermöglichen.“269 Janusz Czerwiński unterteilt hierfür die Routen in mehrere Kurzstrecken, die eine Reihe an Besichtigungsalternativen in Abhängigkeit von den Interessen und der Verweildauer der Besucher anbieten. Den Ausgangspunkt der Führungen bildet der Ring mit dem Rathaus, dem die erste Route gewidmet wird. Eine Ausnahme stellt die Besichtigung der Sand- und Dominsel (Nr. 4., Beginn: Sandbrücke) sowie die Führung durch das „Neue und Neuste Breslau“ (Nr. 9., Beginn: Sonnenplatz/pl. PKWN) dar. Die Vermittlung der Baudenkmäler erfolgt im Allgemeinen durch die Bekanntgabe ihrer Besonderheit, des Stils, der Typologie, der Ausmaße, der Bauzeit und des Autors, beziehungsweise des Stifters.270 Diese Kenndaten werden von Zusatzinformationen begleitet, die teilweise in den kleingeschriebene Exkursen weiter ausgeführt werden. Die Besonderheit äußert sich meist in den Bauausmaßen und der künstlerischen Bedeutung eines Bauwerkes, das in einen europäischen, nationalen und lokalen Vergleich gesetzt wird.271 Einer besonderen Behandlung erfreuen sich die Baudenkmäler der höchsten Kategorie, das gotische Rathaus und der gotische Dom, die in einer detaillierten Besichtigung von Außen und Innen, im Fall des Doms durch einen vertiefenden baugeschichtlichen Exkurs, vorgestellt werden. Der Stadtführer schlägt einen neutralen Stil der Vermittlung ein, infolgedessen deutsches Erbe nach gleichen Vermittlungsmuster, wenn auch spärlicher, behandelt wird. Emotionslos, beinah trocken und lakonisch wird, stellvertretend für andere Beispiele, die Markthalle (Hala Targowa), als ein pseudogotisches Bauwerk mit einer Stahlbetonkonstruktion von 1908 präsentiert.272 Die Emotionslosigkeit der Architekturvorstellung des Stadtführers, der eher auf schöne Panoramen, nette Aufenthaltsorte und Restaurants mit „leckeren Fisch“ aus ist, unterstützt eine Abkehr von der nationalen Kontrastierung der Stadtlandschaft.273 Der Führer schlüpft in die Rolle eines Insiders, der Tipps bezüglich einer Weinprobe in mittelalterlichen Gemäuern, einer empfehlenswerten Ruhepause bis hin zu den Öffnungszeiten sehenswerter Objekte, parat hat. In Klammern gesetzte Seitenverweise verknüpfen die Inhalte zwischen den Kapiteln und führen kurze Hintergrundinformationen auf.274 Der Stadtführer löst sich jedoch nicht von den tradierten Mustern der Stadtvermittlung, die eine polnische Stadt konstruieren sollen. Es wiederholt sich die explizit an die Leistung der Pioniere erinnernde Konstellation „zerstört und wieder aufgebaut“. Zum Synonym für die Kontinuität der polnischen Kultur in Form der polnischen Messen avanciert endgültig die St. Martin Kirche (koś. Św. 269 Ebd.: S. 33 270 „Die Kirche (Marienkirche a. d. Sandinsel/koś. NMP na Piasku), eine der größten gotische Kirchen Breslaus, dreischiffig, das Längsschiff ist 78m lang, 25m breit und 23m hoch (bis zu Dachfirst 41m). Vom Osten wird sie von einer vieleckigen Apsis abgeschlossen. Vom Westen zwei Türme, von denen der nordwestliche nur die Höhe der Dachtraufe erreicht. […].“ Ebd.: S. 60 271 „Das Rathaus, gehört zu den bedeutendsten dieser Art in Mitteleuropa.“ Ebd.: S. 37. Siehe auch: S. 46 (Elbinger Portal), S. 82 (Arsenal), S.77 (St. Elisabeth Kirche/koś. św. Elżbiety), S. 86 (Universitätsbibliothek), S. 114 (Jahrhunderthalle/Hala Ludowa) 272 Ebd.: S. 86; siehe auch: S. 87f. (Gerichtsgebäude) und S. 94 (Schlesischer Landtag /NOT) 273 Ebd.: S. 62, S. 51, S. 63, S. 87, S. 99 und S. 100 („schöne Panoramen); S. 43 („populärer Weinhaus ‚Bachus’, dessen Keller mit rekonstruierten Säulen aus dem 13.Jhd. ausgestattet ist“), S. 84 („Fisch-Snack-Bar ‚Kambuz’, gemütlicher Innenraum und köstliche Fischgerichte“) 274 „’Haus der Trebnitzer Frauen’ (als Trebnitzer Frauen nannte man die Ordensschwestern aus dem Zisterzienserkloster in Trebnitz) wird als das älteste Haus der Stadt angesehen. […] Mit der Heilig-Geist-Strasse (ul. Św. Ducha) verbindet sich der wunderschöne Boulevard von Xawery Dunikowski, der sich an der Oder zwischen Sandbrücke (m. Piaskowy) (S. 58) und Kaiserbrücke (m. Grunwadzki) (S. 100) erstreckt. Es ist ein beliebtes Spaziergebiet der Breslauer mit der schönsten Panorama von der Dominsel.“ Ebd.: S. 51. Siehe auch: S. 99 (s. 119) und (por. s. 122); S. 96 (s. 45), S. 58 (por. opis na s. 51) 2. Kapitel 115 Marcina).275 Die traditionellen Verbindungen der lokalen Baukunst zu Polen und den romanischen Kulturen wird weiter gepflegt.276 Ausnahmsweise wird bei der sonst hetzfreien Führung das Dominikanerkloster als „altbewehrte Nische des Polentums im germanisierenden Schlesien“ vorgestellt. Die Wirkung polnischer Stifter, Baumeister und Künstler wird durch Piotr Włost, Murator Pieszko und seine „piastischen Gewölbe“, wie auch durch Jan Jerzy Urbański, dessen Repertoire vervollständigt wird, fortgeschrieben. Zusätzlich erweitert sich die Vorstellung vom polnisch konnotierten Breslau späterer Jahrhunderte, welches in dem die polnische Sprache lehrenden Hl. Matthias Gymnasium mit seinen Schüler, dem „weltbekannten Imker Jan Dzierżoń“, zum Ausdruck kommt.277 Die Institutionalisierung der Architektur findet in den zahlreichen Kleinschriftexkursen eine breite Anwendung. Sie erstreckt sich von der Beschreibung des Verlages „Ossolineum“, über das moderne Theater „Laboratorium“ bis hin zu den Innovationsleistung der Elektrobetriebe „ELWRO“. Die Exkurse am Mausoleum der Piasten (koś. św. Klary), der Universität und der Technischen Hochschule bringen die Menschen hervor, die dort ihre letzte Ruhestätte, beziehungsweise ihren Wirkungsort hatten und haben. Auffallend ist dabei, dass der Führer bei den beiden letzten Institutionen die Wirkung deutscher und jüdischer Wissenschaftler in einen Zug mit ihren polnischen Kollegen bis 1976 aufführt. Ähnliche Beobachtung der Einbeziehung deutscher Geschichte zeigt sich in dem Interesse für die Epitaphen der St. Elisabeth (koś. św. Elżbiety) und St. Maria Magdalena Kirche (koś. św. Marii Magdaleny). Neu ist auch die in Klammern angesetzte Nennung der ehemaligen deutschen Namen in polnischer Sprache.278 Bemerkenswert erscheint ebenfalls der Verzicht auf die lebendige Vermittlung des polnischen Wesens der Stadt mit Hilfe der zahlreichen Gaststätten und ihrer polnischen Gäste. Sowohl die Reusche Strasse (ul. Ruska) als auch Ohlauer Strasse (ul. Olawska) werden ihres Privilegs beraubt vom Polentum des 19. Jahrhunderts zu zeugen. An ihrer Stelle wird im Gegenzug die kriegsbedingte Zerstörung der eklektizistischen und sezessionistischen Einkaufshäuser bemängelt.279 Die Stadtgeschichte nach 1945 kommt in der Lokalisierung der Unterkunft des Sowjetischen Stadtkommendanten, der ersten Theateraufführung „Halka“, der Siegesparade polnischer Einheiten, der Ausstellung WZO, dem Kongress der Intellektuellen und der Gründung von der „Vereinigung der Polnischen Jugend“ (PZM) im Kinosaal „Śląsk“ vor.280 Die Berührung mit der neuen Architektur der Nachkriegszeit vollzieht sich am Sonnenplatz (pl. PKWN), „einem der gelungensten Wohnviertel der Stadt“ als Ausblick in eine positive Zukunft. Der Sozialistische Realismus der Wohnsiedlung KDM wird dagegen mit einer lakonischen Zeile abgestraft. Dass „der pl. PKWN seit Jahren den traditionellen Ort der Manifestationen des 1. Mai“ bildet, ist ein 275 „Auf der linken Seite die St. Martin Kirche (koś. św. Marcina), eine der ältesten gotischen Kirchen. […] An ihre polnischen Traditionen (in der Zwischenkriegszeit hielt man hier polnischen Messen ab) knüpft das Glasfenster mit dem ‚Rodło’-Motiv [Symbol der „Polenbundes in Deutschland“] an.“ Ebd.: S. 65 276 Ebd.: S. 46 (Elbinger Portal: Verbindung zu Frankreich), S. 96f. (St. Adalbert Kirche/koś. Św. Wojciecha: Verbindung zu Krakau), S. 92 (Corpus Christi Kirche/koś. Bożego Ciała: Verbindung zu Sandomierz an der Weichsel) 277 Ebd.: S. 57 278 Ebd.: S. 93 (ul. Ogrodowa für die Gartenstrasse), S. 87 (pl. Zamkowy für den Schlossplatz), S. 94 (Sejm Śląski für den Schlesischen Landtag), S. 114 (Hala Stulecia für die Jahrhunderthalle) 279 Ebd.: S. 83 Reusche Strasse (ul. Ruska), S. 96 Ohlauer Strasse (ul. Oławska) 280 Ebd.: S. 93 (PZM, 1948) 2. Kapitel 116 weiterer Ausdruck der Bedeutung, die man der neuen Architektur zuteilt. Vereinfachend gesagt treten die modernen Verkehrsknotenpunkte in der Symbolik vor die zentralen Plätze der Stadt.281 Den Übergang vom Alten zum Neuen leitet der Stadtführer mit dem bekannten Vorstoß in das „Akademische Viertel“ und der Erzählung von der Zerstörungswut der „Hitleristen“ beim Bau einer Fluglandebahn in Mitten der Stadt ein. Die anschließende Führung „stellt sowohl die neuen Wohnviertel, ihren Charakter, das Ausmaß der Zerstörung, die der Krieg in Breslau hervorgerufen hat, als auch das gigantische Werk des Wiederaufbaus“ vor.282 Die Vermittlung der neuen Stadt steht somit, wie die der Altstadt, im direkten Zusammenhang mit der Zerstörung und der Wiederaufbauleistung. Ähnlich den Baudenkmälern, werden hier ganze Siedlungen der modernen Bauweise vermittelt, wobei der Schwerpunkt auf dem geschaffenen Wohnraum, den Dienstleistungs- und Erholungszentren liegt. Die neue Architektur erfährt dabei durch eine originelle Namensgebung eine Personifizierung, wenn ganze Siedlungen der Südstadt mit weiblichen Namen (Anna, Barbara, Celina und Dorota) und besonders ausgefallene Architektur mit Spitznamen, wie Beispielsweise „Dackel“ (Jamnik), „Ameisenhügel“ (Mrówkowiec) oder „Rasierklinge“ (Żyletkowiec), angesprochen werden.283 Janusz Czerwiński nutzt dabei die Gelegenheit die großen Industriebetriebe vorzustellen, die in den Kleinschriftexkursen eine besondere Hervorhebung erfahren. Stellen die kulturellen Institutionen der Altstadt einen Fokus der weiterführenden Exkurse dar, so finden diese ihr Pendant in den stolzeinflößenden Industriebetrieben der Vorstädte.284 Das angehängte Kapitel „Objekte außerhalb der Besichtigungsroute“ füllt geschickt in alphabetischer Reihenfolge die routenbedingte Lücke auf. Damit bietet der Stadtführer ein abgerundetes, thematisch aufbereitetes Hilfsmittel der Stadtaneignung an. 281 „Der Sonneplatz (pl. PKWN) ist heute einer der größten Verkehrskontenpunkte der Stadt, den u.a. 9 Straßenbahnlinien kreuzten. […] Um den Platz entstand (bis 1961) ein Wohnviertel (Entwurf von K. Bieńkowski), eines der gelungensten in der Stadt, mit einen eindrucksvollen, 16-stockigen Wohnhaus, […].“ Ebd.: S. 88; vergleiche mit: “Pl. Kościuszki, einer der zentralen Plätze der Stadt, errichtet 1807. Um ihm herum die Wohnsiedlung KDM, errichtet (1955-58) im Stil des Sozialistischen Realismus (Architekt R. Tunikowski) und im allgemeinen mit der älteren Bebauung in Harmonie stehend.“ Ebd.: S. 93 282 Ebd.: S. 103f. 283 „[…] Wohnsiedlung ‚Celina’ (Entwurf vom Architekt K. Bieńkowski, J. Łowiński, W. Kamocki, R. Kożuch), […]. Errichtet mit der Bautechnik der Großplatte in den Jahren 1963-74 für rund 13 Tausend Einwohner. Überwiegend Hochhäuser (11-stöckig). Die 11stöckigen Häuser an der Gabitzstrasse (ul. Gajowicka/ehem. ul. Próchnika) und Kaiser-Wilhelm-Strasse (ul. Powstańców Śląskich), die sogenannten ‚Bretter’, bilden schräg in nord-süd Richtung zu einander stehende Triaden (Komplexe aus drei Teilen). In der Gegend des Höfchenplatzes (pl. Ludwika Hirszfelda) befindet sich ein Dienstleistungszentrum, ein Supermarkt, das Restaurant ‚Polonez’. An der Charlottenstrasse (ul. Krucza), ein 4-stöckiges, langes Haus mit 14 Eingängen, der sogenannte ‚Dackel’. […].“ Ebd. 110f 284 „Der Betrieb (MERA-ELWRO), ein Stolz- und Schmuckstück Breslaus, verdankt seine Entstehung der öffentlichen Initiative (Ing. S. Rylski, M. Bazewicz und Andere), den Aspirationen der Gelehrtenkreise, als auch der positiven Einstellung der Partei und Stadtadministration. […].“ Ebd.: 107f. 2. Kapitel 117 2.2.10. „Breslau – Stadtführer“ (1993) „Breslau – Stadtführer“285 von Janusz Czerwiński erscheint als überarbeitete Neuauflage des 1976, 1980 und 1989 im Warschauer Verlag „Sport und Touristik“ veröffentlichten Stadtführers, der in seinen formalen und inhaltlichen Grundzügen bis zum Untergang der Volksrepublik im wesentlichen unverändert blieb. Demgegenüber präsentiert Janusz Czerwiński in seinem Vorwort die neue Edition als eine „gekürzte Version“ seiner Vorgänger in einem „neuen grafischen Gewand“. Der Autor macht in seinem Vorwort auf „die grundlegenden Veränderungen in der Präsentationsart des zeitgenössischen Stadtbildes, als auch in der Beschreibung einiger Objekte, unter Berücksichtigung des wachsenden Interesses an der Geschichte der Stadt Breslau“, aufmerksam.286 Das hier bekundete Interesse geht Hand in Hand mit der fruchtbaren Erkenntnis, dass „die Stadt an der Grenze dreier Nationen und vieler Kulturen, die ihr Wirken im materiellen und geistigen Antlitz der Stadt hinterließen, in einer Tradition und Verpflichtung eines gemeinsamen Erbes und Wertesystems steht.“287 Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Der Stadtführer ist in der klassischen Dreiteilung aufgebaut. Die Einleitung setzt sich aus den „Allgemeinen Informationen“ (S. 8), den „Berühmten Persönlichkeiten“ (S. 15) und einem Kapitel „Aus der Geschichte Breslaus“ (S. 19), das wiederum in sechs Unterkapiteln die Entwicklung der Stadt umreißt, zusammen. Die Einführungskapitel lassen den Wandel des Zeitgeistes spüren, der sich einprägsam in der Galerie der „berühmten“ Stadtbürger widerspiegelt.288 Hieß das pendantartige Kapitel 1970 noch „Berühmte Persönlichkeiten in Breslau“ und ließ auf diese Weise auch kurzfristige Besuche, wie die von John Adams, Juliusz Słowacki oder Le Corbusiers vermerken, so treten 1993 die herausragenden Stadtbürger, die einen nachhaltigen Verdienst für die Stadt erwiesen haben, unter anderem Max Berg, an ihre Stelle. Die eigentliche Führung teilt sich in einen Hauptteil „Durch die Strassen der alten und neuen Stadt“ (S. 42) mit neun zusammenhängenden Besichtigungswegen, die durch das Kapitel „Objekte außerhalb der Besichtigungswege“ (S. 172) abgerundet werden. Den sachten Übergang von der Führung zum reisepraktischen „Informator“ (S. 197) vertritt das angestellte Kapitel zu den „Museen“ (S. 192) der Stadt. Das Schlusslicht wird für das bewährte Sachverzeichnis (S. 215) und die abschließende Werbung (S. 220) reserviert. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Die Titelbildgestaltung des 237-seitigen Stadtführers im Taschenbuchformat (A5) greift auf das Medium der Farbfotografie zurück, das zum durchschlagenden Darstellungsmedium der Neuauflage wird. Das hochkantige Vollbild zeigt den beliebten Blick von der Sandinsel auf die Dominsel, wobei der Fokus auf den im Abendlicht schimmernden Dom liegt. Zentral hinter der Oder ragen die 285 Czerwiński, Janusz: Wrocław – Przewodnik, Wrocław 1993; vgl. überarbeitete Neuauflage, ebd.: Wrocław – Przewodnik, Wrocław 2002 286 Ebd.: S. 7 und weiter: „Der Verlagscharakter und seine (des Führers) bescheidenen Ausmaße zwingen mich zur lakonischen, oft stark vereinfachten Darstellung der Ereignisse, Objekte und Personen. Besonders hart getroffen wird davon die Vorstellung der einzigartigen Stadtatmosphäre.“ 287 Czerwiński, Janusz: Wrocław – Śląska metropolia nad Odrą, Warszawa 1993, S. 11 288 Auf 11 deutsch-jüdische Ehrenbürger im Zeitraum vom 15. bis 20. Jhd., kommen 3 Persönlichkeiten mit vermuteter polnischer Herkunft bis zum 15. Jhd. und 7 vom 19. bis zum 20. Jhd., in: Czerwiński, Janusz: Wrocław – Przewodnik, Wrocław 1993, S. 15ff. 2. Kapitel 118 Domtürme mit ihren 1991 fertiggestellten Turmhelmen in den Himmel empor. Den oberen Abschluss des Titelbildes bildet die über einem horizontalen Strich stehende Aufschrift „Wrocław“. Unter der Linie, links und rechts der Spitzhelme wird „Stadtführer“ und „Janusz Czerwiński“ untergebracht (Abb. 2.80). Der Stadtführer arbeitet weiterhin mit den bewährten stilistischen Mitteln der Textgestaltung. Die Routen beginnen in einer Dreistaffelung. Der Routenname hinter der Routennummer setzt sich aus den wichtigsten Wegpunkten zusammen. Darunter bietet eine stichpunktartige Auflistung weiterer Wegpunkte eine ausführlichere Zusammenfassung der anstehenden Wegführung. Diese Kurzanweisung wird durch eine hellblaue Kontur, ähnlich einem Wegweiser, grafisch herausgehoben. Das Bindglied zwischen der Stichwortmarkierung des Weges und der Besichtigung verkörpert die Kurzbeschreibung der Wegführung und ihrer Inhalte. Den Sprung in die Führung bewerkstelligt eine knapp gehaltene Weganweisung, die durch einen eigenen Absatz sowie eine kursive Schreibweise einen Eigencharakter aufweist und fortwährend bei der Führung zur Navigation eingesetzt wird (Abb. 2.81).289 Die besonderen Objekte werden durch starke Lettern (bold) aus dem Textfluss herausgehoben. Weiterführende und vertiefende Informationen werden durch einen eigenen Absatz in Kleinschrift von der Grundinformation getrennt. Jahreszahlen, Baumeister und kurze Erläuterungen werden in Klammern gesetzt. Analog den älteren Auflagen führt der Autor im Fall des Rathauses und des Domes eine Besichtigung von Außen und Innen durch. Die an den Anfang der Routen gestellten Stadtplanausschnitte bieten neben der spärlichen Beschreibung der braun hervorgehobenen Objekte keine Wegführung und keine Objektnummern an. Damit verzichtet der Stadtführer auf die bewährte Verknüpfung der Stadtplanobjekte mit der textbasierten Führung, so dass am Textrand keine Nummern der behandelten Objekte angebracht werden. Die Orientierung und Navigation wird durch die nicht genordeten, in Laufrichtung ausgerichteten, Planausschnitte nur mäßig erleichtert. Die von einer horizontalen Linie abgesetzte Kopfzeile beherbergt auf der linken Seite den Namen des Kapitels, auf der gegenüberliegenden Seite die Nummer sowie den Namen der Route. Die Seitenzahlen flankieren die Kopfzeilen am äußeren Rand. Eine deutliche Veränderung fällt im „neuen grafischen Gewand“ des Mediums auf. Zierten spärlich eingesetzte und klein gehaltene Illustrationen die Reihe aus dem „Sport und Touristik“ Verlag, so füllen 43 großzügige Farbbilder den Stadtführer aus dem lokalen Leopoldinum-Verlag. Die Fotografie und die stark erweiterten Grundriss- und Aufrisspläne mit Erläuterung bilden den Schwerpunkt der grafischen Gestaltung.290 Die visuellen Medien drängen dabei die Textinformationen stärker in den Hintergrund, auch wenn das Verhältnis flächenmäßig ausgewogen ist (Abb. 2.82). Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Stadtführer fasst die alternativen Routen (2. und 3.) seiner früheren Auflagen zusammen und erweitert gleichzeitig die Besichtigung um das Odertorviertel der Gründerzeit, so dass weiterhin 9 durchgehende Routen angeboten werden. Die Führung verläuft weitestgehend professionell, ohne subjektiv oder politisch motivierte Wertung. Die Tipps des Stadtführers werden aktualisiert. 289 „Vom Ring aus (nord-östliche Ecke) in die ul. Kuźnicza und weiter bis zum pl. Uniwersytecki.“ Ebd.: S. 67 290 Hierbei werden die 7 Grundrisse von 1976 auf 14 erweitert. Zu dem werden schematische Aufrisse zu der Ikonostase aus der orthodoxen Kirche der ehemaligen St. Jakob-Kirche (cerkiew św. Cyryla, Metodego i Anny) und der Jahrhunderthalle (Hala Ludowa) von Max Berg bereitgestellt. 2. Kapitel 119 Das Interessante bei dem Stadtführer ist die Beobachtung, wie sich die Vermittlung der altehrwürdigen Objekte nach der Wende bei ein und dem selben Autor verändert. Janusz Czerwiński behält im Großen und Ganzen seine Wegführung und die früheren Texte im unveränderter Form bei. Dem im Vorwort geäußerten Wunsch dem gesteigerten Interesse an der Geschichte der Stadt nachzugehen, versucht er in der Anreicherung und Hervorhebung der deutschen Kulturzeugnisse gerecht zu werden. Das was der Autor 1976 mit der dezenten Erwähnung der ehemaligen deutschen Namen in Klammern eingeführt hat, führt er in ausführlicherer Form weiter fort. Stellvertretend kann hier das Denkmal Aleksander Fredos vorgestellt werden, das „1956 hierher aus Lemberg (Lwów/L’viv) gebracht wurde, an dessen Stelle bis 1945 das Denkmal des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. (A. Kiss, 1861), […], gestanden hat.“291 Die immer wiederkehrende Konstellation „zerstört und wieder aufgebaut“ wird durch differenziertere Beschreibung der Kriegsschäden relativiert.292 Differenzierter fällt auch die Beschreibung der Ikonen der Nachkriegsrekonstruktion auf. Das rekonstruierte „Haus unter der Golden Krone“, dessen Attika bisher ein in steingehauenes Zeugnis der polnischen Renaissance repräsentierte, erfährt eine Befreiung vom nationalen Kontext. Die ursprüngliche Attika erfährt eine Verankerung im schlesischen Raum, ihre Rekonstruktion wird als „nur teilweise an das Original anknüpfend“ in ihrer Bedeutung geschmälert.293 Im Zuge der Wiederentdeckung deutscher Geschichte der Stadt bekommt der „deutsche Historismus“ der preußisch-wilhelminischen Zeit einen gebührenden Platz unter den Baudenkmälern der Stadt. Die „interessante Architektur der Markthalle (R. Plüddemann, 1908), […], vor allem die originelle, […] Stahlbetonkonstruktion (H. Küster), machen aus ihr eines der wertvollsten Baudenkmäler des 20. Jahrhunderts.“294 Die einst verrufene deutsche Architektur des 19. und 20 Jahrhunderts wird, neben der Neuen Börse (1865-67), den Gerichten (1845-52) und dem Hauptbahnhof (1856, 1899-1904), mit großformatigen Bildern gewürdigt. Der Wertewandel tritt besonders bei der Beschreibung der Neuen Börse und der Gerichte, auf die direkt die neue Nachkriegsarchitektur am Sonnenplatz (pl. Legionów, ehemals pl. PKWN) folgt, hervor. Zwar behält der Autor durch Benutzung der gleichen lobenden Worte seinen Stil in der Beschreibung bei, wenn es zu der Plattenbausiedlung heißt, „eines der gelungensten Wohnsiedlungen der Stadt“, seine Bildsprache unterliegt jedoch bereits einem neuen Paradigma. Kurzum, gezeigt wird die deutsche Architektur (Abb. 2.83).295 Auffallend ist die allgemeine Befreiung von der Kontrastierung und Instrumentalisierung von Persönlichkeiten und sozialen Gruppen, die dem kontinuierlichen Kampf der Polen gegen das Deutschtum der Stadt konstituierten.296 Paradoxerweise kann die Vermittlung der Panorama von Racławice, dessen Ausstellung lange Zeit „durch viele Hürden (vor allem politischer Natur)“ verhindert 291 Ebd.: S. 56 und weiter heißt es zur Westseite des Rings: „Das freistehende Haus der großen Waage wurde 1846 auseinadergenommen, um an seiner Stelle 1847 das Reiterdenkmal für Friedrich dem Großen, ein Werk von August Kiss (1945 entfernt), aufzustellen. Seitdem nannte man diesen Teil des Ringes als den Parade-Platz.“ Ebd.: S. 58 292 „Während des letzten Krieges erlitt das Rathaus relativ geringen Schaden, […].“ Ebd.: S. 45 293 „Das ursprüngliche Haus, erbaut ca. 1521-28 vom Bischof Jan Thurzo, im Stil der italienischen Renaissance, […], mit einer Zierattika, der ersten dieser Art in Schlesien.“ Ebd.: S. 64 294 Ebd.: S. 84f. 295 Ebd.: S. 125f.; vergleiche auch das selbe Muster bei dem Tauentzien Platz (pl. Kościuszki), ebd.: S. 134f. 296 Das der Exkurs in Kleinschrift zu dem Dominikaner Kloster und Kirche in unveränderter (unbereinigter) Form von 1976 übernommen wird, scheint eher ein unbeabsichtigtes Versehen gewesen zu sein. Ebd.: S. 144f. 2. Kapitel 120 wurde, als ein Umkehrung des Feindbildes Richtung Osten gedeutet werden.297 Die Unterstellung an dieser Stelle bekommt durch das erstmalige Totschweigen des Friedhofs der Sowjetischen Offiziere seine Bestätigung. Die Einbindung des Odertorviertels, vor allem der „ärmlichen und heruntergekommenen Blockrandbebauung“, in den Bestand der Besichtigungswege stellt ein Novum dar.298 Der Autor lenkt dabei den Blick auf die gelungenen „Hausplomben“, die katalogartig mit der Straßenangabe durchgegangen werden. Auch die altbewährten Aneignungstechniken in Form der Gedächtnistafeln an den Aufenthaltshäusern berühmter polnischer Persönlichkeiten, wie dem Jan Kasprowicz, werden wieder aktiviert. Die „Neue und Neuste Stadt“ weist den Geist und Vermittlungsform seiner Vorgänger auf, wobei bei dem ein oder anderen Industriebetrieb seine deutsche Gründungsgeschichte zum Vorschein kommt und die ein oder andere Großsiedlung um weitere Plattenbauarchitektur erweitert wird.299 Interessanter scheint die neue Konzeption des Kapitels „Objekte außerhalb der Besichtigungswege“, das gravierende Veränderungen mit sich bringt. Zum einen wird der bislang an erster Stelle genannte Friedhof der Sowjetischen Offiziere von der Inauguration des Jüdischen Friedhofs ad acta gelegt. Die erste Stelle in der Hierarchie dieser Erinnerungsorte nehmen polnische Friedhöfe ein, bei denen der Nachkriegsprominenz seitenlang Gedacht wird. Die Jahrhunderthalle (Hala Ludowa) wird als „eines der extravagantesten Werke der modernistischen Architektur“ metaphorisch in den Rang der Baudenkmäler der Klasse „0“, in diesem Fall des Rathauses und des Doms, gehoben.300 Ihre Bedeutung spiegelt sich in der akribischen Darstellung mittels Text, Bild und Schnittplan wider. Der Führer verpasst es nicht beim Loblied an das Bauwerk Max Bergs, der Stahlnadel (Iglica), „einem der Symbole der großen Ausstellung 1948“, ihren Tribut zu zahlen. In dem ihr gewidmeten Exkurs durchschreitet die Stahlnadel (Iglica) jedoch eine Metamorphose vom Symbol der sozialistischen Stadt, dem urbanen Vorposten der Volksrepublik Polen, zum Fahnenmast der antikommunistischen Bewegung der Solidarność.301 Neu ist ebenfalls die Vermittlung der „Neuen Kirchen Breslaus“, die nun nicht mehr als Beweis der polnischen Kontinuität bis 1945, sondern als stolze Werke lokaler Architekten und Künstler nach 1945 präsentiert werden. Neben der gewohnten Vermittlung der neuen, schönen Plattenbausiedlungen, die in alter Manier vorrangig mit der Zahl ihrer „Wohnstuben“ strahlen, wird in gleicher Weise die deutsche Siedlung Zimpel (Sępolno) aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts vorgestellt. Wie bereits bei der Plattenbausiedlung PKWN am Sonnenplatz (pl. Legionów, ehemals pl. PKWN), wird der einzige Siedlungsgrundriss der innovativen zweistöckigen Wohnsiedlung der 20er Jahre zugesprochen und nicht den 10-stöckigen Schlafvierteln der Vorortplattenbauidylle. 297 298 Ebd.: S. 148f. Ebd.: S. 157; eine Ausnahme bildet der Ausflug in das Odertorviertel an die Stalinstrasse (ehemals: ul. Józefa Stalina) im Stadtführer von J. Lomnicki, M. Morelowski und W. Walczak, 1952 299 Ebd.: S. 164f. (Hutmen, ehemals Aktiengesellschaft Schaefer-Schael); S. 169 („Galeriowiec“ 1979-84, Bürohochhaus „Poltegor“ 1974-81) 300 Ebd.: S. 176f. 301 „Zum zweiten Mal kletterte während des Ausnahmezustandes ein Mutiger (mehrere Mutige?) auf die Spitze der Nadel, wo eine Solidarność-Flagge aufgehisst wurde.“ Ebd.: S. 178 2. Kapitel 121 2.2.11. „Breslau – ein praktischer Stadtführer“ (2001) „Breslau – ein praktischer Stadtführer“302 von Piotr Paciorkiewicz erscheint in der Reihe „Einmal um Polen herum“ im Pascal-Verlag. Die erfolgreiche Serie verfolgt das Ziel als „ortskundiger Kumpel den Leser […] an Orte zu führen die lange in Erinnerung bleiben.“303 Der Verlag stellt die Autoren als Individualisten vor, die sich einerseits verantwortungsvoll der Glaubwürdigkeit ihrer Beschreibung verschrieben haben, andererseits vor kritischer Behauptung und subjektivem Blick nicht sträuben. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Der Stadtführer präsentiert sich in der klassischen Dreiteilung. Die Einleitung beginnt mit der „Information zur Stadt“ (S. 10), die einen kurzen Einleitungsabsatz vor der „Geschichte Breslaus“ (S. 10) bildet. Die historische Genese der Stadt steht unter der Sonne der nachkommunistischen Aufklärung, der ein Kalendarium mit wichtigsten Jahreszahlen vorgestellt wird. Besonders deutlich tritt der Perspektivwechsel zu Beginn und zum Ende auf, wenn die Gründung des Bistums Breslau dem deutschen Kaiser Otto III. zugeschrieben wird und die kommunistische Propaganda der Nachkriegszeit der Geschichtsverfremdung bezichtigt wird.304 Im Kapitel „Architekten Breslaus“ (S. 25) geht die Entdeckung der deutschen Geschichte der Stadt so weit, dass außer der Person „Magister Murator Pieszko“ ausnahmsweise deutsche Architekten der Stadt vorgestellt werden. Die Führung selbst beginnt mit den Vorabinformationen in kurzen Kapiteln „Ankunft und Orientierung“ (S. 27) sowie „Besichtigung“ (S. 27), in denen erste Orientierungshilfen und das zugrundeliegende Führungskonzept vorgestellt wird. Die Besichtigung teilt sich in vier Teile auf, die „Breslauer Inseln“ (S. 31), die „Neustadt“ (S. 47), die „Altstadt“ (S. 51) und „Andere Viertel“ (S. 105) auf. Den Abschluss bilden die „Praktischen Informationen“ (S. 125) mit den üblichen reisepraktischen Angaben zur Kommunikation, Unterkunft, Gastronomie, Kultur und Freizeit. Ein Sachverzeichnis (S. 158) schließt den Informationsteil ab. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Umschlag des 164-seitigen Stadtführers im Taschenbuchformat (A5) ist in der Mitte zweigeteilt. Die obere Hälfte zeigt ein Farbbild mit einem unglücklich gewählten Fragment der Südfassade des Rathauses. Der Bezug zu Breslau ist nicht eindeutig. Unterhalb des Bildes steht mittig auf dem hellroten Hintergrund die weiße Aufschrift „Wrocław“, die am unteren Blattrand in schwarzer Schrift um „praktischer Führer“ ergänzt wird (Abb. 2.84). Der Stadtführer strukturiert gestalterisch die Besichtigung in autarke Absätze. Diese folgen einer hierarchischen Staffelung, von dem Areal (Strasse, Platz, Promenade), über die Bestandteile, bis hin zu ausgewählten Objekten, denen ein eigener Absatz zugestanden wird (Abb. 2.85). 302 Paciorkiewicz, Piotr: Wrocław – praktyczny przewodnik z serii Dookoła Polski, Bielsko-Biała 2001 303 Aus dem Vorwort des Verlegers, in: Ebd. 304 „Auf der Gnesener Tagung im Jahre 1000 gründete Kaiser Otto III. das Bistum Breslau – das dritte neben Krakau und Kolberg in polnischen Landen.“ Ebd. S.11; und weiter: „Nach 1948, […], setzte sich die kommunistische Propaganda durch, analog der nationalsozialistischen der Vorkriegszeit, mit dem Ziel so viele Spuren des Polentums in den Westgebieten aufzuspüren wie es nur möglich gewesen ist.“ Ebd.: S. 24; vgl. mit dem Kalendarium im Stadtführer von Andrzej Konarski von 1972 auf S. 26: „1000 – Bolesław Chrobry errichtet das Bistum Breslau, welches dem Erzbischof von ‚Gniezno’ unterliegt. Es ist das erste geschichtliche Datum, das ‚Wrocław’ betrifft.“ 2. Kapitel 122 Die Textgestaltung zeichnet sich durch Hervorhebungen einzelner Objekte durch stärkere Lettern (bold) aus. Die Absatzüberschriften arbeiten zusätzlich mit verschieden Schriftgrößen gemäß der Hierarchie. Eine andere Gestaltung der bekannten Zusatzinformation, der weiterführenden Exkurse, findet in den eingeschobenen Vignetten, die durch horizontale Linien oben und unten vom Textfluss getrennt werden und einen hellgrauen Hintergrund haben, statt. Ein zusätzliches Abheben wird durch ein schwarzes Quadrat, in dem der erste Buchstabe des Exkurses in Großschreibweise platziert ist, erzielt. Eine an den oberen Seitenrändern senkrecht platzierte Schrift verrät den Kapitelnamen. Die Kopfzeile trägt auf der linken Seite den Namen des Unterkapitels, auf der rechten Seite den Strassen- oder Platznamen, die behandelt werden. Ausschlaggebendes visuelles Gestaltungsmittel ist die Schwarzweißillustration sowie das Farbbild. Die 22 Illustrationen begleiten den Textfluss, in dem sie gestalterisch integriert werden. Die 19 Farbbilder werden gebündelt auf separaten Seiten präsentiert.305 Sowohl die Illustration, als auch die Fotografie ist mit einer Bildunterschrift versehen (Abb. 2.86). Der Stadtführer stellt einen Gesamtplan von Breslau und Kartenausschnitte von den Inseln der Stadt, der Altstadt und der Innenstadt zur Verfügung (Abb. 2.87). Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Stadtführer beabsichtigt von der Dominsel ausgehend eine chronologisch konzipierte Besichtigung anzubieten, bei der die Konzentration „auf den historisch bedeutenden oder aus anderen Gründen interessanten Objekten liegt.“306 Dabei schlägt er den vom Verleger eingangs zugelassenen subjektiven und kritischen Vermittlungsstil ein. Seine Führung gestaltet sich formal in der durch Absätze getrennten Vorstellung eines Areals, der Beschreibung seiner architektonischen Zusammensetzung und der separaten Vermittlung ausgewählter Bausubstanz. Die bei der Führung entlang der Inseln in die Neustadt auftretenden alten Muster der sozialistischen Stadtaneignung treten vor dem Hintergrund des neuen Interesses auf. Es taucht weiterhin die Kirche und die polnische Messe als erwähnenswertes Element der Stadtvermittlung auf.307 Piotr Włost und Magister Murator Pieszko erschaffen hingegen primär schlesische Kulturzeugnisse. Vom ewigen Kampf des Polentums gegen die germanisierenden Patrizier erfährt der Leser sowohl am Ritterplatz (pl. Nankiera) als auch in der Neustadt, zu der es lediglich heißt: „Im Gegensatz zur hauptsächlich von Deutschen bewohnten Altstadt, siedelten hier vor allem Polen,“ nichts.308 Des Weiteren geraten die Piasten, als Synonym der Polonität, in Vergessenheit und werden zu lokalen „Breslauer und Oppelner Fürsten“ degradiert, deren Grabtafeln „unter anderem“ in der St. Klara Kirche (koś. św. Klary) besichtigt werden können.309 Interessanter scheint an ihrer Stelle an die jüngeren Ereignisse zu erinnern, wovon die Lokalisierung des Hauses, in dem nach 1945 die Literaturdonnerstage organisiert oder die sowjetische Stadtkommendnatur untergebracht wurde, zeugt. 305 Davon zeigt keines Zeugnisse einer „kulturellen Blüte“ der Nachkriegszeit. Eine nicht ernstzunehmend Ausnahme bildet das Bild der Tierskulpturen in der Fleischergasse (ul. Jatki). 306 Ebd.: S. 27 307 Neben der St. Martin Kirche (koś. Św. Marcina) wird St. Anna Kirche (koś. Św. Anny) als polnische Kirche der Zwischenkriegszeit 308 Ebd.: S. 47 309 Ebd.: S. 66 genannt. 2. Kapitel 123 Das neue Interesse schlägt sich auch in den vorgestellten Rekonstruktionsprojekten nieder, die von der Offenlegung der mittelalterlichen Wehrtore um das Jahr 1980 bis hin zu der Rekonstruktion des Bürgerhauses „Unter dem liegenden Hund“ (1994) und des Schillerdenkmals (1995) im Scheitninger Park (park Szczytnicki) führt.310 Bei den Führungen durch die Altstadt werden ausgehend vom Ring Ausflüge in alle vier Himmelrichtungen unternommen. Charakteristisch ist hierbei die Konzentration weniger „auf die historisch bedeutenden“ als auf die „aus anderen Gründen Interessanten Objekte“. Piotr Paciorkiewicz zeichnet in seinem Führer eine neue Topografie der einst piastisch-sozialistischen Stadt auf. Die Plätze und Strassen werden förmlich in einer Kaskade von Kaufhäuser, Warenhäuser, Banken, Stadtvillen und Palästen der preußisch-wilhelminischen Ära aufgelöst. Die Ohlauer (ul. Oławska), die Reusche (ul. Ruska) und Schweidnitzer Strasse (ul. Świdnicka) werden dabei synonymhaft zum Kaleidoskop der bürgerlichen Tüchtigkeit und des Reichtums einer deutschen Stadt.311 Einen weiteren wichtigen Fokus legt der Stadtführer auf die jüdische Gemeinde, die bereits in einer Vielzahl der Kaufhäuser ihre Erwähnung findet. Vor allem aber das jüdische Viertel sowie seine Einrichtungen finden in dem Medium eine starke Resonanz. Bei der Interessensverlagerung fällt vor allem der Neubau der Nachkriegsjahre in Ungnade. Der Autor rechnet mit der sozialistischen Architektur am „wenig attraktiven Neumarkt (Nowy Targ)“ oder in der Schmiedebrücke (ul. Kuźnicza) „mit ihrer nichts besonderes darstellenden neuen Architektur“ ab. Kritisch meldet sich der Stadtführer auch zum hervorgerufenen Zustand des Verfalls, wenn feststellend bemerkt wird, dass die eine oder andere Strasse „sehr vernachlässigt und heruntergekommen ist“ oder der Hauptbahnhof „trotz des großen historischen Wertes mit seiner Halle und Anbauten, samt den Verkäufern und Ständen, eher einer Markthalle als einer Visitenkarte der Stadt gleicht.“312 In der an die Altstadt anknüpfenden Führung durch „Andere Vierteln“ spitzt sich die Vermittlungsweise weiter zu. Der Blick aufs Neue wird in dem gewohnten Sprung über die Oder in den „Akademischen Viertel“ eingeleitet, bei der eine unglückliche Formulierung zur städtebaulichen Situation entlang der ehemaligen Kaiserstrasse (pl. Grunwaldzki) die Vorstellung weckt, dass die sowjetische Artillerie bei dem Beschuss der Rollbahn 13.000 Zivilisten auf ihrem Gewissen hat. Der Autor straft die sowjetischen „Waffenbrüder“ zusätzlich durch die Umgehung der sowjetischen Ehrenfriedhöfe ab. Dagegen glänzt die Person Kaisers Wilhelm II. bei der Eröffnung der Kaiserbrücke (1910) oder der Königlichen Technischen Hochschule (1910). Interessanterweise erfährt am Grunwaldplatz die Hochschularchitektur der 50er Jahre im Gegensatz zur lakonischen Beschreibung der späteren Platzbebauung eine rühmliche Bezeichnung als bestes Beispiel des Sozialistischen Realismus in Breslau. An der Seite des deutschen Kaisers erobert Max Berg, der Deutsche Werkbund sowie die Wohn- und Werkraumausstellung das Interesse des Stadtführers. Die einst glänzende Stahlnadel an der 310 Olhauer-Tor (1978), Nikolai-Tor (1981), Pranger (1985), Haus Unter dem liegenden Hund (Pod leżacym psem) (1994), SchillerDenkmal (1995) 311 „Typischer Bau (Warenhaus der Fa. C&A, Ohlauer Str. Nr. 10-11) aus den zwanziger Jahren des 20. Jhd., wie sie in Berlin und anderen deutschen Städten errichtet wurden.“ Ebd.: S. 61 312 Ebd.: S. 70 (Schmiedebrücke/ul. Kuźnicza); S. 102 (Hauptbahnhof) 2. Kapitel 124 Jahrhunderthalle verkommt im übertragenen Sinne zu einem vermeintlichen Symbol des sozialistischen Aufschwungs in den Westgebieten.313 Besonders auffällig wird das neue Interesse bei der Besichtigung der Südstadt. Ihre Hauptstrasse, die ehemalige Kaiser-Wilhelm-Strasse (ul. Powstańców Śląskich), wird als „eine der schönsten Strassen Breslaus” des 19. Jahrhunderts vorgestellt. Gleichzeitig wird fernab jeglichen Verständnisses der Umstände bedauert, dass statt eines Wiederaufbaus eine Großplattensiedlung errichtet wurde.314 In der Führung durch die südlichen Vorstadtvierteln schlendert man an den sehenswerten Villen und Stadtresidenzen des reichen deutschen Bürgertums vorbei. Das Ziel scheint zu sein, anhand der Architektur vom kaufmännischen und industriellen Bürgertum, das Ausmaß der sozialen Stellung ihrer Inhaber und den Wohlstand der untergegangenen Vorkriegsstadt widerzuspiegeln. Der eingeschlagenen Richtung folgend endet die Besichtigung der Stadt mit der Vermittlung der Stütze des bürgerlichen Wohlstandes der Gründerzeit, den zu „industriellen Baudenkmälern“ erklärten Zeugnissen deutscher Wirtschaftkraft, die mit drei Illustrationen vertreten werden. Angesichts des fehlenden Bildes von der Stahlnadel (Iglica), des Symbols der aufstrebenden sozialistischen Nachkriegsstadt, fallen die vielen visuellen Repräsentationen aus der jüngeren deutschen Vergangenheit der Stadt um so stärker auf (Abb. 2.88). 2.2.12. „Breslau – Touristik ohne Barrieren“ (2003) Der Stadtführer „Breslau – Touristik ohne Barrieren“315 unter der Redaktion von Bohdan Krakowski wird von der sozialen Einrichtung RESURS herausgegeben. Der Stadtführer wird unter Berücksichtigung der Bedürfnisse einer sozialen Gruppe, in diesem Fall der körperlich Behinderten, gestaltet, richtet sich jedoch laut dem Titelblatt und dem Vorwort „auch an Andere“. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Das Medium gestaltet sich in seiner Grundstruktur in der klassischen Dreiteilung, die mit gruppenspezifischen Zusatzinformationen unterfüttert wird. Nach den Vorworten ist das Inhaltsverzeichnis untergebracht. Das Kapitel „Ein wenig über die Geschichte und das zeitgenössische der Stadt“ (S. 7) offenbart in 12 kurzen Unterkapiteln bedeutende Jahreszahlen der Stadtgeschichte, das Antlitz der Stadt um die Jahrtausendwende, die Stadt in Zahlen, das ABC der Stadt, die Stadtverwaltung, praktische Telefonnummern sowie eine kurze Schilderung der Stadtviertel. Das Kapitel „Touristische Routen, die ‚sehenswert’ sind“ (S. 31) beherbergt die eigentliche Stadtführung, die in 12 Besichtigungswege aufgeteilt wird. Die Kapitel „Die Brücken als Zusammenhalt der Stadt“ (S. 115) und „Denkmäler des polnischen Breslaus“ (S. 116) werden der Führung angeschlossen. 313 „Die Stahlnadel (Iglica) mit einer Höhe von 96 Metern, […], erinnert an die 1948 organisierte Ausstellung WZO; sie sollte die 314 „Im 19. Jhd. war sie (Kaiser-Wilhelm-Strasse/ul. Powstańców Śląskich) eine der schönsten Strassen Breslaus. Auf beiden Seiten ragte wirtschaftlichen Möglichkeiten symbolisieren.“ Ebd.: S. 109 Sezessionsbauten, Stadtvillen tüchtiger Kaufmänner, diplomatische Residenzen. Leider wurde nach 1945 das zerstörte nicht wiederaufgebaut, sondern durch Siedlungen aus großer Platte ersetzt.“ Ebd.: S. 112 315 Krakowski, Bohdan: Wrocław – Turystyka bez barier, Wrocław 2003 2. Kapitel 125 Der praktische Teil wird um einen gruppenspezifischen Teil erweitert. Im „Breslau, eine behindertenfreundliche Stadt“ (S. 125) wird ausführlich auf die Bedürfnisse und spezifische Informationen für behinderte Besucher der Stadt eingegangen. Der klassische Anhang mit Informationen zu Ankunftsmöglichkeiten, Unterkünften, Stadtfesten, usw. folgt im Kapitel „Dies und das, was nützlich sein kann“ (S. 141). Eine Bibliografie (S. 149) schließt die Veröffentlichung ab. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Den Titelblatt des 149-seitigen im Taschenbuchformat (A5) veröffentlichten Stadtführers ziert eine Zeichnung des Rathausturmes mit der Westfassade. Die dunkelgraue Strichzeichnung befindet sich schwerpunktmäßig rechts unten, wobei der Turm mittig nach oben ragt. Zentral darüber wird die weiße Aufschrift „Wrocław“ untergebracht. Unterhalb der Überschrift ist das Behindertenlogo platziert. Dieses wird vom Schriftzug „Touristik ohne Barrieren – Touristischer Stadtführer für Behinderte (die Probleme bei der Bewegung haben) und Andere“ flankiert. In der rechten unteren Ecke leuchtet farbenfroh das Stadtwappen (Abb. 2.89). Die Führungen beginnen mit dem Routennamen (schwarz) und der gestalterisch in den Hintergrund gesetzten Routennummer (grün). Eine über Bindestriche zusammengefasste Abfolge der Strassen und Plätze stellt die grobe Wegführung vor. Die Streckenlänge in Kilometern befindet sich in der anschließenden Klammer. Der erste Informationsblock wird von einer seitlich angebrachten Strichzeichnung eines ausgewählten Objektes der Strecke umsäumt (Abb. 2.90). In einen einleitenden Absatz wird zu beginn der Besichtigung die Strecke und ihr Charakteristikum beschrieben. Einen grundlegenden Gestaltungsmerkmal bilden die Absätze, die einerseits durch ihre grünen Überschriften, andererseits durch die linksbündig angebrachten senkrechten Führungslinien geprägt werden. Mit der grünen Überschrift werden besondere Objekte hervorgehoben, denen ein ganzer Absatz gewidmet wird. Des Weiteren wird im Fall ausgewählter „Grün-Objekte“ in kursiver Schreibweise die Adresse, Öffnungszeit, Telefonnummern, Behindertentauglichkeit als praktische Zusatzinformation geliefert (Abb. 2.91). Diese erfährt eine weitere Absetzung durch eine stärkere linksbündige Führungslinie. Weitere Hervorhebung innerhalb der Absätze werden durch stärkere Lettern (bold) erreicht. Absätze ohne linksbündige Strichführung dienen der Wegweisung in den Übergängen. Jede Route verfügt über einen abstrakten Stadtplanausschnitt sowie auf grünem Hintergrund gesetzte „Praktische Informationen zu der Route“, die jeweils zu Beginn eines Besichtigungsweges angeboten werden. Die Planausschnitte geben eine Übersicht über die Wegführung, wobei der grüngestrichene Weg keinen Routenbeginn und keine Laufrichtung aufweist. Eine Objektsuche innerhalb der Karte wird nicht gewährleistet. Dafür bieten die Pläne eine Übersicht über Restaurants, Museen, Parkplätze, Theater und Kirchen, die mit kleinen Icons markiert werden und größtenteils mit den „Praktischen Informationen zu der Route“ korrespondieren. Über den Planausschnitten steht des öfteren eine repräsentative Schwarzweißbildabfolge, die den Charakter der Strecke visuell vermitteln soll. Eine Besonderheit wird in Form der rechtseingerückten Absätze in Kursivschrift präsentiert, bei denen jeweils im grünen Rahmen eine objektbezogene Frage untergebracht wird, auf die eine ausführliche Antwort im darunter stehenden Absatz geliefert wird. Diesem wird jeweils ein großformatiges 2. Kapitel 126 Schwarzweißbild zum Objekt beigefügt. Hierbei werden die Fragen und Antworten aus der Veröffentlichung „434 Rätseln zu Breslau“ (1999) von Andrzej Konarski verwendet (Abb. 2.92). 316 Neben den Strichzeichnungen (12x), die jeweils zu Beginn einer Route repräsentativ den Auftakt gegeben, werden textbegleitend Schwarzweißbilder (10x) eingesetzt. Eine Vielzahl an Farbbilder (78x) wird gebündelt an fünf Stellen auf Hochglanzpapier mit Bildunterschriften abgedruckt (Abb. 2.93). Von insgesamt 100 Bildern werden 33 für genuin deutsche Zeugnisse (1741-1945), 13 für das sozialistische Erbe (1945-1989) und 12 für die neuzeitliche Architektur (nach 1990) zur Verfügung gestellt.317 Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Der Stadtführer vermittelt die Stadt ausgehend vom Ring der Altstadt. Er führt den Leser entlang der festgesetzten Routen, wobei er dem im Vorwort geäußerten Leitsatz der kulturellen und nationalen Vielschichtigkeit der Stadt treu bleibt. Die alten Muster der Stadtaneignung weichen der neuen Sichtweise, bei der die Sezessionsarchitektur der Einkaufshäuser, stellvertretend für die Architektur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, eine neue Bedeutung erlangt.318 Vereinzelt tauchen die alten Elemente der Vermittlung einer polnischen Stadt in entschärfter Art und Weise auf. Die Piasten werden bei der Begehung des Ritterplatzes (pl. Nankiera) am Rande erwähnt. Magister Murator Pieszko kann seine Stellung als polnischer Baumeister der Marienkirche auf der Sandinsel (koś. NMP na Piasku) halten. Auch werden die mit der Heilig Kreuz Kirche (koś. Św. Krzyża) in Verbindung stehenden Persönlichkeiten, wie Heinrich IV., Bischof Nankier, Mikołaj Kopernik, J. U. Niemcewicz, nicht ihrer Legitimation beraubt. Dem neuen Zeitgeist Tribut zahlend werden die Strassen der Altstadt von den polnischen Durchreisenden des 19. Jahrhunderts freigekehrt, wenn es hierzu heißt: „Unter den Gästen der Strasse (Reusche Str./ul. Ruska) war Goethe der berühmteste, der während seines Aufenthaltes 1790 im Gasthaus ‚Rotes Haus’ (Czerwony Dom) Nr. 45 verweilte.“319 Dem Goethe, der übrigens als einzige Persönlichkeit gleich zweimal im Stadtführer lokalisiert wird, folgt die Vermittlung der bürgerlichen Architektur der Stadt. Das Abstecken einer multikulturellen Bürgerstadt erlebt in der sogenannten „ökumenischen“ Route, dem „Viertel der vier Glaubensrichtungen“, bei dem der Schwerpunkt auf der jüdischen Gemeinde liegt, seine Vollendung. Eindeutige Benachteiligung erfahren die städtebaulichen und architektonischen Errungenschaften der Volksrepublik Polen. Genießen die Pionierbauten der deutschen Moderne bis hin zur Architektur des Dritten Reiches eine Anerkennung, leiden die Beispiele des polnischen Wiederaufbaus an latenter Unterbesetzung.320 Genötigter Weise wird die Plattenbebauung der Südstadt sowie die 316 Die Quizfragen mit Bildern kommen 4 mal vor; beim Hochhaus „Trzonolinowiec“ (1961-67), dem Hochhaus „Poltegor“ (1971- 317 Dabei fällt auf, dass lediglich das historisierende Sparkassengebäude (1887-91) von Richard Plüddemann eine Wiederholung (3 mal, 318 „Eine Stadt mit 1000-jähriger Geschichte mit Zahlreichen Baudenkmälern, die bis in die Zeit der schlesischen Piasten reichen, die 81), sowie dem Sparkassengebäude (1887-91) und der Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) (1908-10) 2 mal als Buntbild und einmal als Fotocollage) verzeichnet; vgl. hierzu die Abwertung des Bauwerks in den Stadtführer bis 1989 tschechischen Einflüsse zeigen und von langer Verbindung zu Deutschland zeugen. Nach vielen Jahren kehrte sie unter die weißrote Flagge. Sie ist eine Stadt vieler Kulturen und Nationen. […]. Breslau ist eine schöne Stadt; reich an Grünanlagen, in den letzten Jahren nach einer Harmonie zwischen der alten Bausubstanz, der Sezessionsarchitektur, und den gläsernen, modernen Objekten strebend.“ Ebd.: S. 4 319 Ebd.: S. 65 320 Zum nationalsozialistischen Monumentalbauwerk an der Oder (NS-Gauleiter-Amt) heißt es: „Dieses monumentale, dreigeschossige Bauwerk mit zwei Innenhöfen, errichtet vor dem Zweiten Weltkrieg für Verwaltungszwecke, repräsentiert einen vereinfachenden 2. Kapitel 127 Nachkriegsbebauung der ehemalige Kaiserstrasse (pl. Grunwaldzki) stets im Schatten der bürgerlichen Gemütlichkeit und Glanzes auf eine unliebsame Art behandelt. Darüber hinaus rückt die Industrie der Stadt aus der Blickperspektive und macht gleichzeitig Platz für die neuen Malls der Innenstadt, sowie für die außerhalb der Stadtgrenzen wuchernde Megalomanie der Einkaufsparadiese. Die Vermittlung richtet sich nicht nach einem festgesetzten Muster. Meist werden die Architekten, oder das Baujahr eines Objektes nicht preisgegeben. Die Beschreibungen sind einfach geschrieben und legen bis auf Stilbezeichnungen keinen Wert auf Fachbegriffe. Man möchte meinen, hier wird auf die Trockenheit einer sachlichen Vermittlung zu Gunsten einer abwechslungsreichen, leicht konsumierbaren Vorstellung des kulturellen Raumes verzichtet. Dieser Vermutung folgt der Einsatz der quizartigen Fragen und Antworten aus Andrzej Konarskis Rätselbuch zu der Stadt, bei dem die Routen die Form einer Schnitzeljagd annehmen. Klassizismus. Unglaublich gut in den Oderbogen situiert, […], in der Nachbarschaft zum wunderschönen National Museum, stellt es ein höchst repräsentatives Gebäude der Stadt.“ Ebd.: S. 83 2. Kapitel 128 2.3. Analyse der Internetportale (2009) 2.3.1. www.wroclawcitytour.pl Das Internetportal “WroclawCityTour.pl”321 ist eine Depandance eines gleichnamigen Unternehmens aus der lokalen Touristikbranche. Die junge Firma wurde Anfang 2007 aus den EU-Mitteln für regionale Entwicklung ins Leben gerufen und erhielt 2009 den 1. Preis in der Kategorie “Touroperator” für das beste Touristikangebot der Region Niederschlesien.322 Das Unternehmen zeichnet sich auf dem Gebiet der Fremdenführung durch Breslau und die Region Niederschlesien aus. In ihrem Angebot befinden sich über 30 organisierte Führungen von denen zurzeit 20 der Stadt Breslau gewidmet sind. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Die Struktur des Portals lässt sich der Navigationsleiste entnehmen (Abb. 2.94). Bei der Betrachtung der einzelnen Hauptmenüpunkte wird eine Dreiteiligkeit der Gliederung festgestellt. Demnach beginnt das Portal mit der „Hauptseite“, die eine Sprachversion (Polnisch, Deutsch und Englisch) zur Wahl stellt, eine kurze Vorstellung des Unternehmens macht sowie die Neuigkeiten auf einen Blick vermittelt. Ausführlichere Informationen zum Unternehmen, dessen Kontaktdaten, den Ursprung, die verfolgten Ziele und die aktuellen Ereignisse, wie den geschilderten 1. Preis, folgen unter dem Menüpunkt „Wir über uns“. Mit dem Hauptmenüpunkt „Unser Angebot“, das aus sechs Unterverzeichnissen besteht, wird der Hauptteil eingeleitet und die zweite Informationsebene erschlossen. Darunter können die „Stadtführungen“, die „Schifffahrten“, die „Rundfahrten“, die „Busfahrten durch Niederschlesien“ und „Präsentationen“ weiterführend betrachtet werden. Das abschließende Unterverzeichnis „Ganzes Angebot“ liefert noch einmal alle zuvor separat aufgeführten Angebote auf einem Blick. Weiterführende Verknüpfungen innerhalb der Unterverzeichnisse, in diesem Fall die Postkartenbilder, erschließen die dritte Informationsebene, an dessen Ende stets eine Verknüpfung „Zum Reservierungsformular“ eine direkte Onlineangebotsbestellung ermöglicht. Der weitere Hauptmenüpunkt „TOP 20 in Breslau“ macht reißerisch auf sich aufmerksam. Dahinter verstecken sich in einer hierarchischen Anordnung die drei Sternchen Objekte, um beim visuellen Superlativ von John Murray (***) zu bleiben. Direkt an das Postulat der 20 Koryphäen der Stadtbesichtigung folgt die „Alte Stadt Breslau“, eine Hommage an die Stadt vor 1945 mit 24 untertitelten historischen Bildpostkarten, die den Hauptteil gebührend abrundet. Abschließend reihen sich die „Reservierung“, „System TourGuide“ und der „Kontakt“ an. Dabei handelt es sich um Onlineformulare und die Vorstellung des Personenführungssystem TourGuide 2020 von Sennheiser. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Die Kopfzeile trägt in der Mitte einen runden Stempel mit einem äußeren Textring und dem im Zentrum angebrachten Bärenbrunnen (Abb. 2.95). Das Motiv des Bären stellt ein junges, genuin 321 Erste Treffer von 1.160.000 für den Suchbegriff „wroclaw przewodnik“ (dt.: Breslau Stadtführer); auf: www.google.pl (besucht am 10.08.2009) 322 Der Preis wurde am 02. Februar 2009 von der Niederschlesischen Touristikorganisation (Dolnośląska Organizacja Turystyczna) und der Regionalausgabe von „Polska. The Times“ ausgelobt. Auf: www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=2 (besucht am 06.08.2009) 2. Kapitel 129 deutsches Denkmal der Stadt dar, das 1904 vor dem Schweidnitzer Keller am Rathaus aufgestellt, 1945 zerstört und 1998 am ursprünglichen Ort rekonstruiert wurde (Abb. 2.96). In der oberen Hälfte des Textringes steht „WroclawCityTour.pl“, die untere Hälfte trägt die deutsche Aufschrift „Wroclaw mit dem Stadtführer“. Erst unterhalb des Stempels wird die polnische Übersetzung situiert. Die grafische Benutzeroberfläche folgt einem klaren Layout, bei dem die Navigationsleiste mit den Hauptmenüpunkten am linken Seitenrand platziert wird. Die Kopfzeile bildet den oberen Abschluss des rechts angebrachten Informationsteils, der den jeweiligen Inhalten der Haupt- und Unterpunkte vorbehalten wird. Die Hauptpunkte bilden die erste Informations- und Gestaltungsebene. Die Unterpunkte erschließen die zweite Ebene, auf welche die dritte Ebene folgt, die wiederum durch die weiterführenden Bildpostkarten geöffnet wird. Die Typografie des Internetportals agiert mit den üblichen Hervorhebungen in Form von farbigen, kursiven und stärkeren Lettern in einer Schreibweise, die sich zusätzlich durch diverse Schriftgrößen voneinander unterscheidet. Darüber hinaus wird die gängige Trennung der Inhalte durch Absätze erreicht. Zum charakteristischen Gestaltungsmittel zählt das Postkartenmotiv, in das Architekturbilder eingebettet werden. Hierbei handelt sich um ein durchgängiges Konzept der visuellen Unterstützung vermittelter Inhalte. Die Wahl einer historischen Bildpostkarte, nach der üblicherweise der Fremde auf seiner Reise greift, um Impressionen und Souvenirs zu erwerben, unterstreicht subtil den Charakter des Unternehmens. Vor allem die dem Angebot zur Stadtführung gewidmeten Verzeichnisse „Unser Angebot“, „TOP 20 in Breslau“ und „Alte Stadt Breslau“ setzten auf die visuelle Vermittlung. Unter dem Untermenüpunkt „Stadtführungen“ werden einem Inhaltsverzeichnis gleich die jeweiligen Angebote von einer untertitelten Bildpostkarte repräsentiert, die gleichzeitig als Verknüpfung mit der dahinterliegenden dritten Informationsebene eingesetzt werden (Abb. 2.97). Die jeweilige Stadtführung, die sich hinter der Bildpostkartenverknüpfung versteckt, gliedert sich formal in eine Aufzählung der Orte, einen Streckenverlaufsplan und ein Bilderkaleidoskop (Abb. 2.98). Sie beginnt jeweils mit einer Stadtbesichtigungsnummer (kursiv, Orange) und einem Namen der Führung (bold), dem eine kurze stichpunktartige Aufzählung der Besichtigungsviertel folgt. Diesem folgen organisatorische Kurzangaben zum Nummercode, Dauer, Termin sowie Start- und Endpunkt der Führung. Die Aufzählung der Besichtigungsorte unter der Überschrift „Programm“ fasst die Route numerisch zusammen und verweist im Klammern auf die dazugehörigen Bilder, die erst bei der Suche mittels Bildlaufleiste zum Vorschein kommen. Ein ungeschickt platziertes grafisches Segment stellt die „Preis“-Tabelle dar, die das „Programm“ von der „Strecke“ trennt. Der Streckenverlauf wird visuell in Form eines Graustufenstadtplanes vermittelt, wobei der Routenverlauf durch rotgepunktete Linienführung hervorsticht. Unterhalb der Streckenverlaufs werden die „Fotos vom Stadtrundgang“ untergebracht. Die Ansammlung der in zwei Spalten eingeteilten Bildpostkarten steht im Bezug zu dem Programm und dessen Bildverweisen in Klammern. Per Mausklick werden Bildvergrößerungen im Popup-Fenster angeboten. Dabei avancieren die Postkarten zur zentraler Vermittlungsinstanz, die in ihrer rechten oberen Ecke jeweils ein Nummercode der Führung und in ihrer linken unteren Ecke eine Kurzbeschreibung trägt (Abb. 2.99). Somit werden die Routen hauptsächlich in einer Auflösung von Einzelimpressionen vermittelt. 2. Kapitel 130 Eine abweichende Gestaltung kommt den Verzeichnissen „TOP 20 in Breslau“ und „Alte Stadt Breslau“ zu Gute. Hier handelt es sich um die Präsentation der heutigen und gestrigen (vor 1945) Stadt mit dem bekannten Format der Bildpostkarten, denen ausführlichere historische und touristische Informationen angehängt werden (Abb. 2.100). Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Die „Stadtführungen“ des Hauptverzeichnisses „Unser Angebot“ beginnen in sieben von zehn Fällen am Bärenbrunnen, dem Logo des Unternehmens, zu Füssen des Rathauses.323 Der Ring, „die heutige Visitenkarte der Stadt“324, stellt in den sieben Fällen den Ausgangspunkt und das Zentrum der Führungen durch Breslau dar. Dabei fällt auf, dass die Führungen weniger einer flächendeckenden, als einer thematischen Vermittlung der Stadt verschrieben sind. Alle sieben Führungen, die am Bärenbrunnen beginnen, bewegen sich innerhalb des Stadtgrabens, wobei die Routen der thematisch abgegrenzten Führungen sich des öfteren überlappen (Abb. 2.101). In sechs von sieben Fällen wird die Dom- und Sandinsel in die Stadtführung eingebunden. Das Thema der Führung kann, außer bei den ersten beiden Führungen, „Breslau im Schnelldurchgang“ und „Breslau für gut trainierte“, die als Allgemeinführung durch Breslau gesehen werden können, bereits aus dem Namen der Führung herausgelesen werden. Außerhalb des Stadtgrabens werden Führungen an der Jahrhunderthalle, auf dem Alten Jüdischen Friedhof und durch den Zoologischen Garten angeboten. Die Vermittlung begrenzt sich im Fall der Angebotsvorstellung auf eine lakonische Beschreibung der Führung, eine numerische Aufzählung der Sehenswürdigkeiten in der Reihenfolge der Führung, einen Streckenverlauf und den beigefügten Bildpostkarten ausgewählter Sehenswürdigkeiten des Streckenverlaufs. Sie liefert einen Überblick über das inhaltliche Angebot einer zu buchenden Führung. Um so interessanter ist die Betrachtung der Zusammenstellung der Themen, unter denen die Stadt den Besuchern angeboten wird. Einen tieferen Aufschluss liefert hierbei das 2009 eingerichtete Zusatzportal auf dem die Führungsangebote zu Breslau erweitert werden.325 Hier offenbart sich verstärkt der Schwerpunkt der Stadtvermittlung und das Geheimnis des zurzeit erfolgreichsten lokalen Touristikunternehmens. Das bestehende Angebot wird um thematische Führungen zu Breslau erweitert, die hauptsächlich eine Zeitreise in die deutsche Stadt bis zu ihrem Untergang als „Festung Breslau“ 1945 anbieten. Hier taucht die Führung „Auf der Spur von Eberhardt Mock“ auf, bei der ein Spaziergang entlang der Orte aus dem Kriminalroman von Marek Krajewski den Besucher in ein Breslau der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts entführt. Wohin die Reise der zeitgenössischen 323 Nr. 001."Wrocław na szybko" (Breslau im Schnelldurchgang), Nr. 002.:"Wrocław dla wytrwałych"(Breslau für gut trainierte), Nr. 003.:"Dawny Breslau" (Das alte Breslau), Nr. 004.: "Hala Ludowa i okolice" (Jahrhunderthalle und Umgebung), Nr. 005.: "Gotyckim szlakiem po Wroclawiu" (Auf den Spuren der Gotikarchitektur in Breslau), Nr. 006.:"Barokowym szlakiem po Wrocławiu" (Auf den Spuren der Barockarchitektur in Breslau), Nr. 007.: "Szlakiem dawnych fortyfikacji miejskich" (Entlang der alten Stadtbefestigungen), Nr. 008.: "Wrocław nocą" (Breslau bei Nacht), Nr. 009.: "Stary Cmentarz Żydowski we Wrocławiu" (Alter Jüdischer Friedhof in Breslau), Nr. 010.: "Ogród Zoologiczny we Wrocławiu" (Zoologischer Garten in Breslau). Auf http://www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=35 (besucht am 09.08.2009) 324 „Wrocławski Rynek jest dziś wizytówką miasta. To drugi po Krakowie największy plac Europy. [...].” (dt.: Der Breslauer Ring ist die heutige Visitenkarte der Stadt. Es ist nach Krakau der zweit größte Platz Europas.) Auf: http://www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=8 (besucht am 09.08.2009) 325 Nr. 011.: "Neogotycki Wrocław"(Breslau der Neugotik), Nr. 012.: "Secesyjny Wrocław"(Breslau der Sezession), Nr. 013.: "III Rzesza" (Das Dritte Reich) , Nr. 014.: "Festung Breslau", Nr. 015.: "Wrocławscy Żydzi" (Breslauer Juden), Nr. 016.: "Szlakiem krasnali" (Auf der Spur der Zwerge), Nr. 017.: "Śladami Mocka" (Auf der Spur von Eberhardt Mock), Nr. 018.: "Zabytki Odry" (Baudenkmäler der Oder), Nr. 019.: "Zabytki techniki" (Baudenkmäler der Technik), Nr. 020.: "Wyznania Wrocławia" (Glaubensrichtungen Breslaus); auf: http://Wycieczki-po-Wroclawiu.pl.tl (besucht am 09.08.2009) 2. Kapitel 131 Stadtführer führt, zeigt eindringlicher die Führung „Festung Breslau 1945“, die mit einem „Spaziergang mit dem Stadtführer entlang der Verteidigungsstellungen und den Schutzbunkern mit über 30 alten Fotografien zur Kriegszerstörung Breslaus“ wirbt.326 Das Interesse für die deutsche Stadt Breslau, deren Einwohner und ihre Architektur zeichnet sich weiter in den Führungen „Glaubensrichtungen Breslaus“, „Breslauer Juden“ und „Baudenkmäler der Technik“, „Baudenkmäler der Oder“ sowie der Vorankündigung von „Breslau der Neugotik“, „Breslau der Sezession“ und „Das Dritte Reich“ ab. Von den 20 Führungen widmen sich 13 Themenkomplexe explizit dem deutschen Breslau vor 1945. Nur die Führung „Auf der Spur der Zwerge“ nimmt ein Thema der Nachkriegsstadt auf, wobei die künstlerische Verfremdung des einstigen Symbols der „Orangenen Alternative“, einer Happeningbewegung gegen das kommunistische Regime der 80er Jahre, keine Assoziation zum ursprünglich auf den Mauern aufgemalten Zwerg mit der Orangenen Kapuze aufbaut. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Stadtmarketing, das von der Stadtverwaltung betrieben wird und das heute zu einer Attraktion und einem weiterem Symbol der Stadt aufgestiegen ist.327 Für die Betrachtung der Stadtvermittlung auf den Internetseiten von WroclawCityTour.pl sind vor allem die Verzeichnisse „TOP 20 in Breslau“ und „Alte Stadt Breslau“ aussagekräftig. Zum einen wird die Stadt auf 20 Sehenswürdigkeiten heruntergebrochen, zum anderen sticht hier die heutige Bedeutung der untergegangenen deutschen Stadt Breslau erneut hervor. Die Aufstellung einer Werteskala aus den „20 größten Attraktionen unserer Stadt“, wie es zu Beginn heißt, gleicht einer Stadtbildcollage, dessen Zentrum das Rathaus mit dem Ring bildet, gefolgt vom Universitätsgebäude, dem Dom samt der Dominsel, dem Panoramagemälde, der Jahrhunderthalle, dem Alten Jüdischen Friedhof, dem Zoologischen Garten, der Jesus Kirche (koś. Imienia Jesus), einer Schifffahrt auf der Oder, einer historischen Straßenbahnfahrt, dem Botanischen Garten, dem Scheitninger Park mit dem Japanischen Garten, dem Schweidnitzer Keller, der Aussichtsplattform auf der Brücke der Büßerinnen von der St. Maria Magdalena Kirche (koś. św. Marii Magdaleny), dem Piastenmausoleum, einem Besuch in der Schokoladenmanufaktur „Chocoffee“, einem Besuch in den Breslauer Einkaufszentren (gemeint sind hier die neuen Malls der Stadt), einer Kutschen- und Rikschafahrt, einem Gondelverleih und dem Besuch in der Oper (ehemaliges Stadttheater)(Abb. 2.102). Die Vermittlung findet dabei mittels einer beschrifteten Bildpostkarte und einem dazugehörigen Textabsatz statt. Die inhaltliche und gestalterische Gleichstellung der Hauptmenüpunkte „Alte Stadt Breslau“ und „TOP 20 in Breslau!“ unterstreicht ein weiteres mal die Bedeutung der Stadt vor 1945 für das touristische Unternehmen. Hierzu lässt sich in dem Führungsangebot „Alte Stadt Breslau“, eine „Sentimentalreise in die Vergangenheit Breslaus, ein Stadtrundgang anhand der alten Fotos der Stadt vor 1945“328 buchen, bei der 24 Sehenswürdigkeiten jeweils mit einer Bildpostkarte und einem erläuternden Text die Vorkriegsstadt vermitteln sollen. Sowohl die Präsentation der größten 20 Attraktionen der Stadt, als auch die Darstellung des alten Breslaus vor 1945 legt ein neues Muster der Stadtvermittlung dar, bei der die Anziehungskraft der Orte in erster Linie dem Sensationsgehalt der Sehenswürdigkeit geschuldet ist. Weniger das 326 „’Festung Breslau 1945’ - Spacer po miescie z przewodnikiem szlakiem obrony miasta z czasów ‘Twierdzy Breslau’, ponad 30 dawnych fotografii miasta, zniszczenia wojenne Wrocławia.” Auf: http://wycieczki-po-wroclawiu.pl.tl/-g-Festung-Breslau-g-.htm (besucht am 09.08.2009) 327 Vgl. Abb. 3.2 (Zwerg auf dem Titelblatt eines Stadtführers zu Breslau) 328 www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=11 (besucht am 09.08.2009) 2. Kapitel 132 nationalpolnische als die Größe, das Alter, das Geheimnisvolle und der Freizeitwert sind die Parameter bei der Auswahl und Einstufung der „Anziehungsorte“, im Sinne des Stadtführers von Heute. Diesem neuen Bedürfnis mag das Angebot „’Breslau bei Nacht’, Nachtspaziergang durch das Stadtzentrum, Legenden und Geheimnisse Breslaus nach dem Sonnenuntergang“329 sowie die Begleitung der fiktiven Gestalt Eberhardt Mocks auf seinen Fahndungen durch die Stadt der dreißiger Jahre, oder die Entdeckungsreise der Stadt entlang märchenhafter Zwerggestalten, nachkommen. Das deutsche Breslau scheint die genannten Kriterien in sich zu vereinigen, so dass der Schweidnitzer Keller als ein Treffpunkt der Studenten der Vorkriegszeit brilliert und als Hauptredner der Jahrhunderthalle Adolf Hitler spukt.330 Die Faszination gilt dem Fremden, Unbekannten, Imponierenden und Spukenden zugleich, was hier in der dramatischen Gestalt der Vorkriegsstadt mit ihrem apokalyptischen Ende eine geeignete Kristallisation erfährt. Die Stadtführung als Abenteuer, dessen Schwerpunkt durch die Themenwahl klar definiert wird. Der Besucher als Konsument, der weniger einem didaktischen Geschichtsexkurs, als dem Erlebnis auf der Spur ist. Dabei wird festgestellt, dass trotz der Seriosität des Anbieters, schwerwiegende Fehler in der Beschreibung der Sehenswürdigkeiten vorkommen, wenn es zum Beispiel bei den TOP 20 Attraktionen zum Alten Jüdischen Friedhof gleich nach der Jahrhunderthalle heißt: „Der jüdische Friedhof an der Lohe Strasse (ul. Śleżna) ist die einzige Hinterlassenschaft der fast 30.000 zählenden jüdischen Gemeinde Breslaus aus der Vorkriegszeit.“ Auf diese Art und Weise wird die Synagoge unter dem Storch, die an einer anderen Stelle als Führungsattraktion explizit besichtigt wird, schlichtweg vergessen. Darüber hinaus stellt man bei einer Betrachtung der deutschen Version unkorrekte Übersetzungen, die aus der Markthalle von 1908 das erste Betongebäude der Welt machen.331 Wenn böse Unterstellungen unterlassen werden sollen, dann könnten die Unkorrektheiten mit Schwierigkeiten bei der Pflege und Einrichtung der Internetseiten zusammenhängen. Es kommt jedoch die Vermutung auf, dass die Verstellung der Fakten der Preis einer überzogenen Kreation von Anziehungspunkten ist. Das würde wiederum bedeuten, dass es bei der hier vorgestellten Stadtvermittlung schlichtweg um das „Aufpimpen“ von Sehenswürdigkeiten geht, welche die Stadtlandschaft in ein Netzwerk von Superlativen jeglicher Art transformiert. 2.3.2. www.wroclaw.pl Das Internetporal “wroclaw.pl”332 ist ein offizieller Internetservice der Stadtverwaltung von Breslau (Urząd Miasta Wrocławia). Es beinhaltet ein große Anzahl an Informationen für die Stadtbewohner, Investoren und Besucher. Somit richtet sich das Angebot an mannigfaltige Benutzer und versucht ein weites Feld an Nachfragen, die von „Was, wie und wo kann man in der Stadtverwaltung erledigen“, über „Wirtschaft, Geschäfte, Firmen und Investitionen“ bis hin zu „Rechtslage, Beschlüsse, Resolutionen und Bekanntmachungen“ sowie den aktuellen Nachrichten aus dem Stadtleben reichen, abzustecken. Darüber hinaus bietet das Portal ein Menüverzeichnis „Unsere Stadt – Orte, Zahlen, …“, 329 http://www.wroclawcitytour.pl/this.lang=DE/index.php?categoryid=19 (besucht am 09.08.2009) 330 http://www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=8 (besucht am 09.08.2009) 331 „11. Ritterplatz mit der Markthalle (erste Betongebäude der Welt!)“; auf: http://www.wroclawcitytour.pl/this.lang=DE/index.php?categoryid=16 (Besucht am 09.08.2009) 332 Erster Treffer von 45.600.000 für den Suchbegriff „wroclaw“; auf www.google.pl (Besucht am 10.08.2009) 2. Kapitel 133 das zusammen mit dem Menüpunkt „Touristischer Stadtführer – Museen, Kaffees, Galerien“ im Folgenden hinsichtlich der Stadtvermittlung näher betrachtet wird. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Das Internetportal startet mit einer Auflistung von 16 Menüpunkten, die ein weites und unübersichtliches Feld an Informationen für vielseitige Interessengruppen abdecken. Eine strukturelle Einteilung der Menüpunkte der ersten Informationsebene in Sachgebiete gestaltet sich problematisch (Abb. 2.103). Dennoch können im Groben die ersten vier Punkte als Einleitungskapitel mit allgemeinen Informationen zur Stadt, ihrer Geschichte und ihrer Infrastruktur behandelt werden. Die darauf folgenden vier Punkte legen im weitesten Sinne ihren Schwerpunkt auf die Vermittlung des lokalen Kultur- und Freizeitangebotes. Die sich daran anschließenden Menüpunkte beinhalten primär amtspezifische Informationen. Über die Menüpunkte gelangt man in die zweite Informationsebene, die wiederum eine Aneinanderreihung von Unterverzeichnissen bereitstellt. Im Falle der Menüzusammenstellung der Verzeichnisse „Unsere Stadt – Orte, Zahlen, …“ und „Touristischer Stadtführer – Museen, Kaffees, Galerien“ eröffnet sich erneut eine unübersichtliche Zusammenstellung an Unterpunkten, die eine Orientierung erschweren (Abb. 2.104). Hinter den Unterverzeichnissen verstecken sich weiterführende Verknüpfungen, die im Fensterbereich rechts von der Menüleiste die dazugehörigen Inhalte einblenden. Dabei präsentiert das Unterverzeichnis „Touristische Routen“ sechs Besichtigungsvorschläge, die per Mausklick im Informationsfenster eingesehen werden können. Innerhalb der einschlägigen Menüpunkte „Unsere Stadt – Orte, Zahlen, …“ und „Touristischer Stadtführer – Museen, Kaffees, Galerien“ fällt die Dominanz von verwaltungstechnischen und serviceanbietenden Unterpunkten, die auf den Charakter der Seite als offizielles Stadtportal zurückzuführen ist, ebenfalls auf. Gestaltung /formal/inhaltlich (Rundgang) Die Kopfzeile setzt sich aus dem links angebrachten Stadtlogo von 1996 und den geometrischen Grundkörpern in den Farben des Stadtwappens zusammen. Den Schwerpunkt der Geometrie beansprucht für sich das Stadtmotto „Breslau – Stadt der Begegnungen“. Die rechte obere Ecke über der Kopfzeile bietet vier Sprachversionen zur Auswahl. Eine Navigationsleiste trennt horizontal die Kopfzeile von der am linken Rand platzierten Menüleiste, dem mittig angebrachten Informationsfenster und der am rechten Rand situierten Nachrichtenleiste. Die Navigationsleiste zeigt den zurückgelegten Verzeichnispfad an und dient der internen Orientierung. Darüber hinaus beinhaltet sie am rechten äußeren Rand ein Suchfenster, das bei der internen Suche behilflich sein kann. Die Startseite unterhalb der Navigationsleiste setzt sich aus den oben genannten drei Spalten zusammen, wobei in der zweiten Informationsebene die Nachrichtenspalte zu Gunsten eines größer werdenden Informationsfensters aufgegeben wird. Die endlos scheinende vertikale Staffelung von Menüpunkten, die flimmernden Anzeigen des unübersichtlichen Informationsfensters und die Nachrichtenkaskade stiftet im ersten Moment eine Verwirrung und Ratlosigkeit gegenüber der Fülle und Mannigfaltigkeit des Angebotes (Abb. 2.105). Die Gestaltung der Internetseiten, die sich der Stadtführung widmen, folgt keiner einheitlichen Linie. Ein generelles Merkmal stellt lediglich das Angebot einer Druckversion vom Routenplan und der dazugehörigen Streckenbeschreibung dar, die jeweils zu Beginn und zum Schluss einer Führung („Print 2. Kapitel 134 and Go“) per Knopfdruck abgerufen werden kann. Die Routenpläne folgen der Darstellungsart des jeweiligen Anbieters, weisen generell jedoch eine Wegführung mit Laufrichtung auf. Bei den ersten zwei Führungen „Das Älteste Breslau“ und „Rund und die Altstadt – Auf den spuren alter Fortifikationen oder die Altstadtpromenade“ des Unterverzeichnisses „Touristische Routen“ handelt es sich um das ursprüngliche Angebot des Internetportals, bei denen die Führungen in einem zusammenhängenden Text vermittelt werden. 333 Als prägendes gestalterisches Mittel rückt der beschreibende und wegweisende Text in den Vordergrund, der mit Absätzen den Textblock strukturiert und seine Lesbarkeit erleichtert (Abb. 2.106). Eine Wegweisung markiert in der Regel den Anfang des Absatzes. 334 Die den beiden Führungen beigefügten Routenpläne verraten durch ihre Ähnlichkeit mit den im öffentlichen Raum von der Stadtverwaltung aufgestellten Besichtigungsrouten, den ursprünglichen Sinn des Angebotes, der in der Korrespondenz zu den aufgestellten Tafeln mit Routenvorschlägen zu sehen ist (Abb. 2.107). Ein auffallendes Merkmal der Pläne stellen die farblich betonten Architekturminiaturen dar, die als besondere Sehenswürdigkeiten gestalterisch hervorgehoben werden.335 Eine abwechslungsreiche Gestaltung der Stadtführung präsentiert sich in den folgenden zwei Führungsangeboten „Auf der Spur von Eberhard Mock“ und „Mythisches Breslau“ (Abb. 2.108). Die Typografie spielt mit differenzierten Schriftzeichen (kursiv, bold), Absatzunterteilungen, nummerierten Abschnitten und eingebundenem Bildmaterial. Die Führungen beginnen mit einem Einführungsabsatz, der Vorstellung der Autoren (kursiv), einem Routenplan und praktischen Informationen (Punktaufzählung). Die Strecke wird in nummerierte Abschnitte (bold) unterteilt, die mit den Nummern auf dem Routenplan korrespondieren. Die Nomenklatur der Abschnittsbezeichnung besteht aus dem Namen des Ortes, dessen Adresse, der ein repräsentatives Bild beigefügt wird. Neben den zum Ausdrucken angebotenen Routenplänen erleichtern die in eingeschobenen Absätzen platzieren Wegbeschreibungen (kursiv) die Navigation. Der Wegweisung wird mit einem eingeklammerten Absatz eine Zeitangabe für den Weg inklusive Insidertipps mitgegeben. Der Führung werden praktische Informationen angehängt. Einen prägenden gestalterischen Schwerpunkt stellen die dramatisch anmutenden Bilder zu den Orten und der ihnen zugrundeliegenden Routenpläne dar (Abb. 2.109). Eine dritte Kategorie vertreten die letzten drei Führungen, die von der Stiftung „Offenes Museum der Technik“ konzipiert und zur Verfügung gestellt wurden. Hierbei handelt es sich um die Einbindung der im PDF Format vorliegenden Führungen im Serviceportal der Stadtverwaltung. Die Seiten werden hauptsächlich durch eine Absatzstrukturierung, einen Routenplan und eine Streckentabelle gestaltet (Abb. 2.110). Sie beginnen mit der Vorstellung der Verfasser (kursiv) sowie einem Einzeiler „‚Die 333 Die fremdsprachigen Versionen geben zum Zeitpunkt der Untersuchung einen Aufschluss über den ursprünglichen Stand des Angebotes und die Gestaltung der Seiten. Demnach gehören die Führungen „Poznajemy najstarszy Wrocław” (dt.: Das Älteste Breslau) und „Wokół Starego Miasta - Szlakiem dawnych fortyfikacji, czyli Staromiejską Promenadą” (dt.: Rund und die Altstadt – Auf den spuren alter fortifikationen oder die Altstadtpromenade) von Bronisław Zathey zu den ersten aus diesem Angebot. 334 „Nach der überquerung der ul. Odrzańska betreten wir die ul. Malarska, wir biegen links ab in die ul. Kiełbaśnicza und dann wieder 335 In der Besichtigungsreihenfolge werden folgende Objekte durch eine Miniaturdarstellung aus der Luftperspektive dargestellt: 1. St. links ab, in die ul. Jaktki. […]“, auf: www.wroclaw.pl/m46357/p46359.aspx (besucht am 13.08.2009) Martin Kirche, 2. Hl. Kreuz Kirche, 3. Dom, 4. Mariekirche a. d. Sandinsel, 5. ehem. Augustinerkloster (Universitätsbibliothek), 6. Panorama von Racławice, 7. ehem. Bernhardinerkloster und Kirche (heutiges Architekturmuseum), 8. St. Adalbert Kirche, 9. Markthalle, 10. St. Vinzenz Kirche, 11. Jesus Kirche, 12. Hauptuniversitätsgebäude, 13. St. Elisabeth Kirche, 14. ehem. Sparkassengebäude (Universitätsbibliothek), 15. St. Dorotheen Kirche, 16. ehem. Stadttheater (Oper), 17. St. Maria Magdalena Kirche, 18. gotisches Rathaus 2. Kapitel 135 touristische Route‚ Brücken und Oderübergänge’, zum herunterladen im PDF Format (5,12 MB)“, der zum Beziehen der vollständigen Routenbeschreibung einlädt (Abb. 2.111).336 Wer sich dennoch mit dem Angebot der Internetseite beglücken will, bekommt eine kurze Zusammenfassung der Route, bevor ein Routenplan den Streckenverlauf visuell vermittelt und der Abschnitt „Geschichte und geografische Lage der Route“ einen Schnelldurchgang mit aufeinanderfolgenden Textabsätzen arrangiert. Den Abschluss der Führung bildet eine „Detaillierte Beschreibung der Route mit der Zeit und Entfernungsangabe zwischen den einzelnen Objekten“, die alle Sehenswürdigkeiten tabellarisch zusammenfasst und einen Überblick zu der benötigten Zeit und bevorstehenden Entfernung anbietet. Die unterschiedliche Gestaltung der Führungen lässt sich in erster Linie auf den Servicecharakter des Portals zurückführen, bei dem die Stadtverwaltung drei unterschiedlichen Anbietern, beziehungsweise Autoren, eine Plattform für ihr Angebot zur Verfügung stellt. Dabei werden die unterschiedlichen Inhalte und Formen in das Format des Portals transformiert. Eine einheitliche Sprache wird dabei nicht erreicht. Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) Das Unterverzeichnis „Touristische Routen“ bietet, wie bereits festgestellt, keine einheitliche Stadtführung, sondern eine Auswahl an Stadtbesichtigungen von drei unterschiedlichen Anbietern. Angesichts ihrer Zertifizierung durch die Stadtverwaltung und damit einhergehender Promotion auf den einschlägigen Internetseiten der Stadt gebührt ihnen ein besonderes Augenmerk. Demzufolge werden sie als fünf Routen der Stadtvermittlung in der aufgestellten Reihenfolge untersucht, mittels derer sich die Stadt den Besuchern präsentiert. Die Stadtbesichtigung „Das Älteste Breslau“ beginnt zu Füssen Papst Johannes XXIII. auf der Dominsel und führt über die Sandinsel bis in die Neustadt von der es über die St. Adalbert Kirche (koś. św. Wojciecha) zurück zum Ritterplatz (pl. Nankiera) geht. Anschließend verläuft die Route vom Hauptgebäude der Universität über das „Viertel der vier Glaubensrichtungen“, die Schweidnizer Strasse (ul. Świdnicka) zum Ring und dem Salzmarkt. Abschließend wird ein Schlenker in die Gegend der Reusche Strasse (ul. Ruska) und der Nicolai Strasse (ul. Mikołaja) eingebaut, um am Westring die Führung zu beenden. Die Herausforderung die historische Altstadt samt den Oderinseln in einer zusammenhängenden Route zu vermitteln führt zu einer extrem langen Fußmarschstrecke von rund zehn Kilometern, die zusätzlich durch Umwege erschwert wird.337 Die darauffolgende Stadtführung „Rund und die Altstadt – Auf den spuren alter Fortifikationen oder die Altstadtpromenade“ aus der Feder des gleichen Autors, Bronisław Zathey, erstreckt sich entlag der Stadtpromenade und des Oderufers mit einer Streckenlänge von rund fünf Kilometern für die fünf Stunden Zeit beanschlagt werden. Somit konzentrieren sich beide Mammutführungen auf die Stadt innerhalb des Stadtgrabens unter Einbindung der Oderinseln. Die Länge der Führungen und die Kürze der Routenbeschreibung ergeben im Ergebnis eine sehr kompakt gehaltene Vermittlung der einzelnen Sehenswürdigkeiten (rund 2200 Wörter bei der 1. Führung). Im Ergebnis erfolgt die Beschreibung der Architektur nur 336 Die PDF Dokumente bieten eine ausführliche Beschreibung der Routen und ihrer Sehenswürdigkeiten auf 33, 39 und 63 A4- 337 Das nachmessen der Strecke in Google Earth ergab eine Entfernung von rund 10 km auf direkter Strecke. Bei der durchschnittlichen Seiten, denen ein reichhaltiges Bildmaterial und die Streckentabelle zur Verfügung gestellt wird. Gehgeschwindigkeit von 5km/h nimmt die Route allein 2 Stunden reiner Laufzeit in Anspruch. Will man sich den Sehenswürdigkeiten widmen kann man von einer Verfünffachung der Zeit ausgegangen werden, in dem Fall beträgt das Angebot rund 10 Stunden Besichtigungs(tor)tour. 2. Kapitel 136 marginal.338 Es werden vor allem die Attraktionen und Sensationen eines Objektes in den Vordergrund gestellt, die eine verstärkte Aufmerksamkeit nach sich ziehen sollen. An dieser Stelle mutet es bizarr an, wenn der altehrwürdigen Marienkirche auf der Sandinsel (koś. NMP na Piasku) der gleiche Raum eingeräumt wird, wie der „einzigen in der Stadt ganzjährig geöffneten Weihnachtskrippe“ einer ihrer Seitenkapellen. Die Vermittlung gleicht einer punktartigen Erzählung, bei der die Stadtbesichtigung ohne ein durchgehendes Konzept fragmentartig beleuchtet wird. Dabei nimmt sich Bronisław Zathey des Besuchers an der Wiege der Stadt an, gemeint ist die Dominsel, und wiederholt an dieser Stelle die Aneignungsmuster vergangener Jahrzehnte, in dem er das Papstdenkmal im ersten Satz in den Rang eines der Stadtsymbole für die Legitimation der Wiederinbesitznahme der Stadt nach 1945 erhebt.339 Damit beginnt er mit einer Stadtbildkreation der frühen Volksrepublik und dessen beliebtesten Stadtbildmotiv vom alten Breslau. Der hier ablesbare Erfolg der früheren Aneignensmuster wiederholt sich bei dem Stadtführer in der Präsentation der St. Martin und Heilig Kreuz Kirche primär als Stätte polnischsprachiger Messen, als „polnische Kirchen“. Erst beim Verlassen der urpolnischen Erde, der Breslauer Dominsel, scheinen die Fußstapfen früherer Jahrzehnte weniger wegweisend zu sein. Die Akzentuierung verlagert sich auf die Erinnerungsorte, die nach der Wende von 1989 vor allem an die verlorenen Gebiete im Osten und die stalinistischen Gräueltaten erinnern.340 In diesem Zusammenhang bildet das Marienbild aus Miriampol (Ukraine), das in der Marienkirche auf der Sandinsel nach 1945 ihren Platz fand eine „Hauptattraktion“ der Kirche, wenn man von der Weihnachtskrippe ihrer Seitenkapelle absieht. Bemerkenswert ist, dass dabei der romanische Stiftungstympanon der Familie von Piotr Włost im Inneren der Kirche nicht erwähnt wird. Der Verlagerung der Geschichtsdeutung folgt die Verlagerung des Routenschwerpunktes in das „Viertel der vier Glaubensrichtungen“ und das Gebiet zwischen der Reusche (ul. Ruska) und Nicolai Strasse (ul. Mikołaja). Hier spiegelt sich das Interesse an der kulturellen Vielschichtigkeit der Stadt wider, die in einer unvoreingenommen Vermittlung deutscher, jüdischer und polnischer Persönlichkeiten und ihres Erbes zu lesen ist.341 Die zweite Führung aus der Feder von Bronisław Zathey setzt die Vermittlungsweise, abgesehen von den routenbedingten Änderungen ihrer Inhalte, entlang des Grüngürtels der historischen Altstadt gleichermaßen fort. Die Wegführung zieht ein vermehrtes Aufkommen an Denkmälern und Museen nach sich, die jeweils mit ihren Meistern und Schätzen zu Wort kommen. Jede der beiden Führungen skizziert eine Attraktionslandschaft mit Panoramaaussichten von Kirchentürmen und Anhöhen sowie eine eingebaute Erholungspause in Grünen. Zu den „Orten, die es 338 „Im Vordergrund erhebt sich die prächtige Ostfassade des Rathauses mit dem einmaligen, mit Rippen und Rundstäben versehenen Giebel und Erkern im Stil der Renaissance von der südlichen Seite. Vor dem Rathaus steht ein Symbol der mittelalterlichen Rechtssprechung – eine Rekonstruktion des steinernen Prangers aus dem Jahre 1492. Diese Ringseite wird als Grünschilf bezeichnet – hier wurden auch Gerichtsurteile bekannt gegeben und ausgeführt.“ Auf: www.wroclaw.pl/m46357/p46359.aspx (besucht am 13.08.2009) 339 „Wir beginnen die Reise durch Breslau unter dem Denkmal vom Johannes XXIII., der an dieser Stelle 1968 aufgestellt wurde. Es ist eines der Symbole der Stadt. Papst Johannes XXIII., war derjenige, der die Nachkriegsordnung – die polnische Kirchenadministration in den West- und Nordgebieten – anerkannte.“ Auf: www.wroclaw.pl/m46357/p46359.aspx (besucht am 13.08.2009) 340 Während der ersten Führung werden 6 Erinnerungsorte an die verlorenen Ostgebiete lokalisiert und 2 Denkmäler an die stalinistischen Repressalien vorgestellt. Auf: www.wroclaw.pl/m46357/p46359.aspx (besucht am 13.08.2009) 341 Die Unvoreingenommenheit lässt sich bereits in den Routenplänen ablesen, die sowohl das Sparkassengebäude als auch die Markthalle durch eine Miniaturzeichnung neben den vielen Kirchen, dem Rathaus, der Universität und der Rotunde der Panorama von Racławice hervorhebt. Auf: www.wroclaw.pl/m46357/p46359.aspx (besucht am 13.08.2009) 2. Kapitel 137 sich besonders lohnt zu besuchen“ zählt der Stadtführer in alter Treue den Besuch im Piastenmausoleum und in der Panorama von Racławice. Beide Routenbeschreibungen widmen sich jedoch verstärkt der Vermittlung des „Viertels der vier Glaubensrichtungen“ und damit einhergehend dem multikulturellen Erbe des 19. Jahrhunderts. Ein gänzlich andere Vermittlungsweise schlagen die thematischen Führungen „Auf der Spur von Eberhard Mock” von Marta Pawlaczek und “Mythisches Breslau” von Jacek Ratajczak ein.342 Beide setzten auf die Stadtaneignung unter themenbezogenen Gesichtspunkten. Beide leben von einer geheimnissvollen und sagenumwobenen Stadt. Sie vermitteln die Stadt durch ausgewählte Orte, die entweder aus dem fiktiven Leben der “geheimnissvollen Gestalt” des Oberkriminalrates Eberhard Mock gegriffen oder von Legenden und Erzählung zerren. Dabei spielt der Wahrheitsgehalt eine zweitrangige Ware. Vor allem bei der Stadtführung “Mytisches Breslau” verwischt der Autor bewußt die Grenzen zwischen Fiktion und Realität und kreiert eine auf Sensation ausgerichtete Stadtvermittlung.343 Die thematischen Führungen erfolgen anhand klar voneinander getrennten Schauplätzen, die über eine Erzählung vermittelt werden. Die fiktiven Elemente der Erzählungen werden nicht selten um genau recherchierte Information gesponnen, die einen tiefgründigen und neuen Blick auf die kulturellen Landschaft der Stadt erlauben. Auf diese Art und Weise wird mit Hilfe der Gestalt Eberhard Mocks und Dank der Vorarbeit seines geistigen Vaters, des Buchautors Marek Krajewski, das geheimnisvolle Breslau der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts Haus für Haus rekonstruiert. In gleicher Weise zeigt das “Mythische Breslau” neben dem Fiktiven allerlei Reales, das erlebnisreich, einprägsam und tiefgründig vermittelt wird. In einem wiederum anderem Licht stehen die letzten drei Stadtführungen aus der Reihen der Stiftung „Offenes Museum der Technik“. Sie weisen einen hohen didaktischen Wert bei der Aneignung der in Vergessenheit geratenen technischen Bauten der Stadt auf, die der Regulierung der Oder dienen und somit ein integraler Bestandteil der Stadt sind. 344 Die auf den Internetseiten der Stadtverwaltung vorgestellten Führungen stellen eine Zusammenfassung der ausführlicheren PDF Dokumente zu den einzelnen Routen dar. Sie vermitteln die Idee einer Neubewertung des Wassersystems und seiner Architektur, die im Vorwort als „das bedeutendste Baudenkmal der Stadt Breslau“ bezeichnet wird.345 Das Kerngebiet der Führungen bilden die ausläufigen Ufer der Oder, wobei die Fokussierung eindeutig auf den Oderabschnitten um die Oderinsel der Altstadt liegt. Die als längere Spaziergänge konzipierten Routen enthalten einen Streckenplan, dem eine historische Skizze beigelegt wird. Diese zeichnet die Geschichte der Oderregulierung und ihrer Bauten, deren Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat, nach. Insofern bieten die Routen entlang des Wassersystems einen Spaziergang zu 342 Die Führung „Auf der Spur von Eberhard Mock” wird über das Internetportal von WroclawCityTour.pl angeboten und gehört wohl 343 „Unter den am häufigsten erwähnten Gästen (des Hotels Monopol) befindet sich Adolf Hitler, obwohl die Quellen zu seinen zu dessen Repertoire. Aufenthalt unter dieser Adresse nicht sicher sind. Fakt ist, dass auf seinen Wunsch 1937 der Portikus mit einen Balkon über dem Haupteingang gebaut wurde, damit der Führer und Kanzler des Dritten Reiches von hieraus Ansprachen halten konnte.“ Auf: www.wroclaw.pl/m46357/p85193.aspx (besucht am 13.08.2009) 344 Das Interesse für die große Anzahl an technischen Bauten, die fast ausschließlich aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen, lässt sich bereits am ende des vergangenen Jahrhunderts in der Fernsehserien „Baudenkmäler der Technik“ der lokalen Fernsehanstalt ablesen. Des Weiteren kann das Bewusstsein für diese Bautypologie bereits in den Publikationen „Architektur und Zeit“ (1993, 1995 und 1997) sowie dem „Atlas der Architektur Breslaus“ (Bd. 1, 1997; Bd. 2, 1998) beobachtet werden. 345 Auf: www.wroclaw.pl/m46357/p86104.aspx (besucht am 13.08.2009) 2. Kapitel 138 den Ursprüngen der Stadt und durch das 19. sowie die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die tabellarische Zusammenfassung der Objekte und der Strecke zeigt zum Schluss der Führung das gesamte Repertoire der Route, das explizit in Wort und Bild im angehängten PDF Dokument behandelt wird. 2.3.3. www.dolny.slask.org.pl Das Internetportal „www.dolny.slask.org.pl”346, auch „Hydral” genannt, gehört zur ersten Adresse, wenn man sich für Breslau interessiert. Seine Erfolgsgeschichte ist eng mit dem Breslauer Informatikstudenten, Piotr Herba, verbunden, der 2001 ein virtuelles Album zum „alten, verschwundenen und unbekannten Breslau“ ins Netz stellte. Seitdem teilen sein geäußertes Interesse viele seiner Zeitgenossen, so dass innerhalb von zwei Jahren bereits mehrere zehntausend Bilder auf der offenen Internetplattform hochgeladen werden. Die rasante Entwicklung des seit 2005 über die Stadt auf ganz Niederschlesien ausgebreiteten Portals zog eine Neukonzeption und die Gründung der Gesellschaft „Wratislaviae Amici”, nach sich. Die Gesellschaft folgt den Zielen der Ende 2004 auf ihren Seiten formulierten Nutzungsbedingungen. Demnach geht es auf „www.dolny.slask.org.pl” sowohl um die „Veranschaulichung und Beschreibung der räumlichen, städtebaulichen und architektonischen Veränderungen in der Region mittels Präsentation historischer Fotografie, Karten und kartografischen Zeichnungen, als auch um das Dokumentieren des aktuellen Zustandes der Infrastruktur und anderer Bestandteile des materiellen Kulturgutes mittels zeitgenössischer Fotografie sowie die Veranschaulichung und Beschreibung der materiellen Geschichte der Region (z.B. mittels diversen ihr zugrunde liegenden historischen Ereignisse).”347 Der Erfolg des Konzeptes schlägt sich direkt in den Zahlen nieder. Nach der Neukonzeption und dem Umzug auf einen größeren Internetserver werden Ende des Jahres 2008 rund 250.000 Bilder gezählt.348 Ein halbes Jahr später sind es bereits über 280.000 Bilder, die von rund 12.000 registrierten Nutzern lokalisiert, beschrieben und hochgeladen werden. Struktur /formal/inhaltlich (Medium) Die Struktur des Portals lässt sich anhand des Hauptverzeichnisses „Menü“ der Navigationsleiste erörtern (Abb. 2.112). Demnach gliedert sich „Hydral“ in drei Hauptteile. Den ersten Schwerpunkt stellt die Startseite, die Wahl der Region, drei Diskussionsrunden und das zwischengeschobene Kalendarium, dar. Das Hauptmenü „Forum“ bildet den Kern der kommunikativen Schiene. Hier werden Kommentare zu den „Artikeln“ gelesen und abgegeben. Eine „Architekturdiskussion“ lädt zum freien Meinungsaustausch ein. Die „Kulturellen Informationen“ informieren über aktuelle Kulturereignisse in der Region. Darüber hinaus werden die Nutzer im Unterverzeichnis „Erinnerungen“ mit der Frage „Hast du interessante Erinnerungen? Schreib sich hier 346 Das Portal ist hauptsächlich unter der Bezeichnung „Hydral“, dem Namen eines lokalen Maschinenbauunternehmens P.Z.L. HYDRAL, dessen Server seit 2004 dem Portal zur Heimat wurde, bekannt. Die Adresse www.dolny.slask.org.pl ist die Weiterleitung zur www.wroclaw.hydral.com.pl 347 §8. der Nutzungsbedingungen der Seiten auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/28,artykul.html (besucht am 17.08.2009); siehe hierzu auch §3., §4. und §5. der Satzung der Gesellschaft „Wratislaviae Amici” vom 11.07.2009 348 Ende 2008 sind 88.000 von 250.000 Bilder der Stadt Breslau zugewiesen, wovon 68.000 Bilder (77%) wiederum das Stadtbild bis 1945 dokumentieren und vermitteln. Laut: Email von Piotr Popow, den Vorsitzenden der Gesellschaft (24.08.2009) 2. Kapitel 139 auf!“ ermuntert eigene Erfahrungen mit der Stadt preiszugeben.349 Die Unterverzeichnisse „Klagemauer“ und „Technisches Forum“ befassen sich mit Verbesserungsvorschlägen und technischer Problembewältigung. Das Hauptmenü „Kommentare“ zeigt die „Liste der zuletzt kommentierten Bilder“ und lädt ebenfalls zum direkten Einsteig in die Diskussion ein.350 Unter dem Hauptmenü „Kommentare der Stimmen“ findet eine Selektion und Hervorhebung des hochgeladenen Materials statt, bei der die registrierten Benutzer vorrangig den historischen Dokumentationswert, den sogenannten „inhaltlichen Mehrwert des Materials“, ermitteln sollen.351 Den zweiten Schwerpunkt bildet das Archiv, dem fünf Menüpunkte vorbehalten werden, die wiederum der strukturierten Suche nach dem Informationsmaterial dienen. Darunter verbirgt sich der Hauptmenüpunkt „Suchen“, das mit seinen Unterverzeichnissen „nach Fotos“ und „nach Artikeln“ eine erweiterte Suche anbietet. Dem Hauptmenüpunkt „Stadtteile“, „Objekte“ und „Fotos“ werden katalogisierte Unterverzeichnisse untergeordnet, die einerseits eine räumliche, andererseits ein typologische und thematische Eingrenzung der Suche ergeben. Der Hauptmenüpunkt „Karten“ eröffnet die Auflistung aller auf dem Portal hochgeladenen Karten, die in alphabetischer Reihenfolge nach Städten der Region strukturiert werden. Den dritten Schwerpunkt verkörpern die veröffentlichten Statistiken, die den Spaß- und Wettbewerbsfaktor der Mitarbeit am Portal zu Ausdruck bringen. Der hier zu Tage kommende Wettbewerbseifer der Nutzer verbildlicht sich in der Rangliste der Top 100 unter dem Menüpunkt „Nutzer“, dessen Punktesystem in erster Linie mit den veröffentlichten Bildern und ihrer Bewertung durch andere Nutzer zusammenhängt.352 Unter dem Hauptmenüpunkt „Statistiken“ lässt sich die Frequenz der Bildeinstellung grafisch drei Monate nach hinten verfolgen und die Verteilung der Lorbeeren unter den Nutzer feststellen. Eine wahre Fundgrube bietet das Hauptmenü „Foto des Monats“, das die am besten bewerteten Bilder eines Monats nach dem jeweiligen Tag geordnet präsentiert. Die Zusammenstellung der besten Bilder offenbart ebenfalls die Vorliebe des wertenden Publikums, welche eindeutig auf dem Schwarzweißbild des untergegangenen Breslaus vor 1945 liegt. Die angegliederten Verzeichnisse „Hilfe“ und „Über die Seite“ schließen das Angebot ab. Sie geben Auskunft über die Nutzungsbedingungen, die an den Zielen der Gesellschaft ausgerichtet sind, und praktische Hinweise bei der Edition der Seiten. Gestaltung 349 /formal/inhaltlich (Rundgang) „Herr Werner Langfeld, ‚Breslauer’ Jahrgang 1931, übergab uns seine Biographie. Alles in Allem 28 Seiten, davon ein Dutzend Seiten über die Jahre in Breslau. Festung Breslau kommt darin nicht vor, da er früher wegfuhr. Gesucht wird ein verlässlicher Übersetzer. Referenzen, Lebenslauf und Passbilder in dreifacher Ausführung. … Kann es nur empfehlen. Man könnte es mit dem ursprünglichen deutschen Text für die ‚Breslauer’ einfügen.“ Auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/12,x,415375,0,7,forum.html#st (besucht am 19.08.2009) 350 „Die eigenen Kommentare zu den Bildern und Artikeln sollten sachlich (gemäß der Satzung) sein und bemerkenswerte Inhalte, die der Verbreitung des Wissens bei anderen Nutzern zum Thema beitragen. Es können auch Fragen hinsichtlich der Bilder und Artikel formuliert werden.“ Laut §21. zur Stimmen- und Kommentabgabe der Nutzungsbedingungen auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/28,artykul.html (besucht am 17.08.2009) 351 Die Bewertungsskala der Bilder reicht von 6,0 für hervorragendes Material bis 3,0 für minderwertige Ware. Landet ein Bild unterhalb der 3,0 Marke wird es von den Administratoren in den Mülleimer deponiert und nach 6 Tage automatisch gelöscht. .“ Laut §20. zur Stimmen- und Kommentabgabe der Nutzungsbedingungen auf: ebd. 352 Laut der Rangliste veröffentlichten alleine die 10 ersten Plätze rund 75.000 Bilder und gaben rund 15.000 Kommentare ab (Nick: FM, 15.500 eingestellte Bilder!). Auf: http://wroclaw.hydral.com.pl/test.php?content=users&s=f (besucht am 17.08.2009) 2. Kapitel 140 Den Mittelpunkt der Kopfzeile stellt eins von drei erhaltenden Sezessionsschildern der Stadt dar, die allesamt in der Wallstrasse (ul. Pawła Włodkowica) zu sehen sind (Abb. 2.113). Dem ausgewaschenen Schild wird der Name der Gesellschaft „Wratislaviae Amici“ beigefügt. Das grafische Arrangement wird in dezenten Graustufen gehalten. Das Sezessionsschild kann als Zeichen für ein verstärktes Interesse am verlorenen gegangenen Breslau vor 1945 angesehen werden. Dieser Annahme folgt die symbolische Umrahmung der Inschrift. Links des Schildes befinden sich antike Statuen, die der Residenz vom Breslauer Hochadel, der Familie Hohenlohe, entnommen sind. Rechts flankiert wird das Schild von zwei Wappenreliefs. Das linke Wappen, mit dem Kopf des Heiligen Johannes, stammt vom Rathaus, das rechte befindet sich über dem Eingang in der Wallstrasse 8, dem Haus des preußischen Gutsbesitzers und Montanindustriellen Graf Franz Karl Wolfgang Ludwig Alexander von Ballestrem. Unterhalb des Sezessionsschildes ordnet sich die lateinische Aufschrift „Ad perpetuam rei memoriam. Anno domini MMV“353. Die Startseite, die hier als erste Gestaltungsebene bezeichnet wird, präsentiert sich wohl strukturiert und trotz der Vielfalt an Information übersichtlich (Abb. 2.114). Den unteren horizontalen Abschluss der Kopfzeile bildet die Navigationszeile, die Linksaußen das „Menü“ im Rollfenster anbietet, dem ein Login für „Administratoren“, „Kontakt“ und die „Hilfe“ angestellt werden. Darunter entfaltet sich auf der Startseite eine vertikale Aufteilung der Informationsbereiche, die in drei Spalten zum Ausdruck kommt. Die einzelnen Spalten werden wiederum in Fensterbereiche gegliedert. Die linke Spalte beinhaltet zum Einstieg ein Login-Fenster, das eine Auswahl der Sprachversion (Polnisch/Deutsch) anbietet.354 Eine Ebene tiefer befindet sich ein Suchfenster. Das letzte Fenster präsentiert die zuletzt der Google Maps beigefügten „Bildmarken“ (znaczki), die durch ein grafisches Symbol, das der Typologie des jeweiligen Objektes entnommen wird, und durch eine Kurzbeschreibung repräsentiert werden. An dieser Stelle werden darüber hinaus spontan Wettbewerbe ausgerufen, bei denen die Nutzer ein Bildrätsel lösen können. Die breitangelegte mittlere Spalte macht den Auftakt mit zwei nebeneinander gestellten Fenstern „Eins der besten fünf Bilder des Monats“ und „Ausgewähltes nichtidentifiziertes Bildmaterial“, denen jeweils eine Bildminiatur und die Beschriftung beigefügt werden. Beide Fenster geben an dieser Stelle den Charakter des Portals wider, bei dem es um die Archivierung, Dokumentation und Entschlüsselung des Bildmaterials zum materiellen Kulturerbe geht. Dem zweier Gespann wird das grafische „Navigationspanel“, das grob dem Menüverzeichnis der Navigationsleiste entspricht, unterstellt. Die darauf folgenden Fenster „Neuste Artikel“ und „Zuletzt bewertete Bilder“ widmen sich dem aktuellen Innenleben des Portals und seinen Schwerpunkten, das heißt der Kommunikation rund um die gebaute Umwelt sowie der Selektion und Präsentation des Bildmaterials, das in Miniaturformat dargestellt wird. Die rechts eingestellte Spalte zeigt eine ausführlichere Liste der „Zuletzt bewerteten Bilder“ in einer Punktaufzählung mit einer Adress- und Objektbeschreibung sowie einer Sternwertung von eins bis drei. Die Liste untergliedert sich fortlaufend nach dem Einstelldatum der Bilder. Die Bilder und dargestellten Bereiche werden dabei zufallsgeneriert, so dass bei der Rückkehr zur Startseite stets eine neue Auswahl an Bildern und Artikeln zu sehen ist. 353 lat.: zu dauerndem Gedächtnis im Jahr des Herrn 2005 354 Das besondere Interesse des Portals an der Dokumentation und Präsentation der Vorkriegsstadt im Bild bedingt eine bilinguale Gestaltung der Objektbezeichnung, so dass die Objekte stets über polnische oder deutsche Strassen- und Objektsuche gefunden werden können. Zurzeit verfolgt die Gesellschaft das ehrgeizige Projekt einer großflächigen Übersetzung des Archivs ins Deutsche. Die simultane Übersetzung der Kommentare bleibt jedoch weiterhin ein ferner Wunsch. 2. Kapitel 141 Die Seiten der zweiten Gestaltungsebene verzichten auf die Dreiteilung zugunsten eines nach rechts größer werdenden Informationsfensters für ein ausgewähltes Objekt (Abb. 2.115). Dabei gestaltet sich das Hauptfenster von oben nach unten mit den „Objekteigenschaften“, den „Objektbildern“ sowie der „Liste der Objekte“, die in einen räumlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Objekt stehen. Das unterste Fenster der linken Spalte zeigt weiter die „Liste der Objekte“, die zuletzt der Google Maps Karte beigefügt worden sind, an. Sie werden durch bekannte Bildmarken und eine kurze Beschreibung untereinander präsentiert. Die dritte Gestaltungsebene verkörpert die dem jeweiligen Bild zugeteilte Seite (Abb. 2.116). Die Seiten zeichnen sich durch eine Reduktion der vertikalen Unterteilung auf eine Spalte aus. Hier präsentiert sich anfangs das jeweilige Objektbild in voller Größe, dem ein Informationsfenster und Kommentare unterstellt werden. Die letzte Kommentarzeile verfügt über ein Eingabefenster für die eingeloggten Benutzer. Das durchschlagende gestalterische Merkmal des Portals wird durch das Bildmaterial verkörpert, das sich in drei Gestaltungsebenen von der miniaturisierten Objektübersicht hin zu einer auf das Objektbild ausgerichteten Informationsseite erstreckt. Neben den Bildern stellt die interaktive Google Maps Karte einen weiteren gestalterischen Schwerpunkt des Portals dar. Die Verortung der Objekte mittels Bildmarken und die gestaffelte Informationsdichte in Abhängigkeit vom Kartenmaßstab machen aus ihr ein imposantes Such- und Ortungsinstrument, das per Mausklick mit den Darstellungsebenen des Portals korrespondiert (Abb. 2.117). Darüber hinaus weitet das Portal fortwährend sein mediales Arsenal aus, beispielsweise um Panoramabilder, Filme, eine eigene interaktive Karte sowie das erwähnte Kalendarium, und sticht durch ein dichtes Netzwerk von Verknüpfungen zu den behandelten Objekten hervor. Vermittlung /formal/inhaltlich (Rundgang) In Anbetracht der vielfältigen Zugänge, die sich einerseits aus der Strukturierung, andererseits aus der Gestaltung des Portals, mit seinen unendlichen Verknüpfungen und unzähligen Objekten ergeben, ist es unmöglich eine klare Vermittlungsform darzustellen. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass hier räumlich gesehen eine flächendeckende und inhaltlich betrachtet eine vollständige Präsentation des kulturellen Raumes erfolgt, die durch die Partizipation Tausender ergebener Nutzer tatsächlich ein nie zuvor gesehenes Gesamtbild der Stadt generiert. Das Portal stellt keine klassischen Besichtigungsrouten zusammen, sondern stellt zurzeit mit einem Informationsgeflecht aus über 280.000 Bildern ein Gesamtkunstwerk zusammen. Die Kommentare und Informationen sind meist subjektiver Natur und bilden jeweils einen Beitrag zu den Bildern, auf die wiederum eine Diskussion in darauffolgenden Kommentaren folgt.355 Die Nutzungsbedingungen des Portals weisen eine Vermittlungsstruktur auf, die klar einer Hierarchisierung folgt. Demnach soll ein „erstelltes Objekt stets eine korrekte Zuweisung zu einer 355 „SerVacY: SerVacY: Kommentarlos. / Siloy – Administrator: Administrator: Was für eine Ornamentik …// adalbert: adalbert Dieses Gebäude hat den Krieg überstanden … und konnte wieder aufgebaut werden!/ Jaś: Jaś Klar, aber die Ziegeln wurden in Warschau gebraucht/ Marox: Marox Wäre interessant zu wissen was aus ihnen gebaut wurde? SerVacY: Der Kulturpalast!!!/ Kubiaczek: Tiefe Trauer und Wut. Schade, dass nur Bilder blieben.// kudelin: Ein seltenes Bild aus noch einem Grund – wahrscheinlich das einzige auf dem (leider nur im Hintergrund) das “Haus auf der Mauer” gesehen werden kann [LINK].“ Kommentare zum Kaiserlichen Postamt auf: http://wroclaw.hydral.com.pl/005464,z,470652,1,foto.html#st (besucht am 14.08.2009) 2. Kapitel 142 Strasse/Strassen, einem Viertel, einer Stadt oder Region sowie die Verknüpfungen zu verwandten Themenkomplexen und allen anderen mit ihm verknüpften Objekten aufweisen.“356 Vor allem die letzten Punkte führen zu einen schwer nachvollziehbaren Aneignungsweg, die den Besucher auf unergründete Entdeckungsreise ins Reich der Datenbank entführt und seine Verweildauer im Netz in unkontrollierbare Länge zieht. Aus den anfangs erwähnten Gründen werden hier vier Vermittlungswege aufgezeichnet, die eine Auskunft über die Form und Inhalte der Vermittlung am konkreten Beispiel geben sollen. 1. Zufälliger Zugang: Die erste Vermittlungsform zeigt einen spontanen Besuch des Portals, bei dem das Interesse unwillkürlich auf dem Artikel der Startseite mit der Einladung zum 6. Jahrmarkt des Hl. Jacek in Schwoitsch (Swojczyce) fällt. Der Link auf der Startseite führt in die zweite Gestaltungsebene mit ausgiebiger Information zur der Veranstaltung am 22.08.2009. Das Interesse führt über den unten angebrachten Link „Schwoitsch KARTE“ zum Hochladen der „Schwoitsch-Viertel“ Seite mit integrierter Google-Maps-Sattelitenansicht. Mit dem Mausrad zoomt sich der Blick ins Zentrum des sieben Kilometer östlich vom Breslauer Ring gelegenen Dorfes. Der Blick fällt dabei auf die „Bildmarke“ (znaczek), zu der Kirche des Hl. Jacek, die per Klick in der Karte aktiviert wird. Die Objektseite der zweiten Gestaltungsebene offenbart die Informationen und das Bildmaterial zu der Kirche sowie einen Taufstein, eines thematisch der Kirche zugewiesenen Objekts. Per Mausklick auf die Bildminiatur öffnet sich die Seite der dritten Gestaltungsebene mit einen Großbild vom Objekt mit der Zusatzinformation: „Alter gotischer Taufstein, der ursprünglich in der Kirche des Hl. Jacek in Schwoitsch untergebracht war und in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von der Familie Berkner auf der Müllkippe gefunden wurde (bis jetzt konnte man nicht feststellen wieso er dorthin kam), nach 1945 dem Erzbischöflichen Museum übergeben, zurzeit im Inneren des Breslauer Domes zu sehen.“357 Die den Text flankierenden Bildminiaturen verweisen auf weiteres Bildmaterial zum gotischen Denkmal. Die rechte Miniatur verweist zu der Großbildansicht mit der Unterschrift: „Haus des Verwalters von der Gartenseite her und der im Vordergrund stehende gotische Taufstein, vor dem Krieg von der Familie Berkner gefunden, zurzeit im Breslauer Dom ausgestellt.“358 Die den Text flankierenden Bildminiaturen lassen den dazugehörigen Gutshof erkennen. Über die rechte Miniatur führt der Weg direkt ins Panoramabild vom Innenhof des landwirtschaftlichen Betriebes, das zu einem der Experimentiergehöfte der Landwirtschaftlichen Hochschule der Vorkriegsstadt gehörte und dessen Verwalter die Familie Berkner bis 1945 war.359 Der Blick fällt diesmal auf die hier erstmals gesehene Familie Berkner und die Verknüpfung zu den Bildern aus ihrem Familienalbum. Hier bietet sich ein einmaliger Einblick ins Privatleben der Familie, das stark von spannenden Architekturaufnahmen lebt. Ein Schnelldurchlauf durch das Album unter Betrachtung ausgewählter Bilder in Großansicht führt zu einer Schrägluftaufnahme des Großgrundbesitzes in Schwoitsch, die mit interaktiven Markern gespickt ist. Ein benachbartes Bild aus dem Familienalbum zeigt den belebten Innenhof 1939, der dazugehörige Text verrät den Einsatz von Zwangsarbeitern bis 1945, die hier im Bild zusehen sind. Über das mit 356 §19, 2b der Nutzungsbedingungen der Seiten auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/28,artykul.html (besucht am 17.08.2009); 357 www.wroclaw.hydral.com.pl/182149,foto.html (besucht am 14.08.2009) 358 www.wroclaw.hydral.com.pl/182384,foto.html (besucht am 14.08.2009) 359 „Blick auf den ganzen landwirtschaftlichen Experimentierhof in Schwoitsch, die Mehrzahl der Bauten steht heute noch, obwohl ihr Zustand sehr viel zu wünschen lässt, nach der Schließung vom LPG im Jahr 1990 hat das Anwesen keinen Besitzer mehr, links kann man ein Fragment von der Kirche des Hl. Jacek an der ul. Miłoszyckiej erkennen, noch mit dem alten Kirchenturm, der im Krieg beschädigt und in anderer Form wiederaufgebaut wurde….“. Auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/182390,foto.html (besucht am 14.08.2009) 2. Kapitel 143 Hakenkreuzfahnen geschmückte Haus des Verwalters befindet sich im dazugehörigen Text ein Link zum heutigen Antlitz des Anwesens.360 Von dem heutigen Rundgang durch das bemitleidenswerte Anwesen, führt der Weg zur Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft der Nachkriegszeit. Das Großbild des Verwaltungshauses aus dem Jahr 2004 verweist im Text auf die Verknüpfungen zur Familie Berkner.361 Der Kreis schließt sich hier vor der Ansicht des Hauses mit dem davor stehenden Taufstein, über den ein Sprung in das Innere des Breslauer Doms unternommen wird. Hier endet die spontane Reise anlässlich einer Einladung zum Fest durch ein Dorf vor den Toren der Stadt Breslau, das dem Besucher unerwartet in den Breslauer Dom hineinleitet. Im Fall einer konkreten Objektsuche, gestaltet sich die Vermittlung geradliniger. Das Internetportal bietet hierzu drei wesentliche Erschließungsarten der Raumes an, die mit den Suchoptionen in Verbindung gebracht werden. Als Beispiel wird im Folgenden von einem Interesse am Kaiserlichen Postamt, das in der Post Strasse (ul. bł. Czesława) der Neustadt errichtetet wurde, ausgegangen. 2. Zugang über die Menüleiste: Nach der Auswahl der Region „Breslau“, der Eingrenzung des Stadtbezirks und des Viertels eröffnet sich die zweite Gestaltungsebene zu dem Neustadt-Stadtviertel (Dzielnica Nowe Miasto). Das unterhalb den chronologisch gestapelten Impressionen zum Viertel angebrachte Straßenverzeichnis mit den dazugehörigen Bildminiaturen verweist auf die Post Strasse (ul. bł. Czesława). Die Verknüpfung „Post Strasse“ führt zu der entsprechenden Objektseite, auf der wiederum untereinander die Straßenbilder chronologisch strukturiert sowie die mit ihr im Zusammenhang stehenden Objekte mit Bildminiaturen, den Bildmarken, der Namen- und Adressangabe aufgelistet werden. Die hinter dem Namen „Hauptpost, ehemalige“ (Poczta Glówna, dawna) versteckte Verknüpfung führt direkt zum gesuchten Objekt. Die Seite bleibt im Stil der zweiten Gestaltungsebene und präsentiert sich ebenfalls mit einer chronologischen Aneinaderreihung an Bildminiaturen und den ihr verwandten Objekten. Dem Nutzer stehen bei der Aneignung der Architektur vorrangig die visuellen Mittel zur Verfügung und die hinter den Bildern schlummernden Beschreibungen und Kommentare. Im Falle der Hauptpost aus den Jahren 1884 bis 1888 reicht das Informationsmaterial darüber hinaus. Die „Objekteigenschaften“ verweisen neben der obligatorischen, deutsch-polnischen Bezeichnung, dem Baujahr, den Baumeister und der Information über die Existenz, auf einen weiterführenden Artikel zum Objekt. Der Link führt zum Interview mit Olgierd Czerner, dem langjährigen Direktor des Architekturmuseums, über die Möglichkeiten der Rettung deutscher Architektur beim Wiederaufbau Breslaus nach 1945.362 Das Interview beinhaltet eine Reihe von Bauwerken, die in der Nachkriegszeit zum Abbruch freigegeben wurden. Die allzeit gebotene Leichtigkeit der Erschließung weiterer „Opfer“ der Wiederaufbaus, zum Beispiel des Schlesischen Museums, führt schnell vom ursprünglich eingeschlagenen Weg ins weitergedachte Umfeld. Die Leichtigkeit des Abkehr steht in keinen Verhältnis zu der Schwierigkeit der Rückkehr zum einst verlassenen Pfad, der im Normalfall über die erneute Suche im Menüverzeichnis von vorne begonnen werden muss. 360 „Haus des Verwalters auf dem ehemaligen Hofkomplex in Schwoitsch (heute – LINK) – das Bild stammt aus dem Familienalbum Berkner, den Vorkriegseigentümern.“ Auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/182382,foto.html (besucht am 14.08.2009) 361 Haus des Verwalters von der Gartenseite her gesehen, Bezugnehmend auf das Bild (LINK) sehen wir den verwahrlosten Garten sowie die Überbleibsel des „Schwarzen Gewässers“, auf der einst die Familie Berkner (LINK) ihre familiären Bootsausflüge veranstaltete …“ Auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/115413,foto.html (besucht am 14.08.2009) 362 Interview mit Olgierd Czerner bezüglich des Abrisses beim Wiederaufbau der Stadt vom 29.01.2005 auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/53,artykul.html#2 (besucht am 19.08.2009) 2. Kapitel 144 3. Zugang über die Karte: Eine grafische Erschließung des Raumes mit einer Punktlandung auf dem gesuchten Objekt bietet die „Google Karte“, die im Navigationspanel der Startseite platziert ist und im Popup-Fenster geöffnet wird. Die linke Maustaste in Kombination mit dem Mausrad lotst das Auge in die ausgewählte Position. Die Karte erscheint in einem Fenster mit typischer Navigation von Google Maps. Darüber hinaus ermöglicht die im unteren Fenster installierte Auswahlleiste die Selektion der bekannten „Bildmarken“ (znaczki), die in der Karte gezeigt werden sollen.363 Die Marken verfügen über ein weiteres Fenster, das bei der Berührung mit dem Mauszeiger die entsprechenden Bildminiaturen und die Objektnamen projiziert. Im Fall des ehemaligen Kaiserlichen Postamtes fällt die Suche nach dem passenden Marker im Viertel ergebnislos aus.364 Aus diesem Grund muss der Umweg über die Bildmarke zum Stadtviertel „Neustadt“ gemacht werden, der dem Besucher per Mausklick die Portalsseite der zweiten Darstellungsebene zum ausgewählten Stadtviertel öffnet. Die Google Karte stellt somit einen visuelle Zugang zu den hinter ihren Bildmarkern versteckten Portalseiten. Die Suche gleicht einem Abtasten der Karte nach verborgenen Schätzen, die durch den Anzeigefilter der unteren Fensterleiste erleichtert wird. 4. Zugang über manuelle Eingabe: Das statische Suchfenster der linken Spalte bietet jederzeit die Möglichkeit einer gezielten Suche via manuelle Eingabe von Strassen- und Objektnamen. Die Sucheingabe „Kaiserliches Haupt-Postamt“, der offizielle Name des Objektes laut historischen Bildpostkarten, führt nicht zum erhofften Treffer im vorher festgelegten Suchgebiet „Breslau“. Mit ein wenig Geschick präsentiert sich eine Objektliste mit zehn Treffern bei der Eingabe des Oberbegriffes „Post“, zu sechs Treffern bei der Suche über den äquivalenten polnischen Begriff „poczta“. Beide Trefferlisten beinhalten bei näherer Betrachtung das gesuchte Objekt, wobei für die Schwierigkeiten bei der Suche die unkorrekte Objektbenennung verantwortlich ist.365 Die hinter dem Objektnamen versteckte Verknüpfung führt direkt auf die gewohnte Objektseite der zweiten Gestaltungsebene. Die Internetseiten der Gesellschaft „Wratislaviae Amici“ vermitteln den kulturellen Raum primär über ein verzweigtes, miteinander vernetztes Objektsystem. Die Attraktivität des Angebots verführt den Nutzer dazu, den gezielten Suchweg zu verlassen und führt in den meisten Fällen zum Hüpfen zwischen den Hyperlinks. Auch wenn die Vermittlungsweise einem Sprungbrett ähnelt, so erreicht das bildlich gesprochene Springen zwischen den in Bilderflut aufgelösten Stadtansichten einen didaktischen Mehrwert. Denn neben dem Gesuchten erfährt man allerlei Überraschendes und Ungeahntes, was allein durch die Attraktivität (meist visueller Art) dem Besucher seinen Vorlieben nach auf eine Entdeckungsreise schickt. Insofern zeigt die Rekonstruktion der durchforsteten Bilder und Artikel eines Besuchs auf den Internetseiten einen tieferen Einblick auf die heimlichen Vorlieben des Nutzers. Trotz der Spontaneität der Vermittlung sowie oft zweifelhafter Kommentare und Diskussionen spricht die Tatsache, dass „Hydral“ auch bei Kunsthistorikern als wichtige Quelle angekommen ist, für die 363 Der Ausbau der Markierung der Google Karte erfolgt parallel zu der Einstellung neuer Objekte auf dem Portal. Die neusten Bildmarken werden wie die neu eingestellten Objekte auf der Starseite jeweils in der linken unteren Spalte präsentiert. Am 20.08.2009 zählt die Google Karte 1587 zugewiesene Marker für die Stadtagglomeration Breslau. 364 Zwar befinden sich im Auswahlfenster unter „Post“ beim „Städtischem und öffentlichen“ zwei Marker (von rund 40 aller Kategorien 365 Der orthographische Fehler bei der deutschen Bezeichnung des Objekts führt zu dessen Verschleierung bei der Suchaktion via die dem Viertel zugeteilt sind), jedoch beziehen sie sich zurzeit der Untersuchung auf heute existierende Objekte der Neustadt. manuelle Eingabe: „Poczta Główna (dawna) - / Postdirektion/Keisrliches Postamt / NIE ISTNIEJE / Wrocław / Stare Miasto / ul. Wita Stwosza # 20 fotografii # 1 obiekt“ [BILDMINATUR]“; auf www.wroclaw.hydral.com.pl/szukaj.html?srch=post&f=search&rdg1=bud_de&Submit=szukaj&pow=m1 (besucht am 20.08.2009) 2. Kapitel 145 Seriosität und das Potential des Portals.366 Die Popularität, die in der Kreativität, dem Materialreichtum und der Benutzerfreundlichkeit gründet sowie im steigenden Bedürfnis nach der Entdeckung und Dokumentation der Heimat in Eigenregie zu suchen ist, führt zu der begründeten Annahme, „Hydral“ sei „die niederschlesischste von niederschlesischen Internetportalen.“367 Seine innovative Herangehensweise an die Aneignung des kulturellen Raumes folgt dem Paradigmenwechsel des 21. Jahrhunderts und wird zunehmend von offiziellen Stellen gewürdigt.368 366 Auf der Konferenz „Digitale Begegnungen mit den Baudenkmälern“ im Oktober 2007 an der Universität Breslau stellten die Kunsthistoriker fest, dass die von Laien betrieben Plattform „Hydral“ zu einem wichtigen Instrument für die Fachkreise geworden ist. Sie ist die erste Anlaufstelle bei der Frage nach dem historischen sowie zeitgenössischen Antlitz des kulturellen Raumes, und nicht nur. 367 Wójcik, Jerzy: To tu żyją kamienice i ulice. Najbardziej dolnośląski z dolnośląskich portali. Strona internetowa, na której można zobaczyć te fragmenty miast, których już nie ma, czyli popularny Hydral, in: Gazeta Wrocławska. POLSKA The Times (Artikel vom 12.12.2008) (dt.: Hier leben die Stadthäuser und Strassen. Niederschlesischste von niederschlesischen Internetportalen. Da Portal, auf dem man die Stadtfragmente sehen kann, die nicht mehr existieren, kurz das populäre Hydral.) 368 In Anbetacht der Innovation und der Verdienste bei der Dokumentation und Vermittlung der Stadt Breslau verlieh der Stadtrat am 24. Juni 2009 dem Preis des Oberbürgermeisters für das Jahr 2009 an die Gesellschaft „Wratislaviae Amici“. 2. Kapitel 146 3. Kapitel 3.1. Gegenüberstellung der „Printstadtführer“ nach 1945 Um die Entwicklung der formalen Typologie und der inhaltlichen Topologie der gedruckten Stadtführer zu verdeutlichen, wird in Anlehnung an ihre Analyse die Struktur, Gestaltung und Vermittlung getrennt voneinander dargestellt. Innerhalb dieser Strukturierung werden die formalen, stilistischen und inhaltlichen Aspekte gegenüberstellend behandelt. 3.1.1. Strukturierung Das Medium der gedruckten Stadtführer weist generell eine strukturelle Dreiteilung auf. Diese besteht in der Regel aus einer Einleitung, einer Führung und einem reisepraktischen Anhang, dem so genannten Informator. Die Reihenfolge, der Umfang sowie die Gliederung der Kapitel variieren, wobei gewisse Tendenzen feststellbar sind. Der erste polnische Stadtführer von 1946, in dessen Umfang alle drei Teile gleich ausfallen und somit die Führung vom Gewicht schwach ausfällt, weist ein Alleinstellungsmerkmal auf. Mit fortschreitenden Veröffentlichungen wächst das Repertoire der Einleitung, deren Kern anfänglich die historische Skizze der Stadt bildet. Dabei lässt sich beobachten, dass das Verhältnis der Anzahl der Seiten der „historischen Skizze“ zu der Anzahl der Seiten, die sich den Besichtigungen widmen, von rund 90% im Jahre 1948 hin zu 0,05% in 2003 umkehrt (Abb. 3.1).1 Die Gründe hierfür können zum einen in der Integration der historischen Inhalte in die Stadtführung, zum anderen in dem zahlenmäßigen Anstieg der Sehenswürdigkeiten und der Besichtigungswege, die im Laufe der Zeit erschlossen werden, liegen. Nicht zu aller Letzt könnte das anfängliche Bedürfnis nach einer geschichtlichen Legitimation eines polnischen Breslaus und das allmähliche Desinteresse an einem ausführlichen Geschichtsunterricht in diesem Medium ein weiterer Grund für diese Entwicklung sein. Strukturell weichen die ersten Stadtführer stark von einander ab. Der Stadtführer von 1948 beginnt im Gegensatz zu seinem Vorgänger von 1946 mit dem Informator und führt dann über eine historische Einleitung zu der Führung durch die Stadt. Sein Nachfolger von 1952 verzichtet ausnahmsweise gänzlich auf die Dreiteilung und steigt gleich in die Führung ein, wobei der Historie quasi vor Ort innerhalb der Wegbeschreitung Genüge getan wird. Einen wichtigen Beitrag für eine Standardisierung der formalen und inhaltlichen Struktur des Mediums liefert der Stadtführer von 1956. Seine Gliederung der Einleitung in Unterkapitel, die zum einen das Jahr 1945 und den zeitgenössischen Stand mit harten Statistiken dokumentieren, eine historische Skizze der Geschichte präsentieren sowie den polnischen Kulturbeitrag postulieren, erlangt bis zum Untergang der Volksrepublik eine Mustergültigkeit. Seine Führungen entlang festgesetzter Wege profitieren resonanzartig von der fachkundigen Einleitung und münden in dem reisepraktischen Teil, dem Informator. 1 Seitenverhältnis „geschichtliche Einführung/Stadtbesichtigung“ (ohne Bild- und Kartenseiten): 1946 (86%); 1948 (92%); 1956 (48%); 1960 (37%); 1963 (35%); 1976 (25%); 1993 (15%); 2001 (12%); 2003 (0,05%) 3. Kapitel 147 In den 60er Jahren erfolgt eine Konsolidierung der Struktur, die eine weitere Differenzierung der Einleitung, sowie eine Erweiterung der Besichtigungswege und der Sehenswürdigkeiten nach sich zieht. Seit 1960 werden verstärkt die Vororte der Stadt und die neue Architektur ins Bewusstsein gerufen sowie Ausflüge in die Umgebung angeboten. Markant für diese Phase ist der Stadtführer von 1963, der eine ausgewogene Aufteilung der Führung durch die alte und neue Stadt in Form ihrer Vororte organisiert. Die 1956 vorgenommene Strukturierung des Mediums, seine Konsolidierung der 60er Jahre und seine Assimilation in den 70er und 80er Jahren in den fortgeführten Werken von Janusz Czerwiński ist in seinen wesentlichen Zügen bis heute nachweisbar. Seiner Aufteilung und Differenzierung der Kapitel werden lediglich neue Inhalte eingeflösst und ihr Umfang neu gewertet. Dabei wird die trockene Geschichtsstunde, wie zuvor festgestellt, zum Vorteil einer Vielzahl an Sehenswürdigkeiten und einer Vielfältigkeit des Führungsangebotes gekürzt. Ein bemerkenswertes Sonderelement des Mediums stellt das Inhaltsverzeichnis dar, das im Laufe der Zeit erst um Straßen- und Platzverzeichnisse (bis 1956), und später um die Personen-, Sach-, Ortsverzeichnisse (ab 1963) erweitert wird. Es handelt sich hierbei um ein wichtiges Instrument bei der Suche nach Objekten und der Navigation innerhalb des Mediums. 3.1.2. Gestaltung Ausschlaggebendes Gestaltungsmittel der gedruckten Stadtführer ist der lineare Text und dessen typografische Zusammensetzung sowie die unterstützenden visuellen Medien in Form von Plänen, Skizzen, Illustrationen, historischen Bildern und Fotografie. Die Gestaltung des Mediums dient der besseren Lesbarkeit und leichteren Anwendung des Mediums hinsichtlich der Auffindbarkeit seiner Inhalte, sowohl innerhalb der Veröffentlichung, als auch im realen Stadtgefüge. Sie beeinflusst somit maßgeblich die Wahrnehmung seiner Inhalte, intern und extern. Als eine Gattung der reisepraktischen Literatur variiert die Größe des Mediums im gängigen Taschenbuchformat, so dass eine handliche Nutzung unterwegs gegeben ist. Den Auftakt bildet das nicht selten aufwendig gestaltete Titelblatt, das des öfteren visuell den zeitgenössischen Geist, den Rahmen der Publikation, nach Außen zu tragen im Stande ist (Abb. 3.2). Die ersten Nachkriegsstadtführer greifen vorrangig auf textbasierte Vermittlung zurück. Die fast unausgegoren wirkende Gestaltung der Veröffentlichungen, bei denen in einem zusammenhängenden Textfluss die Baudenkmäler vorgestellt werden, zeugt im Vergleich zu seinen Nachfolgern von einer improvisatorischen Übergangssituation.2 Dem Medium werden von Anfang an abstrakte Stadtpläne beigefügt, die jedoch ohne die Streckenführung und Objektmarkierung sowohl die Orientierung im Raum als auch die Verortung der Objekte nur mäßig unterstützen, so dass der Leser nicht selten den Leitfaden verliert und hilflos inmitten der Fremde nach Orientierung sucht.3 Mit dem Stadtführer zu der WZO 1948 wird der gestalterische Aspekt um die stilistische Hervorhebungen ausgewählter, somit bedeutender, Objekte durch stärkere Lettern (bold) und die Einbindung der Schwarzweißfotografie (18x) bereichert. Die Anwendung der Fotografie als visuelle 2 Siehe hierzu die Stadtführer: Jochelson, Andrzej (1946) und Sevatt, Stanisław (1948) 3 Besonders deutlich kommt die räumliche Verwirrung bei Jochelson, Andrzej (1946) und Sykulski, Józef (1948) vor. 3. Kapitel 148 Unterstützung der ohnehin marginal ausgeschöpften bildlichen Beschreibung gestaltete sich anfangs ebenfalls unbeholfen. Nicht nur die Qualität, sondern auch die Wahl der Motive und die Platzierung der Bilder innerhalb des Mediums lässt zu wünschen übrig (Abb. 3.3). Einen prägenden gestalterischen Ansatz hinsichtlich der internen und externen Navigation beinhaltet der Stadtführer von 1952. Durch seine Aufteilung der Führungen in vier getrennte Rundgänge, denen schematische Stadtplanausschnitte mit Kreisnummern beigefügt werden, die wiederum am Textrand den Bezug einer im Plan verorteten Nummer zur Objektbeschreibung im Text herstellen, wird ein neuer gestalterischer Maßstab gesetzt (Abb. 3.4).. Des Weiteren bietet der Stadtführer zu Beginn der jeweiligen Route einen eigenständigen Absatz mit der Zusammenfassung des Streckenverlaufs, die durch Bindestriche zu einer Strassen- und Platznamenkette zusammengefasst werden. Die Führungen beginnen stets mit einer einleitenden Wegweisung, die innerhalb der Texte wiederholt wird und die Navigation erleichtert. Mit dem Stadtführer von 1952 hält ebenfalls die Einbindung „reisepraktischer Informationen“, meist weiterführende Verweise zu Öffnungszeiten, Telefonnummern und Führungen durch Institutionen, in die Führung Einzug.4 Zu Beginn der 60er Jahre wird das Navigationsprinzip von 1952 aufgegriffen und der Absatz als Gestaltungsmittel in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichem Inhalt eingeführt (Abb. 3.5). Einerseits wird hiermit die Lesbarkeit und Orientierung innerhalb des Mediums erleichtert, andererseits bietet sich die Möglichkeit, weiterführende Exkurse zu bestimmten Objekten anzubieten, die visuell leicht übersprungen werden können. Auch wird die Typografie weiter erprobt, so dass als hervorhebende Schriftweise neben den stärkeren oder kursiven Lettern die Silbentrennung in den Exkursen Einzug hält. Neben den durch Objektminiaturen visuell aufgewerteten Planausschnitten stechen die an mehreren Stellen gebündelten, fast schon Bildband ähnelnden, Bildseiten mit insgesamt 69 Schwarzweißbildern hervor. Die Zusammenfassung der Bildseiten mag mit dem Druckverfahren und der Senkung seiner Kosten zusammenhängen. Sie führt unweigerlich zur Trennung der Bilder von ihrem textbasierten Kontext. Trotzdem bildet die visuelle Seite des Mediums alleine durch die Vielzahl der Bilder eine wichtige Stütze bei der Vermittlung seiner Inhalte (Abb. 3.6). Das neue Gestaltungskonzept wird 1963 aufgegriffen und verfeinert, wobei die weiterführenden Exkurse eine nicht wieder erreichte Informationstiefe aufweisen. Die Verfeinerung des gestalterischen Konzeptes führt so weit, dass aufgrund der exzessiven Anwendung hervorhebender und absetzender Typografie eine Unübersichtlichkeit entsteht, die erst in den 70er Jahren einen bereinigenden Prozess erfährt (Abb. 3.7). Bewährt hat sich eine zwischen den Absätzen in Klammern platzierte Wegweisung, die eine räumliche Distanz zwischen den Objekten relativ zielsicher bewältigen lässt. Neben der experimentellen Typografie werden kontextbezogen ausgewählte Grundrisse und Objektillustrationen eingesetzt, die zusätzlich zu den reich gefüllten Bildseiten, eine visuelle Stütze bilden (Abb. 3.8). In den 70er Jahren wird nach den experimentellen Veröffentlichungen der frühen 60er Jahre ein neuer gestalterischer Standard generiert. Dieser greift einerseits das bewährte Navigationskonzept von 1952, 4 „Wenn die Besucher über Zeit verfügen, können sie zuvor mit dem Komitee zur Erforschung der Anfänge des Polnischen Staates (Komitet Badań nad Początkami Państwa Polskiego) Kontakt aufnehmen, […], das neben der Heilig Kreuz Kirche untergebracht ist (siehe Seite 31), um eine Führungsgenehmigung durch die Ausgrabungen an der Ruine der ältesten St. Martin Burgkkapelle der Stadt, begonnen noch im 12. Jhd., […], zu bekommen.“ In: Łomnicki, J.; Morelowski, M.; Walczak, W.: Cztery przechadzki po Wrocławiu, Warszawa 1952, S. 30; siehe auch: TMW (Hg.): Przewodnik po Wrocławiu1960, Wrocław 1960, S. 64 3. Kapitel 149 andererseits die 1960 eingeführte und 1963 bis an ihre Grenzen verfeinerte Typografie auf. Die Herausbildung einer Art klassischer Gestaltung hängt eng mit der modifizierten, fremdsprachigen Neuauflage des Stadtführers von 1963 zusammen, bei dem 1970 das Format und die Gestaltung für insgesamt 4 Auflagen mit rund 90.000 Exemplaren festgesetzt wird. Bemerkenswert ist dabei, dass der Klassiker aus dem Verlag „Sport und Touristik“, einem regelrechten Bildersturm unterzogen wird. Neben den visuellen Mitteln der Kartografie samt den Architekturminiaturen werden nur ausgewählte Objektgrundrisse beibehalten. Die Kartenausschnitte avancieren umso mehr zum zentralen visuellen Gestaltungsmittel, die mit Objektnummern, Architekturminiaturen und einer pfeilartigen Wegweisung reich bestückt werden (Abb. 3.9). Erst in der Fortführung des Konzeptes aus den Jahren 1976, 1980 und 1989 kehren an die Seite der weiter ausgebauten Grundrisse kontextbezogene Architekturzeichnungen wieder zurück. Zum klassischen Gestaltungsmittel der Stadtführer avanciert mit der Ausgabe von 1970 ebenfalls die Kopfzeile, die linksseitig den Routennamen und rechtseitig die auf der Doppelseite behandelten Objektnamen aufführt. Das in den letzten beiden Jahrzehnten der Volksrepublik Polen konsolidierte Gestaltungskonzept eines Stadtführers für Breslau übersteht den politischen und medialen Wandel der 90er Jahre fast unangetastet. Allerdings kommt in den Neuerscheinungen von 2001 und 2003 eine Bildsprache hinzu, die in ihrer Quantität die textbasierte Vermittlung unterstützt, wie sie es Anfang der 60er Jahre schon einmal getan hat. In erster Linie fällt bei den neuen Autoren eine Wiederkehr der Architekturzeichnung auf, die entweder vom Textfluss umrahmt wird, oder an dessen Rand platziert ist. Weiterhin ist der aus wirtschaftlichen Gründen bestehende Einsatz von gebündelten Bildseiten zu erkennen, die Dank des technologischen Fortschritts ihre Wiederkehr in neuer Qualität der Farbbilder feiern (Abb. 3.10). Eine gestalterische Neuigkeit bringt das neue Jahrtausend in der hierarchischen Staffelung der Vermittlung mit sich, bei der anfangs die Strasse, dann ihre Zusammensetzung und schließlich ausgewählte Objekte jeweils in autarken Absätzen vermittelt werden. Gleichzeitig werden sowohl grafische Spielereien bei der Absetzung, als auch der Hervorhebung unterschiedlicher Absätze und Inhalte mit vertikalen und horizontalen Linien ausprobiert. Die synonymartig für den verwendeten Begriff des Klassikers stehende Person Janusz Czerwińskis verabschiedet sich nicht von der gestalterischen Mustergültigkeit der 70er Jahre und führt das Werk in den aktualisierten Neuauflagen von 1993 und 2002 fort, auch wenn er den Klassiker mit zahlreichen textbegleitenden Farbbildern gestalterisch aufstockt. Bemerkenswert ist allerdings, dass er 2002 auf die neuartige Hierarchisierung der Absätze nach dem Vorbild von 2001 zurückgreift und gestalterisch die Änderungen assimiliert. Des Weiteren bedient er sich hierbei erstmalig der von John Murray eingeführten Sternskala von * bis ***, die eine Einstufung der Wertung einer Sehenswürdigkeit visuell darstellt. 3.1.3. Vermittlung Im Medium der gedruckten Stadtführer aus der Gattung der „linearen Erschließung“ werden die Baudenkmäler generell in der Reihenfolge aufgelistet, wie sie während des vorgeschlagenen Weges aufkommen.5 Die Wegführung bildet somit einen wichtigen Aspekt bei der Vermittlung der Stadt, weil diese bestimmte Viertel, Strassen und Plätze beleuchtet, während andere wiederum ausgeblendet 5 Vgl. Anm. 142, Kap. 2. 3. Kapitel 150 werden.6 Aus der Bedeutung des Weges rührt das Anliegen einer geordneten Navigation des Unkundigen entlang des festgesetzten Erkundungspfades. Um diesem Problem entgegen zu wirken etabliert sich eine im Textfluss integrierte Wegweisung, die im Laufe der Zeit stilistisch von objektorientierter Information abgegrenzt wird. Die Navigation des Nutzers durch die fremde Stadt und die streiflichtartige Beleuchtung ihrer Fragmente beinhaltet neben der Wegweisung nicht selten auch die Blickrichtung. Man möchte meinen, dass der Stadtführer bedacht ist, nichts dem Zufall zu überlassen. Hinsichtlich des fundamentalen Anliegens fallen vor allem die ersten Führer zu Breslau auf, bei denen die unerfahrenen Autoren es nicht schaffen, eine nachvollziehbare Wegführung zu gestalten. Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich bei der Navigation durch das „neue Breslau“ der Nachkriegszeit. Die Weiträumigkeit der Vororte und die Verteilung der Sehenswürdigkeiten führen zu einer Notstandsituation bei der sonst doch klaren Konstellation der Wege innerhalb der Altstadt. An erster Stelle wäre die besagte Überleitung in die „neue Stadt“, die als Sprung über die Oder ins „Akademische Viertel“ und auf das Ausstellungsgelände bildlich zu sehen ist, zu nennen. An dieser Stelle endet bis in die 60er Jahre der rote Faden der Wegführung und es beginnt eine Loslösung aus dem Korsett einer zielgerichteten Weganweisung.7 Eine bedingte Lösung des Problems setzt sich im Stadtführer vom 1963 durch, in dem auch für die Vorstädte eine Routenführung mit Weganweisungen und Kartenmaterial zur Verfügung gestellt wird. Auch der geschickte Vorschlag von 1976 einer alphabetischen Vermittlungsreihenfolge der „Objekte außerhalb der Besichtigungswege“ trägt nur partiell zu einer Lösung des Problems bei. Bei der Betrachtung der Vermittlung der Stadt fällt bis Mitte der 70er Jahre ein stetig wachsendes Angebot an Besichtigungswegen auf, die mit einer wissenschaftlichen Erschließung des Raumes zu sehen sind und gleichzeitig aus einem gesteigerten Interesse für die Vororte herrühren (Abb. 3.11).8 Die Vielfältigkeit der Wege, die sich in ihren inhaltlichen sowie zeitlichen Gesichtspunkten von einander unterscheiden, implementiert die Möglichkeit einer individuellen Zusammenstellung der Stadtbesichtigungen. Das Prinzip der Routenwahl, die nach der Interessenlage und dem Zeitkontingent des Nutzers gemacht werden kann, stellt zum ersten Mal der Stadtführer von 1970 vor.9 Es ist eine Art Demokratisierung der Stadtvermittlung, die zu einer langsamen Abkehr von strikten Routenführungen, bei gleichzeitiger Erweiterung der Routenanzahl und Vielfalt, führt und von seinen Nachfolger weitergeführt wird (Abb. 3.12). Die Vermittlung der Stadt basiert auf der sprachlichen Beschreibung, die im Laufe der Zeit immer stärker mit visuellen Hilfsmedien untermauert wird. Hinsichtlich der sprachlichen Vermittlungsweise lassen sich grundlegend zwei Arten definieren. Zum einen tritt eine Führerautorität auf, die sich in einem Abstand zum Unkundigen befindet. Der Stadtführer nimmt sich des Unwissenden an und setzt seine Gefolgschaft voraus. Der Abstand äußert sich in einer Hierarchisierung der Akteure, was zur 6 Neben der linearen Erschließung des Raumes in Routenführern tritt, jedoch seltener, die punktuelle Darstellung in alphabetischer Ortslexika und die erlebnisbezogene Gebietsbeschreibung in Essaysammlungen auf. In: Isenberg, Wolfgang: Geographie ohne Geographen. Laienwissenschaftliche Erkundungen, Interpretationen und Analysen der räumlichen Umwelt in Jugendarbeit, Erwachsenenwelt und Tourismus, Osnabrück 1987, S. 172-175, nach: Lauterbach, Burkhart: Berlin-Reiseführer heute. Zum Umgang mit der Geschichte in einem touristischen Gebrauchsmedium, in: Erinnern und vergessen, hg. v. Brigitte BönischBrednich, Göttingen 1991, S. 381-193, S. 386 7 Vgl. Stadtführer der Jahre 1948, 1952 und 1960 8 Vgl. Stadtführer von: 1952 (4 Wege); 1956 (3 Wege); 1960 (6 Wege ); 1963 (7 Wege ); 1976 (9 Wege); 2003 (11 Wege) 9 Vgl. Anm. 246, Kap. 2. 3. Kapitel 151 Autoritätsbildung führt.10 Zum anderen begegnet der Unkundige einem auf gleicher Augenhöhe agierenden Ortskundigen. Der Stadtführer taucht in die Rolle eines gleichgesinnten Zeitgenossen, der einen Bekannten beispielsweise am Hauptbahnhof empfängt und ihm seine Stadt zeigt. Die Personifizierung des Stadtführers in der Gestalt eines „Kumpels“ soll den Abstand, die Autoritätsrolle und den damit zusammenhängenden Imperativ abmildern.11 Der Ton und Stil der sprachlichen Vermittlung der Stadt durchschreitet einen allgemein zu beobachtenden Wandel, der den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Zuständen entspricht. Das erste Nachkriegsjahrzehnt zeichnet sich durch einen kritischen und stark ideologisierenden Sprachstil aus, bei dem die Stadtführer die wissenschaftliche Polemik des Sozialistischen Realismus aufgreifen und fortsetzten. Die emotional aufgeladene, autoritäre Führung entlang einer polnischen Blüte und eines deutschen Niedergangs der Stadt lockert sich zunehmend 1960 mit dem kumpelhaften, zum Scherzen geneigten, Fremdenempfänger aus dem Hause der gerade vier Jahre zuvor gegründeten Gesellschaft der Liebhaber Breslaus (TMW). Das strenge Korsett eines richtenden Stadtführers verabschiedet sich langsam mit dem 1963 eingeführten und bis 1989 tradierten Vermittlungsstil des Klassikers von Roszkowska und Czerwiński. Die Stadtführer kanonisieren eine sachliche Vermittlungsweise, die sich im Laufe der Zeit von den politischen und ideologischen Zwängen löst.12 Zum Sortiment der Architekturvermittlung gehört klassischerweise das Baujahr und die stilistische Klassifizierung des Bauwerks. Die Ekphrasis, die bildliche Beschreibung der Sehenswürdigkeit, ist hingegen sehr spärlich ausgebildet. Meist begrenzt sich das sprachlich vermittelte Bild auf Länge, Höhe und Gliederung des Objektes, was besonders im Kirchenbau zum Ausdruck kommt. Die natürlich erscheinende Namensnennung des Architekten und der Entstehungskontext stellt sich im Falle Breslaus nach 1945 anfangs als schwierig dar. Erst mit den politischen Umbrüchen nach Stalins Tod und der neuen Bauweise der 60er Jahre, die eng mit der ersten Nachkriegsgeneration der Entwerfer in Verbindung steht, rücken verstärkt die Architekten ins Bewusstsein. Die neue Sachlichkeit bringt hierbei auch deutsche Architekten ins Spiel, deren Zahl stetig ansteigt und deren Leistungsschau seit der Wende von 1989 die ihrer polnischen Kollegen in den Schatten stellt. Charakteristisch für den Sprachgebrauch bei der Vermittlung der Stadt ist die Wertung. Die richtende Sprache des ersten Nachkriegsjahrzehnt steht dabei noch in der direkten Schuld der Politik. Die staatlich geforderte Ab- und Aufwertung der Architektur anhand ihrer nationalen Zugehörigkeit geht mit den Lockerungen der 60er Jahre in eine subjektiv untermalte Sicht der Dinge über. Die Sicht 10 Die Mehrzahl an Führer folgt dem imperativen Konzept der Stadtvermittlung. Bereits der Name implementiert eine Führung, die üblicherweise von oben nach unten stattfindet. Das heißt, der Führer bestimmt die Richtung, wir folgen. Charakteristisch Redewendungen hierfür: „Nach dem wir den Hauptbahnhof verlassen haben, […], versetzen wir uns gedanklich an den 8. Mai 1945. […].“ In: Łomnicki, J.; Morelowski, M.; Walczak, W.: Cztery przechadzki po Wrocławiu. Warszawa 1952. S 3f. ; und weiter: „[…] wir gehen, […], wir sehen, […] wir halten an […].“ Ebd.: S. 6 11 Zu den Vertretern der „gemäßigteren“ Stadtführer, die sich zu Beginn als „netter“ (1960) „Kumpel“ (2001) ausgeben, gehören „Przewodnik po Wrocławiu“ von 1960 und „Wrocław – praktyczny przewodnik“ von 2001 12 Vgl. hierzu die Vermittlungsweisen des Hauptbahnhofes im Stadtführer von 1952: „Die Führung beginnen wir mit dem Hauptbahnhof. Er ist einer der ältesten Bahnhöfe in Polen. Erbaut 1856 und umgebaut in den Jahren 1899-1904 unter Erhaltung der falschen und beliebten Imitation der englischen Gotik. 1948-1950 wieder aufgebaut aus den Kriegszerstörungen. Der Hauptbahnhof besitzt unter anderem eine große Halle, 200 m lang. In einem der Säle befindet sich ein Kino, in dem ab 16 bis 23 Uhr Nachrichten gezeigt werden.“ ( S. 3); 1963 (S. 236); 1976 (S. 94); mit 1997: „Der Hauptbahnhof wurde 1855-1857 für die schon 1854 geplante Posener Eisenbahn gebaut. Der Entwurf des neogotischen Gebäudes im englischen Tudorstil stammt von Wilhelm Grapow. Der Bahnhof gehörte zu den größten und modernsten in Deutschland. Die 200 m breite Fassade des doppelstöckigen Hauptgebäudes wurde durch drei Vorsprünge gegliedert, […].“ (S. 188) 3. Kapitel 152 erfährt eine allmähliche Entideologisierung zugunsten einer subjektiven Wahrnehmung, deren Wertung weniger politischer sondern eher modischer Natur ist. Diese Sichtweise und ihre sprachliche Äußerung findet sich besonders in den Ausführungen der nicht autoritären Stadtführer, die ihren individuellen und kritischen Blick offen zu Tage tragen.13 Die Professionalisierung des Mediums, die zum einen in der geschilderten Sachlichkeit zum Ausdruck kommt, führt andererseits zu einer vermeintlichen Objektivierung der Stadtvermittlung. Die wertende Schilderung eines Objektes, die sich zumindest in der Wahl der Adjektive und Superlative widerspiegelt, stellt ein medienspezifisches Charakteristikum dar.14 Bemerkenswert erscheint bei der Untersuchung, dass im Grunde genommen die Stadt einer nicht legitimierten Wertung, stärkerer oder schwächerer Art, unterzogen wird. Besonders krass tritt dies in den autoritären Stadtführeren auf, deren Legitimation allenfalls in der historischen Ausführungen der Einleitung zu suchen wäre.15 Die Führungen durch Breslau verlaufen zunächst vom Hauptbahnhof ausgehend innerhalb des Stadtgrabens unter Einbezug der Inseln und der ausgelagerten mittelalterlichen Wallonensiedlung. Die Wahl des Ankunftsortes zum Ausgangspunkt der Rundgänge scheint hierbei rein praktische Gründe zu haben. Alternativ zum Hauptbahnhof entwickelt sich einerseits der Ring als unvermeidliches Zentrum, andererseits die Dominsel als chronologischer Ursprung der Stadt zum Startpunkt der Führungen. Die Dominsel avanciert zum „Zentrum des Polentums“ und bildet zunächst, im Gegensatz zum schwierigeren Erbe des Ringes, einen inhaltlichen Schwerpunkt des Mediums. Seit den 60er Jahren wird der Versuch unternommen, verstärkt über den Stadtgraben zu schauen und mit einem Bild vom neuen Breslau die Gesamtheit des Stadtgefüges zu erfassen. Dabei verkörpert der Sprung über die Kaiser- (m. Grunwaldzki) und Passbrücke (m. Zwierzyniecki) eine idealtypische Überleitung vom Alten zum Neuen. Hierbei kann zwischen verschiedenen Arten der Konstellation unterschieden werden. Bis in die 50er Jahre begrenzt sich das Alte in erster Linie auf die „Brutstätten“ des Polentums, das seine Verkörperung in der Dominsel mit ihren Ausgrabungsfunden und der polnisch geprägten Neustadt findet. Das Neue zeigt sich in den weitläufigen Vororten mit der Industrie und der „grünen Stadt“, deren deutscher Kontext verschwiegen wird. In den 60er Jahren breitet sich die Inbesitznahme der Altstadt im gewöhnlichen Rahmen weiter aus, wobei zum ersten Mal auch deutsche Baudenkmäler eine Würdigung finden (Abb. 3.13).16 Bemerkenswerte Veränderungen vollziehen sich jedoch in der Vorstellung der neuen Stadt, die infolge der vorfabrizierten Bauweise großflächig eine genuin polnische Prägung erhält. Die „Errungenschaften“ der neuen Plattenbausiedlungen avancieren neben der Industrie zur Hauptsehenswürdigkeit der Vororte (Abb. 3.14). Eine gravierende Verschiebung innerhalb der Konstellation vollzieht sich erst mit den Umbrüchen des Jahres 1989, die ein vermehrtes Interesse an der jüngeren, deutschen Vergangenheit der Stadt erkennen lassen. Das deutsch-jüdische Bürgertum der Gründerjahre, allen voran seine repräsentativen Kaufhäuser, erfährt eine neue Dominanz innerhalb der Altstadt. Außerhalb 13 „[…], sie (die Autoren) sind vor allem um die Realitätsnähe ihrer Angaben bemüht, wobei sie manchmal nicht davor zurückschrecken kritische Bemerkungen auszusprechen und sich einen subjektiven Blick zu leisten. […].“ In: Paciorkiewicz, Piotr: Wrocław – praktyczny przewodnik, Wyd. Pascal 2001, aus dem Vorwort des Verlags 14 Siehe hierzu: Lauterbach, Burkhart: Berlin-Reiseführer heute. Zum Umgang mit Geschichte in einem touristischen Gebrauchsmedium, in: Erinnern und vergessen, hg. v. Brigitte Bönisch-Brednich, Göttingen 1991, S. 381-193, S. 381 15 Der erste Stadtführer von 1946 entstammt der Feder eines Juristen, Andrzej Jochelson, der als Hobbyhistoriker die in Schutt und 16 Den Auftakt macht der Stadtführer von 1956 mit der Erwähnung Karl Langhans’ beim zerstörten Hatzfeldpalais, dem ein Asche liegende, ihm fremde Stadt vermittelt. großformatiges Bild von 1939 beigefügt wird. In: Kró Król, Gwidon: Przewodnik po zabytkach Wrocławia, Wrocław 1956, S. 52f. 3. Kapitel 153 des Stadtgrabens drängen sowohl die Stadtvillen der Industriellen und ihre Fabriken, als auch die deutschen Vorstadtsiedlungen eine in Ungnade gefallene Plattenbauweise in eine weite Ferne. Als Folge der allgegenwärtigen Faszination für das jahrzehntelang tabuisierte deutsche Breslau schrumpft die zeitliche Diskrepanz zwischen Alt und Neu (Abb. 3.15). Bei der Beschäftigung mit dem Medium des gedruckten Stadtführers kristallisiert sich eine Reihe an Mustern der Vermittlung heraus, die eine zeitspezifische Strategie der Stadtaneignung in sich bergen. Sie gehören zum Arsenal der Stadtvermittlung mit dem die kulturelle Landschaft erschlossen und angeeignet wird. • Die Personifizierung des Raumes gehört zum allgemeingültigen Schema der Stadtaneignung.17 Ihre Aufgabe kommt besonders in der Gestalt des „Magister Murator Pieszko“ sowie den berühmten Durchreisenden des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck. Hier spiegelt sich der Versuch, den Orten und ihren Steinen die Leere durch ausgewählte Akteure zu nehmen, wider (Abb. 3.16). Die Auswahl steht wiederum direkt mit den Bedürfnissen der Zeit im Zusammenhang, so dass in der Polonisierungsphase der unmittelbaren Nachkriegszeit händeringend nach polnischen Gesichtern gesucht wird. Mit der fortschreitenden Regionalisierungsphase, die schließlich im Konzept der Europäischen Union aufgeht, findet eine Aufgabe untragbarer Personen, unter anderem dem besagten Murator, und eine Diversifizierung des Ahnenkabinetts statt (Abb. 3.17). • Die Rekonstruktion und Dekonstruktion lässt nicht mehr sichtbare Architektur vor dem Hintergrund eines als bedeutend gesehen Kontextes auferstehen. In dem Prozess wird die an ihrer Stelle stehende Architektur eines als unbedeutend gesehenen Kontextes regelrecht im Schweigen begraben. Diese Strategie der In- und Exklusion von Architektur zeichnet sich in ihrer ganzen Schärfe vor allem zur Zeit der Polonisierung der Altstadt ab.18 Besonders wirksame Gestalt nimmt sie in der resonanzartigen Verbindung der Führung mit der historischen Einleitung an. Im Gespann des Stadtführers und Historikers steckt eine Glaubwürdigkeit, die 1963 zusätzlich durch historische Bilder nicht mehr existierender Architektur eine Unterstützung erfährt und ihre Anschaulichkeit erhöht (Abb. 3.18).19 Die inhaltliche Umkehrung des Schemas nach der Wende von 1989 lässt sich am Beispiel der Rekonstruktion eines untergegangenen Wohnviertels der Gründerjahre und der mentalen Dekonstruktion der Wiederaufbauleistung der Plattenbauweise der Südstadt im Stadtführer von 2001 zeigen.20 Die „Regotisierung“, von der Gregor Thum spricht, verwandelt sich zur Jahrtausendwende regelrecht in eine „Resezessionisierung“ der Stadt (Abb. 3.19). Ein Sonderaspekt des Punktes steckt in der materiellen Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler. Es handelt sich dabei ursprünglich um die Visualisierung einer polnisch konnotierten Vergangenheit der Altstadt, die in den Stadtführern der Volksrepublik stets einen Logenplatz besetzt halten.21 17 Vgl. Anm. 11, Kap. 1. 18 Ein markantes Beispiel für eine Rekonstruktion der mittelalterlichen Bebauung an Stelle eines existierenden, jedoch unpassenden Bauwerkes, stellt die Markthalle von 1908 dar. Ein weiteres Beispiel verkörpert das an Stelle eines Kaufhauses aus der Gründerzeit rekonstruierte Haus „Unter der Goldenen Krone“, das zum räumlichen Ausdruck polnischer Baukunst (Attika) stilisiert wird. 19 Burkhart Lauterbach stellt ebenfalls fest, dass die „in spezielle Artikel integrierten allgemeinen historischen Bemerkungen ein ausgereiftes und aktuelles didaktisches Konzept verraten, welches zur beträchtlich höherer Anschaulichkeit führen kann.“ In: Lauterbach, Burkhart: Berlin-Reiseführer heute. Zum Umgang mit Geschichte in einem touristischen Gebrauchsmedium, in: Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen; Bd. 5, Göttingen 1991, S. 386 20 Vgl. Anm. 314, Kap. 2. (ehemalige Kaiser-Wilhelm-Strasse im Stadtführer von 2001) 21 Allen voran gehört in diese Reihe die „regotisierte“ und inszenierte St. Martin Kirche (koś. św. Marcina) auf der Dominsel genannt zu werden. 3. Kapitel 154 • Die Kontrastierung des kulturellen Raumes verfolgt primär das Ziel der Polarisierung. Ihre Intention stammt vom ideologisierten Vermittlungsansatz, einer Schwarzweißprojektion des Stadtbildes. In dem Prozess der Aneignung durch Abgrenzung werden in erster Linie soziale Gruppen und kulturelle Institutionen instrumentalisiert. In diesem Rahmen bewegt sich die Rolle der mittelalterlichen Neustadt und der Wallonensiedlung, deren als Proletarier bezeichnete Bewohner unter dem Weißroten-Banner gegen das am Ring ansässige deutschsprachige Patriziertum ankämpft. Eine Sonderrolle fällt dabei der Kirche als einer Glaubensinstitution zu. Diese wird stets als Bewahrer der polnischen Kultur gesehen, die in der Person des Bischofs Nankier und den Ordensbruderschaften wiederum personifiziert werden (Abb. 3.20). Die Lokalisierung polnischer Messe erlangt von Anfang an eine Allgemeingültigkeit, die nach der Wende um die Vorstellung neuer Nachkriegskirchen erweitert wird. Die Kontrastierung ist ein Kind der Nachkriegspolemik, die bis zum Untergang des sozialistischen Systems seine Gültigkeit aufrecht erhält. Nach 1989 stellt man kurzfristig eine Umkehrung fest, bei der die Neustadt, die Wallonensiedlung und die sowjetischen Friedhöfe zu Gunsten des „Viertels der vier Glaubensrichtungen“ und des jüdischen Friedhofs fallen gelassen werden (Abb. 3.21).22 • Die Positionierung Positionierung der Stadt innerhalb des europäischen Kulturgeflechtes äußert sich in dem Nachweis der relevanten kulturellen Strömungen. Im Zentrum der Strategie steht die Kunst und ihre Verankerung im europäischen Kontext, wobei in der kommunistischen Zeit die Brücken zu der romanischen Kultur und direkte Bezüge zu Krakau an der Weichsel konstruiert werden (Abb. 3.22).23 Die krampfhafte Verleumdung der deutschen Einflusssphäre und ihrer kulturellen Leistung für die Stadt führt zu absurden Situationen bei der Architekturvermittlung, in deren Folge das gotische Rathaus ein schweres Erbe antritt. Erst nach der Wende vollzieht sich ein breiter Wandel, der die tradierten Verbindungen der sozialistischen Stadt kappt und vermehrt ein Deutschland zugewandtes Stadtbild schafft (Abb. 3.23).24 • Die Aneignung der anfangs fremden Architektur, der Baudenkmäler ohne standfesten Polenbezug, bedient sich ausgefallener Annexionsstrategien. In der schwierigen Phase der auf dem „Westgedanken“ basierenden Geschichtskonstruktion der Stadt verhalf man sich die „Architektur des Feindes“ mit einer Reduktionsformel auf den Zerstörungsgrad und den gelungenen Wiederaufbau zu vermitteln. Die Konstellation „zerstört und wieder aufgebaut“ wird durch banal klingende Informationen unterfüttert, wie beispielsweise die Zimmerzahl des nationalsozialistischen Amtsgebäudes zwischen der Kaiser- und Lessingbrücke (m. Grunwaldzki und m. Pokoju) oder die Wappengalerie im gotischen Rathaus (Abb. 3.24). Im Fall der Kaiserbrücke (m. Grunwaldzki) dient der „schlesische Granit“, ein sekundäres Baumaterial der hängenden Stahlbrücke, als Rettungsring vor dem wilhelminischen Kontext des Baudenkmals. Als geniales Instrument einer flächendeckenden Aneignung der Stadt erweist sich in den 60er Jahren die „Institutionalisierung“ der Architektur. Mit der Implementierung eines fremden (genuin deutschen) Bauwerks in die Vermittlung der in ihr verorteten polnischen Nachkriegsinstitution lässt sich das Problem auf weniger banale Art und Weise umgehen. Mit dem fortschreitenden Aneignungsprozess der Stadt und den politischen Umbrüchen verändert sich das Verhältnis zu der einst 22 Wenn also die alten Waffenbruderschaften in neue Kultur- und Wirtschafsgemeinschaften umgeschmiedet werden. 23 Zu der Bedeutung der Romanik in der Nachkriegszeit sowie zu der Verankerung der Kunstströmungen Breslaus im frühen Mittelalter durch polnische Kunsthistoriker siehe: Störtkuhl, Beate: Das Bild Schlesiens in Darstellungen zur Kunst- und Kulturgeschichte nach 1945 – vom „Wiedergewonnen Land“ zum „gemeinsamen Kulturerbe“, in: Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen seit 1939, hg. v. Dieter Bingen, Peter Oliver Loew und Dietmar Popp, Warszawa 2009. S. 50f.; siehe hierzu auch: Anm. 199, Kap. 2. (Verweise nach Paris und Krakau in Stadtführer von 1956) 24 Vgl. Anm. 311 (Verweis nach Deutschland im Stadtführer von 2001) 3. Kapitel 155 fremden Baukunst der Stadt. An die Stelle der Reduktion tritt ein vermehrtes Interesse für die verschwiegene Seite der Baudenkmäler auf. Die Strategie der Institutionalisierung der Architektur bleibt erhalten, wobei nach der Wende die deutschen Handelsinstitutionen und Industriebetriebe ihre Renaissance erleben und die Monopolstellung der polnischen Einrichtungen streitig machen. --Das Medium eines polnischen Stadtführers zu Breslau erscheint zum ersten Mal im Jahr 1946. Der Umstand eines fehlenden polnischen Vorgängers auf den sich die Pioniere hätten stützen können, zeugt davon, dass die Stadt bis dahin außerhalb des polnischen Interesses im Sinne eines Heimat vermittelnden Tourismus gelegen hat.25 Diese Tatsache bestärkt die Annahme einer durchaus fremden Stadt, die erst nach der Westverschiebung Polens als integraler Bestandteil einer auf dem „Westgedanken“ gestützten Staatsräson ins Zentrum des kollektiven Gedächtnisses vorstößt. Dem steht nicht zuletzt als Reaktion auf die nationalistische Sichtweise der deutschen „Ostforschung“ eine umfangreiche Beschäftigung seitens polnischer Wissenschaftler der Zwischenkriegszeit mit dem Thema Schlesien gegenüber. Demnach betraten zumindest die polnischen Kunsthistoriker 1945 in Schlesien kein wissenschaftliches Neuland, wie Beate Störtkuhl feststellt, „auf den Umgang mit dem kulturellen Erbe im neuen kommunistischen Staat konnten sie allerdings nur bedingt Einfluss nehmen.“26 Die anfänglichen Schwierigkeiten beim Arrangement sehenswerter Objekte können zum einen auf die fachfremden, unerfahren Autoren, zum anderem auf die seitens der Politik gestellten Anforderungen zurück geführt werden. Die Feststellung, dass bei den Stadtführern in erster Linie Liebhaber der Stadtgeschichte die Führungen schreiben, überrascht um so mehr, als dass dem Medium eine herausragende Verantwortung zugrunde liegt.27 Diese äußert sich besonders stark in ihrer anfänglichen Ausrichtung auf die Einwohner der Stadt nach 1945, denen die unbekannte Landschaft einerseits in ein bekanntes Zeichensystem übersetzt, andererseits ein Deutungs- und Identifikationsangebot unterbreitet werden musste. In ihrer Rolle als Vermittlungsinstanz konditioniert das Medium ihren Leser um so mehr, als dieser in der Regel unwissend ist. Die Konditionierung folgt dem inhaltlichen Arrangement ausgewählter Besichtigungswege, die als „Route der Erinnerung“28 bezeichnet werden können. Die mentale Erschließung der Routen basiert auf den Aneignungsstrategien, die hier als Muster und Schema 25 Vgl. die Magisterarbeit von Benjamin Schäfer zu den polnischen und deutschen Stadtführern der Stadt Posen (Poznań). In: Schäfer, Benjamin: Die Präsentation von Erinnerungsorten im Reiseführer am Beispiel der Stadt Poznań (Posen) 1870-1939, in: Erinnerungsorte und Stereotypen in Europa, hg. v. Heidi Hein-Kirchner, Jarosław Suchoples, Hans Henning Hahn, Wrocław 2008 26 1936 veröffentlicht die Polnische Akademie der Wissenschaften eine dreibändige „Geschichte Schlesiens von den Anfängen bis ins Jahr 1400” mit einem Beitrag zur Architektur und Kunst von Mieczysław Gębarowicz, die unter vielen Aspekten als Vorbild für die Fragestellungen nach 1945 diente. In: Störtkuhl, Beate: Das Bild Schlesiens in Darstellungen zur Kunst- und Kulturgeschichte nach 1945 – vom „Wiedergewonnen Land“ zum „gemeinsamen Kulturerbe“, in: Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen seit 1939, hg. v. Dieter Bingen, Peter Oliver Loew und Dietmar Popp, Warszawa 2009, S. 48f. 27 Von Stadthistorikern konzipierte und verfasste Stadtführer gehören zu seltenen Fällen. Vgl.: Kulak, Teresa: Wrocław - Przewodnik historyczny, Wrocław 1997; Maciejewska, Beata: Wrocław - Dzieje miasta, Wrocław 2002 28 Király, Edit: Die unsichtbare Metropole. Wien in ungarischen Reiseführern der Jahrhundertwende. Ein Problemaufriss, in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik, 2001, S. 106 3. Kapitel 156 der Vermittlung vorgestellt wurden. Welche Zusammenstellung der Sehenswürdigkeiten vorherrscht obliegt den zeitspezifischen Deutungskriterien.29 Zeitlich gesehen durchwandert der Stadtführer zu Breslau drei unterscheidbare Phasen, wobei die Grenzen flüssiger Natur sind, die Aneignungsstrategien sich durchmischen und weiter entwickeln. • Die Phase der fundamentalen Aneignung fällt hauptsächlich in die Zeit des Sozialistischen Realismus und ist gekennzeichnet durch die Polonisierung des Raumes infolge der Piastifizierung und Regotisierung der Stadt. Im Vordergrund steht hierbei die Rekonstruktion einer piastischen Topografie der Stadt, die ihren Höhepunkt im Stadtführer von 1956 erreicht.30 (Abb. 3.25) • Die Phase der modernen Aneignung beginnt im Grunde genommen in den Stadtführern der 60er Jahre und weist eine verstärkte Aneignung der Stadt über die Neubauprojekte auf. Mit der Erweiterung der Erinnerungsrouten um die großen Neubaugebiete der Plattenbauweise erfolgt die mentale Erschließung der Stadtvororte. Nach der Vereinnahmung der Altstadt vollzieht sich hierbei die Kolonisierung der Peripherie mit einer in Beton gegossenen Glücksverheißung.31 Gleichzeitig beginnt eine Normalisierung des Verhältnisses zur deutscher Stadtgeschichte, die ihren Anfang in der Aneignung der Zeugnisse deutscher Moderne hat. (Abb. 3.26) • Die Phase der bürgerlichen Aneignung drückt sich in der regionalen Sicht der Stadt unter Berücksichtigung ihrer kulturellen Vielfalt aus. Die Entdeckung der kulturellen Vielschichtigkeit findet ihre ersten Ansätze in der neuen Sachlichkeit der 70er Jahre. Ihr Durchbruch vollzieht sich erst nach dem Untergang des sozialistischen Regimes als ein Befreiungsschlag, der die Sicht der Stadt revolutioniert. Charakteristisch hierfür ist Wiederentdeckung der (deutschen) Bürgerlichkeit und die Ausgrenzung der sozialistischen Stadt, die in der vorfabrizierten Plattenbauweise der Nachkriegszeit gesehen wird.32 (Abb. 3.27) Im Allgemeinen kann eine Weiterentwicklung und Optimierung des Mediums in der Strukturierung, Gestaltung und Vermittlung festgestellt werden. Es besteht kein Zweifel, dass die Herausgeber und Autoren ihre Vorgänger gründlich studierten und die bewährten inhaltlichen und formalen Strategien benutzten. Dies mag ein Grund für die Resonanzen und flüssigen Grenzen innerhalb des Mediums und seiner Entwicklungsphasen sein. Hinzu kommt der oft wiederkehrende Fall, dass ein Autor über einen längeren Zeitraum Stadtführer herausgibt, so dass eine Kontinuität offensichtlich erscheint.33 Darüber hinaus stellt man bei der Betrachtung der deutschen Vorkriegsstadtführer überraschenderweise fest, dass die erst schleppend in der Nachkriegszeit auftauchenden stilistischen Mittel zum großen Teil längst in dem Medium bewährt waren (Abb. 3.28).34 29 Vgl. Anm. 219, Kap. 2. 30 Auffallend ist die mediale Rekonstruktion der Elbinger Abtei, der Piastenburg und der herzoglichen Residenzen an Stelle jüngerer 31 Besonders gut zu beobachten im Stadtführer von 1972, bei dem die alten Baudenkmäler gerade noch so die Waagschale mit der Architektur. neuen Betonarchitektur halten. 32 Synonymhaft kann hier der Stadtführer von 2001 mit der nostalgischen Rekonstruktion verlorengegangener Bürgerlichkeit entlang der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Strasse aufgezählt werden. Siehe Anm. 314, Kap. 2. 33 Zu beobachten bei Wanda Roszkowska, Janusz Czerwiński und Piotr Paciorkiewicz 34 Vgl. hierzu: Spaethe, W. Erich: Breslau und Umgebung, Breslau 1938 (5. Auflage), vgl. auch Anm. 76, Kap. 1. (Griebens-Verlag) 3. Kapitel 157 Seit den 70er Jahren kann eine Diversifizierung des Angebotes beobachtet werden. Neben der ausführlicher behandelten Hauptströmung des Genres gesellen sich die noch ganz im Sinne der „Piastifizierung“ der Stadttopografie konzipierten thematischen Stadtführer aus der Reihe „Spaziergänge durch Breslau“ von Wanda Tomaszewska hinzu.35 Die 80er Jahre bieten mit den Stadtführern von Czesław Cetwiński keine bemerkenswerte Alternative zu den Neuauflagen des Stadtführers von Janusz Czerwiński.36 Hingegen auffallend und interessant unter dem Gesichtspunkt der Umwälzungen Ende der 80er Jahre erscheinen die fremdsprachigen Stadtführer für die ausländischen, vor allem deutschen Touristen.37 Die darauf folgenden 90er Jahre bringen eine ernstzunehmende Ausweitung des Angebotes mit sich. Es stellt sich ein bis in die heutige Zeit reichendes Nebeneinander verschiedener Formate ein. Zu den klassischen Stadtführern, die in der Tradition der 70er Jahre stehen, etabliert sich vorrangig „Breslau. Ein kleiner Stadtführer“38 (Miniführer) von dem Anfang der 90er Jahre gegründeten lokalen Verlag VIA NOVA. Die gestalterische und inhaltliche Konzeption des bis auf 14 Seiten komprimierten Mediums im Kleinstformat setzt vor allem auf qualitativ hochwertiges Farbbildmaterial und eine durchnummerierte Architekturvermittlung, die in Bezug zu einer in der Mitte angebrachten Stadtkarte stehen (Abb. 3.29). Eine weitere bemerkenswerte Entwicklung des Mediums lässt sich am Beispiels Janusz Czerwińskis und seinem Werk abzeichnen. Neben der bereits erwähnten Aufrüstung seines Klassikers aus den 70er Jahren mit einem neuartigen Reichtum an Farbbildern im Jahre 1993, zeichnet sich eine allgemein zu beobachtende neue Tendenz des Mediums in seinen Beitrag von 1997 ab. Zum einen wird sein Standardwerk in der Ausgabe „Breslau – Stadtführer“39 von 1997 gestalterisch in unzählige Kleinbilder aufgebröselt, die mit isometrischen Schnitten durch bedeutende Objekte ergänzt werden, zum anderen werden die größtenteils übernommenen Texte in zwei Spalten pro Seite aufgeteilt und durch Bilder aufgelockert (Abb. 3.30). Bei den 160 Seiten, die für die Führung beansprucht werden, und 450 integrierten Bildern kommen im Schnitt rund drei Bilder auf ein Blatt. In ihrer Gestaltung und Zusammensetzung folgt die Ausgabe dem Maßstab des Weltschlagers aus der Reihe Vis-à-Vis vom Dorling Kindersley Verlag. 2004 kommt die Neuauflage des bewährten Formats von 1997 auf den Markt.40 Darüber hinaus vervollständigt der Autor seinen Nachlass im Jahr 2004 um eine neue Adaptation der Ausgabe von 1997 und 2004. Sein „Breslau in drei Tagen“41 behält die gestalterische Aufteilung des Blattes in zwei Spalten bei, die mit einer Fülle von Kleinbildern durchsetzt ist, bei gleichzeitiger Komprimierung der textbasierten Vermittlung. 35 Tomaszewska, Wanda: Śladami dawnych umocnień obronnych, Wrocław 1974; Śladami przeszłości w czasy współczesne, Wrocław 36 Cetwiński, Czesław: Wrocławskie spacery, Wrocław 1985; … przez wrocławskich ulic sto …, Wroclaw 1989 1974; Staromiejskimi śladami Piastów – Wędrówki po Wrocławiu; Wrocław 1974 37 Centrum Informacji i Usług Turystycznych (Hg.): Willkommen in Wrocław, Wrocław 1988; Rosa, Marian: To jest Wrocław – tourist information, Wrocław 1991; Stępkowska, Elżbieta; Bubnicki, Rafał: Wrocław – Breslau. Was/Wenn/Wie, Warszawa 1991 38 Kos, Jerzy; Klimek, Stanisław Stanisław: ław : Wrocław – Miniprzewodnik, Wrocław 1992, 1993, 1997, 2001, 2003, 2006 (alle Ausgaben auch in deutscher und englischer Fassung); Als ihr Vorläufer im Bezug auf die Stadt nach 1945 kann der auf polnisch, französisch und englisch publizierte Stadtführer „Wrocław“ von Olgierd Czerner und Tomasz Olszewski aus dem Jahre 1965 sowie „Poznaj stary Wrocław“ (1958) gesehen werden. 39 Czerwiński, Janusz: Wrocław – przewodnik, Wrocław 1997 (dt. Ausgabe: Ebd.: Breslau - Stadtführer, Wrocław 1997) 40 Ebd: Wrocław – przewodnik, Wrocław 2004; (dt. Ausgabe: Ebd.: Breslau - Stadtführer, Wrocław 2004) 41 Ebd.: Wrocław w trzy dni. Wrocław 2004 3. Kapitel 158 Im selben Jahr erscheint ebenfalls sein „Breslau – Kleiner Wegweiser durch eine Großstadt“42, der ein Bindeglied zwischen „Breslau. Ein kleiner Stadtführer“ aus dem VIA NOVA Verlag und den klassischen Routenführern darstellt. Er ist neben dem Miniführer der kostengünstigste Reisebegleiter (2008, ca. 2,- €), welcher durch einen durchgehenden in zwei Spalten gefassten Textfluss, an dessen unteren oder oberen Rand Farbbilder angebracht sind, besticht (Abb. 3.31). Janusz Czerwiński schafft es damit zum einen, seinen Klassiker von 1976, 1980 und 1989 mit den leicht veränderten Neuauflagen von 1993 und 2002 im EKO-GRAF Verlag zu retten. Gleichzeitig besetzt er mit dem „Kleinen Wegweiser durch die Großstadt“ im selben Verlag den Billigsektor. Zum anderen steigt er erfolgreich mit der Veröffentlichung von 1997 und 2004 im Niederschlesischen Verlag (Wydawnictwo Dolnośląskie) in das neue Format der Schlager aus der Vis-à-Vis -Reihe von Dorling-Kindersley Verlag ein, das er in der Ausgabe „Breslau in drei Tagen“ von 2004 weiter modifiziert. 42 Ebd.: Wrocław – Mały przewodnik po wielkim mieście, Wrocław 2004 (2. Auflage, 2007/2008); (dt. Fassung in 3. Auflage: Ebd.: Breslau – Kleiner Wegweiser durch eine Großstadt, Wrocław 2008/2009); der Autor übernimmt das Format von seiner Vorgängerin im selben Verlag, vgl. hierzu: ŁopytaŁopyta-Kosim, Irena: Wrocław – Przewodnik 1997, Wrocław 1997 3. Kapitel 159 3.2. Gegenüberstellung der „Internetstadtführer” Die Betrachtung der einschlägigen Internetseiten des Jahres 2009 folgt der Vorgehensweise der Analyse, bei der die Strukturierung, die Gestaltung und Vermittlungsweise des Mediums nacheinader beleuchtet wurde. Im Fall der Internetseiten unterscheidet die Gegnüberstellung zwischen dem Angebot eines privaten Touristikunternehmens (A), den offiziellen Seiten der Stadtverwaltung (B) und den offenen Seiten einer eingetragenen Gesellschaft (C), die in einer Gegenüberstellung ausgewertet werden. Bei der Betrachtung der Gestaltung und Vermittlung liegt der Fokus auf den Seiten, die der Führung durch den Raum gewidmet sind. 3.2.1. Struktur Die behandelten Internetseiten der Stadtvermittlung weisen eine unklare Strukturierung auf, die auf den ersten Blick schwer erfasst werden kann und eines geübten Auges bedarf. Prinzipiell kann von einer inhaltlichen Dreiteilung mit fließenden Übergängen ausgegangen werden. Demnach beginnen die Internetseiten obligatorisch mit einer so genannten „Startseite“, die in der Regel über die Funktion eines Inhaltsverzeichnisses hinaus allerlei „Aktuelles“ beherbergt und in erster Linie dem Überblick dient. Die erste Seite bildet somit den Auftakt vor der eigentlichen Einleitung (1.). Den Mittelbau verkörpert das „Kultur- und Freizeitangebot“ (2.), dem die Stadtbesichtigung untergeordnet wird. Zuletzt wird „Praktisches“ (3.) mit Onlineformularen, Kontaktdaten und Hilfestellungen angeboten, was ähnlich der Einleitung dem Dienstleistungscharakter der jeweiligen Seiten entspricht. 1.) Die Startseite von www.WroclawCityTour.pl (A) präsentiert zum einen das Unternehmen, wirbt zum anderen mit der Technologie des TourGuide Systems von Sennheiser, seinem touristischen „Angebot für Alle“ und den Neuigkeiten.43 Die Einleitung beschränkt sich auf den Menüpunkt „Wir über uns“, in dem anstelle des Werdegangs der Stadt Breslau die Historie des Unternehmens, seine Schwerpunkte und weiter führende Routenangebote vorgestellt werden. Die Einleitung folgt klar dem Ziel der Bekanntmachung der Extravaganz des Unternehmens. Der egozentrischen Ausrichtung des privaten Unternehmens steht die Einleitung der Seiten von www.Wroclaw.pl (B), dem offiziellen Internetportal der Stadtverwaltung, entgegen. Im Gegensatz zu der klaren und schmalen Einleitung der Firmenseite empfängt hier die Startseite den Besucher mit einer unübersichtliche Informationskaskade. Die schwer zu ortenden Einleitungskapitel beschäftigen sich zu Beginn mit den aktuellen Bekanntmachungen, der Vorstellung der städtischen Infrastruktur und den interaktiven Stadtkarten. Der zweite Menüpunkt „Unsere Stadt – Orte, Zahlen …“ liefert in mehreren Unterverzeichnissen einführende Informationen zu der Stadt von heute und ihrer Geschichte. Einen interessanten Ansatz der Stadtvorstellung bieten an dieser Stelle die Unterverzeichnisse „Breslau in der Fotografie“ und „Die Präsentation Breslaus“, bei der einerseits eine Bildauswahl von Stanisław Klimeks Stadtmotiven eine visuelle Stadtbildcollage konstruiert und andererseits eine Flash-Präsentation als eine 43 Dabei fällt die Bekanntmachung einer neuen Führung auf: „NEUIGKEIT! Für alle, die sich in das alte Breslau begeben wollen, haben wir ein besonderes Angebot vorbereitet, das mit zahlreichen alten Fotos aus der Vorkriegsstadt bestückt ist. Während des Spaziergangs mit dem Stadtführer werden sie die Geheimnisse der Stadt vor 1945 kennen lernen.“ Auf: www.wroclawcitytour.pl/ (besucht am 24.08.2009) 3. Kapitel 160 Art digitale Postkarte die Stadt interaktiv vorstellt (Abb. 3.32). Vor allem jedoch die Unterverzeichnisse „Geschichte Breslaus“, „Breslau in Zahlen“, „Geografische Charakteristik“ und „Wappen, Logo und Farben Breslaus“, die eine inhaltliche Einführung leisten, können klar als Einleitungskapitel ausgewiesen werden. Gänzlich anderes gestaltet sich die Einleitung von www.dolny.slask.org.pl (C), dem Internetportal der Gesellschaft Wratislaviae Amici. Die Startseite vermittelt zwar das Aktuelle aus seinem Inhalt in Form der neusten Bild- und Artikelbestände, eine als klassisch angesehene Vorbereitung auf den eigentlichen Gegenstand des Portals fehlt jedoch. Statt dessen folgt gleich nach der Wahl der Region ein Eintritt in die Diskussionsrunden der Foren und die bildbewertenden Kommentarlisten. Sieht man von dem unbeholfen platzierten und sich im Aufbau befindenden „Kalendarium“44 ab, so favorisiert die Internetseite einen für Fremde unvorbereiteten Eintritt in den Strudel der Nutzerkommunikation. Die fehlende Einführung im althergebrachten Sinne kann der starken Ausrichtung auf die eigene Nutzergemeinde verschuldet sein. Sie führt für einen Fremden unweigerlich zu einem Sprung ins kalte Wasser, der jedoch als eine direkte Einladung zum Mitmachen verstanden werden kann.45 Denn die Vitalität der hier dargebotenen Einleitung stellt einen lebendigen Einstieg in das Thema der Präsentation und Dokumentation der Geschichte im Raum mittels bildbasierter Diskussionen und Kommentare dar. 2.) Bei der Beobachtung der Internetportale taucht die Stadtvermittlung hauptsächlich in Form eines Kultur- und Freizeitangebotes auf, das allgemein den Mittelbau bildet. Hierbei präsentiert das Touristikunternehmen (A) die Stadt selbstredend anhand seines zur Reservierung bereit stehenden Führungsangebotes, das in komprimierter Form einem Einkaufsschaufenster ähnelnd, dargeboten wird. Ein Resümee des Stadtangebotes bilden die angestellten Menüpunkte „TOP 20 in Breslau“ und „Das alte Breslau“. Besonders auffällig gestaltet sich die Strukturierung des Mittelbaus der offiziellen Stadtseiten (B). Das Repertoire der Hauptmenüpunkte samt ihrer Unterverzeichnisse zeigt ein Überangebot an Kultur und Freizeit, das sich vereinfachend gesagt aus lauter Skateparks, Seilparks und Aquaparks zusammensetzt. Im Hauptmenüpunkt „Touristischer Stadtführer – Museen, Kaffees, Galerien“ stellen die Führungen einen von rund 30 Unterverzeichnissen dar. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass der Menüpunkt mit der Auflistung der Hotels anstelle der Führungen beginnt. Des Weiteren fällt das Unterverzeichnis „Architektur“ auf, das vom Charakter her einen Unterpunkt der Einleitung darstellt und an dieser Stelle verloren wirkt. Obwohl die Führungen von ursprünglich zwei innerhalb des Stadtgrabens im Rahmen des Unterverzeichnisses „Touristische Routen“ um weitere vier ausgeweitet werden, gleicht die Überzahl der Verzeichnisse, die sich der Vermittlung von Institutionen und Organisationen widmen, den Dienstleitungsanspruch des Portals aus. Im Fall des Internetportals der Gesellschaft Wratislaviae Amici (C) verkörpern das Archiv, die Bildunterlagen und die Artikel, ein im übertragenen Sinne verstandenes kulturelles Freizeitangebot. Die Stadtaneignung als Zeitvertreib geschieht hierbei über die Suche nach den Bildern und Artikeln. Der 44 „Im Kalendarium stellen wir die Tagesinformationen ein. Die Seite befindet sich noch im Aufbau. Angedacht ist die Verlinkung zu Objekten, Strassen und Vierteln. Interessierte Editoren werden um Kontakt mit NEO gebeten.“ Auf: www.wroclaw.hydral.com.pl/test.php?kal=1 (besucht am 24.08.2009) 45 Bemerkenswert ist hierbei, dass die Unterverzeichnisse im Hauptmenü „Forum“ jeweils eine erklärende Einleitung beinhalten, die sich an die neuen Nutzer und Besucher richten. 3. Kapitel 161 Hauptteil gliedert sich demnach in vier aufeinanderfolgende Hauptverzeichnisse, die jeweils einen anderen Erschließungsweg anbieten. Die nach ausgewählten Kriterien ablaufende Suchaktion unterteilt sich in die Hauptverzeichnisse „Suchmaschine“ (nach: Bild, Artikel), „Viertel“ (nach: Altstadt, Innenstadt, usw.), „Objekte“ (nach: Häuser, Wege, usw.) und „Bilder“ (nach: Viertel, unbekannte, familiäre, usw.). Der ausgeprägte Suchapparat des Archivs dient der Erschließung des Angebots der Datenbank. Es überrascht an dieser Stelle, dass die effiziente Google Maps Karte in den Verzeichnissen nicht zu finden ist. Sie wird nur im grafischen „Navigationspanel“ der Startseite als Suchinstrument angeboten. 3.) Den dritten Teil vertreten die „praktischen“ Seiten, die im Fall des Touristikunternehmens (A) der Reservierung des Angebots und dem Kontakt dienen. Sie richten einen direkten Zugang zum Unternehmen und seinem Angebot über Onlineformulare ein. Die offiziellen Stadtseiten (B) dienen dem Bürger und Investor mit verwaltungstechnischen Informationen, die von „Wie und wo kann man was in der Stadtverwaltung erledigen“ bis „Rechtslage – Bekanntmachungen, Resolutionen“ ein weites Feld abstecken. Im Fall des Internetportals von Wratislaviae Amici (C) werden Statistiken bekannt gegeben, die zum einen die Nutzeraktivität und Punktstände, zum anderen die Bildbewertung vergangener Monate veröffentlichen. Die letzten Menüpunkte „Hilfe“ und „Über die Seite“ bieten Tipps zu Objekterstellung und Bildeingabe sowie Informationen über die Nutzungsbedingungen und die Gesellschaft an. Seit Neustem stellt sich hier der Autor, Piotr Herba, persönlich vor und erklärt seine Gründe für die Erstellung des Portals. 3.2.2. Gestaltung Die omnipräsente Kopfzeile im Internetmedium übernimmt die Rolle des fehlenden Titelblattes des Printmediums. In den hier vorgestellten Fällen handelt es sich um ein statisches Gestaltungselement, das als mitlaufendes Titelblatt im Vordergrund bleibt. Mit Ausnahme der Unternehmensseite (A) übernimmt eine horizontal angelegte Navigationsleiste den unteren Abschluss der Kopfzeile. Die grafische Benutzeroberfläche des unteren Bereichs gestaltet sich im Allgemeinen durch eine vertikale Aufteilung in Spaltenabschnitte. Das in der Regel links angeordnete vertikale Navigationsfenster, das Redundanzen mit der Navigationsleiste aufweist, stellt ein verknüpftes Inhaltsverzeichnis dar. Die typografische Gestaltung zieht alle Register der Kunst. Die Freizügigkeit in der Gestaltung der Internetseiten zieht eine Farbenfröhlichkeit nach sich, die sich sowohl bei der Text, als auch Bildgestaltung gleichermaßen äußert. Die daraus resultierende typografische Kakofonie fördert eine Unübersichtlichkeit der Seiten, die zusätzlich durch nichttransparente Vernetzungsmöglichkeiten, unklare Navigationspanele und „meterlange“ Bildlaufleisten den Besuch zu einem schweren Parcoursritt gestaltet. Die Texte schrumpfen in der Regel zu kurzen Informationszeilen zusammen, die nicht selten selbst Verknüpfungen anbieten und zum hypertextuellen Hüpfen einladen. Die beobachtete Gestaltung verfehlt damit ihr eigentliches Ziel, einer anmutenden Steigerung der Lesbarkeit des Mediums. Zusätzlich zu der verunreinigenden typografischen Vielfalt kann die schwindende Rolle der textbasierten Vermittlung festgestellt werden, die immer häufiger bildunterstützend eingesetzt wird. 3. Kapitel 162 Die Unternehmensseite (A) besteht aus einer Gestaltungsebene, die aus einer Kopfzeile und einer zweigliedrigen Spaltenaufteilung besteht (Abb. 3.33). Die überschaubare Gliederung setzt sich links aus einem vertikalen Navigationsfenster mit Menüpunkten, rechts aus einem Informationsfenster mit den jeweiligen Inhalten zu den Menüpunkten zusammen. Der klaren Gliederung folgt das Gestaltungskonzept des Informationsfensters nicht. Statt dessen werden von Menüpunkt zu Menüpunkt unterschiedliche Typografien erprobt. Ein charakteristisches visuelles Mittel der Seiten zeigt sich in den historisch anmutenden Bildpostkarten, die als Verknüpfung entweder das jeweilige Bild in einer Vergrößerung anzeigen, oder zu den hinter ihnen stehenden Führungsangeboten weiterleiten. Die Gestaltung der angebotenen Führungen folgt demgegenüber einer einheitlichen Linie. Die Führungen setzen sich aus mehreren vertikal aufeinander folgenden Absätzen zusammen. Sie beginnen mit der Führungsbezeichnung, der knappen Führungsbeschreibung (Einzeiler), praktischen Vorabinformationen und der nummerierten Auflistung der Programmpunkte. Auf diesen textbasierten Abschnitt folgt die ebenfalls vertikal gestapelte Grafik. Zu den ausschlaggebenden visuellen Mitteln zählen, neben den vorgestellten Routenplänen, die Bildpostkarten zu den Sehenswürdigkeiten der jeweiligen Routen. Sie vermitteln in beschrifteter Großbildansicht primär Eindrücke, die eine Führung schmackhaft machen sollen. Die Menüpunkte „TOP20“ und „Altes Breslau“ tanzen allerdings aus der Reihe. Hier werden Führungen durch Bildpostkarten, denen ausführlichere Textinformationen angehängt werden, angeboten. Die offiziellen Stadtseiten (B) führen neben der Kopfzeile eine Aufteilung der Inhalte in drei Spalten, links ein Navigationsfenster, mittig ein Informationsteil, rechts weitere Kurznachrichten, auf. Eine Navigationsleiste unterhalb der Kopfzeile zeigt den momentanen Standpunkt an und soll einer besseren Orientierung dienen. Die Dreispaltigkeit der ersten Gestaltungsebene begrenzt sich auf die Startseite. Die zweite Gestaltungsebene der folgenden Seiten verzichtet auf das rechte Nachrichtenfenster zugunsten eines größer werdenden Informationsfensters (Abb. 3.34). Vor allem die Startseite irritiert mit einer explosiven Gestaltung, bei der das Spektrum von einer blinkenden Flashanimation bis hin zu Bild- und Textkaskaden unterschiedlichster Couleur reicht. Die offensichtlich von der Stadtverwaltung implementierten Führungen unterschiedlicher Anbieter zeigen unterschiedliche Gestaltungsstile auf, die lediglich an die zur Verfügung gestellte Plattform angepasst werden. Allgemein lässt sich feststellen, dass die in Blöcke aufgegliederten Textpassagen und die Routenaufzeichnung in Form von Stadtplanausschnitten zu den charakteristischen Gestaltungselementen der Führungen gehören. Diese werden mit dem steigenden Angebot an Führungen sukzessive mit Bildern und schließlich PDF Mappen zum Herunterladen bestückt, die offensichtlich den Servicecharakter der Seiten zeigen. Demnach präsentieren sich die ersten Führungen durch fortlaufende Texte, denen jeweils eine Routenkarte angegliedert wird. Der Textfluss verzichtet, außer der Absatzstaffelung, auf die typografische Hervorhebung einzelner Fragmente. Die Führungen stehen im direkten Zusammenhang mit den im öffentlichen Raum der Stadt aufgestellten Informationstafeln. Die Gestaltung der zweiten Gruppe der Führungen baut das mediale Sortiment über den reinen Textfluss und die Routenkarte hinaus aus. Zum Einsatz kommen bekannte Stilmittel, die der 3. Kapitel 163 Lesbarkeit und Orientierung dienen sollen. Die Typografie arbeitet mit Hervorhebungen durch starke Lettern (Bold) und Kursivschreibweise. Hinzu kommen Punktaufzählungen, eingeschobene Klammern und eine Absatzgliederung. Die Führungen beginnen mit dem Routennamen (bold), einem kurzen einleitendenden Absatz, der Vorstellung der Autoren (kursiv), der Routenübersicht im Stadtplan und den praktischen Informationen (Punktaufzählung) zu der Führung. Alle oben genannten Punkte beanspruchen einen eigenen Absatz für sich. Die Route beginnt jeweils mit dem nummerierten Objektnamen unter Angabe der genauen Adresse, dem ein dramatisch anmutendes Objektbild und die objektbezogenen Textpassagen unterstellt werden. Das ausschlaggebende Gestaltungsmittel der Führungen wird durch die dramatischen Bildmotive und die expressionistisch gestalteten Routenkarten bestimmt. Die dritte Gruppe der Führungen wird durch die abgespeckte Variante der PDF Mappen vertreten, die zu Beginn herunter geladen werden können. Die Typografie beschränkt sich auf die Hervorhebungen durch unterschiedliche Lettern (bold/kursiv), die Absatzgliederung und eine tabellarische Programmvorstellung. Die visuellen Hilfsmittel werden erneut auf den Routenplan reduziert. Die Führungen werden in einem Einführungstext, dem ein Routenplan unterstellt wird, vorgestellt. Anschließend wird die Geschichte und die geografische Lage der Objekte skizziert, was schwer im Routenplan wieder zu finden ist. Die Programmtabelle schließt die Führung summarisch ab. Das Internetportal der Gesellschaft (C) verfügt über drei Gestaltungsebenen (Abb. 3.35). Die Startseite gliedert sich in drei Spalten auf, die wiederum in vertikaler Ausrichtung durch Fensterbereiche horizontal unterteilt werden. Das Navigationsfenster wird dem Verzeichnis „Menü“ in der horizontalen Navigationsleiste zugeteilt. Die Startseite ist der Präsentation der aktuellen, in diesem Fall der neusten Einträge, sowohl visueller, als auch textbasierter Art verpflichtet. Das statische Log-in-Fenster mit der Suchmaschine der linken Spalte sowie das grafische Navigationspanel der mittleren Spalte weisen diesen Aktualitätsanspruch nicht auf. Die zweite Gestaltungsebene, die sich den Objekten widmet, verzichtet ebenfalls auf die rechte Spalte zugunsten eines größer werdenden Informationsfensters. Die dritte Gestaltungsebene verkörpert die bildbezogenen Seiten, denen die Kommentarlisten angegliedert werden. Hierbei wird interessanterweise auf die Kopfzeile und die linke Spalte verzichtet, so dass die Aufmerksamkeit ausschließlich dem Bild und der Diskussion zu gelten hat. Zu den weiteren gestalterischen Merkmalen der Seiten gehören die Bildminiaturen, die jeweils als Verknüpfungen zur dritten Gestaltungsebene führen. Darüber hinaus arbeitet das Internetportal mit einer Vielzahl weiterer visueller Hilfsmittel, wie der Google Maps Karte, den dazugehörigen „Bildmarken“, der interaktiven Stadtkarte sowie einer immer größer werdenden Videothek. Wie bei den zuvor genannten Seiten führt die abwechslungsreiche Gestaltung zu einer anfänglichen Irritation. Die bild- und textbasierte Typografie sowie die netzartige Struktur der Verweise (Links) offenbart ein Eigenleben, das einem ungeübten Auge allerlei abverlangt. Die gestalterische Vielfalt und die exzessive Verlinkung der Inhalte bedingt eine längere Gewöhnungsphase. Im Unterschied zu den voran gegangenen Internetseiten findet die Führung nicht auf einer nach unten durch die Bildlaufleiste unbegrenzten Seite statt. Statt dessen stellt man fest, dass eine Führung mit einer vorgegebenen Lesestruktur fehlt. Die Stadtvermittlung gestaltet sich in einer spontanen Führung, die charakteristischer Weise durch die Bild- und Artikelverweise (Hypermedia) gelenkt wird. Das Internetportal verfügt über eine Datenbank, in der die Objekte und Artikel nach dem Pyramidenprinzip geordnet sind. Demnach erfolgt die Erschließung des Raumes im optimalen Fall von der Region ausgehend, über die Stadt, das Stadtviertel und die Strasse zum Objekt. Eine Suchmaschine 3. Kapitel 164 und die interaktive Google Maps Karte bieten lediglich eine weitere Alternative an. Die Gestaltungsebenen verjüngen sich informativ während der Suche und lenken den Fokus letztendlich auf ein Bild und die dazugehörigen Bildkommentare. Nach diesem Muster gestaltet sich die Führung durch die visuelle Vermittlung mittels Bildminiaturen zu einem Viertel oder einer Strasse, denen ein alphabetisches Straßen-, oder Objektverzeichnis mit den dazugehörigen Bildminiaturen im Informationsfenster angehängt wird. Sieht man von den einleitenden Objekteigenschaften eines abgebildeten Gegenstandes ab, die einen Platz für kurze textbasierte Information beinhalten, und den Bildkommentaren, die selten eine übliche SMS-Länge (141 Zeichen) überschreiten, erfolgt die Vermittlung auf der Basis von textunterstützten visuellen Medien. 3.2.3. Vermittlung Bei den drei Internetanbietern der Stadtvermittlung spielt die Wegführung jeweils eine unterschiedliche Rolle. Sowohl die Unternehmens- (A), als auch die Stadtseite (B) bieten Führungen mit einer vorgegebenen Weganweisung an und damit einhergehend mit einer vorgegebenen Reihenfolge der Baudenkmäler innerhalb der Route. Die aufgesetzte Führung fixiert den Besucher hinsichtlich der Strecke durch den Routenplan sowie die im Text integrierten Weg- und Blickanweisungen. Die klassische Führung, die hier zum Einsatz kommt, misst sich vor allem an der gelungenen Navigation durch die Programmpunkte entlang des festgelegten Pfades. Im Gegensatz hierzu setzt die Internetplattform von Wratislaviae Amici (C) auf den Zufall. Die Wegführung gestaltet sich nach dem Prinzip der assoziativen Funktionsweise des menschlichen Denkens, die einer Struktur des Hypertextes entspricht. Fernab des strengen Korsetts des linearen Textes mit seinem Krümelpfad in Form eines Routenplans entwickelt sich hier eine eigene Logik der Besichtigung. Die Stadtvermittlung erfolgt über Such- und Verweisfunktionen, die vor allem über visuelle Auswahlkriterien stattfindet. Das neue Prinzip basiert auf der vom Interesse gelenkten Suche nach einem bestimmten Sachverhalt, beziehungsweise einem Objekt, welches wiederum eine Vernetzung generiert, infolge derer unvorhergesehene assoziative Kontexte erschlossen werden. Es entsteht eine willkürliche Führung, die von der thematischen und visuellen Neugier konstruiert wird. Die abenteuerliche Bannung des Weges auf der Grundlage von Bildverknüpfungen, als welche die Bildminiaturen gesehen werden können, bringt einen negativen Nebeneffekt mit sich. Die Spontaneität der Wegführung gleicht einem komplexen Memory-Spiel, die im nachhinein nur schwer rekonstruiert werden kann. So bleibt die Besichtigung ein flüchtiges und einzigartiges Erlebnis. Die Angebote der als klassisch bezeichneten fixierten Führungen (A)(B) haben keinen Anspruch einer totalen Stadtvermittlung, die in Begrifflichkeiten, wie „Stadtführer durch das alte und zeitgenössische Breslau“46, versteckt werden. Vielmehr verfolgen sie das Ziel, besonders schmackhafte Appetithäppchen an Besucher zu verteilen. In diesem Prozess wird die Stadt in Angebotspakete parzelliert, die ein besonderes Erlebnis versprechen.47 Dabei lässt sich beobachten, dass die Altstadt in den Führungen von dem Touristikunternehmen (A) in einer Vielzahl sich überlagernden Routen dargeboten wird. 46 47 Stadtführer von: Roszkowska, Wanda: Wrocław - Przewodnik po dawnym i współczesnym mieście, Wrocław 1963 "Na szybko", "Dla wytrwalych", "Dawny Breslau", "Okolice Hali Stulecia", "Gotyckim szlakiem", "Perly baroku", "Szlak fortyfikacji", "Droga skazańców", "Wroclaw nocą", "Tajemniczy Wrocław", "Cmentarz Żydowski", "Wroclawscy Żydzi", "Neogotycki Wroclaw", "Secesyjny Wroclaw", "Trzecia Rzesza", "Festung Breslau", "Ogrody Wrocławia", "Zabytki Odry", "Zabytki techniki", "Miasto 4 wyznań", "Szlakiem krasnali", "Okolice Wroclawia", Auf: http://wycieczki-po-wroclawiu.pl.tl/ (besucht am 16.09.2009) 3. Kapitel 165 Ausgehend vom Rathaus wird verstärkt die Schweidnitzer Vorstadt und das „Viertel der Vier Glaubensrichtungen“ in das Angebot eingebunden. Darüber hinaus wird eine größer werdende Auswahl an peripheren Erfahrungen vermittelt, die als in sich abgeschlossene Führungen durch den Zoo, das Messegelände um die Jahrhunderthalle und den jüdischen Friedhof gestaltet werden. Die Tendenz heutiger Stadtvermittlung zeigt das Angebot der offiziellen Stadtseite, welches neben den ersten zwei Führungen entlang der Baudenkmäler innerhalb und entlang des Stadtgrabens, fiktive Führungen durch reale Orte und bautechnische Entdeckungen entlang des Wassersystems der Oder anbieten. Den Nutzern wird ein Angebotspaket an Themenschwerpunkten offengelegt, welches den jeweiligen Vorlieben entsprechende Stadtbilder konstruiert. Der hier im Ansatz formulierten Vermittlung nach der jeweiligen Interessenlage folgen die zufallsgenerierten Führungen des Internetportals Wratislaviae Amici (C). Die Plattform bietet lediglich ein Kontingent an Möglichkeiten. Die Schwerpunkte werden spontan per Mausklick gelegt. Das Internetmedium baut bei der Vermittlung des kulturellen Raumes weiterhin auf der sprachlichen Objektbeschreibung mittels linearem Text auf. Die programmartigen Führungen des Touristikunternehmens (A) beschränken sich auf eine lakonische Beschreibung der einzelnen Besichtigungsorte, die in besonderen Fällen ein visuelles Pendant anhand der Motive der Bildpostkarten erhält. Die Bedeutung der Sprache bei der Vorortvermittlung durch einen gebuchten Führer sei außen vor gelassen. Die Programmpunkte verraten jedoch den üblichen Sprachgebrauch, in dem die Baudenkmäler inflationär mit wertenden Adjektiven und Superlativen überhäuft werden.48 Dabei wird die Erkenntnis gewonnen, dass der Wahrheitsgehalt der auf Neugier spekulierenden Beschreibung allenfalls gewünscht, nicht aber vorausgesetzt wird.49 Die sprach- und bildbasierte Vermittlung der unterschiedlichen Anbieter der offiziellen Stadtseiten (B) zeigt zwei unterschiedliche Ansätze, die mit dem zuvor geschilderten Sprachgebrauch agieren. Die Führungen innerhalb und entlang des Stadtgrabens werden von einem autoritären Führer im linearen Textfluss gestaltet. Der Führer sagt an wohin „wir“ gehen, wann „wir“ uns entspannen und einkaufen können.50 Demgegenüber stehen die fiktiven Führungen entlang realer Orte und die thematischen Führungen zu den technischen Baudenkmälern an der Oder. Die Vermittlung basiert hier auf einem anmutenden Bildmotiv und seiner Bildbeschreibung, die dem abgebildeten Objekt eine Geschichte zuweist. Die sprachliche Vermittlungsart wird dem Bild untergeordnet, wobei die Führung dem Blättern im Bildalbum gleicht, bei dem ein Sprecher die Extravaganz einzelner Bilder vermittelt.51 Bei der bildunterstützenden Beschreibung handelt es sich im Fall der fiktiven Führungen zum einen um Märchenerzählungen, die Fiktives mit Realem zu vermischen verstehen.52 Im Falle der bautechnischen Führungen zum anderen um lebendige, themenbezogenen Geschichtserzählung. In beiden Fällen spielt der Unterhaltungsfaktor des Angebotes eine wichtige Rolle, der zum großen Teil von visuellen 48 002N:15. Galeria Dominikańska, Einkaufszentrum (60 Geschäfte) / 0003N: „16. Schweidnitzer Straße, die repräsentativste Straße Breslaus, 004N: 6. Scheitinger Park, der schönste Park Breslaus 008N: 8. Alte Markthalle (die erste Betonkonstruktion auf der Welt) 49 50 Vgl. Anm. 332, Kap. 2. (erste Betongebäude der Welt), Jüdischer Friedhof als einziges Überbleibsel (Synagoge unter Storch???) „Jetzt können wir uns inmitten der Blumen und des Grüns des Botanischen Gartens der Universität Breslau entspannen, einer wunderschönen Enklave der Natur, die hier 1811 gegründet wurde. [Hier werden die Naturliebhaber von den Sammlungen des Naturmuseums mit dem originellen Skelett eines Walfisches verführt].“ Auf: www.wroclaw.pl/m46357/p46359.aspx (besucht am 30.08.2009) 51 Die Vermittlung a la sprechendes Bildalbum ist ebenfalls auf wroclawcitytour.pl bei „TOP 20“ und „Altes Breslau“ zu sehen. Hierzu: http://www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=6 (besucht am 11.11.2009) 52 Vgl. Anm. 343 (Hotel Monopol und Adol Hitler) 3. Kapitel 166 Hilfsmittel getragen wird. Das Bild kann dabei als verführerische Bonbonverpackung und Ansporn zur textbasierten Aneignung gesehen werden. Bemerkenswert erscheint an dieser Stelle, dass sowohl die Führungsangebote des Touristikunternehmens (A), als auch der Stadtverwaltung (B) die Möglichkeiten des Internetmediums hinsichtlich des Hypertextes nicht erschöpfend nutzen. Stattdessen sind sie im Geist des materiellen Informationsträgers verhaftet. Die Anwendung weiter führender Verknüpfungen wird nur marginal betrieben, wenn beispielsweise eine Abkürzung zum Online-Bestellformular geboten wird. Die Internetseiten der Gesellschaft Wratislaviae Amici leben dagegen ausschließlich aus den Möglichkeiten der assoziativen Vernetzung ihrer Inhalte. Das Bild als Informationsmedium verkörpert den Anstoß zu einer textbasierten Mitteilung, die wiederum in Abhängigkeit vom Reizausstoß des visuellen Mediums eine Kommentarlawine auslöst. Eine sprach- und textbasierte Vermittlung bezieht sich primär auf das Bild, dem die Diskurse der Kommentare angehängt werden. Der sprachliche Rahmen erstreckt sich von fundierten fachspezifischen Beiträgen, laienwissenschaftlichen Beobachtungen, bis zu banalem Bildklatsch.53 Allgemein zeugen die Kommentare von einer Nostalgie gegenüber dem Untergegangenen Breslau vor 1945 und einem Unverständnis für die Sünden des Wiederaufbaus. Eine endlos scheinende Fortsetzung der Führung beschwört die exzessive Vernetzung der Objekte, die stets nur einen Mausklick von einander entfernt zum Springen von Bild zu Bild verleiten. Zum Sortiment der sprachlichen Architekturvermittlung zählt im Fall der Bildalben ähnelnden Führungen die Angabe des Baumeisters, der Bauzeit des Baustils sowie der Ausmaße des Bauwerks. Die bildliche Beschreibung des Bauwerks entfaltet sich marginal. Die Sprache übernimmt primär die Hervorhebung der besonderen Objekteigenschaften, die ein Baudenkmal in die höhere Kategorie einer Sehenswürdigkeit einordnet.54 Im Fall der Internetplattform von Wratislaviae Amici (C) wird die sprachliche Vermittlung im Fenster „Objekt – Eigenschaften“ geregelt. Demnach wird bei der Einrichtung eines neuen Objektes in der Datenbank sein polnischer und deutscher Name, die Lage mit Adresseangabe, der Existenzstatus sowie im Regelfall die Angabe seiner Baumeister abverlangt.55 Der Vermittlungsschwerpunkt verlagert sich auf das Bildmaterial, dem die Beschreibung und die daran anknüpfenden Kommentare angegliedert werden. Die Bildbeschreibung konzentriert sich dabei hauptsächlich auf den Ort der Aufnahme und das Aufzeigen interessanter, meist zerstörter Bildfragmente.56 Bei der Betrachtung der Muster der Stadtvermittlung fällt die Mythisierung der Stadtlandschaft auf, die sich vornehm in den Führungen „Auf der Spur von Eberhard Mock“, „Mythisches Breslau“ sowie „Auf 53 Vgl. die Diskussion zum ehemaligen Hauptpostamt auf: http://wroclaw.hydral.com.pl/000057,foto.html und http://wroclaw.hydral.com.pl/53,artykul.html (besucht am 16.11.2009) 54 „5. Die Jahrhunderthalle in Breslau (Stadtrundgang Nr. 004D): Die Breslauer Jahrhunderthalle ist eine von 1911 bis 1913 in Breslau vom Architekten Stadtbaurat Max Berg gebaute Veranstaltungshalle aus Stahlbeton und seit 2006 Weltkulturerbe (UNESCO). Die Kuppel war mit einer freien Spannweite von 65 m Durchmesser zum Zeitpunkt der Fertigstellung weltweit die größte dieser Art. Die Einweihung der Halle wurde mit der zur damaligen Zeit größten Orgel der Welt begangen.“ Auf: www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=8 (besucht am 30.08.2009) 55 Bei der Markthalle I präsentiert sich das Sortiment der „Objekt – Eigenschaften“ wie folgt: „Hala Targowa I - Markthalle I / Wrocław - Stare Miasto - ul. Piaskowa 17 / Bauzeit 1906-1908 / Projekt – Architekten: Richard Plüdemann, Friedrich Friese, Heinrich Küster“ www.wroclaw.hydral.com.pl/000036,obiekt.html (besucht am 30.08.2009) 56 „Markthalle. Blick von Nordwesten her. Fast keines der die Halle säumenden Gebäude existiert heute.“ www.wroclaw.hydral.com.pl/000093,foto.html (besucht am 30.08.2009) 3. Kapitel 167 der Spur der Zwerge“ äußert. Die mediale Konstruktion einer unwirklichen Stadt, wie sie Marek Krajewski mit seiner Schöpfungsgestalt des Oberkriminalrats Eberhard Mock beispielhaft vorführt, scheint den Zeitgeist auf den Punkt zu Treffen. Den Zeitgeist trifft gleichfalls das Marketingkonzept der Stadtverwaltung, bei dem die Zwerge als Wesen aus dem Reich der Märchen im öffentlichen Raum installiert werden. Die Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion folgt dem Bedürfnis nach einem tiefgründigen Erlebnis, das in der Entdeckung des Fremden und Geheimnisvollen eine Inkarnation gefunden zu haben scheint (Abb. 3.36) Die Erfolg versprechende Nachfrage nach einer abenteuerlichen Entdeckungsreise bestimmt die Aneignungsmuster, welche die Besichtigung der Dominsel im Licht der Gaslampen als eine magische Zeitreise durch die Jahrhunderte beschwört.57 Bei den Führungen geht es weniger um die Aneignung durch fundierte Geschichtsvermittlung, als um Aneignung durch ein aufwühlendes Spektakel. Der Sensations- und Erlebnisfaktor eines Baudenkmals bestimmt demnach seine Anziehungskraft und Vermittelbarkeit für die Konsumgesellschaft.58 Eine derartige Ausstrahlungskraft besitzt die Stadt Breslau vor 1945, die heute auf Schritt und Tritt in ihren Fragmenten vom Glanz alter Zeiten zeugt. Es verwundert deshalb nicht, dass unter dem Begriff „Altes Breslau“ die Stadtperiode des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Untergang der Festung Breslaus 1945 verstanden wird.59 Die vom alten und fiktiven Breslau ausgehende Ausstrahlungskraft führt zu einer inhaltlichen und räumlichen Verlagerung der Führungen (Abb. 3.37) --Bei der Betrachtung des Internetmediums hinsichtlich der Stadtvermittlung wird kein Internetportal gefunden, welches explizit als Stadtführer im Sinne des gedruckten Mediums angenommen werden kann. Viel mehr handelt es sich vorwiegend um Internetportale, die ansatzweise mit den Printmedien verwandt sind. Formal gesehen wird in den vorliegenden Fällen zwischen drei Arten der Internetportale unterschieden, die laut Google Internetsuchmaschine jeweils zu den führenden Vermittlungsinstanzen der Stadt Breslau gehören. • Die Internetseiten eines privaten Touristikunternehmens, Touristikunternehmens die sich mit ihren wegorientierten Führungen vor allem an die fremden Besucher richten und an dem Verkauf ihres kulturellen Angebots interessiert sind. • Die offiziellen Internetseiten der Stadtverwaltung, Stadtverwaltung die in erster Linie als ein Serviceangebot an Fremde, wie eigene Einwohner zu sehen sind, die unter anderem Besichtigungsrouten diverser Anbieter beinhalten. 57 auf: http://www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=8 (besucht am 16.09.2009) 58 „Über Mühlbrücken kehren wir auf die Sandinsel zurück und besichtigen die Marienkirche mit dem Votivbild der siegreichen Mutter Gottes. Dieses Bild legte einen langen Weg von Mariampol in Wolynien nach Breslau zurück. In der an die Kirche angelehnten Kapelle befinden sich die Behinderten-Seelsorge sowie die in der Stadt einzige ganzjährig geöffnete Weihnachtskrippe.“ Führung durch das älteste Breslau auf: www.wroclaw.pl/m46464/p46466.aspx, Vgl. Anm. 343, Kap. 2. 59 „Altes Breslau. Die Stadt vor 1945“, auf: www.wroclawcitytour.pl/index.php?categoryid=6 (besucht am 10.11.2009), siehe auch die Thematischen Führungen, die sich bis auf eine Ausnahme (Auf den Spuren der Zwerge) alle der deutschen Stadt vor 1945 widmen 3. Kapitel 168 • Das Internetportal der gemeinnützigen Gesellschaft Gesellschaft Wratislaviae Amici, welche mit ihrer Bilddatenbank zufallsgenerierte Stadtvermittlung vorrangig für die Einwohner der Stadt sowie Fremde generiert. Bei den explizit als „Stadtführung“ ausgegebenen Angeboten des privaten und des öffentlichen Anbieters handelt es sich um direkte Übernahme der bekannten Formate aus dem Printmedium Stadtführer, die an dieser Stellen lediglich dem standardisierten Layout der Internetseiten angepasst werden. Bei der platten formalen Übersetzung wird das Potential des neuen Mediums Internet außer Acht gelassen. Neue gestalterische Ansätze finden sich in der mediumbedingten grafischen Benutzeroberfläche mit einer signifikanten vertikalen Spaltenabfolge sowie der Navigationsleiste. Im Kern wird das Neue Medium jedoch in einer tradierten Art benutzt, als starres lineares Dokument, das einer Papyrusrolle mit einer elektronischen Bildlaufleiste gleicht. Demzufolge geben vor allem die Seiten des Touristikunternehmens (A) und der Stadtverwaltung (B) in erster Linie Auskunft über die aktuellen Strategien der Stadtvermittlung anstelle einer Auskunft zur gestalterischen Weiterentwicklung des Mediums im digitalen Zeitalter. Das Arrangement der Besichtigungswege, ihre inhaltliche und räumliche Ausrichtung, zeigen eine homogene Vielfalt auf. Der Widerspruch einer monotonen Abwechslung rührt aus der Komposition der Themen, die in erster Linie der Vorkriegsstadt und ihren Bewohnern gilt. Dabei wird zum einen eine Diversifizierung des Besichtigungsangebots beobachtet, das von bautechnischen Sehenswürdigkeiten, über jüdische Kultur bis hin zur Unterwelt Eberhard Mocks reicht. Zum anderen schreitet eine Homogenisierung der übergeordneten Blickausrichtung, die eindeutig auf der untergegangenen Stadt vor 1945 haften bleibt, voran. Gleichzeitig kann eine mentale Entgleisung innerhalb der „Routen der Erinnerung“ beobachtet werden, bei der bewusst Reales mit Fiktiven verwischt wird.60 Die Vervielfältigung des homogenen Angebotes einerseits und die einhergehende Mythisierung der Stadt andererseits, scheint den neuen Bedürfnissen nach individueller Führung, die eher an spannende Expeditionen, als an Studienreisen erinnern, nach zu gehen. Demnach versucht das inhaltliche Arrangement den Anspruch auf Individualität der modernen Touristen zu befriedigen und ihre Abenteuerlust zu stillen. Hierfür scheint das „Alte Breslau“ vor 1945 einen besonders fruchtbaren Boden zu liefern, der aus dem allgemein zu beobachtenden Hype um die greifbar nahe und doch so ferne deutsche Stadt reichlich schöpfen kann. Bei der Konstruktion einer real-fiktiven Topografie der Stadt werden die Themenkomplexe in autark gestalteten Routen vermittelt, so dass von einer flächendeckenden Stadtführung nur partiell gesprochen werden kann. Daraus ergibt sich eine räumliche und inhaltliche Fragmentierung der Stadtvermittlung, wenn man davon ausgeht, dass es sich nicht um aufeinander aufbauende Besichtigungsrouten handelt. Die mentale Erschließung des Raumes basiert auf der Kreation von Attraktionen, die immer dichter gesponnen werden. Demnach stellt die Sensation das primäre Aneignungsmuster der Stadtvermittlung zu Beginn des 21. Jahrhunderts dar, bei welcher der Sensationsgehalt über dem Wahrheitsgehalt eines Objektes steht.61 Die auf Abenteuer und Freizeitspass ausgerichteten Stadtführungen scheinen dem allgemein beobachteten Zeitgeist um so mehr zu entsprechen, wenn sie in den praktischen 60 Vgl. Anm. 343, Kap. 2. vgl. auch Anm. 142, Kap. 1. („Mythisierung der Stadtgeschichte“ bei Gregor Thum) 61 Löw, Martina: Der Reiz der Großstadt. Sexualisierung durch Bildproduktion, in: Stadtbild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt, hg. v. Sigrid Brandt und Hans-Rudolf Meier, Berlin 2008, S. 104-114 3. Kapitel 169 Informationen die Grundbedürfnisse der Konsumgesellschaft zu stillen versuchen. Wenn die Stadtvermittlung also in der Tat eine aus Drei-Sterne-Sehenswürdigkeiten bestehende Attraktionslandschaft, die von Toiletten, Parkplätzen, Bankautomaten und Souvenirläden umrahmt wird, konstruiert (Abb. 3.38).62 Einen mediumgerechten Ansatz der Stadtvermittlung zeigt das Internetportal der Gesellschaft Wratislaviae Amici, des als eine Art Neuinterpretation der 1956 gegründeten Gesellschaft der Stadtliebhaber (TMW) gesehen werden kann.63 Das Internetportal folgt dem Prinzip einer hypermedialen Vermittlung, die dem Paradigmenwechsel des Informationszeitalters Rechnung trägt. Gerade weil seine bildbasierte Vernetzungsstruktur keine klassischen Besichtigungsrouten zulässt, bahnt sich der Nutzer durch assoziative Informationserschließung den Weg nach seinem Willen. Die in erster Linie visuell generierte Vermittlungsweise innerhalb des Portals steht demnach im Zeichen des ikonischen Wandels. Entgegen den Ängsten findet die bildorientierte Suche im Sinne von »Be-Suchen« der Bilder statt, an dessen Ende ein textbasierter Informationsaustausch steht. Wer sucht, erliegt auch schnell der Sucht nach dem Finden, welche bei der selbstbestimmten Führung häufig festgestellt wird und in dem einen oder anderen Fall in einer endlosen Odyssee enden kann. Eine Stadtführung nach dem Motto, der Weg ist das Ziel. Das mit dem Internet gegebene Recht auf „Mitbestimmung“ verleiht dem Nutzer die Möglichkeit, sich an dem Prozess der Gestaltung von Sehenswertem zu beteiligen, in dem er Bilder be- und entwerten kann. Gerade dieses Partizipationsprinzip, bei dem die Nutzer selbst das Sehenswerte kreieren, und die „Selbstbestimmung“ des Besichtigungsverlaufs verleiht dem Medium die Dynamik und beinhaltet seinen Erfolg. Die Stadtführung könnte in diesem Format als eine voyeristische Reise von einer selbstdefinierten Attraktion zur anderen verstanden werden. Ausgehend vom einem latenten Aufmerksamkeitsdefizit der Informationsgesellschaft kann dabei eine weitere Verkürzung der textbasierten Vermittlung zu Gunsten der visuellen Darstellungsarten festgestellt werden. Der Text verkommt zu einer SMS-tauglichen Informationskompression, welche die charakteristsichen Züge der Superlative trägt. Nur das in diesem Fall jeder die Möglichkeit bekommt, den Superlativ selbst zu generieren und selbst Herr über seine eigene superlative Landschaft zu sein, die es in einer kommunikativen Interaktion mit anderen Nutzern zu behaupten gilt. 62 63 vgl. Anm. 82, Kap. 1. (Małgorzata Omilanowska) Die Gesellschaft Wratislaviae Amici (WA) kann als eine Weiterentwicklung der Gesellschaft der Stadtliebhaber (TMW) im Digitalen Zeitalter gesehen werden. Die von der Stadtverwaltung seit 1956 geförderte Gesellschaft TMW wird ihren Überlebenskampf in Zeiten immer knapper werdenden Engagements innerhalb konventioneller Vereine noch überstehen müssen, wohingegen die von Laien und Nutzern gestützte Gesellschaft WA ihren Siegeszug in der Virtualität der Netzes in vollen Zügen feiert. 3. Kapitel 170 3.3. Vergleich der Print- und Internetstadtführer Die vergleichende Betrachtung des Mediums Stadtführer in gedruckter und digitaler Form führt zu der Erkenntnis, dass zwei von drei Vertretern aus dem Netz in ihrem Vermittlungsansatz eine simple Übernahme der gängigen Formate aus dem Druckzeitalter darstellen. Die Neuen Medien werden dabei bevorzugt als eine „digitale Papyrusrolle“ benutzt, die mit einer Bildlaufleiste von oben nach unten erfasst werden kann. Die Feststellung, dass dieses neue Medium immer noch vorwiegend in der seit Johannes Gutenberg tradierten Art und Weise der Wissensvermittlung verfangen ist, zeigt die Schwierigkeiten im Umgang mit neuen medientechnologischen Entwicklungen. Eine Mehrzahl der Internetseitenbetreiber nutzt weniger die mit dem Hypertext verbundenen Möglichkeiten einer assoziativen Erschließung des Wissens, als die banale Erkenntnis der Vorteile aus der Auslagerung der Information ins Netz.64 Dabei spielt die leichte Aktualisierung der Inhalte und die in Aussicht gestellte Allgegenwärtigkeit der Information die wichtigste Rolle bei dem Online-Gang. Das Neue Medium, was die Stadt Breslau anbelangt, stagniert größtenteils als „digitaler Abdruck“ der Printstadtführer im embryonalen Stadium. Einen vielversprechenden Ansatz liefert die Gesellschaft Wratislaviae Amici mit den von ihr ausgehenden Impulsen. Ausgerechtet ein Internetportal, dass auf die Initiative eines Informatikstudenten zurückgeht und keine Unterstützung von offizieller Seite erfuhr, weist demnach ein innovatives Konzept bei der Stadtvermittlung und Aneignung auf. Im Folgenden wird der Vergleich den oben genannten Feststellungen Rechnung tragen, wenn zuerst die in alten Zwängen verhafteten Internetseiten mit dem Printmedium verglichen werden und anschließend der neue Ansatz von Wratislaviae Amici gerade vor diesem Hintergrund betrachtet wird. Der Vergleich findet zwischen den Stadtführern der letzten Dekade statt und unterteilt sich in einen inhaltlichen und formalen Teil. 3.3.1. Konstanten und Veränderungen Inhaltlich gesehen zeugen die Internetseiten des Touristikunternehmens und der Stadtverwaltung sowie die Printstadtführer von einem verstärkten Interesse an der untergegangenen deutschen Stadt vor 1945, ihren Fragmenten, Mythen und Legenden. Die bei der zeitübergreifenden Analyse der gedruckten Stadtführer aufgefallene Marginalisierung der „historischen Skizze“ schreitet in beiden Medien weiter voran.65 Die fundierte Wissensvermittlung, die sich vermehrt auf das Expertenwissen stützt und in dem Gespann „Historiker-Stadtführer“ ehemals als ein Muster der Aneignung aufgezeigt wurde, weicht demnach einem auf Sensation ausgerichteten neuen Modell der Stadtaneignung.66 Die erlebnisorientierte und emanzipierte Freizeitgesellschaft wird 64 Die gleichen Erkenntnisse werden bei der Beobachtung der Internetportale, die sich per Google-Recherche als „virtuelle Museen“ ausgebeben, gezogen. Manfred Koob stellt hierzu fest, dass „die virtuellen Museen im Internet auf einem neuen, immateriellen Territorium errichtet werden […]. Das Streben nach dem neuen Territorium ist da, die Kenntnis des ihm eigenen Potentials ist gering.“ In: Koob, Manfred: Mind’s Eye. Digitales Virtuelles Olympisches Museum, München 2008, S. 32ff. 65 Vgl. Anm. 1, Kap. 3. 66 Das Gespann aus dem Stadthistoriker und dem Stadtführer leistete vor allem seit 1956 bis 1989 einen wichtigen Beitrag bei der Stadtaneignung im Medium der gedruckten Stadtführer. Vgl. Anm. 19, Kap. 3. 3. Kapitel 171 dabei durch eine Differenzierung des Besichtigungsangebotes, das sich vorrangig im Internetmedium in einer Vielzahl an thematischen Führungen widerspiegelt, bedient. Das Internet trägt hier zu einer Veränderung bei, bei welcher die Befriedigung des neuen Individualismus trotz einer gestiegenen Anzahl an Besichtigungsrouten einen neuartigen „Tunnelblick“ hervorruft. An dieser Stelle bietet sich der Vergleich mit einer Szene aus dem Science-Fiction-Film „Total Recall“ von 1990 an, in der dem Zukunftsmenschen, dargestellt von Arnold Schwarzenegger, thematische Urlaubsreisen per Spritze verabreicht werden. In den thematischen Führungen des Internets erlebt der Besucher entgegen der Definition eines Stadtführers die Stadt immer öfter als ein Erlebnispaket und immer seltener in ihrem Kontext.67 Es sind vorrangig Reisen unter dem Namen wie „Auf den Spuren von Eberhardt Mock“, die ein Abenteuer versprechen, bei dem die Stadt einen Hintergrund für schaurige Geschichten darstellt. Als Folge des neuen thematischen „Tunnelblicks“ tritt eine punktuelle Vermittlung der Stadt hervor. Erstaunlicherweise kann in dem Internetangebot, wie im zuvor genannten Film, eine Tendenz zur Vermischung von Fiktion und Realität beobachtet werden. Zu der inflationären Anwendung der Superlative, die bei den gedruckten Stadtführern gewöhnlich das reale Stadtbild aufblähen, kommt damit vermehrt eine Parallelwelt aus dem Reich der Phantasie hinzu, die keinerlei Grenzen setzt. An der Grenze zwischen dem Inhalt und der Form der Vermittlung wird auf den Internetseiten der Abschied von der bewährten Vermittlungshierarchie beobachtet. Im Gegensatz zum Printmedium, in dem sich die Präsentation einer Stadt nach dem Viertel, der Strasse samt den Bestandsteilen und schließlich den einzelnen Objekten etabliert hat, treten wieder unklare Strukturen auf. Die Führungen finden von einem Objekt, das hier als Attraktion im Sinne der spaßorientierten Erlebnisses gesehen wird, zum anderem statt. Bildlich gesehen arbeitet sich der Besucher von einem Knoten entlang einer thematisch aufgezogenen Schnur zum anderen (linear, punktuell, zuspitzend). Die Internetseiten beziehen sich hinsichtlich der Raumvermittlung auf die klassischen Printstadtführer und die erprobte lineare Erschließung des Raumes. Von dem internetspezifischen Hypertext wird während der Führungen kein Gebrauch gemacht. Auch die Typografie entspringt den gängigen Erfahrungen aus den Papierstadtführern, die jedoch, wie in den frühen 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, recht unbeholfen in einer neuen Kakofonie ausartet. Gestalterisch fallen allerdings die neuen expressionistischen Bilder auf, die eine neue Qualität aufweisen. Die Rede ist hier von Bildern die eine neue dramatische Anmutung transportieren und die thematischen Führungen begleiten. Das Internet Portal der Gesellschaft Wratislaviae Amici zeigt ebenfalls ein gesteigertes Interesse für die Zeit vor 1945 und verzichtet gänzlich auf die „historische Skizze“. Die fundierte Wissensvermittlung verlagert sich dabei vom ehemals fachkundigen Experten in der Gestalt eines Stadthistorikers hin zum interessierten Laien, der sich zum einen der Dokumentation seiner Stadt verpflichtet und zum anderem von der Suche nach interessanten Bildern getrieben wird. Das Portal lebt von dem internen 67 Vgl. Anm. 70, Kap. 1.; nach der in Polen gültigen gesetzlichen Definition des Berufes eines „touristischen Reiseführers durch die Stadt“ vom 29.08.1997, auf: http://pl.wikipedia.org/wiki/Przewodnik_turystyczny (besucht am 06.03.2008 und 15.11.2009) 3. Kapitel 172 Wettbewerb zwischen den Nutzern nach einem sensationellen Bild und dem Reiz seiner Entdeckung.68 Die breitgefasste Befriedigung der Sensationslust stellt demnach den Motor der Internetplattform dar. Die Vielzahl an engagierten Nutzern, denen das Recht zugesprochen wird selbst zum Herausgeber der Information aufzusteigen, führt zu einer nie zuvor gegebenen flächendeckenden Vermittlung der Stadt. Im Gegensatz zu dem „Tunnelblick“ der vorangegangenen Internetstadtführer eröffnet sich vor dem Besucher ein „Panoramablick“, der durch die hypermedialen Verknüpfungen gegeben wird (vernetzt, flächendeckend, abflachend). Die Einstellung der neuen Inhalte folgt der hierarchischen Struktur, die aus den gedruckten Stadtführern bekannt ist. Die unzähligen Verzweigungen der Information, die vorrangig über die Bildverknüpfungen per Mausklick betätigt werden, führen unweigerlich zu einer neuen Art und Weise der Vermittlung. Das Neue daran basiert zum einem auf dem Bild, das zur zentralen Vermittlungsinstanz avanciert, zum anderen auf den vielen aktiven Nutzern, welche die Stadt, metaphorisch gesprochen, in einen immer dichter verwobenen Bilderteppich auflösen. Hier findet die Stadtführung in der „Unendlichkeit der Wege“ statt und entspringt einer visuell gesteuerten Spontaneität bei der die Besucher dorthin gelenkt werden, wo ihr Blick hinfällt und der Mauszeiger hinklickt. Bei der bildbasierten Erschließung des Raumes verkommt der Text zu einer SMS. Typografisch nutzt das Portal die gewohnten Staffelungen in Form von Absätzen und den bekannten Hervorhebungen. Dabei weisen die Seiten ebenfalls auf eine gewisse Schwierigkeit im gemäßigten Umgang mit der Typografie hin, die sich in einer Unübersichtlichkeit äußert, und eine Erinnerung an die besagten gestalterischen Probleme der Printstadtführer der 60er Jahre hervorruft. Ein weiteres Novum stellen die biografischen Beiträge der Nutzer dar, die Bilder aus dem Familienalbum gleichwertig mit historischen Fotografien stellen. Hierbei wird das Bild als Erinnerung gesehen und weist hinsichtlich der Stadtvermittlung, die stets im Zentrum des Interesses steht, eine neue Qualität auf. Die Stadt erfährt bei ihrer Aneignung eine neue Art der Personifizierung, die aus der Richtung der Oral History stammt. Dass sich die Familienalben der Breslauer vor 1945 eines besonderen Interesses erfreuen, ist auf das Anfangs bei allen Medien festgestellte Verlangen nach Geschichten aus dem Fremden, Unbekannten und doch auf Schritt und Tritt hervorkommenden deutschen Breslau zurückzuführen. 3.3.2. Stärken und Schwächen Das Potential der gedruckten Stadtführer wird in einer zusammenhängenden, textbasierten Besichtigung gesehen, die einen klaren und gut strukturierten Rahmen für eine gelungene Führung beinhaltet. Das Gelingen des didaktischen Exkurses im klassischen Sinne des Mediums setzt voraus, dass das Medium auf einen gehorsamen Nutzer trifft, der idealerweise den Stadtführer in seiner linearer Gesamtheit nutzt. Das Medium ist uneingeschränkt Vorort einsetzbar und verfügt über die Eigenart, sein Dasein nach dem Einsatz als ein gern gesehenes Souvenir zu fristen. Die klare Vermittlungsstruktur der hier als klassisch bezeichneten Stadtführer entstammt zum einen der Hierarchisierung der Objekte, zum anderen der klaren linearen Weganweisung, und führt zu einer im 68 Als Synonym für die Kreation von Sensation stehen hier die „Bilder des Monats“. 3. Kapitel 173 allgemein gegebenen Übersichtlichkeit und beinhaltet in der Regel den erwähnten didaktischen Mehrwert. Negativ fällt die aus der Materialität des Medium herrührende Starrheit der gedruckten Inhalte aus, die eine Aktualisierung kostspielig macht und gerade den mediumspezifischen Anspruch auf Aktualität in der flüchtigen Welt von Heute nicht Stand hält. Demgegenüber erfüllen die Internetstadtführer gerade diesen Aktualitätsanspruch. Die leichte Editierbarkeit seiner Inhalte stellt ein mediumspezifisches Potential dar. Das Internetangebot des Touristikunternehmens und der Stadtverwaltung weist in Bezug auf die Stadtbesichtigung keine zusammenhängende Stadtvermittlung auf. Die punktuelle, von einem zum anderen Höhenpunkt linear führende und innerhalb einer eng abgesteckten thematischen Führung stattfindende Vermittlung, liefert im Ergebnis jeweils ein losgelöstes Bildfragment der Stadt(„Höhenflug mit Scheuklappen“). Die Stadtführer sind nur bedingt Vorort einsetzbar und stellen in ausgedruckter Form kein qualitätvolles Souvenir dar, sondern beenden ihr Dasein meist noch in der städtischen Mülltonne. Die Abkehr von der hierarchischen Strukturierung seiner Inhalte im „Viertel-Strasse-Objekt“-Gefälle zieht eine Unübersichtlichkeit nach sich, die eine geordnete und nachhaltige Stadtführung im Sinne der mentalen Aneignung des fremden Raumes zusätzlich erschwert. Die Internetseiten der Gesellschaft Wratislaviae Amici geben einen ersten Vorgeschmack auf den neuen Zugang einer internetbasierten Erschließung des kulturellen Raumes. Der Erfolg des Portals basiert primär auf seinen offenen Strukturen, dem ihm zugrunde liegenden Partizipationsprinzip bei der Gestaltung seiner Inhalte und der daraus resultierenden flächendeckenden Vermittlung der Stadt anhand hypermedialer Verknüpfungen.69 Zum ersten Mal erhalten hier die Benutzer die Freiheit, innerhalb der Struktur vorgebenden Nutzungsbedingungen bei der medialen (Re-)Konstruktion der Stadt aktiv mitzuwirken. Die daraus folgende flächendeckende Erschließung des kulturellen Raumes stützt sich erfolgreich auf die hypermediale Verknüpfung, mit dessen Hilfe ein Objekt mit seinem Kontext eine bisher nicht gekannte Vernetzung erfährt. Die daraus stammende bildbasierte Vermittlung und deren vielschichtiger Vernetzungsgrad führen jedoch neben dem positiven Effekt des erwähnten „Panoramablickes“ auch zu einer heimtückischen Ausschweifung, die einen Besichtigungsgang in einem Labyrinth enden läßt. Die positiv bewertete Spontaneität des Weges aufgrund der fehlenden linearen Wegvorgabe und der leichtgemachten Freiheit per Mausklick vom eingeschlagenen Weg abzuzweigen, beinhaltet dementsprechend auch die Gefahr einer endlosen Odyssee.70 Darauf kann auch die vorgeschriebene hierarchische Strukturierung der Inhalte und die Verortung der Bildinformation in Google Maps keine Lösung liefern. 69 Nicht zuletzt gründet der Erfolg des Portals von Wratislaviae Amici auf dem Bedürfnis der Stadteinwohner nach der Entdeckung und Dokumentation ihrer Stadtgeschichte. 70 Inwiefern diese bildorientierte Wegführung „frei“ ist, wäre zu klären. Der wissenschaftliche Diskurs ist zurzeit der Meinung, das wir noch nicht gelernt haben Bilder zu lesen. Vgl. Anm. 85, Kap. 1. (Martina Löw) 3. Kapitel 174 Die Strukturierung wirkt sich erst positiv auf die Bewahrung der Übersichtlichkeit aus, wenn die Grunddisziplin und Konsequenz beim Besucher gegeben ist, so dass ein vorschnelles Ausschweifen in Grenzen gehalten wird. Die visuelle Verortung innerhalb der Satellitenbilder bietet in erster Linie einen erweiterten rundum Blick, der maßgeblich zur Orientierung im Raum verhilft. Ein Nachteil ist die derzeitige Beschränkung der Nutzung der Portalinhalte auf das Internet. Das Portal gleicht einer Stadtbegehung im Netz, bei welcher der Nutzer in die Bilderwelt eintaucht und von der Vernetzung Gebrauch macht. Als analoger Ausdruck würde es wiederum eine Route entlangt vorher definierter „Attraktionen“ voraussetzen, die dem hypermedialen Charakter der Seiten nicht entspricht. Somit ist der medienspezifische Ansatz zur Zeit nur bedingt Vorort einsetzbar. Medien- und zeitübergreifend wird den Stadtführern eine spezifische Unseriosität im Umgang mit den Fakten unterstellt, der während der „fundierten Wissensvermittlung“ nur Ansatzweise Einhalt geboten wurde. Vor allem seit der Jahrtausendwende wird ein verstärktes Aufgebot an überspitzten und teilweise schlichtweg falschen Angaben festgestellt, der einer Kreation von sensationellen Attraktionen zugute kommen soll. Dabei erleichtert einerseits die neue Mythisierung der Stadt einen lockeren Umgang mit historischen Fakten, anderseits beschleunigt die demokratisierte Editierbarkeit und Flüchtigkeit der Information im Internet diesen Prozess. Der heimtückische Glaube in den Wahrheitsgehalt der geschriebenen Worte trügt besonders im Medium der Stadtführer, bei dem die Herausgeber immer öfter überzogene Erinnerungslandschaften schaffen und die Nutzer Dank Internet vermehrt die Stadtbildkonstruktionen selbst in die Hand nehmen. Die Grenzen zwischen der Seriosität eines aufs Verlagspapier gedruckten Stadtführers und der erlebnisorientierten Unseriosität einer von Laien konstruierten Attraktionslandschaft werden immer unklarer. 3. Kapitel 175 4. Kapitel 4.1. Medientechnologische Tendenzen bei der Stadtvermittlung 4.1.1. Die Stadtführer von Morgen Die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie gegen Ende des letzten Jahrhunderts, der Einbruch des digitalen Zeitalters und das beschworene Ende der „GutenbergGalaxie“ revolutionierten alle Lebensbereiche des Menschen. Der Paradigmenwechsel zog unter anderem eine allgemein zu beobachtende Individualisierung der Gesellschaft, eine Verbildlichung der Kommunikation sowie eine Flüchtigkeit der Information nach sich. Für das Massenmedium „Stadtführer“ ergeben sich daraus tiefgreifende Anpassungsnöte, die bei der Analyse der Internetstadtführer festgestellt wurden. Der Kern des Wandels steckt in der Individualisierung der Routen und einer neuen Mythisierung der Stadt, bei der die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischt werden. Der Drang der Nutzer zur aktiven Teilnahme im Prozess der Routengenerierung und der individuellen Bestimmung der Attraktionslandschaft, zu welcher der kulturelle Raum in dem Medium mutiert, wird zunehmend von den Marktführern, wie dem Verlag Dorling-Kindersley mit seinen 33 Millionen verkauften Reiseführern aus der Vis-a-Vis Reihe, erkannt. a.) Ultimativer Reise- und Stadtführer Der Verlag ermuntert auf „www.traveldk.com“ die „Traveler“ sich nicht erzählen zu lassen, was sie sehen sollen, sondern selbst einen eigenen Reiseführer zu erstellen, der für 5 $ als PDF heruntergeladen, beziehungsweise für 15 $ als Buch online bestellt werden kann (Abb. 4.1).1 Im Umkehrschluss wird hierbei aus dem Leser (Rezipienten) ein Herausgeber (Sender), der zwangsweise vor der Reise in eine Vorleistung tritt.2 Darüber hinaus bietet das Internet neben dem auf der Hand liegenden Vorteil seiner updatebasierten Aktualität bei der Veröffentlichung der eins zu eins übernommenen Inhalte aus den gedruckten Reiseführern weitere sich bereits anbahnende Möglichkeiten bei der Raumvermittlung. Bereits das „googeln“, als Synonym für die Websuche mit einer beliebigen Suchmaschine, könnte als eine Art unbegrenztes Reisen im World Wide Web, eine abstrakte Art des Reisens im ursprünglichen Sinne der Wissensvermittlung, verstanden werden. Das Google Earth erlaubt uns per Mausklick seit 2005 den wohl voyeuristischsten Blick auf die Welt, der dem Menschen jemals gegönnt worden ist. Die stetig wachsenden Anzahl von Anwendungen für die freie Software, wie Wikipedia, Panoramio, YouTube und Google Sketch Up, führen zu einem immer genaueren und tieferen Abbild der räumlichen Realität im Netz, der in seiner Vielschichtigkeit längst über die reinen Satellitenbilder hinaus expandiert ist (Abb. 4.2). 1 „Don’t let us tell you what to see on your travels, by tailor-making your own travel guide you can include just the things you want to do, see and visit on your trip.“ auf: www.traveldk.com/how-to/create-guides (besucht am 31.10.2009) 2 An dieser Stelle scheint es interessant einen Bogen zu den Bildungstouristen der Aufklärung und der Romantik zu schlagen, von denen diese Art der Vorleistung per herrschendem Reisekodex abverlangt wurde. Vgl. Anm. 72, Kap. 1. (Kunst des Reisens, die Apodemik) 4. Kapitel 176 Eines der ehrgeizigsten Projekte von Google, die Erfassung aller Straßenverläufe in einer interaktiven sphärischen Panoramaaufnahme, heißt „Google Street View“. Seit 2008 ermöglicht das umstrittene Vorhaben eine virtuelle Fahrt durch entlegene Gebiete mit der Möglichkeit, die den Bildern hinterlegten Informationen nach Belieben zu erforschen. 2009 gilt die USA bereits als fast vollständig im „Google Street View“ erfasst (Abb. 4.3). b.) Überlagerung der virtuellen mit der physischen Welt Das seit dem Jahr 2000 unverfälschte GPS-Signal aus den USA lotst noch hauptsächlich unsere Kraftfahrzeuge mit 5 Metern Genauigkeit durch die geteerte Welt. Die europäische Antwort Galileo verspricht uns demnächst eine Genauigkeit von ein paar Zentimetern, die uns dann auch bei einem Spaziergang ein beliebiges handgroßes Objekt orten lässt. Die Freigabe der GPS-Signale markiert die Wende im Bestreben, die Information des Netzes zu verorten. In dem hier behandelten Kontext der medialen Stadtvermittlung erscheint zuerst das Phänomen „Geocaching“ als erwähnenswert.3 Geocaching macht sich die Vorzüge des Internets in Kombination mit den GPS-Koordinaten zunutze. Es gründet auf der ursprünglichen Idee, einen Gegenstand zu verstecken und seine Suche Online mit der Angabe seiner Koordinaten freizugeben (Abb. 4.4). Es stellt den ersten Versuch einer spielerischen Verbindung von der immateriellen Welt des Internets und der Materialität, die bei der Suche „außerhalb unserer Haustür“ aufgespürt wird, dar. Seit dem Startschuss von Geocaching im Mai 2000 erfreut es sich einer einzigartigen Beliebtheit weltweit und zeichnet viele landesspezifische Portale auf. Neben der stetig steigenden Anzahl der Verstecke und seiner Nutzer entwickeln sich die Kategorien der Verstecke weiter und lassen vielerlei Spielraum im Bezug auf die Vermittlung des kulturellen Raumes erahnen.4 Mit der Entwicklung der Handygeräte kam im September 2005 das Projekt Semapedia auf den Markt, welches sich die Verbindung der virtuellen und der physischen Welt zum Ziel machte.5 Die studentische Idee der Pionierjahre auf dem Gebiet der Verknüpfung der beiden Welten basiert auf der Generierung von zweidimensionalen schwarzweißen Semacodes zu entsprechenden Wikipedia-Artikeln, die einmal ausgedruckt und am zum Artikel gehörenden realen Objekt installiert, mit einem Kameraobjektiv eines handelsüblichen Handy’s erfasst werden konnten. Als Ergebnis erscheint auf dem Handydisplay der dazugehörige Wikipedia-Eintrag (Abb. 4.5) Das serienmäßig seit 2008 mit einen GPS-Empfänger, einer Kamera und einer schnellen drahtlosen Internetverbindung ausgestattete iPhone G3 von Apple verfügt über einen großen Touchscreen, auf dem sowohl Filme als auch Internetseiten in neuer Qualität angezeigt werden können. Was mit einem klobigen Mobiltelefon in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts begann, wird zu einem 3 http://www.geocaching.com/ (besucht am 04.11.2009) 4 Die Entwicklung veranschaulicht einerseits die Anzahl der aktiven Geocaches, die weltweit auf dem internationalen Portal www.geocaching.com verzeichnet werden (493.000 Dezember 2007, 693.000 Dezember 2008, 934.000 November 2009), andererseits die steigende Anzahl an Kategorien, die von dem traditionellen Cache (Gegenstand verstecken, publizieren, finden) bis zu komplexen Multi-Cache, bei dem mehrere Aufgaben und Verstecke gelöst und gefunden werden müssen. Nach: Kuroczyń Kuroczyński, Piotr: Geocaching von Breslau nach Wrocław. Neue Möglichkeiten zur Darstellung des kulturellen Raumes, in: Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Rudolf Jaworski, Peter Oliver Loew und Christian Pletzing, Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, Bd. 28, Wiesbaden 2010 5 Anfang November 2009 verzeichnetet Semapedia auf der Projektseite über 56.000 Tags weltweit, auf: http://de.semapedia.org/ (besucht am 04.11.2009) 4. Kapitel 177 Multifunktionsgerät, das im Verbund mit den Daten des World Wide Web im Begriff ist, zum absoluten Reiseführer aufzusteigen. Die marktführenden Reise- und Stadtführerverlage machen sich bereits die stattfindende medientechnologische Weiterentwicklung zunutze. Mit dem „Polyglott Travel Guides“ wird den Nutzern ein breites Angebot für das iPhone 3G und iPod Touch geliefert, bei dem „nicht nur mit den schönsten Sehenswürdigkeiten der Stadt, sondern auch mit dem Kennenlernen von jeder Menge neuer Leute“ geworben wird (Abb. 4.6).6 Die ultimativen „Travel Guides“ für den konkurrenzfähigen Preis von 4,99 $ lassen sich nach vorheriger Installation auch offline mit dem GPSGerät und den Multimediaanwendungen Vorort benutzen. Bemerkenswert erscheint auch hier die Werbung mit einer individuell zugeschnittenen Stadtbesichtigung und der Aufrüstung des Stadtführers zu einer Partnerbörse für die „Singletraveler“. Mit dem Projekt „Android“ von Google soll in Zukunft jede Internetanwendung über jedes Netz problemlos heruntergeladen werden können und auf allen mobilen Telefonen funktionieren.7 Angesichts der Tatsache, dass Ende 2006 etwa 2,7 Milliarden Menschen, also über 40% der Weltbevölkerung, einen Mobilfunkvertrag abgeschlossen hatten und ihre Zahl weiter rasant ansteigen wird, bedeutet dies eine mediale Reichweite, die historisch gesehen ohne Vorbild ist.8 Im Jahr 2004 gab es in der Bundesrepublik Deutschland über 60 Millionen Mobilfunkverträge, 2006 ist ihre Zahl auf rund 80 Millionen gestiegen. Im Durchschnitt also ein Vertrag pro Bundesbürger.9 Aktuelle Forschungen auf dem Gebiet der erweiterten Realität, auch „Augmented Reality“ genannt, versuchen, das gesuchte Bindeglied zwischen der digitalen Parallelwelt, wie sie im multimedialen Google Earth zu erfahren ist, und der Realität vor unserer Haustür herzurichten. Es geht dabei um die totale Synchronisation der digitalen Informationswelt mit dem realen Standort „vor der Haustür“, bei der über das Navigieren hinaus alles, was von einem Kameraobjektiv eingefangen wird, auf dem Display mit der gefilterten Informationsfülle des Netzes hinterlegt wird. Es sind Projekte wie „Enkin“, die eine erste Vorstellung davon gaben, was mit Mobiltelefonen in Zukunft möglich sein wird.10 Bereits ein Jahr später, Ende 2009, bietet der Markt handelsübliche 6 Das Unternehmen wirbt für das interaktive Polyglott Travel Guides weiter mit: „*Top Tipps: Die besten Attraktionen, gemütlichsten Restaurants, bequemsten Hotels, coolsten Shopping-Adressen und angesagtesten Nightlife- und Entertainment-Spots /*Übersichtskarten zeigen die Position der Top-Attraktionen, U-Bahnkarten die besten Verkehrsverbindungen /*Meine Tour: Sortieren Sie alle Top Tipps nach Ihren Vorlieben und stellen Sie Ihre Favoriten individuell zusammen /*Auch im Offline-Betrieb nutzbar, um Roaming-Gebühren zu sparen“, auf: www.polyglott.de/service/iphone_8320.html (besucht am 04.11.2009) 7 „Mit Android schaffte es Andy Rubin (Google Chef für mobile Plattformen), seinen alten Traum von einem Mobilbetriebssystem zu verwirklichen, das allen Software-Entwicklern offen stand und auf jedem Gerät funktionieren sollte. [...]. Mit Android wollen Google und seine Mitstreiter das Handy von den Fesseln befreien, mit deren Hilfe Hersteller, Netzbetreiber und Serviceanbieter bisher den Markt dominieren.“ Nach: Reppesgaard, Lars: Das Google-Imperium. Murmann-Verlag 2008; Auszüge aus dem Buch, auf: www.manager-magazin.de/it/artikel/0,2828,576598,00.html (besucht am 11.09.2008) 8 „Die nächsten drei oder vier Jahre wird es mehr als eine Milliarde Mobiltelefone zusätzlich geben. Letztendlich weisen unserer Zahlen darauf hin, dass es mehr als fünf Milliarden Mobiltelefone auf der Welt geben wird.[...]. Ihre Reichweite, [...], ist größer als zum Beispiel beim Fernsehen oder sogar in einigen Gebieten bei der Elektrizität.“ Nach: Ebd. 9 Die Angaben basieren auf den Zahlen zu den Mobilfunkverträgen im Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit, auf: www.umweltministerium.bayern.de (besucht am 08.02.2007) 10 „Enkin“ ist ein studentisches Forschungsprojekt von Rafael Spring und Max Braun, das aus ihrem Beitrag zum „AndroidWettbewerb“ von Google hervorgegangen ist. „Spring und Braun haben in Zuge ihres Enkin-Projektes ein Verfahren entwickelt, mit dem das, was das Objektiv einfängt, mit den Informationen aus Google Maps synchronisiert wird. [...]. Enkin erlaubt die Nutzung von Draufsichten und perspektivischen Sichten in Kombination mit dem Live-Bild einer Webcam. Das ist das Neue an der Technologie der Koblenzer (Studenten).“ Nach: Reppesgaard, Lars: Das Google-Imperium. Murmann-Verlag 2008 4. Kapitel 178 Applikationen für das iPhone 3Gs und das Handy-Betriebssystem Android von Google, die eine Überlagerung der virtuellen Information aus dem Internet mit der realen Umgebung anbieten. Die erweiterte Realität bekommt klare Konturen und scheint demnächst für große Teile der Informationsgesellschaft erschwinglich zu werden.11 Entscheidend bei diesem Vorhaben ist der Generationensprung von einen Handytelefon zu einer mobilen Multifunktionsschnittstelle, die neben den Unterhaltungsmedien in Form von Ton, Bild und Film eine genaue Lokalisierung seines Besitzers ermöglicht. Um das Gerät als universale Schnittstelle zwischen der immateriellen und materiellen Welt benutzen zu können bedarf es einer Kompassimplementierung. Erst wenn die genaue Verortung und Blickrichtung ermittelt ist, kann das Kameraobjektiv mit der dahinter stehenden Erkennungssoftware eine Überlagerung des real eingefangenen Bildes mit den im Internet hinterlegten Informationen veranlassen. Eine Vorführung der hiermit zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bietet die iPhone Applikation „New York Nearest Subway“ von der Firma „Acrossair“, bei der Weganweisungen, Entfernungen und Zeitpläne des Kommunikationssystems auf dem Display aufgerufen werden können (Abb. 4.7).12 Mit „Nearest Wiki“ macht das Unternehmen die Idee vom Semapedia zunichte, in dem sie keinen Semacode für die drahtlose Verlinkung von dem was wir durch die Kameralinse auf dem Display sehen und dem Datenmeer von Wikipedia braucht (Abb. 4.8). Weitere interessante Anwendung sowohl für das Android Betriebssystem, als auch für das iPhone verbreitet der „Layar Reality Browser“.13 Die Firma Layar führt am Beispiel der Stadt Amsterdam und der interaktiven Immobiliensuche vor, welches Potential in der Entwicklung steckt (Abb. 4.9). Eines der ersten Unternehmen, die sich der neuen Erschließung der Welt gewidmet haben und genannt werden sollte, heißt „Wikitude“. Es bedient beide Betriebssysteme und lädt mit seinem Angebot „Wikitude.Me“ die Nutzer der erweiterten Realität mit dem Slogan „Jeder kann mithelfen die Welt zu markieren“ zur aktiven Teilnahme bei der Verknüpfung der Welten ein.14 Die erweiterte Realität befindet sich zur Zeit noch in einem spielerischen Entwicklungsstand, der jedoch in den nächsten Jahren unseren Zugang zur Information revolutionieren wird. Die Allgegenwärtigkeit der Informationen scheint nicht nur für die Nutzer der mobilen Kommunikationsgeräte zur Selbstverständlichkeit zu werden, sie bekommt durch die Informationsverortung und neue Schnittstellen eine neue Dimension und Qualität. c) Zeitreisen Die auf der Hand liegenden Vorteile in Bezug auf die Vermittlung und Aneignung des kulturellen Raumes betreffen zuerst vorrangig die reisepraktischen Banalitäten und fördern neue Applikationen zu Tage, wie eine im Reiseführer auf den „Traveler“ zugeschnittene Partnerbörse. Langfristig wird die Entdeckung der virtuellen Architekturrekonstruktion und die Überlagerung von heute und gestern in den „Travel Guides“ von morgen eine Zeitreise ermöglichen, von der heute noch geträumt werden kann. Einen ersten Vorgeschmack liefert der Beitrag zur Erinnerung an den 11. September 2001 von Wikitude, der beim Spaziergang um Ground Zero die WTC-Architektur zur einer 11 Im September 2009 bietet das Apple Store „Apps“ für das iPhone 3Gs von der Firma Acrossair, Layar und Wikitude. Der Layar und Wikitude Reality Browser wird ebenfalls für das Handy-Betriebssystem Android von Google angeboten. 12 www.acrossair.com (besucht am 21.10.2009) 13 www.layar.com (besucht am 21.10.2009) 14 www.wikitude.org/ und http://www.wikitude.me/ (besucht am 04.11.2009) 4. Kapitel 179 virtuellen Auferstehung auf dem Display verhilft (Abb. 4.10). Hierbei wurde mit dem Feature „Wikitude Browser 3D“ im Oktober 2009 zum ersten Mal ein geläufiger Reality Browser um ein virtuelles 3D-Modell erweitert.15 Vor dem Hintergrund der neuen Entwicklung erweisen sich die vor kurzem noch aktuellen und kostspieligen Forschungsprojekte, wie „Heidelberg 3D“, das online zum „Eintauchen in das virtuelle Stadtmodell von Heidelberg“ einlädt oder das 2,5 Millionen $ teure „Eternal Egypt“, das mit einer Vielzahl an Schnittstellen einen multimedialen Zugang zum Pharaonenreich herstellen will, als überholt (Abb. 4.11).16 Ein weitaus größeres Potential kann in den historischen 3D-Computerrekonstruktionen vermutet werden, die bisher für eine Darstellung zerstörter, beziehungsweise nie gebauter Architektur meist in Form von Film und Fernsehbeiträgen, dem Publikum verlorengegangene Bilder vor Augen führen. In Anlehnung an die Premiere von Wikitude am Ground Zero könnten demnächst die im Jahre 1938 zerstörten deutschen Synagogen, die in jahrelanger Arbeit an der Technischen Universität Darmstadt im Rechner rekonstruiert wurden, interaktiv im Stadtraum nach dem Motto des 3D Reality Browsers „Its not there - but its there“ wieder auferstehen.17 In ähnlicher Art und Wiese kann das Projekt „Ancient Rome“ von Google Earth gesehen werden, das im Werbefilm auf YouTube mit dem Slogan „Now it’s your turn to see history“ beginnt.18 Dabei handelt es sich um eine 3D-Computerrekonstruktion der Stadt Rom um 320 n. Chr.. Mit über 5.000 Gebäuden, von denen 250 im Detail nachgebaut und texturiert wurden, hat es den Anspruch, die antike Stadt sowohl in ihrer Gesamtheit als auch im Detail zu vermitteln. Auch wenn die derzeitige Anmutung noch zu wünschen übrig lässt, ermöglicht das Projekt bereits heute eine, wenn auch nur im Google Earth, verortete Stadtbesichtigung, bei der neben Städtebau und Architektur auch das Leben der Menschen vor rund 2000 Jahren vermittelt wird (Abb. 4.12). Wie die vorangegangenen Beispiele zeigen, ist der Schritt von Google Earth zu der Verknüpfung in der physischen Welt klein und ein Eintauchen via „iPhone“, beispielsweise ins Rom der Römerzeit, ein realitätsnaher Traum. Eine der größten Herausforderungen wird dabei die Suche nach einer passenden visuellen Sprache sein. Die Frage wie real eine historische 3D-Computerekonstruktion sein darf, ohne zuviel sagen zu wollen und eine falsche Realität zu konstruieren, wird angesichts des allgemeinen Wunsches nach realistischen Bildern hoffentlich noch zu einer ernstgemeinten Debatte führen. 4.1.2. Szenarien für Breslau In Breslau können Ende 2009 zwei Ansätze, die in Richtung der Verknüpfung von virtueller und physischer Welt gehen, festgestellt werden. Zum einen kann seit Ende 2006 die Entwicklung von 15 www.wikitude.org/augmented-reality-browser-wikitude-3-d (besucht am 04.11.009); seit November verfügt bereits das Konkurrenzunternehmen Layar über einen weiteren 3D Reality Browser 16 auf: www.giub.uni-bonn.de/karto/heidelberg-3d/start.de.htm und www.eternalegypt.org (besucht am 31.10.2009) 17 Aus einen studentischen Projekt heraus wurden am FG IKA an der Technischen Universität Darmstadt im Zeitraum 1995 bis 2003 alle bedeutenden deutschen Synagogen, die in der Reichskristallnacht zerstört wurden, von Innen und Außen samt den Inventar und der Textur rekonstruiert. Siehe hierzu: Grellert, Marc: Immaterielle Zeugnisse. Synagogen in Deutschland. Potentiale digitaler Technologien für das Erinnern zerstörter Architektur, Bielefeld 2007 18 auf: http://earth.google.de/rome/ (besucht am 31.10.2009) 4. Kapitel 180 Geocaching beobachtet werden, zum anderen wurde im November 2007 die städtische Dienstleistung des Portals „www.wroclaw.pl“ für die mobilen Nutzer in Betrieb genommen. Das „Geocaching“ in Breslau entwickelt sich schleppend und nutzt sein Potential für die Vermittlung des Raumes nur Ansatzweise.19 Das Versteckangebot im Umkreis von 10 km vom Breslauer Ring zählte im April 2007 zehn aktive Geocaches und stagniert seit Oktober des selben Jahres mit Werten zwischen 32, 50 (2008) und 45 (2009). Ein Grund für die Stagnation liegt weniger in der Anschaffung der GPSGeräte, die seit 2008 bereits unter die 50 Euro-Marke gefallen sind, als in den internen Restriktionen, dem Aufwand bei der Pflege eines Geocache und der daraus folgenden kleinen Anzahl an aktiven lokalen Nutzern.20 In Bezug auf die Vermittlung des kulturellen Raumes mit Hilfe von physischen Verstecken an realen Orten und deren Veröffentlichung im Netz werden nur wenige einschlägige Beispiele gefunden, wie die Reihe „Eberhard Mock“, die den Nutzer an die Tatorte des fiktiven Kriminalinspektors aus den Romanen von Marek Krajewski führt. Bemerkenswert erscheint die Verknüpfung der dazugehörigen Internetpublikation mit den historischen Dokumentationen der Orte auf dem Portal von Wratislaviae Amici. Die physischen Geocaches beschränken sich hauptsächlich auf einen Logbucheintrag und eine Austauschbörse bei der Steine, Amulette oder Stifte gegen ein anderes Objekt ausgetauscht werden können. Welches Potential das Geocaching für die Stadtvermittlung aufweisen kann, wurde bei der Konzeption einer neuen Geocache-Kategorie „Mnemoarche“ im studentischen Seminar an der Technischen Universität Darmstadt im Sommersemester 2007 untersucht. Im Ergebnis wurden zwei Pfade mit jeweils acht „Mnemorachen“ zu den Erinnerungsorten der Stadt „Breslau“ und der Stadt „Wrocław“ mit einer Gesamtlänge von 40 km gelegt und erkundet (Abb. 4.13).21 In der Praxis dümpelt das Geocaching jedoch hinsichtlich der Vermittlung des kulturellen Raumes als „traditioneller Geocache“ vor sich hin. Das „mobi.wroclaw“ oder „Breslau im Handy“ wie es umgangsprachlich genannt wird, kann als eine Werbekampagne der Stadtverwaltung angesehen werden, mit der die Stadt Breslau im November 2007 in polnischen Medien glänzte. Mit der Aufstellung von kostenlosen Hotspots in der Stadt und der Anpassung der Internetinhalte von „www.wroclaw.pl“ für die gängigen Handygeräte mit Internetzugang setzte sich Breslau als die moderne Odermetropole im polnischen Wettbewerb der Städte als erste durch (Abb. 4.14). Die Dienstleitung verfolgt zwei Ziele. Zum einen die eigenen 19 Kuroczyń Kuroczyński, Piotr: Geocaching von Breslau nach Wrocław. Neue Möglichkeiten zur Darstellung des kulturellen Raumes, in: Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Rudolf Jaworski, Peter Oliver Loew und Christian Pletzing, Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, Bd. 28, Wiesbaden 2010 20 Bevor der Geocache publiziert werden kann, müssen die Grundstücksrechte seines Verstecks geklärt werden. Des Weiteren limitiert geocaching.com die Entfernung zwischen einzelnen Verstecken auf mindesten 0,1 Meilen, was in dichter städtisch Struktur absurd erscheint. Zu letzt können sich vorerst nur wenige Vorstellen wie viel Aufwand die Pflege eine Geocaches mit sich bringt. Gerade dieser Aspekt begrenzt die Anzahl der Geocache-Leger auf die ortsansässige Nutzer, die dementsprechend einen ständigen Zugang zu dem Versteck hat. In: Ebd. 21 Geocache aus der Reihe „Mnemoarche“ zum doppelt besetzten Erinnerungsort (Kaiser-Wilhelm-I.-Denkmal vs. König-BolesławChrobry-Denkmal) auf: www.geocaching.com/seek/cache_details.aspx?guid=595dc1b7-ed4d-4042-9380-53c0db40df28 (Besucht am 04.11.2009) 4. Kapitel 181 Stadteinwohner über das Aktuelle zu informieren, zum anderen „die Stadtmarke (marka Wrocławia) nach außen zu kreieren“.22 Bei der Betrachtung des touristischen Angebotes fällt bei den neun Führungen die Komprimierung der Information in Anpassung auf das Handyformat auf. Die Führungen bestehen aus einem Routenplan und zwischen sechs bis zwölf markierten „Points of Interest“ (POI’s). In Ausnahmefällen schmückt ein Farbbild die jeweils im SMS-Format gehaltenen Textinformationen der POI’s.23 Die konventionelle Art und Weise der Anwendungen, deren Form und Inhalt lediglich den Anforderungen des HandyMarktes im Jahr 2007 angepasst worden ist, führt zu der Erkenntnis, dass „mobi.wroclaw“ ein unausgereiftes Pilotprojekt darstellt, welches mit Scheuklappen an der Entwicklung der erweiterten Realität vorbei gegangen ist und keine nennenswerte Perspektive im Hinblick auf die „Imagekreation“ beinhaltet. Weitaus interessanter erscheint im Rahmen dieser Arbeit die Fokussierung auf das Potential innerhalb der Stadtbürger, die sich auf unkonventionelle Art und Weise der Stadtvermittlung und Aneignung verschrieben haben. Die Rede ist hier in erster Linie von „Wratislaviae Amici“ (WA) und „Breslau Curriculum Vitae“ (CV), die von der Stadtverwaltung bis vor kurzem nur bedingt mit Beachtung bedacht wurden. Das Konzept der Gesellschaft WA und die Idee von Breslau CV bieten einen spannenden Rahmen für innovative Ansätze, die an dieser Stelle aufgenommen und, im Hinblick auf die nahe Zukunft, weitergedacht werden. Der erste Ansatz steckt in der Digitalisierung einschlägiger Printstadtführer zu Breslau, die rückwärts gerichtet von heute bis zum ersten deutschsprachigen Stadtführer aus dem 19. Jahrhundert dokumentiert werden. Sie bilden eine Dokumentation der Stadtaneignung sowie das Ausgangsmaterial für die Analyse und Aufbereitung des Materials in begleitenden Seminaren an den Hochschulen Breslaus. Die Aufbereitung sollte stets die Originalinformation beinhalten, die sichtbar mit hinzugesetzten Korrekturen und Querverweisen ausgestattet sein könnte. Ein Ziel ist die chronologische Überlagerung der zeitspezifischen „Routen der Erinnerung“ und die GPS-gestützte Aufzeichnung jeder Route im gängigen „Krümmelpfad“ (GPX-Format) auf den Seiten des Internetportals der Gesellschaft WA. Im zweiten Schritt, nach der Digitalisierung, werden die Stadtführer mit dem Archiv des Portals vernetzt. Hier könnten alle im Kontext stehenden Objekte und Kommentare nach dem gängigen Prinzip miteinander verknüpft werden. In Zusammenarbeit mit einem Unternehmen aus dem Bereich der erweiterten Realität werden die aufgerüsteten „Routen der Erinnerung“ des Internetportals von WA für die mobile Anwendung 22 „Der Service von mobi.wrocław hat zwei Aufgaben: 1. Die Zustellung der wichtigsten Informationen aus dem Leben der Stadt – […], 2. Die Kreation der Stadtmarke durch die Veröffentlichung von die Stadt fördernden Informationen – Abteilungen für Touristik, die kulturelle Freizeitgestaltung, […].“ Auf: www.wroclaw.pl/m3375/p113171.aspx (besucht am 05.11.2009) 23 „Markthalle –Beispiel einer Basilika-Architektur mit einer Stahlbetonkonstruktion, die auf mächtigen parabolischen Bogen aufgesetzt ist. Das Baudenkmal wurde 1983 gründlich saniert und stellt heute den größten städtischen Obst- und Gemüsemarkt, der ganzjährig geöffnet hat. An der Markthalle, in Höhe der Sandbrücke (m. Piaskowy) befindet sich die Anlaufstelle für die Flussschiffart, mit Hilfe derer Ausflüge auf der Oder unternommen werden können.“ Auf: http://mobi.wroclaw.pl/artykulhala_targowa-20071026131009.html (besucht am 04.11.2009) 4. Kapitel 182 vorbereitet. Ein weiteres Ziel ist somit die Vernetzung, Verortung und gestalterische Anpassung der Inhalte an die Anwendung am realen Ort. Das hier skizzierte Projekt würde einem „Universalen-Stadtführer“ entsprechen, der zum einen Zeitreisen aus dem Medium des jeweiligen Stadtführers heraus anbieten könnte, zum anderen aus dem derzeitigen Angebot des Portals von WA zerren könnte. Eine vielversprechende Anwendung wäre beispielsweise die bereits heute auf dem Internetportal angebotene Überlagerung der historischen Bilder mit dem aktuellen Erscheinungsbild des jeweiligen Ortes (Abb. 4.15). Hier wären die „Bilder des Monats“ ein willkommener Anlass zum spielerischen Umgang mit der Anwendung. Die im Augenblick an der Technischen Universität Darmstadt stattfindende 3D-Comuterrekonstruktion der 1000-jährigen Baugeschichte Breslaus könnte einen weiteren Anlass geben, über eine Implementierung der virtuellen Modelle im „Reality Browser 3D“ von Wikitude nachzudenken.24 Der Besucher hätte zum ersten Mal die Möglichkeit, beispielsweise die Baugeschichte des Breslauer Doms über fünf Entwicklungsstufen interaktiv wahrzunehmen. Die fehlenden praktischen Informationen, die in einem aktuellen Stadtführer nicht fehlen dürfen, könnten von den Seiten der Stadtverwaltung übernommen werden. Der seriöse Umgang mit dem Archiv der Gesellschaft WA und den Stadtführern zu Breslau würde keineswegs einen aufgelockerten Umgang mit der Stadtvermittlung innerhalb thematisch konzipierter Führungen verhindern, die vor dem Hintergrund der kontextuellen Vernetzung eine neue Qualität erfahren könnten. Auf diese Weise könnten Quizrunden, wie der jährlich stattfindende Wettbewerb von TMW zum Wissen über die Stadt, auf diese medientechnologische Plattform gehievt werden. Besucher könnten aber auch bei der Führung „Auf der Spur von Eberhardt Mock“ die Stadt tatsächlich mit den Augen des Kriminalinspektors sehen, was sicherlich zu der ein oder anderen schlaflosen Nacht in Breslau führen könnte. Der zweite Ansatz verkörpert die Idee von „Breslau CV“, einem Projekt, das die Erinnerung an die multikulturelle Vergangenheit Breslaus sichern soll.25 Die Initiative soll die Erinnerungen der einstigen deutschen und jüdischen Einwohner und die Geschichtsvorstellungen junger Menschen, die in der heutigen Stadt leben, verbinden. Das Projekt könnte eine der letzten Versäumnisse der mentalen Stadtaneignung ausfüllen, falls der zeitliche Bogen von der Deportation der jüdischen Einwohner über die Flucht und Vertreibung der Deutschen zur parallel stattfindenden „Repatriierung“ der Polen gespannt wird. Es ist das letzte fehlende Kapitel, das bisher in keiner Besichtigungsroute thematisiert wurde. Ein Kapitel, das viele tragische Schauplätze hatte, die den Neubeginn der Nachkriegsstadt markieren und die wahre Einzigartigkeit der Stadt ausmachen. Eine Annäherung an das Thema ist an den symbolträchtigsten Orten des Dramas zu suchen, das den Anfang von Breslau wie wir es heute kennen bedeutet und zum Verständnis der Stadt maßgeblich beiträgt. Zum einen ist die seit kurzem wieder entdeckte Wallstrasse (ul. Włodkowica), als Zentrum der 24 Die 3D-Computerrekonstruktion visualisiert zunächst die ersten drei Entwicklungsstadien der präurbanen Siedlung an der Oder. Zum einjährigen Jubiläum der Neuöffnung des Städtischen Museums im ehemaligen Königlichen Schloss wird dann im April 2010 der Ursprung der Stadt im 10., 11. und 12. Jahrhundert gezeigt. Die Rekonstruktion bis in das Jahr 2015 wird folgen. 25 Das Projekt wurde von Agnieszka Kłos in Breslau 2006 initiiert und konnte bei dem städtischen Kulturfestival „Wrocław – non Stop“ mit vielen Aktionen für Aufsehen sorgen, auf: www.lernen-aus-der-geschichte.de/?site=pr20071031202156 (besucht am 04.11.2009) 4. Kapitel 183 jüdischen Gemeinde zu nennen, zum anderen der heute stillgelegte Freiburgerbahnhof, von dem aus die Evakuierung und Flucht der Deutschen 1945 begann, und schließlich der Odertorbahnhof, der einzige intakte Bahnhof nach der Kapitulation der Stadt, von dem aus die polnischen Neuankömmling den ersten Schritt in die Stadt setzten (Abb. 4.16).26 Das vorrangige Ziel ist es, an diesen Orten mittels mobiler Schnittstellen die Lebensgeschichten, ausgehend von dem Zeitpunkt der Deportation, Flucht, Vertreibung und Repatriierung, zu rekonstruieren. Ein zentrales Element könnten die Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen darstellen, die Vorort, begleitet vom weiteren Dokumentationsmaterial, zum Besucher sprechen könnten. In Zusammenarbeit mit der Gesellschaft WA wäre die Verbindung der Lebensgeschichten mit den Familienalben vorstellbar, die einen einzigartigen Blick aus der persönlichen Perspektive erlauben und die Personen in den städtischen Kontext stellen.27 Das weitläufige Ziel ist es, die Lebensgeschichten der Menschen und die Erinnerung an diese, an ihrem Wohnort zu verorten. Das Projekt bedient sich hierbei „digitaler Stolpersteine“, die analog den in Deutschland verbreiteten physischen Stolpersteinen des Künstlers Günter Demnig, die Erinnerung an die tragische Geburtsstunde Nachkriegsbreslaus lebendig halten (Abb. 4.17).28 Ein weiteres Potential bestünde in den virtuellen Brücken zu den Orten, in denen die deutschen Vertriebenen landeten und den Orten von denen die polnischen Neuankömmlinge deportiert wurden. Die „digitalen Stolpersteine“ wären eine sanfte Annäherung an dieses schmerzhafte Thema, welches die Frage aufwirft: „Wer musste gehen, damit ich kommen konnte? Wer kam, weil ich gehen musste?“ Nach dem Motto von Wikitude „Its not there - but its there“ wäre es eine hinfällige Aneignung des eigenen und doch noch fremden Raumes. 26 Vgl. Anm. 66, Kap. 2. (Ankunft an dem Odertorbahnhof) 27 Vgl. Anm. 359, Kap. 2 (Album der Familie Berkner in Swoitsch/Swojszczyce) 28 Am 12.10.2008 hält Günter Demnig einen Vortrag über die Entwicklung der Stolpersteine in Breslau. Am gleichen Tag wird der erste Stolperstein in der Stadt verlegt, der zweite folgt am 09.11.2009, auf: www.stolpersteine.com (besucht am 13.11.2009) 4. Kapitel 184 Resümee Der Ort und der ihm zugrunde liegende Raum spielen in der Erinnerungskultur ein signifikante Rolle, die im Bestreben einer Gesellschaft zur Verortung von identitätsstiftenden Ereignissen ihrer Existenz gründet. Infolge einer Siedlungskontinuität entwickelt sich durch die fortwährende Lokalisierung und Materialisierung der gemeinschaftsstiftenden Erinnerung eine Bedeutungslandschaft. Die Architektur als verorteter, steingewordener Bedeutungsträger stellt eine höhere Kristallisationsform einer solchen Externalisierung des kollektiven Gedächtnisses dar. Die Stadt als ein gebauter Lebensraum verkörpert einen kulturellen Raum mit einer hohen Dichte des materialisierten Gedächtnisses einer Gesellschaft. Die Stadt Breslau nach 1945 zeigt die Problematik der Inbesitznahme eines fremden kulturellen Raumes im Moment des schlagartigen Abbruchs seiner Siedlungskontinuität. Die mentale Erschließung der fremden Bedeutungslandschaft durch die neuen Einwohner stützte sich im Fall der Stadt Breslau auf die mediale Stadtvermittlung, die in erster Linie darauf Bedacht war, die Architektur als einen Schlüssel bei der Aneignung der Stadt zu nutzen. Eine besondere Relevanz in dem Prozess der Entschlüsselung des fremden Raumes spielt das Medium der Stadt- und Reiseführer, das seit der Industrialisierung und Mobilisierung der Massen zu der zentralen Vermittlungsinstanz unbekannter Länder und Städte aufgestiegen ist. Das Medium der gedruckten Stadtführer zu Breslau vermittelt seit den 70er Jahren den Raum mittels einer standardisierten Typografie, deren zentrale Elemente in den hierarchischen Absatzformaten, der grafischen Hervorhebung einzelner Wörter, dem Einsatz von korrespondierenden Routenplänen und weiteren visuellen Medien zu suchen sind. Die Standardisierung der 70er erfährt in den 90er Jahren eine Diversifizierung des Angebotes, die eine neue Vielfalt an typografischen Formaten mit sich bringt. Die klassischen Printstadtführer erschließen den Raum linear innerhalb festgelegter Routen. Demzufolge beinhaltet bereits die Routenlegung eine mediumspezifische In- und Exklusion von Fragmenten des kulturellen Raumes. Das Medium bedient sich inhaltlich einer Reihe von Aneignungsstrategien, mittels derer der fremde Raum erschlossen wird. Hierzu zählen in Breslau nach 1945 die „Personifizierung“, „Kontrastierung“ und „Positionierung“ des Raumes sowie die „Institutionalisierung“ und „Re- und Dekonstruktion“ von Architektur. Die klassischen Printstadtführer verkörpern den Anspruch einer ganzheitlichen Vermittlung der Stadt im Rahmen der medienspezifischen In- und Exklusion. Der verordneten linearen Führung liegt in den meisten Fällen ein Gesamtkonzept zugrunde, das in erster Linie einen Bildungs- und Erziehungsauftrag beinhaltet. Die Führung verfolgt die Vermittlung einer konstanten, sinngebenden Erinnerungslandschaft. Resümee 185 Demgegenüber steht das Medium des Internetstadtführers, das sich durch die Spontaneität der Wegführung und die Willkür der Stadterschließung infolge der hypermedialen Vernetzung auszeichnet. Die Selbstbestimmung des Weges wird um die Partizipation bei der Gestaltung von Sehenswertem erweitert, die eine neue spaß- und freizeitorientierte Dimension der Individualisierung mit sich bringt. Die Stadtbesichtigung dient vorrangig der Erfahrung einer flüchtigen, sensationellen Attraktionslandschaft. Die „erweiterte Realität“ stellt zurzeit den Höhepunkt der verorteten Allgegenwärtigkeit der digitalen Information dar, die in den kommenden ein bis zwei Jahren in Bezug auf die Raumvermittlung zum universellen Stadt- und Reiseführer aufsteigen wird. Im Bezug auf die mediale Konstruktion der Gedächtnislandschaft der Stadt Breslau nach 1945 lässt sich eine vierstufige topologische Entwicklung feststellen. Die polemischen Stadtbilder der „fundamentalen Aneignung“ (1945-1960) werden durch eine Piastifizierung und Regotisierung des Stadtraumes gekennzeichnet. Die Stadt der „modernen Aneignung“ (1960-1990) wird von einer fundierten Sachlichkeit getragen, die zum einen von dem souveränen Umgang mit dem Alten und zum anderen von der Fokussierung auf die Aufbauleistung der vorfabrizierten Plattenbausiedlungen profitiert. Die nostalgische Stadtlandschaft der „bürgerlichen Aneignung“ (1990-2010) trennt sich von der medialen Promotion einer in Beton gegossenen Glücksverheißung der Plattenbauvororte und widmet sich im Gegenzug einer Resezessionierung der Stadt. Die schizophrene Stadt der „multiplen Aneignung“ (2000-2010) zeichnet sich durch eine heterogene Gedächtnislandschaft aus, bei der einerseits die Grenze zwischen Fiktion und Realität immer stärker aufgehoben, andererseits eine fortschreitende Mythisierung der Stadt in thematischen Besichtigungsrouten vollzogen wird. --Im Hinblick auf die Vermittlung der Stadt im Medium der Stadtführer führt der medientechnologische Wandel des digitalen Zeitalters eine Diversifizierung des Angebotes nach sich. Die Neuen Medien der Stadtvermittlung werden somit den klassischen Stadtführer nicht ersetzten, wenn auch mit einer ernstzunehmenden Konkurrenz von ihnen zu rechnen ist. Die neuen Impulse, wie die Individualisierung des Angebots und die Partizipation im Gestaltungsprozess der medialen Stadtbildkonstruktion, führen zu einer neuen Erfahrung des kulturellen Raumes, die der Spaß- und Freizeitgesellschaft der heutigen Generation mehr zu entsprechen scheint. Das hier zur Sprache kommende Bedürfnis nach selbstbestimmter Generierung des Sehenswerten und der aktiven Teilnahme an der Stadtvermittlung kommt vornehmlich in den so genannten Stadtblogs zum Ausdruck, die im Rahmen dieser Arbeit nicht näher betrachtet werden konnten.1 Bemerkenswert ist das neue Gebot der Zeit, das der Ökonomie der Aufmerksamkeit anheim gefallen ist. Dies äußert sich in Breslau im Streben nach neuen Symbolen, wie der von der Stadtverwaltung 1 siehe hierzu die beliebtesten Blogs zu Breslau: http://wroclawzwyboru.blox.pl, www.wrocek.pl (besucht am 16.09.2009) Resümee 186 angeordneten Imagekreation einer „Zwergenstadt“, oder der Promotion der Zwischenkriegsstadt von der fiktiven Gestalt des Kriminalinspektors Eberhard Mock. Beobachtet wurde die Auflösung der Stadt in Themenparks, was vorrangig der individuellen Befriedigung der Sensationslust dient und gleichzeitig zu einer thematischen Fragmentierung der Stadt führt, was letztendlich nicht der Definition eines klassischen Stadtführers entspricht. Die Stadtvermittlung droht dabei zu einen Konsumspektakel zu werden, bei dem bisherige „Statisten“ kurzerhand zu „Protagonisten“ erklärt werden. Im Umkehrschluss verursacht die Inflation der Attraktion ein Abflachen der Erzählgeschichte, in der die Gefahr lauert, dass wir vor lauter Sensationen die Stadt nicht mehr sehen. Resümee 187 Anhang Abkürzungsverzeichnis AAN Archiwum Akt Nowych (Archiv der Neuen Akten) Anm. Anmerkung Bl. Blatt Bd. Band Bde. Bände H. Heft ebd. ebendieser FG IKA Technische Universität Darmstadt, Fachgebiet Informations- und Kommunikationstechnologie in der Architektur, Prof. Manfred Koob f. nach einer Seitenzahl: und folgende Seite ff. nach einer Seitenzahl: und folgende Seiten Hg. Herausgeber hg. v. herausgegeben von S. Seite u.a. unter anderem u.s.w. und so weiter vgl. vergleiche z.Bsp. zum Beispiel Kap. Kapitel KBUA Komitet Budwonictwa, Urbanistyki i Architektury (Komitee für Bauwesen, Urbanistik und Architektur) KDM Kościuszkowska Dzielnica Mieszkaniowa (General Tadeusz Kościuszko Wohnsiedlung) MRN m. Wr. Miejska Rada Narodowa miasta Wrocławia (Städtischer Nationalrat der Stadt Breslau) PAN Polska Akademia Nauk (Polnische Akademie der Wissenschaften) PKB Popularna Biblioteka Krajoznawcza (Polnische Bibliothek für Landeskunde) PKWN Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego (Polnisches Kommitee der Nationalen Befreiung) Tab. Tabelle TMW Towarzystwo Miłośników Wrocławia (Gesellschaft der Liebhaber Breslaus) 1 TZP Tymczasowy Zarząd Państwowy (Provisorische Staatsverwaltung) WZO Wystawa Ziem Odzyskanych, Wrocław 1948 (Ausstellung der Wiedergewonnen Gebiete, Breslau 1948) PTTK Polskie Towarzystwo Turystyczno-Krajoznawcze (Polnische Gesellschaft für Touristik und Landeskunde) DOIT Dolnośląski Ośrodek Informacji Turystycznej (Niederschlesischen Informationszentrum der Touristik) Literaturverzeichnis Agulhon, Maurice: Paris. Durchquerung von Ost nach West, in: Erinnerungsorte Frankreichs, hg. v. Pierre Norá, München 2005 Antkowiak, Zygmunt: Ulice i place Wrocławia, Wrocław 1970 Ebd.: Stare i nowe osiedla Wrocławia, Wrocław 1973 Ebd.: Patroni ulic Wrocławia, Wrocław 1982 Ebd.: Pomniki Wrocławia, Wrocław 1985 Ebd.: Kościoły Wrocławia, Wrocław 1991 Ebd.: Wrocław od A do Z, Wrocław 1997 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. 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Gajów, 7 nowych szkół we Wrocławiu, 30.12.1959 Ładne, ale czy praktyczne - na placu budowy os. na Piaskowej Górze, 10.11.1960 Ruszła budowa trzonolinowca, 16.04.1963 Na budowie Wojewódzianki, 06.08.1963 Ruszyła budowa dzielnicy Południe, 27.04.1964 Ruszyła budowa Diory, 02.05.1964 Nowa szkoła 1000-lecia na Krzykach, 07.03.1964 Budowa Domu Studentek, 07.07.1964 Zabudowa Placu Grunwaldzkiego, 23.08.1964 Szkoła 1000-lecia im. Polonii Belgijeskiej, 19.10.1964 Najwiekszy budynek w kraju, 20.03.1965 Na budowie wrocławskiego oś. TV, 31.08.1965 „Wrocławska Sobotynka“ - Na budowie os. przy ulicy Wieczorka. ZPO Nr. 2. W szkole nr. 37 - remonty. Na budowie os. Wojszyce - praktyki studenckie. Kąpielisko na stadionie Olimpijskim, 07.08.1971 Budujemy własny dom - Patronat ZMS nad budownictwem mieszkaniowym. Problem terenów budowlanych. Front robót. O całości akcji mówi Lech Bartnik, 02.12.1971 O własny domek - Budownictwo jednorodzinne, spółdzielcze, przyzakładowe, indywidualne. Zakres pomocy państwa i urzędów administracyjnych, 02.03.1972 10 Wrocław 2000 - Raport o stanie miasta. O stanie i przyszłości urbanistyki Wrocławia, o całej miejskiej aglomeracji dyskutują: prof. Andrzej Frydecki, doc. Tadeusz Zipser, inż. Kazimierz Wilkowski i inż. Stefan Miller, 27.03.1972 Dzień dobry pierwsza zmiana - Tempo prac na nowych osiedlach mieszkaniowych WPBU. Rozmowy na tematy kadrowe, 08.02.1973 „Wrocławska Sobotynka“ - Mieszkania. Na budowie. W sklepie meblowym. Upodobania mieszkaniowe Wrocławian. Wnetrza mieszkań, 28.04.1973 Na wrocławskiej antenie - Mój dom - Budownictwo mieszkaniowe, 26.10.1973 Wrocławskie popołudnie - O tym jak rośnie Wrocław, o swoim stosunku do miasta mówią Wrocławianie, 14.07.1974 „Wrocławska Sobotynka“ - Nowe mieszkania. Na budowie os. Huby. W biurze Sp. Mieszkaniowej. Zakupy dla domu. Zaplecze handlowe nowych osiedli, drogi i ulice. Mgr. Władysław Piętka o realizacji inwestycji, 15.02.1975 Pejzaż miasta – Spacer po Wrocławiu. Stare i nowe budowle. Stare miasto. Trasa WZ, hala targowa, wędkowanie nad Odrą. Roymowy y mieszkańcami i wspomnienia z pierwszych lat odbudowy, 16.04.1975 Kolorowe osiedla - Z architektem Zenonem Nasterskim na Nowym Dworze. Rozmowa na placu budowy o projekcie, nowych technologiach, pracach przygtowawczych. Rozmawiają: inspektor nadzorczy i kierownik budowy, 01.01.1976 „Wrocławska Sobotynka“ - Jakość mieszkań. Wizyta w os. Różanka, 21.08.1976 Dobry, ale nie za bardzo - Przedsiębiorstwo Budownictwa Uprzemysłowionego. Dyr. R. Tarkowski mówi o jakości wykonania w budownictwie, 21.11.1977 Budowlany rok - Tadeusz Opolski, Witold Molicki, Romuald Temkin, Stanisław Janiak analizują przyczyny niepowdzeń w budownictwie, 29.12.1977 Stare problemy na Nowym Dworze, 01.06.1978 (Reporterin Anna Piwowarska) Jak być mistrzem - problem budownictwa, 19.10.1978 (Reporterin Anna Piwowarska) W pustych scianach, 16.11.1978 (Reporterin Anna Piwowarska) Rozliczenia - Nowy Dwór, 17.03.1979 (Reporterin Anna Piwowarska) Kto tu zamieszka - O jakości budownictwa, 18.02.1980 (Reporterin Anna Piwowarska) Widzenie z bliska - 20 tys. młodych rodzin oczekuje we Wrocławiu na mieszkania spółdzielcze. Mieszkania rotacyjne, zasady ich przydzielania, 26.02.1980 Stare domy wyczekują - remonty starych budynków, 12.04.1980 (Reporterin Anna Piwowarska) Inwestycja i co dalej - niewykorzystane moce produkcji wrocławskich fabryk domów, 14.06.1980 (Reporterin Anna Piwowarska) Domek dla Kowalskiego, 17.06.1980 (Reporterin Anna Piwowarska) Co pod ziemią - problemy związane z uzbrojeniem osiedli, 28.06.1980 (Reporterin Anna Piwowarska) Inwestycja i co dalej - losy niedoszłego „mister Wrocławia“, który ma poważne usterki, 20.09.1980 (Reporterin Anna Piwowarska) „Sobotynka“ - Młodzieżowe patronaty w budownictwie mieszkaniowym, jako droga do szybkiego uzyskania mieszkania przy wkładzie własnej pracy, 22.11.1980 XXXX-lecie Dolnego Śląska - Fragment wypowiedzi Bolesława Drobnera. O architekturze i budownictwie we Wrocławiu mówi Stanisław Ołpiński. Rozwój gospodarki i kultury na Dolnym Śląsku. 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Halbjahr 1946) „Kalendarz Wrocławski“, Wrocław 1958 (Erstausgabe 1958, bis heute 43 Bde.) „Gazeta o starym Wrocławiu”, in: Gazeta Dolnośląska (Erstausgabe 3./4. Juni 2000) 14 Akademischer Werdegang Piotr Kuroczyński, geboren am 19.01.1979 in Łódź (Polen) 1999 Abitur am Gutenberg-Gymnasium in Mainz 1999-2004 Architekturstudium an der Technischen Universität Darmstadt (TU Darmstadt) 2005 Diplom „mit Auszeichnung“ an der TU Darmstadt (Dipl.-Ing. Architektur) 2005-2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt am Fachgebiet Informations- und Kommunikationstechnologie in der Architektur, Prof. Manfred Koob 2006 Preisträger des Wettbewerbes "Gebaut auf IT, 2006" (Architektur) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie 2007-2008 Assoziierter im interdisziplinären DFG-Graduiertenkolleg "Topologie der Technik" an der TU Darmstadt 2007-2009 Dissertationsarbeit „Architekturvermittlung im gebauten und medialen Raum. Internetbasierte und Print-Stadtführer zur Stadt Breslau (Wrocław) nach 1945“ am Fachbereich Architektur der TU Darmstadt 15 16