Paweł Huelle - Instytut Książki
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Paweł Huelle - Instytut Książki
Das Buchinstitut (Instytut Książki) ist eine staatliche Kultureinrichtung, die vom Kulturminister der Republik Polen ins Leben gerufen wurde. Seit Januar 2004 ist das Institut in Krakau angesiedelt, 2006 entstand auch ein Büro in Warschau. Die Hauptziele des Institutes liegen darin, die Lesebereitschaft zu fördern, das Buch als Medium und die Leselust in Polen zu verbreiten sowie weltweit für die polnische Literatur zu werben. Diese Ziele werden umgesetzt durch: » Vorstellung und Werbung für die besten polnischen Bücher und ihre Autoren » Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten Umgang mit dem Buch als Medium verdeutlichen » Programm zur Leseförderung Tu Czytamy! / Hier wird gelesen! » jährlicher Literaturfestival-Zyklus 4 Pory Książki / Die vier Jahreszeiten des Buches » Präsentation der polnischen Literatur im Ausland » Übersetzerkolleg » Seminare für Verleger » ÜBERSETZUNGSPROGRAMM © POLAND » Informationszentrum für Kinderbücher » einen leichteren Zugang für ausländische Interessenten zu Informationen über das polnische Buch und den Buchmarkt. » Informationsportal zur polnischen Literatur www.bookinstitute.pl 2 6 10 14 18 22 26 30 34 38 42 46 50 54 58 62 66 70 74 78 82 86 90 94 98 102 106 110 114 118 122 126 130 134 136 138 140 144 148 Jerzy Pilch Paweł Huelle Janusz Anderman Inga Iwasiów Józef Hen Marian Pankowski Andrzej Bart Wojciech Kuczok Tomasz Piątek Marek Nocny Andrzej Bobkowski Manuela Gretkowska Jarosław Maślanek Aleksander Kościów Ignacy Karpowicz Jacek Podsiadło Sylwia Chutnik Piotr Milewski Jerzy Franczak Leszek Szaruga Sławomir Górzyński Krystyna Sakowicz Krzysztof Lipowski Artur Daniel Liskowacki Jarosław Marek Rymkiewicz Witold Bereś, Krzysztof Burnetko Piotr Kletowski, Piotr Marecki Krzysztof Varga Andrzej Dybczak Renata Radłowska Mateusz Marczewski Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo Ewa Toniak Krzysztof Tomasik Julia Hartwig Bożena Keff Poesie Chopin Adressen der Verlage und Agenten Marsch, Polonia Erzählungen von einem kalten Meer Das ist alles Bambino Der Tischtennisspieler Da ist keine Jüdin Die Fliegenfängerfabrik Schläfrigkeit Palais Ostrogski Der Traumkontrolleur Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter Die Bürgerin Haschischopenken Entschuldige dich: ein Spielerratgeber Gesten Das Leben und insbesondere der Tod Angélique de Sancés Der Taschenfrauenatlas Eins ist keins Der Umkleideraum Das Foto Der Komponist Das Buch der geretteten Träume Honig und Wachs Zappzarapp Kinderszenen Marek Edelman. Einfach das Leben Reader der Zeitschrift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] Turulgulasch Gugara Nowa Huta – Eine Telenovela Die Unsichtbaren PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus Stimmen aus dem Schrank. Nicht zu Ende erzählte Biografien. Skizzen Blitze 3 Ein Werk über Mutter und Vaterland Inhalt 1 Marsch, Polonia Jerzy Pilch 2 Foto: Olga Majrowska zurück zum Inhaltsverzeichnis stellungsstücke, im anderen dienen die anachronistischen, national-katholischen Ideen der theatralischen Vorbereitung des Gemetzels. Im nationalen Imaginarium sind alle Sprachen einer kollektiven Identität mittlerweile austauschbar geworden und befinden sich durchweg im Stadium der Selbstauflösung. Jerzy Pilch (geb.1952) Erzähler und Publizist, einer der bekanntesten polnischen Gegenwartsautoren. zurück zum Inhaltsverzeichnis Marsch, Polonia Przemysław Czapliński 3 Jerzy Pilch Zeit der Handlung: Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Ort der Handlung: Polen. Doch sind das keine konstanten Parameter. Wie überhaupt nichts in diesem Roman sicher ist, außer dem Moment, wo der Protagonist am Vorabend seines 52. Geburtstags mit dem festen Vorsatz das Haus verlässt, sich zum Geschenk, eine neue Frau kennenzulernen. Das Vorhaben scheitert, dafür aber gerät der Held auf einen großen Empfang, der von Beniamin Bezetzny gegeben wird, dem verhassten Pressesprecher der kommunistischen Machthaber zu Zeiten des Kriegsrechts und heute Besitzer eines riesigen Vermögens, zu dem er es im freien Polen als Pressemagnat gebracht hat. Die Kraft der Anziehung des Bezetznyschen Hauses ist so groß wie die Kraft, mit der die Menschen demoralisiert werden. Wenn sie die Schwelle seines Palastes überschreiten, verlieren sie ihre Identität, und mit ihr den Nonkonformismus und die Fähigkeit zur Verteidigung ihrer eigenen Ansichten. Es bleiben ihnen rituelle Streitgespräche, die um so heftiger ausfallen, als sie völlig irrelevant sind. Sie tragen sie über den Kellern aus, in denen der Hausherr ein Panoptikum des 20. Jahrhundertes versammelt hat: Wachsfiguren polnischer Schriftsteller, weltberühmter Präsidenten, einheimischer Kommunisten. Das Herz des Untergrunds aber, sein bestbewachter Ort, ist ein spezieller Raum, in dem sich ein geheimnisvoller Märtyrer aufhält – eine Leiche, eine Halbleiche, ein Opfer vergangener Zeiten. Man weiß nicht, wer er ist. Wer immer es ist, er funktioniert im Bewusstsein aller als Gewissensbiss und als persönliche Reliquie zugleich. Marsch, Polonia ist eine Art Diagnose der Vorstellungskraft von Gruppen, die sich anmaßen, kollektive Ideen zu formulieren. Eine phantasmagorische Zeichnung zeigt zwei verfeindete Lager: Im einen, in Bezetznys Palast versammelt, verwandeln sich alle früheren Vorstellungen von den Konflikten in museale Aus- Marsch, Polonia Im Jerzy Pilch 4 Namen des Vaters, des Sohnes und des erzählerischen Geistes, Amen. Am Vorabend meines 52. Geburtstags beschloss ich, am nächsten Tag die Bekanntschaft einer neuen Frau zu machen. Dieses Vorhaben hatte schon seit längerer Zeit in mir rumort, doch seine endgültige Tonlage hatte es erst allmählich erlangt. Es war kein billiger Zeitvertreib, kein Spiel und keine Wette. Ich übertrieb es nicht mit der Leichtigkeit: Ich hatte die ehrgeizige und ernst gemeinte Absicht, innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein intelligentes, schlankes und mindestens ein Meter siebzig großes Mädchen im Alter von knapp unter dreißig zu treffen, es kennen zu lernen und zu verführen. Ich wollte mir ein intensives Geschenk machen und wollte testen, ob ich noch das Zeug hätte, mir ein intensives Geschenk zu machen. Dem Augenschein nach war ich in Form, aber ich spürte, wie das mir innewohnende Monster langsam seinen Geist aufgab. Zwar erfreute ich mich noch eines üblen Rufs, in Wahrheit aber zehrte ich vom Ruhm vergangener Tage. Allem Anschein zum Trotz war Zynismus nie meine starke Seite gewesen; die Ironie und die instrumentale Perspektive meiner Geschichten von Frauen, sollte das ihnen zugefügte Unrecht kaschieren; jetzt maskierte ich mit den Resten an Zynismus, den Überbleibseln an Ironie und dem Anschein instrumentalen Handelns meine Verzweiflung und meine Sehnsucht. Seit mindestens einem Jahr verzehrten mich böse Ahnungen, bebte mein Herz und die Transzendenz trat immer deutlicher zutage. Ich suchte Erleichterung darin, meine Erinnerungen zu schreiben und Musik zu hören. Die Erinnerungen beruhigten die Nerven kurz, aber folgenlos; die Musik verschaffte mir eine lange und tiefe Erholung, aber mit fürchterlichen Folgen: Die Leere nach der „Zauberflöte“ ist unerträglich, der Kater nach einer Überdosis Gluckscher Arien geradezu tödlich. Trotzdem zog es mich mit aller Macht zur höchsten Kunst der Künste, zog es mich zum Hören wie einst zum Trinken. Dieser Trieb spiegelte sich auch in meinem Liebesleben wider: Es überwogen die Musen der Musik. Ich war zu jener Zeit hin- und hergerissen zwischen einer eine große Karriere beginnenden Balletttänzerin, einer eine zurück zum Inhaltsverzeichnis große Karriere vorantreibenden Opernsängerin und einer auf eine große Karriere verzichtenden Geigerin mit bewegter Vergangenheit. Außerdem, und das versteht sich von selbst, rief ich ständig lauter verschiedene Mädchen an, verführte Models, Kellnerinnen und Gymnasiastinnen; unter dem Vorwand, Fremdsprachenunterricht nehmen zu wollen, hielt ich ein unaufhörliches Casting von Sprachlektorinnen ab; ließ mich auf riskante Vertraulichkeiten mit einer appetitlich gerundeten Medizinstudentin ein; fand großen Gefallen an Gesprächen mit einer zartgliedrigen Adeptin der angelsächsischen Literaturgeschichte, die überhaupt nicht mein Typ war; konnte mich dem anziehenden Charme einer kohlrabenschwarzhaarigen Virtuosin der Interpunktion, die ich rein zufällig kennengelernt hatte, nicht entziehen; wartete, bis eine noch ganz junge Leiharbeiterin aus Dublin zurückkehrte (für die Telefonate mit ihr gab ich Unsummen aus); eine zu ihrer Zeit berühmte Schnellläuferin, mit der ich 1999 eine heiße Affäre hatte, wohnte gleich um die Ecke und stellte noch immer eine ziemliche Versuchung dar; mehrfach kehrte ich in Gedanken zu Majka (einer hochgewachsenen, biegsamen Brünette) und Magda (einer massiven, untersetzten Albinofrau) zurück, die mich im letzten Sommer besucht hatten und auf mich so scharf gewesen waren wie auf sich; ganz ernsthaft zog ich die Ehe mit einer estländischen Millionärin in Erwägung, ging den Straßendirnen nicht aus dem Weg und wurde doch immer noch von das Chaos verstärkenden Anwandlungen heimgesucht, dass die entscheidende Bekanntschaft erst noch vor mir läge. Jedoch waren die Sängerin, die Balletttänzerin und die Geigerin die drei Pfeiler meiner Verwirrung. Die Verbindung mit der Sängerin (von den Kritikern „Engelskehle“ genannt) war die längste, die intensivste und auch die komplizierteste. Die Balletteuse währte nur kurz: außer dem Orgasmus hatte keines der menschlichen Gefühle Zugang zu ihr. Die Geigerin war gerade erst erschienen und der Reiz, der von ihr ausging, war himmlisch. Tiefe Gefühle waren wohl ihre Domäne nicht, doch der in ihrem Dekolleté sichtbare Schatten zwischen ihren Brüsten hatte die Kraft großer gesellschaftlicher Bewegungen. Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp zurück zum Inhaltsverzeichnis Marsch, Polonia Świat Książki Warsaw 2008 130 × 215 • 192 pages paperback ISBN: 978-83-2471-161-1 Translations rights: Świat Książki 5 Jerzy Pilch Von dem ganzen Trio war sie die älteste, die schönste und die durchgeknallteste. Sie war schon deutlich über vierzig, hatte einen Teint von sepiafarbenem Glanz, zerbrechliche Züge und die Figur einer Fitnesstrainerin. Manchmal wollte man sie für die klügste Person der Welt halten, dann wieder bestand kein Zweifel: Sie schnallte überhaupt nichts. Sie behauptete steif und fest, der Heilige Geist habe sie mit einer Gabe gesegnet, und sie könne die menschlichen Gedanken lesen; sie ging zu einem Psychotherapeuten, den sie während der qualvollen Sitzungen nervlich fertig machte; fünf Tage in der Woche ernährte sie sich von Weizensprossen, dienstags und donnerstags machte sie Krafttraining; an den Wochenenden stand sie nicht aus dem Bett auf, trank den Magenbitterschnaps direkt aus der Flasche und fraß sich voll wie ein Tier. Am Telefon gab sie unglaubliche Schweinereien von sich, schrieb schockierend pornografische SMS und verschickte E-Mails angefüllt mit jeder erdenklichen Verderbtheit – doch wochenlang ließ sie sich nicht einmal küssen. Zu allem Überfluss war sie begeistert von japanischen Restaurants und verabredete sich nur dort. Gemeinsame Ausflüge ins Kino, ins Theater, ein Konzert oder ein Spaziergang, das allereinfachste der Welt, kam bei ihr alles nicht in Frage. Immer redete sie sich damit heraus, keine Zeit zu haben, obwohl letztlich nicht klar war, was sie eigentlich trieb; seit über einem Jahr war sie nicht mehr aufgetreten, hatte sie nicht geübt oder ihr Repertoire erweitert, hatte sie keine Proben gehabt und keinen Unterricht gegeben. Sie war verheiratet, lebte aber seit Jahren in Trennung. Selbst wenn sie mit ihrem getrennt lebenden Mann irgendwelche geschäftlichen Tätigkeiten verbanden, so waren diese nicht zeitaufwendig. Und trotzdem war mein Spielraum begrenzt: In Frage kamen ausschließlich SMS, E-Mails und japanische Lokale. Erzählungen von einem kalten Meer Paweł Huelle 6 Paweł Huelle ERZÄHLUNGEN VON EINEM KALTEN MEER Foto: Elżbieta Lempp zurück zum Inhaltsverzeichnis Jerzy Jarzębski Paweł Huelle (geb. 1957) einer der populärsten polnischen Gegenwartsautoren, in über ein Dutzend Sprachen übersetzt. zurück zum Inhaltsverzeichnis Erzählungen von einem kalten Meer sches Abenteuer – mit einer Frau, die er zufällig kennengelernt hat und die aus enttäuschter Liebe verrückt spielt. Die Hieroglyphe hat bei Huelle also keine eindeutige Lösung – der Held betrachtet die Zufälle des Lebens wie die Empfehlungen des chinesischen Buchs der Wandlungen, das nur vage Antworten gibt, die einer weiteren Interpretation bedürfen; doch es geht wohl nicht so sehr um den Sinn der Ereignisse, als vielmehr darum, wie der geheimnisvolle Doktor Tscheng in der gleichnamigen Erzählung sagt, „sich von den Gedanken zu befreien und die Wirklichkeit anzunehmen.“ 7 Paweł Huelle Paweł Huelle ist mit Sicherheit einer der besten polnischen Prosaisten der Gegenwart, was sein neuer Band von Erzählungen bezeugt. Teilweise werden in ihnen Motive weitergeführt, die wir von früher kennen, die meisten Texte bringen jedoch neue Themen. Es sind nicht – wie in der bisherigen Prosa von Huelle – fast ausschließlich „Danziger“ Motive. Seine Helden begeben sich diesmal in alle möglichen Himmelsrichtungen: auf die Insel Øland, nach Zürich, nach New York, in die Sahara und so weiter. Ihre Wirklichkeit wird also stark erweitert, wenn auch die meisten Motive den Leser dennoch wieder in die Heimatstadt des Autors führen. Danzig ist für Huelle also immer noch der Ort, wo die Fabel entsteht. Sicher auch deshalb, weil dort verschiedene Gesellschaften lebten, verschiedene Völker, Kulturen und Religionen – bisweilen in tragischen Konflikten, wenn sie auch durch Familienbande oder den gemeinsamen Wohnort eng miteinander verbunden waren. In Danzig geschahen auch historische Ereignisse von großer Bedeutung. Doch die Geschichte bildet in diesen Texten nur den Hintergrund – manchmal zwar einen sehr wichtigen, wie in der Erzählung Fahrradpost, die zur Zeit der Entstehung der Solidarność spielt, aber nicht immer ist er wesentlich. Im Zentrum dieser Geschichten steht das menschliche Schicksal, als Hieroglyphe betrachtet – denn der Autor sucht darin einen Sinn, eine Art Bekrönung der Konstruktion, und findet meist ein Geheimnis, eine unerwartete oder gar absurde Koinzidenz von Ereignissen. Der Nachfahre einer pommerschen Adelsfamilie, Joachim von Kotwitz, ermüdet und angeekelt von den nationalen Konflikten in seiner Heimat, opfert sein Leben und seinen Besitz der Suche nach einer mythischen „Ursprache“, die allen Menschen gemeinsam ist. Aber in der Sahara fällt er berberischen Räubern in die Hände und stirbt in der Fremde (Abulafia). In der Erzählung Franz Carl Weber erbt der Held unverhofft von seinem Vater eine große Summe, aber auf der Suche nach seinem goldenen Vlies, die ihn nach Zürich führt, verhält er sich nicht wie ein Millionär, sondern versucht sich seinen Kinder- und Jugendtraum zu erfüllen: eine elektrische Eisenbahn und ein romanti- Erzählungen von einem kalten Meer Die Paweł Huelle 8 Straßenbahnen und Busse verkehrten nicht mehr. Deshalb herrschte im Waggon der S-Bahn ein fürchterliches Gedränge. Es gab keine andere Möglichkeit, ins Zentrum von Danzig zu gelangen, und schließlich wollten alle dorthin, zum Hauptbahnhof, von wo es nur sieben Minuten zu Fuß bis zum Eingang der Werft waren. Und eigentlich sprachen alle, flüsternd oder halblaut, über das gleiche: Im Moment wurde noch nicht geschossen – aber sie würden sicher irgendwann anfangen, ohne Zweifel, die Frage war nur, zu welchem Zeitpunkt! Auch ich erinnerte mich an den Dezember vor genau zehn Jahren: Ich war mit Vater in die Dachkammer gegangen, um durch das offene Fenster den Lärm aus der Innenstadt zu hören. Die frostige Luft trug das Knallen einzelner Schüsse heran, die Sirenen der Krankenwagen, das Dröhnen der Panzer. Über der Stadt hing ein roter Feuerschein. In dem dunklen Raum dahinter erschien immer wieder ein Hubschrauber. Er warf Leuchtraketen ab, und in dem kurzen Moment, wo der Himmel erhellt war, hörten wir deutlich zwei oder drei Salven aus schweren Maschinengewehren. Wenn diese Geräusche verstummten, kam es uns manchmal vor, als hörten wir den wie ein Refrain wiederkehrenden Schrei der Menge. „Merk dir“, hatte mein Vater gesagt, als wir die zwei Stockwerke zu unserer Wohnung hinuntergingen, „das ist der Anfang vom Ende für sie.“ Mit „sie“ meinte er natürlich nicht die Arbeiter. Das abgebrannte Parteigebäude sah ich ein paar Tage danach, als die Sperrstunde schon aufgehoben war, vom Fenster der Straßenbahn aus. Auf einer Kreuzung der Hucisko-Straße, gleich neben der Haltestelle, fand ich einen Arbeiterhelm, platt wie eine zertretene Streichholzschachtel. In der Luft hing überall Brandgeruch und der Gestank von Tränengas. Die Erhöhungen der Lebensmittelpreise hatte man zurückgenommen. Die Leute machten eilig ihre Weihnachtseinkäufe. Ebenso eilig wurden in allen Klassen meiner Schule die Porträts der ihres Amtes enthobenen Parteiführer abgehängt. Unser Zeichenlehrer zwinkerte, als wir sie auf einem großen Scheiterhaufen neben der Müllkippe der Schule verbrannten. Cyrankiewicz brannte wesentlich länger als Gomułka. Vielleicht, weil seine Fotografien von schlechterem Papier waren. Abends, zuhause, sprachen die Leute zurück zum Inhaltsverzeichnis alle über das gleiche: Dass die Arbeiter vor dem Danziger Parteikomitee die Internationale sangen, dass in Gdynia auf sie geschossen wurde, dass die Verhafteten gefoltert wurden, dass die Toten heimlich begraben wurden, im Begleitschutz der Geheimpolizei. Dass sowjetische Schiffe auf der Reede in Danzig Stellung bezogen. Dass der neue Parteisekretär im Fernsehen dem ganzen Volk Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit versprach. All das spulte sich in meinem Gedächtnis ab wie ein alter, längst vergessener Schwarzweißfilm aus Kinderzeiten. Jetzt, als die Masse der verschwitzten Menschen aus den Waggons der S-Bahn auf den Bahnsteig quoll und in der Augusthitze zum Eingang der Werft ging, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass auf die bunte Menge von Einheimischen, Touristen und Sommerfrischlern jemand schießen könnte, schon gar nicht bei Tageslicht, vor den Kameras ausländischer Reporter. Außer dem offensichtlichen Unterschied, dass jetzt Sommer und damals Winter war, gab es noch einen anderen, wesentlich wichtigeren. Die Arbeiter hatten sich in der Werft verschanzt, sie gingen nicht auf die Straße, sondern die Straße kam zu ihnen und brachte ihnen unentwegt Essen, Geld, Informationen. Am Werfteingang hatte man neben einem Blumenstrauß und der polnischen Flagge ein Porträt des Papstes aufgehängt. Die durch das Megaphon verlesenen Kommuniqués klangen wie eine Litanei: buchstäblich von Stunde zu Stunde schlossen sich dem Streik Betriebe aus ganz Polen an. Der gipserne Lenin im Sitzungssaal der Werft musste geduldig zusehen, wie sich die Forderung herauskristallisierte: Ja, wir wollen Lohnerhöhungen, aber vor allem wollen wir eigene, völlig unabhängige Gewerkschaften. „Vorläufig sieht es aus wie ein Picknick“, hörte ich Fredeks Stimme hinter mir, „aber wie wird es wohl enden?“ „Wenn sie die Bewegung zerschlagen wollen“, ich drehte mich um und sah, dass er mit dem Fahrrad zur Werft gekommen war, „dann können sie es nur nachts tun, wenn niemand hier ist.“ „Kann ja sein“, sagte Fredek ganz und gar nicht betrübt, „aber zuerst müssen sie das Tor mit einem Panzer stürmen. Und sie müssen sie aus allen Ecken holen. Bei passivem Widerstand dauert das mehrere Stunden. Und wenn die Jungs Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall zurück zum Inhaltsverzeichnis Erzählungen von einem kalten Meer Znak Cracow 2008 126 × 206 • 208 pages hardcover ISBN: 978-83-240-1031-8 Translation rights: Znak 9 Paweł Huelle ein paar Flaschen Acetylen abfackeln? Oder ein Schiff entern und die Taue kappen? Außerdem“ – wir waren endlich am Zaun neben dem Tor angelangt, wo Fredek sein Fahrrad abstellte, indem er es an das Stahlnetz lehnte – „außerdem gibt es noch etwas“, sagte er und zeigte auf das Papstporträt. „Wir haben ihn, und das ist mehr als eine Division!“ „Ich würde lieber auf die vielen streikenden Fabriken zählen. Und die, die bereit sind, sich anzuschließen.“ „Aber das passiert ja gerade“, Fredek holte eine Schachtel Sport aus der Tasche und wir steckten uns eine an, „siehst du nicht, dass das eine richtige Revolution ist?!“ So vergingen einige Viertelstunden. Wir rauchten und redeten. Immer neue Delegationen wurden durch das Tor gelassen und mit Beifall begrüßt. Durch das Megaphon flossen unablässig Kommuniqués, Beschlüsse des Komitees, Gedichte und Gebete. Und die Atmosphäre in der Massenversammlung wurde noch dichter, als auf der Innenseite des Tors ein Arbeiter mit Binde am Arm auftauchte: mit von Druckerfarbe beschmierten Händen warf er Flugblätter in die wogende Menge. Kein einziges Stück Papier blieb auf dem Boden liegen. Jeder wollte, und wenn auch nur als Andenken, ein Bulletin haben, das von keinem Zensor verschandelt worden war. „Nicht schlecht, das Vervielfältigungsgerät“, meinte Fredek, „nur zu viel Farbe nehmen sie, sie haben noch keine Erfahrung.“ „Und wenn sie das jetzt im Radio lesen würden, in ganz Polen“, scherzte ich, „was meinst du?“ „Das Radio gehört uns noch nicht“, sagte Fredek, plötzlich ernst geworden, „aber hast du eigentlich ein Fahrrad?“ „Nein“, antwortete ich, „aber du hast doch gehört, was sie gesagt haben“, ich wies auf das Megaphon, „auf Bitte des Komitees werden die Eisenbahner weiterfahren, um die Stadt nicht lahmzulegen.“ „Das meine ich nicht“, winkte Fredek ab, was geht mich die S-Bahn an? Ich denke an Fahrradpost!“ Und mit dieser einfachen Idee von Fredek begann meine persönliche Augustrevolution. Das ist alles Janusz Anderman 10 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Maciej Zienkiewicz/Agencja Gazeta zurück zum Inhaltsverzeichnis seiner Ehe. Es fehlt in dem Roman allerdings nicht an Signalen, die den realistischen Charakter dieser Aussage aufheben. Möglicherweise haben wir es also mit einem raffinierten literarischen Scherz zu tun, einer Fiktion in der Fiktion, einem düsteren, aber zugleich witzigen Phantasiegebilde über die Verfassung des zeitgenössischen Künstlers. Janusz Anderman (geb. 1949). Prosaschrift- steller, Autor von Filmdrehbüchern, Theaterstücken und Hörspielen. Übersetzer tschechischer Literatur. zurück zum Inhaltsverzeichnis Das ist alles Dariusz Nowacki 11 Janusz Anderman Der Protagonist des Romans Das ist alles ist Marek Torm, ein schon etwas abgestandener, verbitterter Schriftsteller. Einst ein Stern am literarischen Himmel, Autor von elf hoch gelobten und in hoher Auflage gedruckten Romanen. Seine Glückssträhne endet mit der Wende im Jahre 1989. Torm macht eine Schaffenskrise durch, für längere Zeit veröffentlicht er nichts, schnell ist er vergessen. Der Held ist überzeugt, dass in der heutigen literarischen Kultur nur die Schriftsteller eine Chance haben, wahrgenommen zu werden und Anerkennung zu finden, denen es gelingt, eine Sensation auszulösen (am besten einen Sittenskandal), über die sich die Regenbogenpresse auslassen wird und für die sich das Fernsehen interessiert. Er hat die Hoffnung, dass unter dem Einfluss eines sensationellen Ereignisses seine Werke neu aufgelegt werden und das Interesse an seiner Person neu entfacht wird. Also beschließt er, seinen Selbstmord auf Video aufzunehmen. Vor laufender Kamera möchte er eine pathetische Abschiedsrede halten und sich dann mit einer Pistole in den Kopf schießen. Aus diesem Grund fährt er von Warschau nach Krakau, der Stadt seiner glücklichen Jugend, jeder Menge künstlerischer Erfolge und gelungener Liebeseroberungen. Er richtet sich in einer Wohnung ein, die ihm sein Verleger als bequeme Arbeitsstätte überlassen hat. Das ist alles ist als Monolog eines frustrierten Schriftstellers geschrieben und entwickelt sich auf zwei Ebenen. Auf der aktuellen Ebene ist es eine Geschichte über die drei letzten Tage vor dem Selbstmord, die Torm damit verbringt, allein seinen Wodka zu trinken und nachzusinnen. Diese Grübeleien, in denen er Bilanz zieht und sich in abschweifenden Erinnerungen ergeht, bilden die eigentliche Ebene der Erzählung. Hier sind das Wichtigste die durch eine radikale Misogynie charakterisierten Abrechnungen mit der Welt der Frauen. Im Vordergrund steht die schmerzhafte und gleichzeitig extrem ironische Bilanz Das ist alles Ich Janusz Anderman 12 kam in diese Stadt, um mich auf spektakuläre Weise umzubringen. Ich habe beschlossen, mich effektvoll zu erschießen, weil ich überdauern will. Dieser schockierende Tod, der unweigerlich einiges Aufsehen verursacht, wird meine Bücher auf Jahre hinaus wieder zu Leben erwecken. Man wird sie suchen und man wird sie lesen, berufene Literaten werden die Perlenketten meiner Worte aufmerksam durch ihre Finger gleiten lassen, und sentimentale Polonistikstudentinnen werden über die einst vergessenen Werke Magisterarbeiten schreiben. Vielleicht entstehen auch Doktorarbeiten und ich komme auf die Liste der Schullektüren? Bestimmt werde ich meinen Platz in den Schulbüchern lange behalten und in populären Abhandlungen wird man mich als „verfemten Künstler“ bezeichnen. Das klingt prätentiös, aber schön. Seit vielen Jahren habe ich kein einziges Buch mehr geschrieben. Früher, noch im alten System, war ich in aller Munde. Mein untypischer und leicht zu merkender Name Torm galt viel in der Literatur. Er wurde geachtet und stand hoch im Kurs. Im Verlaufe von knapp fünfzehn Jahren erschienen elf Romane von mir. Die Verlage rissen sich um mich und ich verstand es, auf jeden geschichtsträchtigen Moment mit ausgefeimter Wirksamkeit zu reagieren, was mir erlaubte, die Liebe meiner Leser zu bewahren sowie die Anerkennung meiner Kollegen und so etwas wie Neutralität seitens der Machthaber. Das erforderte verschiedene taktische Züge, doch war nicht weiter schwer. Ich musste nur vorausschauend handeln, die Ereignisse und politische Wechsel manchmal antizipieren und den Moment erfühlen, in dem es besser war, sich in den Schatten zurückzuziehen. Zuerst wurde von mir geschrieben, ich sei die Hoffnung der Literatur, später, ich sei die erfüllte Hoffnung, und eines Tages dann bezeichnete mich ein Kritiker als herausragenden Schriftsteller. Nach dem Fall des Systems schrieb ich noch zwei Romane, doch zum ersten Mal versagte mein Instinkt. Vor allem gab ich sie zum falschen Zeitpunkt heraus. Ich hätte einige Jahre warten und erst dann an mich erinnern sollen. Ich hatte es eilig und das wurde mir zum Verhängnis. Zwar waren die Auflagen noch immer hoch, doch der Markt war bereits mit zurück zum Inhaltsverzeichnis Büchern von Emigrationsschriftstellern überschwemmt, die aus Neugier gekauft wurden, und mit drittklassigen Liebesromanen aus dem Westen, die in nur wenigen Nächten von Studenten übersetzt wurden. Sie erhielten von den Verlegern je ein dutzend Seiten zur Übersetzung und die so erstellten Texte gingen sofort in Druck und gelangten in attraktiven, bis dahin unbekannten Einbänden mit vergoldeten und erhaben geprägten Buchstaben unverzüglich in den Handel. In dieser Flut ertranken meine Romane. Zudem verkümmerte in jenen stürmischen Zeiten schnell das Interesse an Literatur. Es erschienen bunte Wochen- und Monatszeitschriften, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden, neue Fernsehstationen wurden geschaffen und auf den Mattscheiben tummelten sich die Helden unzähliger Telenovelas; es verging nicht viel Zeit und schon hatte niemand mehr Lust oder Zeit, Bücher zu lesen. Nach ein paar Jahren verbesserte und stabilisierte sich die Situation zwar etwas, doch ich hatte bereits das Etikett eines Autors, der Verluste einbringt. Die erste Erniedrigung erfuhr ich in meinem Schriftstellerleben, als ich sah, dass ein Roman von mir in der Ko szykowa-Halle verramscht wurde. In Plastikbehältern mit hundert anderen zufällig zusammengewürfelten Titeln. Der einzige Unterschied bestand im Preis, der auf Pappkärtchen vermerkt war. Mich entdeckte ich in der Schachtel mit dem niedrigsten Preis. Schnell verließ ich diesen Friedhof, weil ich Angst hatte, dass einer der wenigen Käufer mein Gesicht erkennen könnte. Sofort rief ich meinen Verleger an und informierte ihn, dass ich die Zusammenarbeit mit ihm aufkündige. Er verstand mich nicht. „Das verstehe ich nicht, Herr Torm”, sagte er. „Wieso nicht? Verdammte Scheiße, was ist daran so schwer? Mein Buch in der Koszykowa? In einer Plastikkiste? Wie eine verdammte Karotte? Eine Kartoffel?” „Sie verstehen die neuen Zeiten nicht. Ich habe damit nichts zu tun, das ist Sache des Grossisten, der im Eifer ein paar Hundert Exemplare zu viel genommen hat und sie nachher nicht an die Buchläden hat loswerden können. Der größte Teil der Auflage, den ich den Grossisten nicht unterjubeln konnte, ging zum Altpapier.“ Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp zurück zum Inhaltsverzeichnis Das ist alles Wydawnictwo Literackie Cracow 2008 125 × 195 • 312 pages paperback ISBN: 978-83-08-04261-8 Translation rights: Wydawnictwo Literackie 13 Janusz Anderman Das waren mir bis dato unbekannte Worte. „Verdammt nochmal, das ist schon wie zu Hitlers Zeiten? Wie bei Stalin? Vielleicht wär es noch einfacher, die Bücher gleich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen?“ „Sie begreifen nicht, was Sache ist”, sagte mein Verleger ruhig, doch dann verlor er die Beherrschung: „Verdammt noch mal, wissen Sie eigentlich, was die Lagerhaltung kostet? Die kostet mehr als die ganze Auflage wert ist! Wer soll das bezahlen? Ich? Leck mich doch, verdammt nochmal!”, schrie der bisher so gefühlvolle Kenner der Klassik, während ich wortlos den Hörer auflegte. Danach war ich jahrelang nicht im Stande, einen Roman zu schreiben. Jetzt bin ich hierher gekommen, um mich auf spektakuläre Weise umzubringen und so meine Leser, Kritiker und die Literaturhistoriker zu zwingen, wieder mit meinen alten Romanen zu leben. Den Grundstein für diesen Plan legte ein zufälliges Treffen auf der Warschauer Buchmesse, die ich aus alter Gewohnheit besucht hatte. Der Ort, an dem ich mich erschieße, ist geradezu ideal. Es ist ein hoher Uhrturm, der zu einem Verlagshaus gehört. Um hinauf zu kommen, muss man durch die Toreinfahrt des Verlags gehen, dann auf den düsteren Innenhof hinaus und nach rechts zu einer Tür. Danach genügt es, noch 82 Betonstufen zu bewältigen. Auf dem letzten Treppenabsatz befindet sich rechter Hand der Eingang zu Räumen, von denen aus man wohl noch höher kann, dorthin, wo sich das Uhrwerk befindet. Linker Hand ist die Tür zu den Gästezimmern des Verlags. Man betritt einen langen Flur, auf dem sich das Klo befindet. Hinter der nächsten Tür geht der Flur weiter. Drei Türen. Zur Küche, ins Bad und in ein großes Zimmer, von dem aus man ins Schlafzimmer kommt. In dem Zimmer, gegenüber einem dreiflügligen Bogenfenster, steht ein Tisch, an dem ich ein Buch schreiben soll, doch diesen Tisch werde ich nicht brauchen. Bambino Inga Iwasiów 14 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Marta Eloy Cichocka zurück zum Inhaltsverzeichnis erfolglos versuchen ihre Traumata, ihre schmerzlichen Erinnerungen der Vergangenheit, zu überwinden, was im Grunde dazu führt, dass sie alle scheitern, die Chancen ihres Lebens verspielen, sich unerfüllt und einfach unglücklich fühlen. Bambino ist vor allem ein Roman über die bitteren Konsequenzen der Entwurzelung und gespaltenen Identität. Inga Iwasiów (geb. 1963) Schriftstellerin, Literaturkritikerin, Professorin für Literaturgeschichte an der Universität Szczecin. zurück zum Inhaltsverzeichnis Bambino Robert Ostaszewski 15 Inga Iwasiów Bambino ist eine Erzählung von Menschen und von einem Ort. Eigentlich von mehreren Orten. Einer der Ort ist die Imbissbar „Bambino“, in der sich die vier Hauptfiguren des Romans begegnen. Der zweite Ort ist Stettin und Umgebung, eine Stadt, die von der Geschichte gezeichnet ist, in die nach dem Krieg aus den verschiedensten Orten Polens Menschen gebracht wurden. Wir verfolgen die Schicksale der vier Helden von der Vorkriegszeit bis zum Jahr 1980. Marysia wurde in den ehemaligen polnischen Ostgebieten in eine kinderreiche Familie hineingeboren. Nach dem Krieg wurde sie mit der gesamten Familie repatriiert. Sie ließen sich in einem pommerschen Dorf nieder, als Einziger gelang ihr der Sprung in die Stadt, wo sie Krankenschwester wurde. Dort lernte sie Janek kennen (und heiratete ihn), ein uneheliches Kind aus der Gegend von Posen, den seine Mutter verlassen hatte und der später versuchte, die Jahre der Erniedrigung zu kompensieren, indem er der Staatssicherheit diente, was letztendlich zum Zerbrechen der Ehe führte. Anna stammt aus Gorlice, von wo sie vor der allzu strengen Mutter und ihrem gleichgültigen Stiefvater floh. Mit Mühe beendete sie ihr Studium, sie heiratete spät, ging eine Vernunftehe mit einem Kapitän der Handelsmarine ein, der älter als sie war. Ula ist deutschstämmig und als einzige der Protagonisten in Stettin geboren. Durch den Krieg verlor sie praktisch den Kontakt zur Familie, weshalb sie in der Stadt blieb und versuchte, wie eine normale Polin zu leben. Ihre nicht übermäßig leidenschaftliche Beziehung zu Stefan, einem Holocaustüberlebenden, dem einzigen Mann, mit dem sie zusammen sein wollte, wurde von der Geschichte brutal zerstört, denn Stefan wird 1968 gezwungen, das Land zu verlassen. Iwasiów erzählt die Lebensgeschichten konkreter Menschen, die zwar in den gesellschaftlichen und historischen Realien ihrer Zeit verankert sind, sich aber zu einem Muster menschlichen Schicksals zusammensetzen: innerlich verletzte Menschen, die Bambino Maria Inga Iwasiów 16 trägt das in sich, nehme ich an. Das Bild des Weges, aber nicht nur. Etwas, was im Verlauf geschah. Etwas Weit-hinter-sich-Zurückgelassenes. Wie alle anderen hat sie dieses etwas in sich, die Fäden laufen zusammen, Gene, kreuzen sich, verschiedenes kann aus den Kombinationen entstehen, ich aber will erfahren, wer sie sind, vielleicht ist das gerade meine Geschichte, genauso gut ist es aber nicht meine, niemandes Geschichte. In den Bildern, Durchschlägen und Speiseresten stöbern. Es gibt nichts, an das man sich halten kann, kein Album, kein Tagebuch. Keine leitende Idee, nur ein Bedürfnis. Eher zusammenhanglose Erzählungen. Was wer sich über die eigene Person ausdenkt. Über die Figur, die er oder sie ist. Und das Leben, ganz einfach, ihres oder das von irgendjemandem. Das vergangene und das noch dauernde. Mehr haben wir zu diesem Thema nicht. Eine Bewegung von innen heraus, von hinten zum Ziel kommen, das gleiche, aber gewiss nicht auf die gleiche Weise. Maria, Mutter all dieser verlorenen Illusionen. Ich beginne mit Maria, weil ihr Name mich anzieht. Alle Frauen heißen Ewamaria. Diese um so mehr. Als wäre sie mit ihrem Namen gleich an den Anfang gestellt worden und das sofort, mehr als Ewa, natürlich weniger auserwählt, weniger aus der Menge herausgehoben, aber das hat ihr ja schließlich auch niemand versprochen. Niemand, als er dem Mädchen den Namen gab, aber gerade danach sehnt es sich, gezeichnet zu sein. Das Schicksal, das dem Mädchen leichtsinnigerweise diesen Namen gegeben hat, führt in Versuchung und verflucht. Das heißt, auserwählt sicherlich, vergessen wir jedoch nicht: Maria ist in dieser Situation ein ganz gewöhnlicher Name. So heißt bestimmt jede dritte Heldin, die in den Verhältnissen gezeugt wurde, die mich interessieren. Die ich für einen Bildausschnitt des Weges halte. Unsere Großmütter hießen einfach oft so. Ich habe keinen Grund mich zu loben, sehen wir uns einmal an, was mit den Namen und mit ihnen weiter geschieht. Sie wurden erst 1957 hergebracht. Hergebracht. Der Zug hatte sie gebracht, aber zunächst hatte jemand die Erlaubnis gegeben, Dokumente ausgestellt, ihnen ihre Entscheidungen abgestempelt. Ihr Zögern und das der anderen, schon, schon zurück zum Inhaltsverzeichnis war eine Entscheidung getroffen, aber dann wurde die Hand zurückgezogen, das Rad zurückgedreht, stand man weiter am gleichen Zaun. Bis zu dem letzten Moment. Und es ging keineswegs lustig und heldenhaft zu in diesen – klar, heute würde man sagen „Viehwagons“. Aber alle fuhren mit ihnen, was Wunder, es war immer noch Nachkriegszeit. Der ganze Wagenpark verschlissen, die Salonwagen zu etwas anderem gebraucht. Zum Herumfahren wichtiger Leute, die wichtige Entscheidungen trafen. Und selbst die Wagons vierter Klasse. Die Wagons sämtlicher Klassen. In was hätte man auch die Leute mit all ihrem Zeug verfrachten sollen? Und was für – wer, wo – transportierte Vieh? Was bedeutete „Vieh“ zu der Zeit, als die Wagons deutsche, gewöhnliche deutsche Fabriken verließen? Die russischen, sowjetischen Fabriken, eine andere Spurweite, also auch die Achsen, es hätte der Anlass sein können, und es war der Anlass zu vielen sentimental-symbolischen Ausführungen. Also Betonung, Wiederholung, dass sie in Viehwagons ... Zu der Stadt, weiter, zu einer größeren Stadt, waren alle, jeder und jede von ihnen, irgendwann einmal gefahren. Vergleicht man es, beginnt „Viehwagon“ etwas anderes zu bedeuten. Sie haben auch ihre Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die man nicht als vollkommen souverän bezeichnen kann. Es fällt schwer, überhaupt von einer Entscheidung zu sprechen. Ja, vielleicht sollte das der Anfang sein – es fällt schwer, von einer Entscheidung zu sprechen. Sie beginnt danach, man kann sich den Ereignissen entsprechend eine passende zurechtlegen. Sie stecken dir dein Haus in Brand, wieder kommen sie und wollen dein Getreide, obwohl es nicht einmal Kartoffeln gibt, seit langem gibt es auch keine Arbeit als solche (vielleicht hat es Arbeit als solche auch nie gegeben; Arbeit als Manifestation, dass es sie gibt, dass es sie früher gegeben hat, das schon), der kleine Garten bis auf die letzte Gurke leer gegraben, in der Schule verlernen die Kinder die Sprache (heißt es zumindest, es ist nämlich nicht ganz klar, ob sie nicht eben, was auch heikel ist, die Sprache, die richtige Sprache für die Zukunft lernen), die Nachbarin von gegenüber muss ihrem Geliebten vom NKWD etwas gesagt haben, sie ist wütend wegen irgendwelcher alten Geschichten, vielleicht wegen dem, was hinter ihrem Rücken erzählt Aus dem Polnischen von Andreas Volk zurück zum Inhaltsverzeichnis Bambino Świat Książki Warsaw 2008 130 × 214 • 350 pages hardcover ISBN: 978-83-247-1261-8 Translation rights: Świat Książki 17 Inga Iwasiów wird, der linke Nachbar sagt immer lauter, dass das merkwürdig sei. Vielleicht eine Kränkung aus der Jugendzeit, sie kommen von einem Tanz zurück, sie nicht mit dem, auf den sie Lust hatte. Diese aber ... natürlich, mit dem, auf den sie ... Ganz normale Geschichten, wie es sie in jedem kleinen Ort gibt, jeder kennt sie, jeder hat sie kennengelernt, ohne im nächsten Augenblick zu wissen, was sie bedeuten, denn erst aus der entsprechenden Entfernung erkennt man ihr Gewicht. Dass sie nicht nach Osten deportiert wurden, das ist merkwürdig. Dass sie von hier nicht abgehauen sind, das ist merkwürdig. Dass sie selbst nicht wissen, was sie wollen, das ist merkwürdig. Dass sie hier sind, das ist merkwürdig. Dass ... Es ist nicht so ganz klar, was besser ist. Welche Sprache man benutzen soll. Aus welchem Grund hätte man sie deportieren sollen. Wenn jemandem ihr Hof gefallen hätte. Aus irgendeinem Grund gibt es immer Gründe. Sie warten also seit Jahren auf eine Entscheidung und müssen selbst entscheiden, wer sie mehr sind. Welchen Großvater eher verstecken, welchen eher zur Schau stellen. Welcher Großvater könnte ein Alibi sein, sich als Kapital erweisen. Obwohl beide Urgroßväter fast bis in die mythische Vergangenheit zurück verästelt sind, sollten wir uns hier auch an die mythischen Ururgroßmütter erinnern, schließlich waren sie es, die es verstanden, sich Mehl oder eine Sprache zu leihen, das heißt gewöhnlich erweisen sich die Großväter als entscheidend, als Fundamente der Epochen, die im Rückblick erforscht werden, selbst wenn ihr Schweigen legendär ist, denn Schweigen soll Nachdenken bedeuten, in Wirklichkeit aber war es ein ganz gewöhnlicher Autismus, die normalste Dummheit der Welt, alle paar Generationen beziehungsweise in den Nebenlinien durchsetzt mit dem Talent zum Geschichtenerzählen, das wie ein bösartiges Gen dem Überleben einen schlechten Dienst erweist, denn wer spricht, bringt sich selbst in die Bredouille. Der Tischtennisspieler Józef Hen 18 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Magdalena Słysz zurück zum Inhaltsverzeichnis der antisemitischen Propaganda der rechten Presse, die Feier im Ort als eine jüdische Verschwörung betrachtet, die es zum Ziel hat, von Polen gigantische Wiedergutmachungsleistungen zu erschleichen. Józef Hen (geb. 1923) Roman- und Drehbuch- autor, Biograf, Essayist. Seine Werke wurden in achtzehn Sprachen übersetzt. zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Tischtennisspieler Marek Zaleski 19 Józef Hen Der Tischtennisspieler fällt in das Genre der Populärliteratur und ist ein Roman, dem es an Liebesmotiven und satirischen Elementen nicht fehlt. Dabei spielt sich alles auf dem Hintergrund der Morde in Jedwabne ab, eines kleinen Ortes im Nordosten Polens, wo im Juli 1941 die Polen, von Deutschen angestiftet, ihre jüdischen Nachbarn ermordeten. Wir haben das Jahr 2001. Zu der Einweihungsfeier des Denkmals, das an die Ermordeten erinnern soll, kommt ein pensionierter Richter aus Amerika, der früher in dem Ort gelebt hat. Damals, als Teenager, ist es ihm nicht gelungen, seinen jüdischen Freund, mit dem er leidenschaftlich Tischtennis gespielt hatte, vor dem Pogrom zu retten. In dem Städtchen leben immer noch die Täter. Das, was sich während der Besatzungszeit ereignete, wird von den heutigen Ortsbewohnern unterschiedlich bewertet. Nach all den Jahren sind die Gespräche mit den Zeugen, mit den Tätern und den Mitschuldigen, mit ihren Söhnen und Töchtern, mit neuen Ortsbewohnern sowie denjenigen, die zur Feier aus dem Ausland angereist sind, eine Gelegenheit für die bittere Abrechnung mit der Vergangenheit. Immer wieder kommen dunkle Geheimnisse des Pogroms ans Licht, immer wieder kommt die finstere Natur des Menschen zu Wort. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, besonders die Geschichte dieses Teils Europas, ist eine Tragikomödie – sagt der Romanheld. Der Friedhof, auf dem die Opfer ruhen, wird zwar aufgeräumt, doch die früheren Verbrecher und ihre Nachkommen haben weiterhin das Sagen. Im Ort lebt man das Leben der Sieger: Liebesbeziehungen und neue Freundschaften werden geschlossen, sogar wichtige Gespräche finden statt, doch das vermeintliche „Happy End“ ist nur Schein und die Abrechnung mit der Vergangenheit eine Parodie. Die Verbrecher werden nicht bestraft, das Geheimnis ihrer Taten bleibt unergründlich. Das Gewissen Mancher rührt sich; neben den innerlich versteinerten Schuldigen gibt es auch Menschen, die Bereitschaft zeigen, die Vergangenheit zu konfrontieren. Doch über allem erhebt sich das Gestammel des Dorftrottels, der, angestochen von Der Tischtennisspieler Sie Józef Hen 20 gingen rüber in die Wohnung. Ein großer Tisch, Stühle. An der Wand eine stehengebliebene Standuhr. Viertel nach neun. Wann ist sie zu dieser Uhrzeit verstummt? Und warum setzte sie dieser einsame Mann nicht wieder in Bewegung? Mike zeigte auf die Uhr und fragte: „Von den Ehrlichs?“ „Nein. Von den Wolfowiczs. Ich ging zu ihnen, sagte, dass sie gehen müssten, dass Kostek es angeordnet hätte, Sie wissen welcher, Waldeks Vater. Da sagt er, der Wolfowicz, zu mir: ‚Nimm das Stefan, nimm’s, mir ist es lieber, du nimmst es.’“ „Warum war ihm das lieber?“ Der Obstbauer schlug die Arme auseinander: „Ich weiß nicht. Vielleicht spürte er, dass ich keine Zufriedenheit finden kann. Ich weiß nicht“, wiederholte er. „Er gab mir noch eine Armbanduhr: Nimm’s, warum soll es jemand anders bekommen?“ „Wo ist diese Uhr?“ „Ich habe sie meinem Sohn gegeben.“ „Zur Kommunion?“ „Hm...“, bejahte er. „Wusste Ihr Sohn, wessen Uhr das ist?“ „Woher denn? Vielleicht hat er es später geahnt.“ Betrübt fügte er hinzu: „Ich haben meinen Sohn seit längerer Zeit nicht gesehen. Vielleicht hat er sie in den Fluss geworfen.“ „Wären Sie darüber verärgert?“ „Deswegen? Nein. Ich glaube nicht. Obwohl eine Sache ja ihren Wert hat. Man sollte sie schätzen. Doch heute würde mich das nicht wundern.“ „Und damals?“ „Ich habe die Uhr doch genommen.“ „Haben Sie Wolfowicz ‚danke’ gesagt?“ „Weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Vielleicht habe ich sie so genommen, als ob sie mir zustehen würde. Für die schwere Arbeit. Weil das schwere Arbeit war. Wie das Ausheben eines Grabens. Dieser Herr Wolfowicz – vielleicht wird Sie das interessieren – hat etwas in seinen Bart gemurmelt als wir das Haus verließen. Ich glaube auf Hebräisch. Da frage ich ihn: Was Murmeln Sie da? Und er darauf: Das Buch Hiobs.“ zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Obstbauer nickte in Gedanken, dann sagte er: „Ich habe mich nach Jahren auch daran gemacht.“ „An das Buch Hiobs?“ „Ja, daran. Ich habe die Heilige Schrift, ich habe sie, obwohl es eine evangelische ist.“ „Und was haben Sie dort gelesen?“ „Dass es gut endet. Hiob gründete eine neue Familie, ist wieder reich geworden.“ „Und Ihr Hiob starb in den Flammen – wollten Sie sagen?“ „Starb in den Flammen – genau das wollte ich sagen.“ „War es sinnlos sich mit Hiob zu vergleichen?“ Der Obstbauer antwortete nicht. Er nickte nur auf seine Art. Mike begann zu vermuten, dass er sich so einen Tic angeeignet hat. Er fragte: „Waren Sie bei der Scheune? Wie fühlten Sie sich dort?“ Man hörte das Ticken des Weckers. Der Obstbauer ging rüber zu der Standuhr. Während er auf das Zifferblatt starrte, presste er heraus: „Furchtbar.“ Heute denkt er so – oder schon damals? „Dachten Sie: was mache ich da?“ „Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich habe ich an nichts gedacht. Mein Kopf war leer. Ich kann mich erinnern, dass ich Durst hatte.“ „Warum sagen Sie dann: ‚furchtbar’?“ „Weil es das auch war. Etwas Furchtbares.“ „Herr Stefan“, sagte eine Journalistin, „erzählen Sie über Mirka. Hören Sie zu, Herr Richter.“ Der Hausherr setzte sich an den Tisch, stützte den Kopf mit den Händen. „Mirka...“, begann er. „Sie war älter als Ihr Freund. Ungefähr neunzehn Jahre alt. Genau richtig zum Heiraten. Wunderschönes Mädchen. Sie war nicht zu Hause, als sie die Ehrlichs holten, sie versteckte sich in der Umgebung. Damals haben Sie Ihren Freund raus gebracht.“ „Es hat nicht geklappt“, erinnerte ihn Mike. „Es hat nicht geklappt. Waldek hat euch gejagt, ich weiß. Ich laufe nach Hause übers Feld, müde, kann mich kaum noch aufrecht halten, als mir Mirka entgegenläuft. Die Haa- zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Tischtennisspieler 21 Józef Hen re zerzaust, mit Ähren drin, die Augen wie bei einer Irren. nicht abgelehnt.“ Er hob den Kopf. „Und was denkt der Ich schreie: Mädchen, wohin willst du? Versteck dich! Und Herr Richter darüber?“ sie darauf: Ich will zu Mama, zu Siggi! Mit ihnen ist es vorbei, Richter Murphy nahm einen hochoffiziellen Ton an. sage ich, du kannst dich retten, geh’ dahin zurück von wo du „So eine Sache hatte ich noch nicht.“ gekommen bist! Da fällt sie auf die Knie. Lieber Herr Stefan, Zum Abschied fragte Mike: erschießen Sie mich, ich flehe Sie an, ich will zu Mama! Ich „Sie wissen was das für eine Feier morgen ist?“ darauf: Was redest du da, hast du den Verstand verloren? Du Der Obstbauer nickte. kannst leben! Es wäre schade um so ein prima Mädchen!“ „Ich weiß.“ „Das haben Sie anders gesagt“, stellte Mike ohne Zögern Und das war alles. fest. „Nun ja, ich sagte es anders, ich war ein Primitivling, unAus dem Polnischen von Joanna Manc gehobelt. Manchmal dachte ich, dass wenn ich es vorsichtiger, klüger gesagt hätte... Und sie: Stefan, ich flehe dich an, tue es für mich, ich will zu Mama. Ich werde doch sowieso sterben, es ist meine letzte Bitte, das zählt doch. Du hast eine Pistole, schieß.“ „Hat sie geweint?“ „Ich glaube nicht. Ich nahm die Pistole hinterm Gürtel W.A.B. Warsaw 2008 hervor und schoss ihr direkt ins Herz. Damit sie sich nicht 123 × 195 • 224 pages quälte. Ich zog sie vom Pfad runter und legte sie ins Roghardcover genfeld. Ihre Beine waren bis dahin entblößt, da habe ich ISBN: 978-83-7414-426-1 ihr den Rock bis über die Knie gezogen. Nachts bin ich mit Translation rights: W.A.B. einem Pferdefuhrwerk gekommen und schmiss sie auf den Wagen, die Stute schnaubte – wissen Sie, wenn es kein gewöhnliches Pferd ist, dann mag es so eine Ladung nicht. Ich brachte sie zum jüdischen Friedhof, grub ein Grab und bestattete sie. Alles heimlich.“ „Warum heimlich?“ „Die hätten mich dafür nicht gerade gelobt.“ „Haben Sie das dem Priester gebeichtet?“ „Nein.“ „Meinten Sie nicht, dass der Mord eine Sünde war?“ „Das war eine Sünde. Ich musste sie nicht töten.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Die anderen hätten sie getötet. Und sie wollte, dass ich sie töte. Ich konnte nicht ablehnen. Sagen Sie mir: konnte ich?“ „Sie konnten sie retten“, sagte Ania wütend. „Sie wollte zur Mutter.“ Während er sprach starrte er auf den Tisch. „Ich habe das häufig vor Augen; sie fleht auf Knien: Stefan, meine letzte Bitte. Und ich schieße. Ich habe Da ist keine Jüdin Marian Pankowski 22 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Patrycja Musiał zurück zum Inhaltsverzeichnis ne Zeit, um über Auschwitz zu thronen.“ Fajgas Geschichte ist eine unablässige Reihe von Demütigungen und Beweis für die Fremdheit zwischen dem polnischen und dem jüdischen Besatzungsschicksal, aber die Bilder von ihrem Aufenthalt in Amerika zeigen auch ihre Fremdheit in der dortigen jüdischen Community, die unfähig war, Fajgas Kriegserlebnisse zu verstehen. Marian Pankowski (geb. 1919) Dichter, Erzähler, Dramatiker, Literaturkritiker, Literaturhistoriker, Übersetzer, emeritierter Professor der Université Libre in Brüssel. zurück zum Inhaltsverzeichnis Da ist keine Jüdin Marek Zaleski 23 Marian Pankowski Marian Pankowski (1919), der seit 1945 in Brüssel lebende Erzähler, Dichter und Dramatiker, schreibt eine „umstürzlerische” Prosa, seine Spezialität sind kontroverse Themen, verschwiegene und tabuisierte Fragestellungen. Sein bekanntester und in viele Sprachen übersetzter Roman Rudolf (1980) erzählt die Geschichte der Freundschaft eines Polen, eines in die Jahre kommenden Universitätsprofessors, politischen Emigranten und einstigen Insassen deutscher Konzentrationslager, und eines etwas älteren Deutschen, der an der Weichsel aufwuchs, eines einstigen Wehrmachtssoldaten, Frontdeserteurs und Homosexuellen. Pankowskis sprachlich innovative und moralisch freizügige Prosa wurde in den vergangenen Jahren zur Kultlektüre junger polnischer Schriftsteller und Leser. Die polnische Schwulenbewegung und die junge polnische Linke sehen in Pankowski ihren Guru. Seine älteren Bücher werden zur Zeit gerne neuaufgelegt, die Neuauflagen mit Preisen ausgezeichnet (Die KZ-Erinnerungen Von Auschwitz nach Belsen waren 1999 auf der Shortlist der für den Nike-Literaturpreis nominierten Bücher; für seine Prosa Der letzte Kongress der Engel erhielt er 2008 den renommierten Literaturpreis der Stadt Gdynia). Das winzige Büchlein Da ist keine Jüdin widmete er seiner Frau, Regina Fern-Pankowska. Die Geschichte der Romanheldin Fajga Oberlender, die auf der Fahrt ins Vernichtungslager aus dem Deportationszug sprang, erzählt eine Variante ihres Besatzungsschicksals. Diese Prosa entzündet sprachliche Feuerwerke, changiert zwischen den Gattungen: Manchmal gemahnt sie an Spielszenen mit Prolog und Epilog; Threnos und Klagelied gehen über in Erinnerungsbilder und Phantasmagorien, die Erzählhandlung unterbrechen Exkurse des Verfassers. Der Autor greift (wie häufiger in der jüngsten Vergangenheit) das Thema Krieg, Besatzung und Judenvernichtung auf und tut das mit der ihm eigenen schriftstellerischen Nonchalance: „Der liebe Gott war damals in Castel Gandolfo und legte Patiencen. Er hatte kei- Da ist keine Jüdin Es Marian Pankowski 24 war Ende März. Tauwetter. Die Dachrinnen schepperten, dass es eine wahre Freude war. Die Amseln hielten eine Versammlung ab. Die Kinder – ich hörte sie durch die undichten Fugen meines Schuppens – spielten zum ersten Mal Verstecken... Als könnte ich an ihrer Sorgloskeit teilhaben, stand ich von meiner Pritsche auf – sie legt die Stirn peinlich berührt in Falten – und begann einfach so herumzuwirbeln, fast schon zu tanzen... Und ich erinnerte mich daran, wie Mutter gesungen hatte... Summend wirbelte ich im Kreise tanzend – ergriffen beginnt sie ein Wiegenlied zu singen, „Wigele”; als sie zur Besinnung kommt, schweigt sie. „Und die Kinder?”, erinnert sie Sara Krynitzerowa. „Ich hatte sie schreien gehört, und als ihre Schreie verstummt waren, dachte ich, sie hätten sich getrennt, wären nach Hause gegangen... und dabei beobachteten sie mich! Durch die Astlöcher. Sie liefen zu Mareks Mama.” „Mama”, ruft Marek schon auf der Türschwelle. „Die Jüdin, die weggelaufen ist, die ist gar nicht weggelaufen! Sie hat sich in der Scheune versteckt!” „Sie singt da vor sich hin”, das war Jarek. „Und tanzt.” „Und streichelt ihr Baby, wiegt sich und tanzt...”. Das waren die Stimmen von Ania und Mania. „Man hört es wieder, zumindest das, ein Wiegenlied.” „Kinder! Was habt ihr nur für Flausen im Kopf!”, empört sie sich. „Das habt ihr mir schön erfunden, ihr seid vielleicht Lügenmäuler! Weg mit euch, ich will euch nicht mehr sehen!” Die Kinder verließen das Haus. Sie biegen links ab, zum Bach runter. Und niemand wusste, auf welche Idee sie kommen würden. Weder Baśka noch ihre Mutter; nur der Autor hörte Jarek-zeig-die-Uhr den Kopf schütteln und: „Marek... deine Mutter, was denkt die sich, dass wir „Lügenmäuler” sind! Und dass da keine Jüdin gewesn wär??? Ich habe sie gesehen, und du, Mania?” „Ich habe sie auch gesehen.” „Ich auch”, fügt Ania mit verschreckter Stimme hinzu. Marek hält inne. „Ich habe sie auch gesehen. Morgen zeigen wir sie Mama zurück zum Inhaltsverzeichnis und Oma!” Und er wendet sich so leise flüsternd an die drei Indianer, dass es nicht einmal der Autor hören kann. Wie jeden Samstag machte Baśka, will heißen Mareks Mutter, die Wäsche, Oma ging in der Zeit einkaufen. Sie nahm die Tasche, aber sie sah nochmal nach, ob sie Geld dabei hatte. Und da kam Marek an: „Oma... ich kann doch auch das Brot und die Brötchen holen gehen.” „Gut, mein Kind”. Die Oma war positiv überrascht. „Du weißt, was für eins, ein halbes... na und sechs Brötchen... Warte, hier hast du Geld.” Sie gab ihm Papier-Złotys. Marek zog los, stolz wie der Frontsoldat beim Angriff aus der Geschichte Herrn Bałbeckis, dessen hehrer Mut sicher zum Sieg bei dem Angriff beigetragen hatte, den er aus der Zeit der österreichischen Balkan-Offensive geschildert hatte... Er ging kerzengerade. Erst kurz danach schlossen sich ihm die drei Verschwörer an. Gemeinsam betraten sie die Bäckerei. Frau Podpłomykowa, die gerade mit dem Halbieren eines Brotlaibs für zwei Kundinnen beschäftigt war, lächelte die kleine Schar an. Sie waren an der Reihe. „Und für euch, Kinder?” „Bitte ein halbes Großes und sechs Brötchen... und noch... eine kleine Challa”, und er legte die in der Hand zerknüllte Banknote auf die Lade. Schon auf dem Weg ins Freie drehten sich die Frauen um und die eine schüttelte den Kopf Richtung Bäckerin, die ebenfalls der letzte Kaufwunsch der Kinder in Erstaunen setzte. „Ist die für euch, die Challa?” Schweigen, sie schauten sich an. Marek war ein heller Kopf: „Wir wollen Juden spielen, liebe Frau.” Die pausbäckige Frau Podpłomykowa brach in lautes Gelächter aus, ein Gelächter, das sich sofort in den Falten um den Mund verlor, um das fertige Wort herum, das sie im letzten Augenblick noch zensierte. Kehren wir zurück ins Haus der Hazenlaufs in Azojville. Fajga erzählt, als habe sie bereits den Tumult trübseliger Assoziationen im Griff, ruhig, als läse sie kranken Kindern das habt euch ein Märchen über eine Jüdin ausgedacht, einverstanden. Sie ist erschienen, tanzte und verschwand. Ein Wahn ist der Traum, auf Gott wolln wir traun! Schluss mit dem törichten Spiel... Vergesst nicht, dass man den Katechismus wiederholen muss, denn bald ist Ostern... Ihr werdet im Kinderchor singen „Er hängt am Kreuze.” Und jetzt... könnt ihr weiter spielen gehen.” Wydawnictwo Krytyki Politycznej Warsaw 2008 125 × 195 • 70 pages paperback ISBN: 978-83-61006-39-8 Translation rights: Marian Pankowski and Wydawnictwo Krytyki Politycznej zurück zum Inhaltsverzeichnis Da ist keine Jüdin Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier 25 Marian Pankowski Märchen Die Zwerge und das Waisenkind Marysia vor. „Mich weckte das Herumgerenne und Schreien der Gören. Ich stehe auf, gehe zu meiner „geheimen” Tür... schiebe die Diele zur Seite... und dort... auf dem festgestampften Schnee, drei Schritte vor der Scheune, liegt eine braungebackene Challa! Lieber Gott, da hat die liebe Baśka an solch eine Freude für mich gedacht! Ein Geschenk, dass man vor Dankbarkeit weinen möchte! Ich springe vor und schnapp! Halte die Challa in Händen. Ich habe noch keinen Schritt zurück in mein Versteck gemacht, da stecken die Kinder ihre Köpfe hinter der Scheune vor und: „Jü-din! Jü-din! Schwarze Eule voller Dreck, nachts eine Diebin, tags im Versteck! Mit Petroleum vergiftet sie die Quellen, und stinkt nach fauligen Zwiebelabfällen!” Und gleich danach Baśkas Stimme, keine Stimme, sondern ein furchtbarer Aufschrei, und zwar so einer, dass die Kinder, die sich immer noch vorbeugten, wie verwunschen erstarrten. „Kommt mir sofort ins Haus! Aber sofort!” Sie atmet so, dass man jene Zeit, in der das geschah, hören kann. Sie blickt die Mittafelnden an. „Als es dunkel wurde... als wäre nichts geschehen... bekam ich eine Schüssel heißer Suppe und eine Scheibe Schmalzbrot... Ich schlief nicht. In meinem Kopf hämmerte der Reim der Kinder, die selig waren, weil sie das hungrige Wild gestellt hatten, indem sie einen raffiniert ausgewählten Köder gelegt hatten. Fajga schaut die Juden von Azojville an. Jetzt scheint ein trauriges Lächeln über ihr Gesicht zu huschen: „Die Fortsetzung soll der Autor selbst erzählen... Ich könnte es nicht.” Als die Kinder in der Küche saßen, wartete Basia einen Augenblick, wie ein Richter, der schon allein mit seinem Blick bei den Angeklagten das Bewusstsein ihrer Schuld weckt. Doch jetzt ermutigte sie die Kinder mit einer Stimme voll unvermuteter Süße zur Übernahme ihrer Version: „Liebe Kinder... das war ein bisschen viel Kino... das Herumgerenne und Geschrei rings um die arme Scheune... Ihr Die Fliegenfängerfabrik Andrzej Bart 26 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Elżbieta Lempp zurück zum Inhaltsverzeichnis tiert wurden, das Recht haben, ihre Meinung über ihren Ältesten zu äußern. Dank dessen bietet der groteske Prozess die Gelegenheit, sich den Erinnerungen zu stellen und die Ambivalenz der Moral zu Holocaustzeiten vorzuführen. Was für die einen Mitarbeiter Rumkowskis Verrat bedeutete, erwies sich für die anderen als ihre Rettung. Die Fliegenfängerfabrik Przemysław Czapliński Andrzej Bart (geb. 1951) Erzähler, Drehbuchautor, Dokumentarfilmer, gilt als einer der interessantesten Verfasser postmoderner Prosa. zurück zum Inhaltsverzeichnis 27 Andrzej Bart Im September 1939 ernannten die Deutschen Chaim Rumkowski zum „Ältesten der Juden” des Lodzer Ältestenrats. Rumkowski – ein jüdischer Unternehmer und ausgezeichneter Organisator – formte das arme und übervölkerte Lodzer Ghetto rasch in eine perfekt, wenn auch inhuman aufgebaute Produktionsstätte um. Der Judenälteste kämpfte um das Überleben der Mehrheit, also entschied er sich immer für das „kleinere Übel”: Wenn die Deutschen die Steigerung der Produktion forderten, steigerte er sie, wenn sie die Herausgabe der Kranken zur Deportation forderten, gab er sie heraus, wenn sie die Bereitstellung der Kinder bis zum zehnten Lebensjahr forderten, stellte er sie bereit. Er war der Ansicht, allein die wirtschaftliche Nützlichkeit der Juden könnte eine Trumpfkarte zum Handeln mit den Deutschen sein – stärker als der deutsche Antisemitismus und die Judenvernichtungspläne. Das Lodzer Getto existierte also noch, als alle anderen Judenviertel in Polen längst liquidiert waren. Aus ihm wurden etwa zehntausend Juden gerettet – mehr als aus jedem anderen Ghetto auf polnischem Territorium. Rumkowski erreichte also viel, obwohl man nicht vergessen darf, um welchen Preis. Alle zwang er zu inhumaner Arbeit, er verstand es nicht, seinem Hochmut und den Verlockungen des Reichtums zu widerstehen, unter Ausnutzung seiner Position verweigerte er seinen Nächsten die Solidarität; sie verhungerten. Andrzej Barts Roman ist ein intelligent konstruierter Bericht vom Prozess gegen Chaim Rumkowski. Alle Prozessbeteiligten – der Richter, der Vertreter der Anklage, der Verteidiger, die Schöffen – sind Juden. Verurteilt wird Rumkowski zu „ewigem Erinnern, so wie er gewesen ist”, ein aufgeblasener Fatzke, den seine Eitelkeit an seine Einzigartigkeit und seine Judenrettungsmission glauben ließ. Natürlich hat der Prozess nie stattgefunden. Aber Bart kam zur Ansicht, dass alle, die mit Rumkowski in Berührung kamen, die im Ghetto von Litzmannstadt lebten und nach Treblinka depor- Die Fliegenfängerfabrik Regina Andrzej Bart 28 sah auf dem Bildschirm Fotos „Und was soll aus diesem schauspielerischen Auftritt resuldes sprechenden Chaims. Sie tieren? Ich glaube nicht, dass die Geschworenen dem Herrn war damals bei ihm gewesen Ältesten nach diesen väterlichen Ermahnungen böse Absichund wusste, dass er nicht so fürchterlich ausgesehen hatte ten unterstellen werden. Natürlich werden Komplexe deutwie auf den Fotografien. lich, sogar eine gewisse Lust daran, sich gegenüber diesen „...Die Neuankömmlinge würden uns gerne zu ihren Menschen aufzuspielen. Aber hatte der Herr Älteste nicht Sklaven machen, aber wir haben hier schon genug eigene Recht damit, dass die Einsiedlung von Juden aus ganz EuroVorkriegsintelligenzler.” Wilski schrie fast schon. „Dieser pa seiner Überlebensvision schaden könnte?” ‘Artikel’ hat im Ghetto seinen Wert verloren. Hier muss man „Als die Deutschen ein paar Monate später, Anfang 1942,” sich an eine Arbeit machen, die der Allgemeinheit nützt, an der Ankläger zögerte nicht mit der Antwort, „mit der Deein Handwerk und einfache körperliche Arbeiten. Ich verste- portation ins Gas begannen, wählte Rumkowski als erste he natürlich, dass ihr behagliche Nachmittagsspazierfahrten Verbrecher und Sozialhilfeempfänger aus, aber dann rund in der Droschke diesen Aussichten vorziehen würdet. Ver- zehntausend Neuankömmlinge, unter ihnen auch Profesgesst nie, dass ich dergleichen nicht dulden werde!” soren, große Namen in der Wissenschaftswelt, ihre Frauen Widerwillig musste sie eingestehen, dass er schauspieleri- und Kinder, also Menschen, die vielleicht keine Schuhe oder sches Talent besaß, denn er sprach so suggestiv, dass mehrere Mützen anfertigen konnten, die ihren Lodzer Brüdern aber Personen sich hintereinander zu verstecken versuchten. ein Beispiel hätten geben können.” „Hohes Gericht, bitte schützen sie die Öffentlichkeit. Der „Darauf kommen wir noch”, sagte der Richter. Ankläger erschreckt sie, und sie haben in ihrem Leben schon „Verzeihung Herr Richter, aber ich muss jetzt antworten. genug Angst gehabt.” Bernstein erhob sich von seinem Stuhl. Der Herr Ankläger beliebt zu scherzen. Er hätte es lieber ge„Die Anklage zitiert einzig und allein Ihren Klienten. Fah- habt, dass die Schwerarbeiter aus Lodz weggeschickt worden ren Sie bitte fort...” wären, dank derer das Ghetto noch bestand, und er hätte die „Danke, hohes Gericht.” Wilski las in noch bedrohliche- gelehrten Neuankömmlinge geschont. Ich frage jetzt diejenirem Tone weiter: „Hier im Ghetto muss man sich die höfi- gen von ihnen, denen das Schicksal höhere Bildung verwehrt sche Geheimräterei ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen. hat, ob sie ihrer Ansicht nach als erste ins Gas hätten gehen Schwestern und Brüder, ich muss euch eine Schuld gestehen. sollen.” Es zeigt sich, dass ich ein unverbesserlicher Träumer gewesen „Genug. Bitte veranstalten Sie mir hier keine Abstimbin. Ich hätte mich nicht gegen Zigeuner im Ghetto wehren mung.” Der Richter rezitierte nachdrücklich: „Ich bitte jetzt sollen, es wäre besser gewesen, sogar zwanzigtausend von ih- Doktor Ulrich Schulz aus Prag in den Zeugenstand.” nen hier unterzubringen als die zugereisten Juden. Kommt Ans Pult drängte sich ein älterer eleganter Herr mit einem zur Besinnung! Aus der Notlage hilft nicht einmal der Titel Binokel, der drei Reihen hinter Regina gesessen hatte. Von eines Geheimrats. In den heutigen Zeiten spielen Titel nicht ihm hatte sie noch nie gehört, sie war also neugierig, was er mehr die geringste Rolle. Viele von euch haben ein negati- sagen würde. Der Richter wohl auch, denn er deutete auf ves Verhältnis zur Arbeit. Ihr sagt euch: Wozu soll ich arbei- den Bettlakenbildschirm, auf dem ein Plakat erschien, das ten, wenn ich auch vom Verkauf mitgebrachter Dinge oder auf Deutsch und Hebräisch die Erschießung von Dr. Ulrich Geldreserven leben kann. Aber ich werde euch das Arbeiten Schulz aus Prag wegen Widerstandes gegen die Polizeigewalt und ein anständiges Verhalten lehren, vor allem werde ich bekanntgab. euch eure Unverschämtheit austreiben!” „Melden diese Bekanntmachungen Ihre Erschießung?” Im Saal wurde es still, jedoch nicht lange, weil der Vertei„Ich möchte bezweifeln, dass es im Ghetto einen anderen diger aufsprang und ausrief: Ulrich Schulz aus Prag gab.” zurück zum Inhaltsverzeichnis Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier zurück zum Inhaltsverzeichnis Die Fliegenfängerfabrik W.A.B. Warsaw 2008 123 × 195 • 248 pages hardcover ISBN: 978-83-7414-513-8 Translation rights: W.A.B. 29 Andrzej Bart „Bitte erzählen Sie, wie es dazu kam.” „Ganz einfach, ich wollte mich nicht aus dem Ghetto deportieren lassen.” „Weshalb? Schließlich wurde den Menschen nicht gesagt, dass sie in den Tod fuhren.” „Ich hatte einfach nachgedacht: Wenn wir als Unproduktive gemeinsam mit den Verbrechern herausgeworfen wurden, dann stand eine Verschlimmerung unserer Situation zu erwarten. Und eine schlimmere Situation konnte meiner Ansicht nach nur der Tod sein. Daher meldete ich mich nicht beim Sammelpunkt. Die deutsche Polizei fand mich und zerrte mich raus. Um dem so schnell wie möglich ein Ende zu machen, ohrfeigte ich den Ranghöchsten. Also schoss er...” „Wie wir alle sehen, trägt die Bekanntmachung über den Vorfall die Unterschrift des Ältesten Rumkowski.” Der Verteidiger stand auf und gab vor, die Unterschrift in Augenschein zu nehmen. „War der Herr Älteste bei dem Ereignis anwesend?” „Ach woher, es gehörte ganz einfach zu seinen Pflichten, alle deutschen Bekanntmachungen zu unterzeichnen.” „Also machen Sie ihn nicht für Ihren Tod verantwortlich?” „Nicht im geringsten.” „Keine weiteren Fragen.” „Ich danke Ihnen und bitte entschuldigen Sie, dass wir Sie für nur so kurz hierher bemüht haben”, sagte der Verteidiger in wessen Namen auch immer. „Ich folge jeder Aufforderung gerne.” Schulz verneigte sich und ging zur Tür, anstatt an seinen Platz zurückzukehren. Wilski fiel plötzlich etwas wieder ein, denn er schlug sich an die Stirn und schrie: „Nur noch eine Frage! Sie waren nicht ganz drei Monate im Ghetto. Ich weiß, das ist wenig Zeit, um sich eine Meinung zu bilden, aber das war eine besondere Situation. Könnten Sie trotz einer so kurzen Zeit den Herrn Ältesten auf irgendeine Weise charakterisieren?” Schulz sann über die Antwort recht lange nach, aber am Ende beließ er es bei einem einzigen Wort, danach verneigte er sich nochmals und ging hinaus. Schläfrigkeit Wojciech Kuczok 30 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Elżbieta Lempp zurück zum Inhaltsverzeichnis Ruhmes, den sie durch ihre Krankheit (Narkolepsie) fast ruiniert, Robert dagegen erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat. Der Erste von ihnen kämpft um das große Glück, der Zweiten gelingt es, ihre Depression zu bewältigen und auf die Bühne zurückzukehren, und dem Dritten ist alles einerlei, nichtsdestoweniger überwindet er sich dazu, mit dem Spiel des Scheins Schluss zu machen. Wojciech Kuczok (geb. 1972) Erzähler, Dichter, Filmkritiker und Drehbuchautor, NIKEPreis für seinen Roman Dreckskerl. In zehn Sprachen übersetzt zurück zum Inhaltsverzeichnis Schläfrigkeit Marta Mizuro 31 Wojciech Kuczok Die titelgebende „Schläfrigkeit“ bringt uns dem Zustand näher, in dem sich die drei Hauptfiguren des Romans befinden. Ihrer Müdigkeit, die ihnen trotz aller Unterschiede gemein ist, kann man ganz unterschiedliche Namen geben: Gleichgültigkeit, Lethargie, Trauma, Abwarten, Depression, Krise usw. – je nach Einzelfall. Alle von Kuczok beschriebenen Seelenkrankheiten haben jedoch die gleiche Ursache: Adam, Róża und Robert leiden, weil sie Rollen spielen müssen, die nicht ihrem eigenen Ehrgeiz entsprechen, sondern den Ehrgeiz anderer erkennen lassen. Obwohl sie als einzige im Roman Namen haben, sind sie nichts weiter als menschliches Dekor: Ihre Aufgabe ist es, ihren Familien Glanz zu verleihen. Dieser Zwang bringt sie an den Rand der Verzweiflung, und genau in diesem Moment – im Moment der Krise – lernen wir sie kennen. Um dann zu beobachten, wie sie ihre Lethargie überwinden. Das ist aus zweierlei Gründen interessant. Erstens, die Helden, ein Arzt, eine Schauspielerin und ein Schriftsteller, sind Erfolgsmenschen, die also unabhängig sein könnten. Zweitens deutet aber nur wenig darauf hin, dass sie es schaffen werden, sich loszureißen von den Lebensmodellen, die ihnen aufgezwungen wurden. Dass sie sich zu einer spektakulären Geste aufraffen und mit der Vergangenheit, Gegenwart sowie Zukunft brechen. Auch Letztere gibt zu keinen Hoffnungen Anlass. Denn während sie warten, dass etwas passiert, verlieren sie das, was sie ausmacht: die Künstler ihr Talent, der Arzt das Gefühl, einen Auftrag zu haben. Wie man sich leicht denken kann, kommt es aber keinesfalls zu einer völligen Selbstverleugnung. Inwieweit jedoch die Pro tagonisten ihr Leben umkrempeln, hängt davon ab, in welcher Lebensphase sie sich befinden. Adam beginnt gerade erst, eine eigenständige Existenz zu führen, Róża steht auf der Höhe ihres Schläfrigkeit Róża, Wojciech Kuczok 32 das schönste Gesicht der Stadt, vielleicht überhaupt das schönste Gesicht des Landes, das Gesicht der größten Kosmetikkonzerne, war nie gut im Rechnen gewesen, sie überließ ihr Leben dem Zufall und fühlte sich, dank ihres bedingungslosen und unerschütterlichen Glaubens, dass der Mensch von Natur aus gut ist, vielleicht nur nicht immer uneigennützig, sicher dabei. Als reizende und talentierte Lebenskünstlerin erreichte sie alle ihre Ziele gleichsam im Vorbeigehen, ungewollt, ohne besondere Mühe, und das hatte gerade den größten Charme, jene Nichtnotwendigkeit; Róża musste nicht notwendig Schauspielerin werden, sie fühlte sich einfach wohl im Theater, besonders im klassischen Repertoire, sie fand in diesem Zufluchtsort des hohen Stils ein Gegengift gegen die plebejische Mittelmäßigkeit der Großstädter, gegen deren arme und vulgäre Sprache, eine Sprache, die man reduziert hatte auf die in der Firma und im Bett nützlichen Begriffe, das Theater war ein gutes Versteck vor den Scharen von geistig vernachlässigten Menschen sowie ein edles Heilmittel gegen ihre weiterhin ungebändigte Einsamkeit. Sie hatte sich auch nicht um eine Filmkarriere bemüht, und schon gar nicht um eine Karriere im Fernsehen, Kino und Fernsehen hatten sich um sie bemüht, sie ließ sich aus purer Neugier auf diese Abenteuer ein, wobei sie die Rollen sorgfältig auswählte, so, dass sie sich nicht am Terror der allgemeinen Gewöhnlichkeit beteiligte, das Kino machte ihr weniger Vergnügen als das Theater, verschaffte ihr aber ein höheres Einkommen, Róża hatte als geborene Improvisatorin nie Ersparnisse, aus Sorge um ihre finanzielle Unabhängigkeit beendete sie das Abenteuer Film und begann mit dem Abenteuer Fernsehen, das ihr erlaubte schneller mehr Geld zu verdienen, zuletzt, von einem großen Kosmetikkonzern eingeladen, das Gesicht seiner Kampagne zu werden, kam sie jedoch zu dem Schluss, dass erst das Abenteuer Werbung ihr erlaube, Ersparnisse zu haben, trotz ihrer völligen Unfähigkeit zu sparen, sie wurde also zu einem Gesicht großen Formats und kehrte zum Theater zurück. Die Abenteuer Fernsehen und Werbung hatten zur Folge, dass ihre ungebändigte Einsamkeit ihr stärker zuzusetzen begann als je zuvor, die engsten freund- zurück zum Inhaltsverzeichnis schaftlichen Bindungen lockerten sich und konnten sich jeden Augenblick ganz lösen, plötzlich bemerkte sie, dass selbst den altbewährten Bekannten und Freundinnen von früher die Unterhaltung mit ihr Schwierigkeiten zu bereiten begann, es schien, als ob sie plötzlich die Fähigkeit verloren hatten, ein uneigennütziges Gespräch zu führen, deshalb beschloss Róża zum Theater zurückzukehren, zur Bühnengemeinschaft, sich zu verstecken in den Rollen der klassischen Heroinnen, die in Versen sprechen; zu lange hatte sie in den Kreisen der Fernseh- und Werbeleute verkehrt, sie sehnte sich nach der Sprache der alten Meister, die Fernseh- und Werbeleute bedienten sich einer derart reduzierten, niedrigen und hässlichen Sprache, dass Róża nach ihrer Rückkehr zum Theater längere Zeit nur alte Stücke zitierte, wenn sie sprach, auch außerhalb der Bühne, um schnellstmöglich aus der Erinnerung die Sprache der reduzierten, niedrigen und hässlichen Menschen zu tilgen, sprach sie ausschließlich in Zitaten, die zum Theaterkanon zählten; die alten Freunde und Freundinnen unterhielten sich lieber untereinander über ihre Schrulligkeit, Exaltiertheit und Starallüren, als dass sie sich mit ihr unterhielten. Ungefähr zu dieser Zeit begann sie öfter einzuschlafen als gewöhnlich. Der Arzt erkannte auf Übermüdung: das ist die Lieblingsdiagnose von Patienten und Ärzten, man verordnet dann Erholung, eins der wenigen Medikamente, die wirklich schmecken, solange man es nicht überdosiert; Róża begriff, dass sie das Reich des Bühnenflüsterns verlassen, sich um ihre sogenannte innere Harmonie kümmern sollte, die alten eigennützigen Freundinnen suggerierten, sie sollte endlich jemand Festes finden, die eigennützigen Freunde rieten ihr das Gleiche, nur persönlicher. Róża hatte Pech, dass ausgerechnet damals Herr Mann ihre Bekanntschaft machte, die er mit einem Heiratsantrag begann, Herr Mann wagte es einfach als Erster ihrer Tausenden Verehrer sich vorzustellen und um ihre Hand anzuhalten, das war zumindest angenehm, zumindest interessant, von dem Verlangen erfüllt, ein neues Abenteuer zu erleben, ließ sie ihn zu Wort kommen; sie hatte Pech, denn Herr Mann konnte überzeugend sein. Während sie seinen Argumenten zuhörte, roch sie an dem Blumenstrauß, den er ihr mitgebracht hatte, und konnte das Lachen nicht unterdrücken, Aus dem Polnischen von Andreas Volk zurück zum Inhaltsverzeichnis Schläfrigkeit W.A.B. Warsaw 2008 123 × 195 • 256 pages hardcover ISBN: 978-83-7414-486-5 Translation rights: W.A.B. 33 Wojciech Kuczok was ihn keineswegs in Verlegenheit brachte, Herr Mann kannte sich mit menschlichen Reaktionen aus, unkontrolliertes Lachen nahm er für bare Münze. Herr Mann hatte Glück, dem er zusätzlich nachhalf, indem er Überredungstechniken anwandte, die er perfekt beherrschte, und als er damit fertig war, hatte sie, obwohl es spät geworden war, keineswegs Lust, nach Hause zu gehen, sie begriff, dass die Logik gebot, den Heiratsantrag anzunehmen, doch der Verstand riet ihr, dies nicht sofort zu tun. Nach der Heirat, ach, nach der Heirat zogen sie in die Berge, dorthin, wo es gesunder, frischer, waldiger, vögeliger, wiesiger und bächiger war. Unterbrechen wir diese Lovestory, Róża sollte nicht so lange auf dem Fußboden liegen, erlauben wir ihr aufzuwachen, sie schläft entschieden zu oft ein, die Ehe bekommt ihr ganz offensichtlich nicht. Herr Mann schenkt dem Bellen des Hundes erst Beachtung, als dieser herbeigelaufen kommt, Herr Mann streichelt ihn, ohne von den Rechnungen aufzuschauen, die er gerade prüft, er ruft Róża, keine Antwort, er ruft noch einmal, schließlich geht er nachsehen, ob nicht etwas passiert ist, er sieht sie bewusstlos, sie muss plötzlich eingeschlafen und hingefallen sein, aber warum, hat sie sich vielleicht über etwas aufgeregt, hat sie etwas erschreckt, er bemerkt in ihrer Hand ein Fußkettchen, aha, nun ja, eine Unachtsamkeit, irgendjemand will ihm wieder das Leben schwer machen; vorsichtig biegt er Różas Finger auseinander, nimmt ihr das Kettchen aus der Hand und steckt es ein, erst jetzt klopft er ihr leicht die Wangen, versucht sie aufzuwecken, daraus wird aber nichts, sie schläft, er legt ihr also ein Kopfkissen unter den Kopf und sagt zu dem winselnden Hund: „Pass auf Frauchen auf.“ Er geht, in Gedanken kehrt er zu seinen Zahlen zurück, er wird noch einmal die letzten Operationen genau bilanzieren müssen, etwas stimmt da nicht. „Bist du da?“ Oh nein, kehrt marsch, sie ist doch aufgewacht, sie erhebt sich zerknautscht vom Boden. „Ich habe wieder geschlafen ...“ Palais Ostrogski Tomasz Piątek 34 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Grzegorz Święcicki zurück zum Inhaltsverzeichnis Palais Ostrogski Palais Ostrogski ist kein klassischer Roman, was eine Ausnahme in Piąteks bisherigen Schaffen ist. Piątek hat hier diverse Texte unterschiedlicher Stilrichtungen und Gattungen zu einem Band zusammengeheftet. Drei Ebenen überschneiden sich hier: die Erinnerungsebene, die essayistische und die literarisch-phantastische Ebene. In den Vordergrund gerückt werden dabei Themen, die einen biografischen Bezug haben, insbesondere Piąteks Überlegungen zur Heroinsucht. Diese Notizen fügen sich zu einer Art „Tagebuch eines Drogensüchtigen” zusammen. Der autobiografische Held fällt immer wieder in die Sucht zurück und macht sich keine Illusionen, dass er sie irgendwann endgültig besiegt. Tomasz Piątek (so heißt auch der Held und Erzähler in Palais Ostrogski) entwirft seine eigene Philosophie der Sucht, die zu der These neigt, dass die Drogensucht gleichsam Bestandteil seiner Persönlichkeit ist, deren geistiges Erbe, dem man sich nicht entziehen kann. Die diskursive Ebene des Buches setzt sich aus Miniessays (Geschichte, Kunst, Theologie, Theorie und Praxis der Werbung) zusammen, die nur so von Exkursen strotzen. Auf der literarischen Ebene haben wir es schließlich mit kleinen Erzählungen oder vielmehr Phantasien zu tun, deren gemeinsamer Nenner die Geheimnisse des titelgebenden Warschauer Palais sind. Während Piątek sich zu vielen verschiedenen Themen äußert (vom Dekalog bis Beethoven), Anekdoten und Fantasien zum Besten gibt, spricht er die ganze Zeit von sich, beziehungsweise kreist um Probleme, die ihm besonders nahe sind. Ihn interessiert der Konflikt zwischen Materie und Gefühlen, zwischen Chaos und Ordnung, und vor allem die Suche nach einem anderen, alternativen Leben. (geb. 1974) Schriftsteller, Journalist, Feuilletonist, Autor zahlreicher Romane Dariusz Nowacki zurück zum Inhaltsverzeichnis 35 Tomasz Piątek Tomasz Piątek Palais Ostrogski Auf Tomasz Piątek 36 der einen Seite sagen euch alle, dass der Mensch eine Vielzahl verschiedener Rechte hat. Die Herren von der UNO und vom Weltverband der Psychologen werden euch sagen, dass der Mensch ein Recht auf Leben, Essen, Trinken, Kleidung, Arbeit, Lohn, Wohnung, Freiheit, Liebe, ärztliche Versorgung und Sicherheit hat. Aber auf der anderen Seite gibt es welche, die euch sagen, dass der Mensch in Wirklichkeit keinerlei Rechte hat und ihm nichts zusteht, und wenn er dennoch etwas erhält, dann nur aus Gnade. Das sagen der Protestant Martin Luther und der katholische Aristokrat Joseph de Maistre. Und das sagt der Kommunist und Homosexuelle Pier Paolo Pasolini, den de Maistre für etwas außerordentlich Degeneriertes gehalten hätte (vielleicht sogar für etwas noch Degenerierteres als das von einer Kuh geborene Fleischgeschwulst in Gestalt Luthers, das einige, über die Reformation entsetzte französische Katholiken im sechzehnten Jahrhundert beschwören), nämlich für die Ausgeburt eines Ungeheuers. Genau genommen sagt Pasolini: Menschen, die um ihre Rechte kämpfen, haben Charme. Mehr Charme haben Menschen, die für die Rechte anderer kämpfen. Aber am meisten Charme haben Menschen, die nicht wissen, dass sie überhaupt irgendwelche Rechte haben. Sich seiner Rechte bewusst ist der Städter. Der Revolutionär, der dem Volk seine Rechte bewusst macht, hat es folglich mit einem tragischen Paradox zu tun – statt autonome Individuen, die sich freiwillig zusammenschließen, um nach eigenem Gutdünken Gedichte oder Schuhe zu produzieren, erschafft er eine Horde von Kleinbügern, die genauso egoistisch und besitzergreifend wie das Großbürgertum, aber aufgrund ihrer Oberflächlichkeit und ihres nicht ursprünglichen Charakters noch niederträchtiger sind. Wahrscheinlich hat Pasolini Recht gehabt. Dort, wo die Kommunisten an die Macht kamen, gaben sie den Menschen zwar nur ein paar Rechte, diese waren aber, wie die Kommunisten selbst sagen würden, von einem extrem breiten Zuschnitt. Das Recht auf Faulheit, Trunkenheit sowie passiven Diebstahl. Damit das den Menschen nicht zu Kopf stieg, erschossen die Kommunisten Tausende und ermordeten Millionen in den Gulags. Aber das half nichts. Denn der Kommunismus hatte zur zurück zum Inhaltsverzeichnis Folge, dass die Kleinbürger ihn zu Fall brachten und auf seinen Trümmern ein System errichteten, das (vom satirischen Standpunkt aus) eine ideale, geradezu geniale Karikatur des klassischen bürgerlichen Kapitalismus war: einen osteuropäischen Kapitalismus, einen Kapitalismus quasi für alle, nur quadratischer, kantiger, unnatürlicher und gezwungener. Aber das Problem, um auf unsere Hauptfrage zurückzukommen, ob Menschen auf irgendetwas ein Recht haben oder nicht, scheint unlösbar zu sein. Auf der einen Seite sagen uns Autoritäten des Geisteslebens sowie unser eigenes Mitgefühl (und auch unser Egoismus, machen wir uns da nichts vor), dass die Menschen eine ganze Menge Rechte für eine ganze Menge Dinge haben. Auf der anderen Seite sagen kluge Menschen, Rechte wie de Maistre, Linke wie Pasolini, und solche wie Nietzsche, die weder aus der rechten noch der linken Ecke kommen, dass Menschen auf nichts ein Recht haben – und unser Gewissen sagt das auch manchmal, wenn wir uns selbst betrachten. Meins sagt das zumindest. Habe ich das Recht, etwas Gutes für mich zu erhoffen? Ich weiß, dass ich den Tod von mindestens einigen Menschen verschuldet habe. Neulich hatte ich einen Traum: Ich erhalte einen großen, grauen Umschlag mit der Aufschrift „Tomasz Piątek”, in ihm mehr als dreißig Bilder von Beerdigungen. Im Traum weiß ich: Das sind die Menschen, die nach der Lektüre meines ersten Romans, Heroin, zu fixen begannen. Und die Lösung des Problems? Ich spreche hier nicht von den Personen, die ich vielleicht getötet habe, denn für dieses Problem lässt sich keine Lösung mehr finden. Nein, nein, damit werde ich mich nicht beschäftigen. Ich werde mich jetzt mit einem abstrakten, hehren philosophischen Problem beschäftigen, das da heißt: Hat der Mensch irgendwelche Rechte auf irgendetwas? Man könnte großmütig und gerissen annehmen, dass ich auf nichts ein Recht habe, meine Mitmenschen aber schon! Ich spreche ihnen diese Rechte zu, ich spreche ihnen sämtliche Rechte zu, bravo. Das ist die Einstellung eines wahren Altruisten. Aber diese großmütige Annahme (nach dem Motto: Ich spreche meinen Mitmenschen sämtliche Rechte zu, mir aber keine) ist gerissen, denn wenn ich diesen Grundsatz für richtig erkläre, dann schlage ich ihn auch allen meinen Mitmenschen vor. Also, liebe Menschheit, verzichte auf sämtliche Rechte und spreche sie MIR zu. Wie man sieht, lässt sich dieser theoretische philosophische Altruismus irgendwie nicht ganz mit der praktischen Lebenseinstellung eines Menschen vereinbaren, der einen Roman über die Freuden des Fixens herausgegeben hat, ohne darüber nachzudenken, ob er damit nicht jemandem schade – beziehungsweise diese Überlegungen in der dunkelsten Höhle seiner Seele begrub, dort, wo die Skorpione leben. zurück zum Inhaltsverzeichnis 37 Tomasz Piątek W.A.B. Warsaw 2008 125 × 200 • 310 pages hardcover ISBN: 978-83-7414-411-7 Translation rights: W.A.B. Palais Ostrogski Aus dem Polnischen von Andreas Volk Der Traumkontrolleur Marek Nocny 38 zurück zum Inhaltsverzeichnis des 20. Jhdts. geboren. Er schreibt beruflich, allerdings über andere Themen und ist unter einem anderen Namen bekannt. Er hat einen Hund. Marek Zaleski zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Traumkontrolleur Marek Nocny wurde in der zweiten Hälfte 39 Marek Nocny Der Traumkontrolleur ist ein Abenteuer- und Sensationsroman mit Tücken. Der Autor verbirgt sich hinter einem Pseudonym, doch erkennt man die Handschrift eines Meisters. Marek Nocnys ansprechend geschriebene Erzählung von Liebe und Gewalt wendet sich in erster Linie an jugendliche Leser und erzählt den Mythos von Orpheus und Eurydike in einer auf das Zeitalter der Cyberkultur zugeschnittenen Version. Ein wenig wie polnische „Matrix“ mit alterglobalen Elementen. Der Held des Romans, der Physikstudent, Flunkerer, Superman und Schwächling mit dem Spitznamen Rastaman, steigt in den Hades hinab, um Agnieszka – seine Eurydike – zu finden. Allerdings ist der Hades heute ein modernes Einkaufszentrum, das Heiligtum unserer Zeit, Ort der Verführungen und der Ausübung symbolischer Gewalt. Dort hat sich heimlich die Gesellschaft „True Life Ltd“ eingerichtet, deren Ziel es ist, den Geist der Menschen zu beherrschen und uns unsere vermeintlichen eigenen Träume zu verkaufen. Das Unternehmen handelt rücksichtslos, und mit seinen Geschäftsführern kämpft der Held auf Leben und Tod. Der Traumkontrolleur ist auch ein literarisches Spiel mit Bezügen auf Calderon de la Barca und sein Stück Das Leben ist ein Traum. Marek Nocnys Helden experimentieren mit Träumen, wobei sie in Wirklichkeit von dem Unternehmen manipuliert werden, doch sie finden einen Weg, um ihre Freiheit wiederzuerlangen. Denn die Träume in diesem Roman sind auch der Ozean des Unbewussten, das – ähnlich wie das Meer in Lems Solaris – Gedanken und Wünsche entstehen lässt. Der Traumkontrolleur bietet nicht nur Lesevergnügen, es lässt sich auch in mehr als einer Richtung lesen und stellt ein hervorragendes Beispiel postmoderner Literatur dar. Realität und Fiktion lassen sich nicht voneinander unterscheiden, unentwegt haben wir es mit dem Karussell der Identitäten des Helden zu tun. Experimente mit Träumen, Jagden, Flucht, detektivische Spekulationen, literarische Anspielungen, Liebeszerwürfnisse, Humor und tiefere Bedeutung – all das macht den Traumkontrolleur zu einem Buch, das ebenso unterhaltsam wie spannend ist. Der Traumkontrolleur ... Ich Marek Nocny 40 kenne ein paar Sachen, die kriegst du nicht für Geld. Sie heißen Glaube, Hoffnung, Liebe. „Renonce in allen drei Farben“, unterbrach Rastaman bitter. Keine gute Hand, was? Höchstens für Bridge. Und für noch etwas, wovon du bestimmt noch nie gehört hast. Kann ich weiterreden? Rastaman nickte bejahend. „Du hast dir die Karten nicht ausgesucht. Du hast sie ausgeteilt bekommen und kannst sie nicht umtauschen. Also guck sie dir an und überleg dir, zu welchem Spiel sie passen.“ „Hast du mir in die Karten geschaut?“ Der Kleine zuckte mit den Achseln. „Eine starke Karte ist gut, aber nur in real. Mit einer schwachen kannst du was auf der Traumseite ausspielen. Da könntest du ein ganz cooler Typ werden. Versuch’s mal, es lohnt sich.“ Ein cooler Typ auf der Traumseite... „Das würde mich sogar interessieren“ lachte Rastaman. “Bloß – ich hab schon lang nichts mehr geträumt.“ Wie lange – das wusste er nicht mehr. Seit Wochen. Er wäre wirklich froh, wenn er ab und zu von Agnieszka träumen würde. Jetzt, wo er keine Erwartungen mehr hatte, wäre er mit einem schönen Traum schon ganz zufrieden. Ein schöner Traum mit der unumstößlichen Illusion ihrer Gegenwart. Am besten jede Nacht. Anstelle von Begegnungen in real. Was nicht möglich war. „Du träumst nicht? Das gibt es nicht in der Natur. Du hast jede Nacht ein paar Träume vielleicht sogar ein ganzes Dutzend. Sag besser, du hast den Kontakt zu deinen Träumen verloren. Aber den kannst du wiederfinden. Es ist nur eine Frage der richtigen Technik.“ Rastaman wurde so neugierig, dass er sich vorbeugte, bis der Knopf seines Cordhemds am Tischrand hängen blieb. „Alles eine Frage der Technik... Führ das mal näher aus. Benutzt du irgendeinen schlauen Apparat?“ Jetzt grinste der Kleine von einem Ohr zum anderen, dass es blitzte. Seine Zähne waren mit einer Zahnspange ver- zurück zum Inhaltsverzeichnis klammert. Dieses Vergnügen hatte ihm bestimmt Bomber spendiert. Er schickte die Knete für alle größeren Ausgaben. Für den Englischkurs, die Renovierung des Badezimmers und einen Wintermantel für den Alten. Seit er ins Ausland gegangen war, war er der Sohn und Bruder ohne Fehl und Tadel geworden. Ein erbauliches Beispiel für den Kleinen, ob den beiden das gefiel oder nicht. „Dazu braucht man keinen Apparat. Es reicht vollkommen, was du in der Grundausstattung hast. Der Schlaf überkommt dich, ohne dass du es merkst, und am Morgen wachst du verdreht auf und kannst dich an nichts mehr erinnern. Als wärst du im falschen Film clubben gewesen. „Ich kenn keine bessere Art zu clubben.“ „Wir reden aber von einer besseren Art zu träumen.“ Ganz schön ehrgeizig: eine bessere Art zu Träumen. Weiter nichts. „Das wird ja immer interessanter“, sagte Rastaman mit einer einladenden Geste – er wickelte mit der Hand ein unsichtbares Schnürchen auf. Der Kleine verfolgte die Hand mit den Blicken, machte einen etwas dümmlichen Gesichtsausdruck, weil er nicht wusste, ob das ernst gemeint war oder umgekehrt. „In Träumen kannst du das haben, was dir im Leben fehlt“, sagte er schließlich mit leichter Gekränktheit in der Stimme, und es sah aus, als würde er sich jetzt lang bitten lassen. Er trank einen Schluck aus dem Glas, sah sich um und winkte jemandem. Jungen mit Skateboards. Sie erwiderten den Gruß. Zum Schluss winkten auch die Mädchen, die bei ihnen waren. Und schon waren sie weg, keiner mehr zu sehen, die Rücken anderer Passanten verdeckten sie. Der Kleine starrte einen Augenblick verdutzt. Doch sein Lieblingsthema, die Träume, zog ihn schnell wieder in seinen Bann. Denk nicht, dass das so leicht geht. Erstmal muss man schon etwas in die Gänge kommen. Das eine oder andere können. Zuerst die ganz einfachen Dinge. Lern vor allem den Umgang mit der Realitätsprüfung. Woran kannst du erkennen, dass du zum Beispiel jetzt, in diesem Augenblick nicht träumst? Woher nimmst du die Sicherheit, dass du wirklich in einem Einkaufszentrum bist und nicht in deinem Bett? Aus dem Polnischen von Esther Kinsky zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Traumkontrolleur Nisza Warsaw 2007 123 × 92 • 301 pages hardcover ISBN: 987-83-922819-86 Translation rights: Marek Nocny and Nisza Contact: Nisza 41 Marek Nocny „Du machst Witze!“ unterstellte Rastaman mit einem unsicheren Blick. Schwer zu sagen, wer hier auf wessen Kosten Witze machte. Im Einkaufszentrum pulsierte das Leben. Das war das Leben. Kein Traum. Darüber braucht man nicht nachzudenken. Der Kleine hob den Blick von seinem Glas. „Hast du noch nie einen Traum gehabt, von dem du dich hast vollkommen foppen lassen? Im Traum sind die Menschen leichtgläubig. In real unaufmerksam. Die meisten können das eine nicht vom anderen unterscheiden. Sie träumen im Wachen, und im Traum ist es umgekehrt, da werden sie merkwürdig konkret. An deiner Stelle wäre ich mir über nichts so sicher. Diese zwei Schachteln??? Im Einkaufszentrum? Und die toleranten Aufpasser? Und hast du gesehen, dass jemand mit einem Baby im Kinderwagen gekommen ist? Zähl lieber mal die Finger an deiner Hand. Ich mein es ernst, zähl sie nach!“ Rastaman wunderte sich, aber er zählte nach. Die Fingernägel waren abgekaut. Sein Blick blieb kurz an der Handmulde hängen. Dort hatte er sich vor ein paar Stunden etwas mit dem Kugelschreiber hingekritzelt, weil er keinen Zettel bei sich hatte. Sweet Dreams. Das waren Schlaftabletten. Der Name war so doof wie das Mädchen, das sie ihm gegeben hatte. Er kannte sie noch aus der Grundschule. Alle nannten sie Daisy. Er hatte sie zufällig in der U-Bahn getroffen. Ein leichtes Mittel, rezeptfrei, hundertprozentig zuverlässig. Früher hatte sie auch schlecht geschlafen, aber jetzt nahm sie Sweet Dreams... und dazu dieser lange, vielsagende Blick unter den Wimpern, eine Szene wie in der Fernsehwerbung. Er erinnerte sich an Daisy von früher. Sie saß immer in der ersten Bank und sah damals schon aus wie in einer Reklame. Im Unterricht zeigte sie dauernd auf, sie wusste alles. Im Leben ebenso. Sie hatte für jedes Problem ein Patent bereit. Gute Ratschläge für jedermann, immer mit einem Anflug von Überheblichkeit. Bomber musste sie auch noch kennen. Aber der Kleine wahrscheinlich nicht. Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter Andrzej Bobkowski 42 Andrzej Bobkowski RUHEPUNKT Andrzej Bobkowski Briefe aus Guatemala an die Mutter zurück zum Inhaltsverzeichnis Foto: Institut Littéraire Jerzy Jarzębski Andrzej Bobkowski (1913-1961) einer der brillantesten polnischen Exilautoren, Erzähler und Essayist. zurück zum Inhaltsverzeichnis Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter entdeckt, bearbeitet und herausgegeben werden. Einige Bände dieser Korrespondenz sind bereits erschienen (besonders wichtig sind die Briefe Bobkowskis an Jerzy Giedroyc, den Redakteur der Pariser „Kultura”). Zu diesem Zyklus gehören auch die Briefe aus Guatemala an die Mutter. Bobkowskis Briefe sind eine hervorragende Ergänzung seiner Prosa, weil sie dieselbe philosophische und existentielle Problematik auf andere Weise, nämlich viel persönlicher erfassen, und gleichzeitig sind sie berührende Zeugnisse seiner Lebensabenteuer. Der Autor der Briefe war ein Lebenskünstler, der es verstand, die geistigen und emotionellen Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen und zu beschreiben, wobei ihn allerdings nie das Gefühl für die tiefe Wesentlichkeit der Existenz im Stich ließ, die er – auf den Spuren seines Meisters, Joseph Conrad – zu begreifen und angemessen zu erleben suchte. 43 Andrzej Bobkowski Obwohl Andrzej Bobkowski seit vielen Jahren tot ist, stellt sein Schreiben für die polnischen Leser und Literaturkenner bis zum heutigen Tag ein großes Abenteuer dar. Lange war er vor allem als Autor der als Zeugnis außergewöhnlich packenden, zugleich aber in ihrem Urteil über den Zustand der europäischen Zivilisation sehr bitteren Federskizzen (deutscher Titel des ersten Teiles: Wehmut? Wonach, zum Teufel?, mehr ist bisher nicht erschienen) bekannt: ein Tagebuch, geschrieben in den Jahren 1940-1944, anfangs während einer außergewöhnlichen Reise mit dem Fahrrad durch die nicht besetzte französische Zone und dann in Paris. Bobkowski konstatierte, daß dem Nachkriegseuropa der Wille fehlte, seine wichtigsten Werte gegen die totalitären Regime zu verteidigen, und dass es bereit war, sich von äußerlichen Kräften dominieren zu lassen – sei es von der UdSSR oder den USA. Fanatisch mit der Idee der individuellen Freiheit verbunden, machte er sich auf nach Guatemala, wo er bis zu seinem Tod (er starb frühzeitig an Krebs) seinen Lebensunterhalt mit einem Laden für Modellbauer bestritt. Da er im kommunistischen Polen wegen seiner Ansichten auf dem Index stand, erlangt Bobkowski erst heute die ihm zustehende Stellung: nach der polnischen Ausgabe der Federskizzen erschienen einige Sammlungen von Erzählungen und schließlich der Band Ruhepunkt: eine komplette Ausgabe seiner Prosa und Dramen (mit Ausnahme der Federskizzen). Die Handlung dieser Werke spielt in Frankreich und Mittelamerika und hat oft einen abenteuerlichen Charakter, durchmischt mit diversen sensationellen Elementen: denn das Gebiet, in dem Bobkowski sich niederließ, war weit entfernt von einer politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Stabilität, es stellte vielmehr eine Bühne dar für harte, männliche Abenteuer. Doch selbst an solchen Orten standen für den Autor existenzielle Fragen im Vordergrund, die Literatur und die Philosophie, verstanden als persönliche, moralische Herausforderungen, und schließlich die Liebe. Bobkowski stellt stets von neuem die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Schicksal der Welt. Bobkowski war nicht nur ein ungemein begabter Prosaist. Er schrieb auch literarisch geschliffene Briefe, oft sehr umfangreich, an Freunde und Familienangehörige, die erst heute langsam Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter Andrzej Bobkowski 44 Am nächsten Tag schlief ich länger und fühlte mich nach dem Aufwachen recht seltsam. Etwas war geschehen und ich wußte, dass es nicht aufhören würde. Ich warf einen seitlichen Blick auf den kleinen Koffer, in dem ich die vollgeschriebenen Seiten eingeschlossen hatte, und es schien mir, als hätte ich dort etwas Lebendiges eingesperrt. Ich überprüfte sogar instinktiv, ob nichts daraus entkommen war. Nein, ich las es nicht, mir bereitetete derjenige Kopfzerbrechen, der sich in diesem Stoß von zwanzig Bögen Papier befand. Ich wurde ungeduldig und wollte alles so rasch wie möglich hinter mich bringen. Gegen elf Uhr setzte Father Andrew in der Lagune auf. Kaum war er auf den Schwimmer gestiegen, winkte er uns mit einer Korbflasche „Baccardi” zu und rief, außerdem habe er noch jemandem ein Kistchen echte „Partagas” aus Havanna zu einem Dollar das Stück abgeluchst. Wir halfen ihm festzumachen und das Faß mit Benzin herauszuziehen. Er berichtete, in Yukatan regne es bereits ohne Unterlaß, in ein paar Tagen werde der Regen sicher auch bei uns eintreffen. Unwillkürlich behandelte ich ihn jetzt mit Achtung, ein wenig wie man reisende Agenten großer Firmen behandelt. An Bord stieß ich nach einem kurzen Gespräch hervor: „I wanted to have a little chat with you”, dann nahm ich ihn an der Hand und führte ihn in die Kabine. Dort blickte er mich fragend an, und als ich nickte, lächelte er und nahm auf einer Kiste Platz. Ich reichte ihm meinen Aufsatz. Wieder herrschte totale Stille, nur durch das Fenster war das monotone Schluchzen der Gruyas zu hören. Er holte aus der hinteren Tasche eine Stola und legte sie sich um den Hals. Weißt du, eine Stola zu einem geblümten Hemd mit kurzen Ärmeln, engen Blue Jeans und dazu nackte Füße ..... Ich habe keine Ahnung von der Liturgie, aber ich fürchte, er war damit ein wenig auf Kriegsfuß. Weiter verlief alles normal. Er las, und ich betrachtete sein Profil und dachte mir, in diesem Hemd, mit seinen athletischen Schultern, sehe er aus wie William Holden. Dann rief ich mir unwillkürlich meinen Text ins Bewußtsein, und ich war überrascht, dass ich mich fast an jedes Wort erinnern konnte. Das dauerte fast eine Stunde. Dann legte er die Seiten zusammen, zerriß sie in kleine Stücke, erhob sich und warf sie zurück zum Inhaltsverzeichnis durchs Fenster ins Wasser. Ich stand ebenfalls auf. Ich war wie erschlagen, ich schwankte, mein Gleichgewicht war ganz durcheinander. „Das tut gut – man kann sich daran gewöhnen”, sagte er. Ich nickte. „Wissen Sie,” setzte er fort, „mein Vater meinte, alles sei vor allem eine Frage der Gewöhnung. Als ich kurz nach dem Krieg heiraten wollte, sagte er mir: heirate – du wirst dich daran gewöhnen.” Er lachte. „Was Sie am Ende sagen, ist richtig. Und was folgt daraus? – fragen Sie. Das wissen wir nicht. Es gibt Menschen, die versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören, obwohl sie nie völlig aufhören. Aber es geht darum, dass sie es versuchen. Versuchen Sie es. Schon das zählt. Wir alle müssen es versuchen. Aus diesen Versuchen gehen manchmal – Heilige hervor.” Wir gingen wieder nach oben. Nach einem Drink an Bord flog er zu seinem See, nachdem er uns einen glücklichen Start gewünscht hatte. Ja, jedenfalls fühlte ich mich jetzt bedeutend besser und ich versuchte, nicht mehr an jenes Ereignis zu denken. Ich probierte den Motor aus und beruhigte mich, nun war ich wieder bereit für alles und fühlte mich angriffslustig. Zur Abwechslung störte mich nur meine innere Heiterkeit, derer ich mich vor mir selber schämte. Das Heilmittel erschien mir allzu einfach und zu bequem, ich vernahm ein ständiges Raunen des Stolzes – des Stolzes eines Menschen, der plötzlich entdeckt hat, dass er allein schwieriger und würdiger lebt, dass nichts größer ist als etwas. Mag sein. Als ich das jedoch bis ans Ende durchdachte, als ich mich wieder meiner Erfahrung zuwandte, schien mir, dass keiner der beiden Wege schwieriger ist als der andere. Beide sind gleich schwierig, unter der Bedingung, dass man sich nur für den einen entscheidet und ihm konsequent folgt. Was wir tun, ist ein ständiges Hin- und Herspringen von einem zum anderen. Bequemlichkeit. Nach ein paar Tagen setzten die Regenfälle ein. Ein unablässiges Rauschen, Ströme von Wasser, die sich aus den Wolken auf die Erde ergießen und einem den Atem rauben. Und Kühle, endlich richtige Kühle. Wenn der Regensturz aussetzte, was für gewöhnlich vor Mittag geschah, und die Sonne durch die Wolken schien, stieg heißer Dampf vom Wald auf. Die Farben änderten sich beinahe stündlich. Die Lagune füllte sich rasch, nach jeder Nacht hatte sich das Ufer Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter Wydawnictwo Literackie Cracow 2008 125 × 195 • 414 pages hardcover ISBN: 978-83-08-04075-1 Translation rights: Wydawnictwo Literackie 45 Wydawnictwo Książkowe Twój Styl Warsaw 2008 165 × 220 • 244 pages paperback ISBN: 978-83-7163-494-9 Translation rights: Henryk Ignacy Boukołowski Contact: Twój Styl Aus dem Polnischen von Martin Pollack zurück zum Inhaltsverzeichnis Andrzej Bobkowski wieder weiter abgesetzt. Burt schwamm in jeder Regenpause mit unserem Boot hinaus, maß die Tiefe und traf Vorbereitungen. Ich sammelte alle Geräte ein, die wir zurücklassen mußten, um die Maschinen nicht unnötig zu belasten. Es gelang. Dieser Morgen wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich saß neben Burt. Schmutzige Wolken bedeckten den Himmel, aber sie standen ziemlich hoch. Nachdem es die ganze Nacht geregnet hatte, kam Wind auf. Als die Motoren ansprangen und wir langsam zu schwimmen begannen, um den Kahn zum Start bereit zu machen, und als wir dann einen Moment später mit 2550 Umdrehungen loslegten, erstarrte ich. Es gelang. Ich kann nicht ausdrücken, was in diesen langen Sekunden in mir vor ging. Ich verwandelte mich in die beiden Motoren. Zuerst kam das gegenüberliegende Ufer immer schneller auf uns zu, ich verspürte eine sanfte Wendung, dann verschwammen die Umrisse der fernen Bäume und die leicht gewellte, cremefarbene Oberfläche des Wassers in der Lagune vor den Augen, um beinahe zu verschwinden. Als wir uns in der letzten Moment losrissen, auf den Millimeter genau, und der Schwamm des Dschungels dicht über uns dahinflitzte, und als sich dann die weite Fläche des Meeres vor uns ausbreitete, lachte Burt mir zu und streckte beide Daumen nach oben. In diesem Moment kam mir plötzlich das Prinzip von Le Chatelier in den Sinn. Wenn demnach eine zusätzliche Kraft auf ein im Gleichgewicht befindliches System einwirkt, verlagert sich der Ruhepunkt in diesem System in die Richtung, in der die Wirkung der Kraft geringer wird. Ich begann darüber nachzudenken, denn als ich schon draußen war, auf dem Meer, umgeben vom monotonen, gesunden Brummen der Motoren, machte ich mir bewußt, daß dort, in dieser Lagune, meine ganzes System dem Wirken einer Kraft ausgesetzt gewesen war, gegen meinen Willen, und dass sich mein Ruhepunkt mit Sicherheit verlagert hatte. Allerdings nicht in die Richtung, in der das Wirken der Kraft sich verringert. Und das läßt mir bis heute keine Ruhe. Die Bürgerin Manuela Gretkowska 46 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Krzysztof Opaliński zurück zum Inhaltsverzeichnis bringt uns Momente der Zweifel und des Triumphs nahe, und vor allem berichtet sie über den Partei-Alltag. Es ist wichtig zu betonen, dass obwohl es die Bekenntnisse einer Person sind, die weder sozialaktivistische noch diplomatische Erfahrung besitzt, man diese Frau nicht für naiv halten kann. Manuela Gretkowska ist der tragikomische Charakter dieser Begebenheiten sehr wohl bewusst, und sie betrachtet sie mit einer gehörigen Dosis Ironie. Doch diese Ironie lässt den Leser keineswegs an ihrem Engagement zweifeln. Manuela Gretkowska (geb. 1964), Schriftstellerin und Publizistin, hat bisher 12 Bücher veröffentlicht und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. zurück zum Inhaltsverzeichnis Die Bürgerin Marta Mizuro 47 Manuela Gretkowska Die Bürgerin ist mittlerweile der dritte Teil des brandheißen Tagebuchs von Manuela Gretkowska, das die Schriftstellerin in einer ungewöhnlichen Rolle präsentiert: als Gründungsmitglied und dann Vorsitzende der Partei der Frauen. Das Buch beschreibt die Kulissen des politischen „Krachs“, beantwortet die Frage, wie die Künstlerin auf diese nicht alltägliche Idee gekommen war und erklärt, was sie dazu bewogen hatte. Alles fing mit einem Zufall an, als aus einer Zeitung Gretkowskas Feuilleton entfernt wurde, in dem die Autorin den Regierungsstil der Gebrüder Kaczyński kritisierte; dann wurde in einer Wochenzeitschrift ein unangepasstes Statement über die Situation der modernen „Mutter Polin“ veröffentlicht. Anschließend gab es das (im Buch abgedruckte) „Manifest“, in dem Gretkowska die Frauen dazu aufrief, über ihre Rechte zu bestimmen und eine eigene Partei zu gründen. Diese Initiative blieb nicht ohne Echo, wobei sofort selbstverständlich wurde, dass die charismatische Schriftstellerin diese neue politische Kraft anführen sollte. Wer es von außen verfolgte, bekam den Eindruck, diese Angelegenheit sei eine Verbindung von Kabarett und Happening. Obwohl Tausende von Frauen diese Initiative enthusiastisch begrüßten, bekam sie keinerlei Unterstützung von einer der formalen politischen Gruppierungen. Die Partei der Frauen ernst zu nehmen wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass zwischendurch ein neuer Roman der Gretkowska Premiere hatte – so wurde allgemein angenommen, das politische Vorhaben sei lediglich ein origineller Werbegag. Die Bürgerin beleuchtet und klärt diese „Affäre“ zweifelsohne. Vor allem wirft das Buch ein helles Licht auf die Autorin selbst, die tatsächlich sehr engagiert die Rolle des Don Quijote im Rock übernommen hatte. Sie kämpfte nicht nur mit der Kritik von außen, sondern auch gegen die Reibungen unter ihren Mitarbeitern. Gretkowska erzählt offen und ehrlich von den Kämpfen mit den Mechanismen der Politik und der menschlichen Natur, sie Die Bürgerin 3.Dezember Manuela Gretkowska 48 Ein schnelles Mittagessen in einer Kneipe in der Nähe von „Montownia“. Endlich Erleichterung nach einer Woche mieser Imbisse. Die Gąsiorkis – die große dunkelhaarige Ania, mit der Schönheit einer Ikone, und der gutmütig pummelige Jacek mit roten Löckchen überall – haben auf die Wand hinter mir das Plakat projiziert. Ich stelle mich mitten auf die Bühne, Leute kommen noch nach, es fehlt an Stühlen. Es sind an die vierhundert Menschen da, vor allem Frauen, unterschiedlichen Alters. „Frau Gretkowska, Sie reden nun seit einer Viertelstunde, und nichts passiert …“, wundert sich eine ungeduldige Greisin. „Dabei sollten wir schon im Sejm sein, nicht seit einer Viertelstunde, sondern seit einigen Jahren!“, heize ich auf. Nachdem sich der Saal ausgelacht hat, erzähle ich weiter: „Was lässt uns nicht im Sejm sein? Wo werden wir blockiert? In unseren Köpfen?“ Ich erzähle, warum die Partei der Frauen eine reguläre politische Armee ist, und keine Partisanen-Vereinigung. Ich bin so überzeugt von der Richtigkeit meiner Argumente, der Einfachheit der Lösungen, dass die Bühne zu einer Startbahn für die Ideen und für mich wird. Die Bühnendielen werden länger, die Lichter werden zu einem leuchtenden Wegweiser. Ich erhebe mich über die Menschenmassen, kann gerade noch einzelne Gesichter ausmachen. Die Augen, die sich auf meine Worte konzentrieren, führen mich, zwinkern, geben mir Zeichen, ob ich in die richtige Richtung unterwegs bin. Mittlerweile kann ich mich selbst nicht mehr hören, ich habe keine Ahnung, was ich als nächstes sagen werde. Ich falle in Trance und habe Angst, das Bewusstsein zu verlieren. Ich bremse mich selbst, bitte um Fragen. Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken, was hier gerade passiert ist. Aus der ersten Reihe erheben sich Frauen. Sie stellen sich vor: aus Lodz, Allenstein, aus Schlesien. Blitzsaubere, weiße, gebügelte Hemdblusen, dunkelblaue Röcke – wahre Aktivistinnen. Ich, in einem Sweatshirt und in unförmiger Cordhose, sehe neben ihnen wie eine Rockmusikerin aus. Iwona, eine Politologin, meldet sich zu Wort, dann ein paar Frauen zurück zum Inhaltsverzeichnis von diversen Organisationen. Ich sammele Visitenkarten und Zettelchen. Ein Mädchen kommt auf mich zu: sie will als meine Assistentin arbeiten. Ich frage sie direkt, ob sie eine psychiatrische Behandlung hinter sich hat. Schock. Ich erkläre ihr, dass es eine derart schwere Arbeit ist, dass jemand entweder gar nicht abschätzen kann, worauf er sich da einlässt, oder kann die Wirklichkeit nicht adäquat einschätzen. Piotr hat das Treffen von der Galerie aus beobachtet. „Gott, fünfziger Jahre, die Frauen sind erwacht und meinen, irgendwelche Rechte zu haben!“ Hinter Spott verbirgt er seine Rührung. Małgosia Marczewska, die ich bei einem Foto-Shooting kennen gelernt habe, mein Beinahe-Coach, versucht, ein Resümee zu ziehen: „Du hast keine Zettel im Raum herum gehen lassen, um aufzuschreiben, wer dabei war, mit Kontaktadresse und Anfrage, wer was übernehmen kann. Der Rest des Treffens: wie nach einer Schulung beim CIA! Bevor du angefangen hast, hast du den Versammelten drei Fragen gestellt; ob alle Stühle haben, ob man dich hören kann … Fünf Fragen wären perfekt gewesen.“ Ich weiß nicht, ob sie es ernst meint oder sich über mich lustig macht. Sie schult Firmen, Direktoren großer Unternehmen. „Du musst dein Privatleben von der Partei trennen. Mach nach den Treffen dein Mobiltelefon aus.“, rät sie mir. Das Handy, das ich in der Hosentasche trage, wurde zu einer Art tretenden, bei den Vibrationen der eingehenden Anrufe auf und ab springenden Fötus, der sich in meine Seite festbeißt. Jeden Tag bekomme ich es immer mehr zu spüren. Es weckt mich nachts auf, lässt mich tagsüber nicht zur Ruhe kommen. Wir kehren nach Hause zurück; wie üblich haben alle Läden schon zu. Nur noch die Tankstelle bleibt uns, aber wir haben keine Kraft mehr, anzuhalten und Brot zu kaufen. „Wenn das länger so gehen soll, schaffe ich es nicht!“ Piotr kapituliert. Nach der Versammlung hat er mit einem Komitee an weiblichen Führungskräften für die Partei gerechnet. Er hat gehofft, dass wir dann nicht mehr so eingespannt sein würden. Świat Książki Warsaw 2008 123 × 195 • 320 pages hardcover ISBN: 978-83-24712-09-0 Translation rights: Świat Książki Aus dem Polnischen von Paulina Schulz zurück zum Inhaltsverzeichnis 49 Manuela Gretkowska Am Morgen reden wir nicht miteinander, er muss nach Lodz, unsere Kleine abholen. Ich renne zwischen dem Telefon und dem Internet hin und her. Nach dem Treffen in „Montownia“ hat sich nicht viel verändert. Vielleicht heute Abend, in der Filtrowa-Straße, bei Małgosia … Iwona will kommen, die Parteien-Fachfrau. Die Gąsiorkis haben angeboten, sich um die emails zu kümmern. Sie haben eine einige Monate alte Tochter und einen Knall, was soziales Engagement angeht. Wenn nur ein kleiner Anteil der Menschheit, nur so groß wie das Kerngehäuse eines Apfels, diesen beiden ähnlich sein könnte, wäre die Welt ein Paradies. Mittags Hunger, und Leere im Kühlschrank. Jemand fragt am Telefon: „Ist etwas passiert?“ Ich begreife nicht sofort, wer das ist und warum dieser Mensch nicht weiß, was los ist … Ein Landsturm! „Wir waren im Restaurant verabredet. Sie wollten unsere Speisekarte für die Zeitschrift bewerten …“, erinnert mich eine Stimme aus einem vergangenen Leben. Ich habe dieses Treffen vergessen, obwohl es in meinem Terminkalender notiert war. Ich habe alles aus meinem Gedächtnis gelöscht, was nicht mit der Partei zu tun hat. Leider auch das Zahlen von Rechnungen. Als ich hinunter gehe, um auf das Taxi zu warten, das mich ins Restaurant bringen soll, finde ich im Briefkasten Mahnungen. An mich – die ich das monatliche Begleichen von Rechnungen für Strom und Telefon als die Erleichterung einer Absolution ansehe. Es ist, als würde ich meiner Mami das Zeugnis meiner moralischen Führung bringen. Ich habe mich vom Internet losgerissen, von der Akquise der Partei-Koordinatorinnen für die Regionen, und betrete eine andere Welt: eine Kneipe, die im Stil japanischer Belle Epoque umgebaut wurde. Ich bekomme foie gras in Schokolade und Dorsch mit Rosenblüten. Ich schlinge es hinunter, bewerte das Essen für die kulinarische Rubrik, und renne nach Hause. Die Bürgerin 4.Dezember Haschischopenken Jarosław Maślanek 50 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Katarzyna Skoczyńska-Maślanek zurück zum Inhaltsverzeichnis Przemysław Czapliński Jarosław Maślanek (geb. 1974) ist studierter Politologe, Journalist. zurück zum Inhaltsverzeichnis Haschischopenken mit der Anwerbung inoffizieller Mitarbeiter aus den Reihen der „Solidarność” hätten. Verblüffenderweise gelingt es dem Autor, anhand der Schilderung des ersten Jahres des Kriegszustandes aus der Perspektive zweier Jungen und ihrer Freundschaft mehr zu erzählen, als es die Bilder von Mitgliedern der „Solidarność”, von Streiks und Demonstrationen tun. In Jarosław Maślaneks Roman scheitert die „Solidarität” nicht, weil sie gegen die Staatsgewalt unterliegt, sondern weil sie keine gelebte Solidarität ist. Und dies ist nicht das Scheitern einer gesellschaftlichen Bewegung, sondern einer gesamten Gesellschaft. 51 Jarosław Maślanek Haschischopenken ist ein Roman über die Freundschaft zweier zwölfjähriger Jungen – Maksymilian und Wronek. Max’ Vater engagiert sich in der „Solidarność”, Wroneks Vater ist bei der Miliz. Die Handlung spielt im Jahr 1982, unmittelbar nach der Ausrufung des Kriegszustandes, irgendwo in der polnischen Provinz, in einem kleinen Ort, der nur aufgrund einer ansässigen staatlichen Rüstungsfabrik existiert. Alles, was die Wirklichkeit hervorzubringen vermag, ist ständige Frustration, Antipathie und Hass. In dieser Welt versuchen die beiden Helden, sich einen Rest von Unabhängigkeit und Sinn zu bewahren. Sie suchen Zuflucht in ihrer Freundschaft, die ein Gegengewicht zu dem schleichenden Verfall um sie herum bilden soll. Beide leben in zerfallenden Familien (Max’ Eltern stehen kurz vor der Scheidung, Wroneks Vater wird von einem Transporter überfahren), beide sind schulische Außenseiter. Ohne es zu merken, tragen die Jungen ihre familiären Probleme in ihre Freundschaft hinein, doch sie sind zu jung, um auf diese Weise eine echte Beziehung aufzubauen und sich selbst zu retten. Voller wilder Verzweiflung und aus unerwiderter Liebe geborener Grausamkeit sind sie zu jeder Dummheit fähig – inklusive eines unbeabsichtigten Mordes. Der Mord verbirgt sich hinter dem wahnwitzigen Plan einer Abrechnung mit einem Outlaw. Dieser Mann, der den seltsamen Beinamen „der Dreizehner” trägt, ist ein ehemaliges Mitglied der Freiwilligen Reserve der Bürgermiliz, der meistgehassten Organisation der Volksrepublik Polen, die von der kommunistischen Regierung zur Niederschlagung gesellschaftlicher Proteste eingesetzt wurde. Inzwischen ist der Dreizehner alt, allein und von allen geächtet. Ihn umgibt eine Atmosphäre vager Verdächtigungen, die für Max und Wronek Grund genug ist, ihn zum Opfer zu erwählen. Ihr Plan ist im Wesentlichen ein Versuch der Wiederherstellung einer zerstörten Ordnung. Wronek und Maksymilian suchen intuitiv nach einer Möglichkeit, sich ihren Platz in diesen sozialen Gruppen zurückzuerobern. Die Atmosphäre wird zusätzlich vom Kriegszustand vergiftet, der Misstrauen und Verrat zwischen die Menschen bringt: In dem kleinen Ort hängt zu viel von der staatlichen Fabrik ab, als dass die Machthaber Probleme Haschischopenken Ende und Anfang Jarosław Maślanek 52 Ich konnte nicht einschlafen. Lag aufgedeckt und verschwitzt da. Starrte an die Decke, die in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Meine Schulter brannte leicht, die Verletzungen im Gesicht pulsierten schmerzhaft. Ich hörte, wie sich meine Eltern mit dem Dreizehner unterhielten. Erst ruhig, dann immer lauter. Unser Nachbar verließ uns spät in der Nacht. Die Tür meines Zimmers öffnete sich einen Spalt breit und mein Vater blickte hinein. Einen Moment später zog er sich leise wieder zurück. Als ich endlich einschlief, hatte ich einen seltsamen Traum: Ich sitze mit Wronek auf meinem Zimmer, er auf dem Sessel zwischen dem Schreibtisch und dem Fenster, ich auf dem Stuhl, und wir quatschen wie immer über alles und nichts. Aus Versehen stoße ich das Glas mit dem Tee um. Der heiße Tee ergießt sich über Wronek, aber er merkt es nicht. Das Glas rollt über die Tischplatte, fällt auf den Sessel, mitten durch meinen Freund hindurch. Ich wachte auf. Es war schon hell. Ich ertrug keine Veränderungen, fürchtete mich vor Neuerungen. Aus diesem Grund mochte ich unseren Wohnblock: ein Ort, den ich seit meiner Kindheit kannte, mit klar abgesteckten Grenzen; mit ihm verband ich meine frühesten Erinnerungen. Und wahrscheinlich fürchtete ich mich deshalb vor diesem Traum, den ich in der letzten Nacht der Ferien von Mittwoch auf Donnerstag im Jahr Neunzehnhundertzweiundachtzig geträumt hatte. Wronek war seit Langem mein Freund, ich wollte ihn nicht verlieren. Aber ich hatte auch keine Lust, unsere Fehde mit dem Dreizehner fortzusetzen. Ich traf eine Entscheidung, musste nur noch mit Wronek darüber sprechen. Ich hörte, wie mein Freund von unten nach mir pfiff. Ich sah hinaus. Wronek versteckte sich hinter den Sträuchern. Er winkte und deutete auf den Keller. Ich verstand. Dann lief er selbst dorthin, in gebückter Haltung, wie unter Beschuss. Ich verließ mein Zimmer. Meine Eltern waren nicht da. Ich blickte auf die Uhr. Schon weit nach zwölf! Ich lief rasch ins Bad, pinkelte, wusch mir das Gesicht. zurück zum Inhaltsverzeichnis Mein Spiegelbild verdeckte ich mit der Hand. Ich wollte mich nicht ansehen. Ich lief in den Keller. Die Kälte und die abgestandene Luft vertrieben den letzten Rest von Schlaf. Ich hatte leichte Kopfschmerzen. Sicher, weil ich so lange geschlafen hatte. Wronek wartete unten. Er stand in einer Ecke, die vom Licht der Glühbirne nicht erhellt wurde. Hallo – sagte ich und kam gleich zur Sache. – Hör mal, ich will mich nicht mehr mit dem Dreizehner anlegen. Lassen wir ihn in Ruhe. Das war okay für die Ferien, aber jetzt geht die Schule wieder los. Zu spät – unterbrach er mich. Ich konnte nicht sehen, ob er lächelte, aber es kam mir so vor. – Wie, zu spät? – Zu spät, um ihn in Ruhe zu lassen. – Er kam auf mich zu. Seine Kleidung klebte am Körper, als sei er durch einen blutigen Regen gelaufen. Seine roten Haare waren zu dicken Strähnen verklebt, dazwischen hingen schwärzliche Brocken getrockneten Blutes. – Was hast du getan?! – schrie ich. Ich glaubte, mein Kopf würde vor Schmerz zerplatzen. – Das, was wir geplant haben. – Sein mit getrocknetem Blut verklebtes Gesicht wurde von einem Lächeln verzerrt. – Das ist nicht wahr! – In seiner Wohnung. Er nahm mich an der Schulter. Führte mich die Treppe hinauf. Ich bemerkte, dass er Arbeitshandschuhe trug, die feucht von Blut waren. Ich stützte mich auf ihn, aber er war sehr stark, wie ein Erwachsener. Er führte mich zur Tür mit der Nummer Dreizehn. Stieß sie auf und zog mich in die Küche. Der Dreizehner lag auf dem Fußboden. Wronek kniete sich neben die abgehackte Hand. Er hob sie hoch, betrachtete sie und warf sie weg. Dann griff er nach dem Beil mit der rostigen Verzierung an der Schneide. – Ich habe es so gemacht, wie es uns der Holzfäller beigebracht hat, erinnerst du dich? – Er stand über der Leiche, hob das Beil in die Höhe. – Sich selbst nichts abschneiden, was noch gebraucht wird. Und nicht zu hoch ansetzen. Er- Doch mir schien es, als beträfe das alles nicht mich, sondern einen anderen. Immer weiter fiel ich in mir zusammen, mein Bewusstsein schlief ein. Das war nur ein Traum, ein furchtbarer Albtraum, ich löste mich auf. W.A.B. Warsaw 2008 123 × 195 • 256 pages hardcover ISBN 978-83-7414-470-4 Translation rights: W.A.B. zurück zum Inhaltsverzeichnis Haschischopenken Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau 53 Jarosław Maślanek innerst du dich? – sagte er und nahm die Handschuhe ab. Dann schüttelte er sie aus, so wie Jędrek es getan hatte, und warf sie auf die Leiche. Wie hypnotisiert starrte ich auf den toten ORMO-Kämpfer. Er lag auf dem Rücken. In seinem einen Auge steckte ein Bleistift, die rechte Hand war abgehackt, der Bauch aufgeschlitzt, seine Eingeweide ergossen sich über den Boden. Eine Pfütze erstarrten Blutes. – Schluss mit Haschischopenken – sagte Wronek. Ich schaute und wollte nicht sehen. Ich versuchte die Augen zu schließen, doch die Lider senkten sich nicht; wollte sie mit den Händen bedecken, doch die Arme verweigerten mir den Gehorsam. Ich schrie los. – Du hetzt uns noch den ganzen Block auf den Hals! – Wronek sprang auf mich zu und hielt mir die Hand vor den Mund. – Gleich sind alle hier, du Idiot! – Er stieß mich gegen die Wand und weiter in Richtung Ausgang. Er öffnete die Tür und schubste mich auf den Flur hinaus. Im Treppenhaus herrschte helle Aufregung. Als Erste kam uns die Piastowa entgegen, wie immer an der Spitze der Nachrichtenabteilung. Hinter ihr erblickte ich einige andere Nachbarn, darunter auch den Aufseher Polepa, der doch eigentlich in der Arbeit hätte sein sollen. Sie schrien irgendetwas, es herrschte ein Höllenlärm, der vom Echo im Treppenhaus noch verstärkt wurde. Immer weitere Türen gingen auf. – Schneller! – schrie Wronek. – Immer verbockst du alles. Die Piastowa blieb wie angewurzelt stehen, als sie den blutbefleckten Wronek erblickte. Polepa lief an ihr vorbei in die Wohnung des Dreizehners. Mein Freund stieß mich noch einmal in den Rücken und ich stolperte in die Wohnung von Wronkiewiczs. Ich lehnte mich gegen die Wand und ließ mich langsam zu Boden sinken. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Helm aufgesetzt, der mich vor den Reizen der Außenwelt abschirmte. Die Geräusche erreichten mich wie von fern, die Bilder drangen durch einen dichten Nebel. Ich sah, wie Wronek die Tür verbarrikadierte; ich hörte den Lärm, der sich im Treppenhaus erhob, als unsere Nachbarn entdeckten, was bei dem Dreizehner geschehen war. Entschuldige dich: ein Spielerratgeber Aleksander Kościów 54 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Robert Morawski zurück zum Inhaltsverzeichnis Robert Ostaszewski Aleksander Kościów (geb. 1974), ist gelernter Komponist und Bratschist. Entschuldige dich ist sein zweiter Roman. zurück zum Inhaltsverzeichnis Entschuldige dich: ein Spielerratgeber scheidungen unbedingt von unserem gesunden Menschenverstand und der Vernunft leiten lassen oder eher unserer Intuition vertrauen?“. Die Suche nach Szymon wird für die Erwachsenen gleichzeitig zur Selbstfindung; am Ende der Suche sind sie schon nicht mehr die gleichen Menschen wie zu Beginn. 55 Aleksander Kościów Nachdem Błażej seine wissenschaftliche Karriere abgebrochen hat und seine Freundin Ewa ihn verlassen hat, führt er ein monotones, langweiliges Leben, das kaum Abwechslung bietet. Mit jedem Jahr versinkt er mehr und mehr in Lethargie, sogar das Höhenbergsteigen, seine größte Leidenschaft, hat er aufgegeben. Er erwartet keine Veränderungen und scheint das auch gar nicht zu wollen. Eine Zufallsbegegnung lenkt sein Schicksal aber in eine vollkommen andere Richtung. Auf dem Rückweg von der Arbeit überfährt er beinahe die junge Zuzanna (die hartnäckig behauptet, dass sie eigentlich Fix heißt), die vor jemandem auf der Flucht ist. Anfänglich hat es den Anschein, dass sie vor Marta flieht, das stellt sich jedoch als falsch heraus. Błażej erfährt auch, dass Marta nach Warschau gekommen ist, um ihren kleinen Sohn Szymon wiederzufinden, der unter ungeklärten Umständen verschwunden ist. Ohne groß nachzudenken, beschließt Błażej, der Frau bei ihrer Suche zu helfen, bei der auch Zuzanna eine wichtige Rolle spielen wird ... Die Exposition des Romans Entschuldige dich macht einen recht gewöhnlichen Eindruck, aber das ist nur ein Täuschungsmanöver. Aleksander Kościów wäre nicht Aleksander Kościów, würde er nicht plötzlich seiner ungezügelten Phantasie freien Lauf lassen, die in die dem Leser bestens vertraute Wirklichkeit einsickert. Fix beharrt darauf, eine Art Superheldin zu sein, die in einer Parallelwelt mit einem Geiermenschen kämpft, der auch Martas verschwundenem Sohn auflauert. Anfangs sehen die Erwachsenen in ihr einen verrückten Teenager mit einer übertriebenen Phantasie. Sie ändern jedoch ihre Einstellung, als sie entdecken, dass Fix sie mühelos immer wieder auf die Spur des verschwundenen Jungen bringt. Kościów fährt zweigleisig. Einerseits erzählt er von Błażejs und Martas „verrückter Woche“ auf der Suche nach dem Jungen. Andererseits schildert er die Wanderung von Dala – wohinter sich wahrscheinlich Szymon versteckt – durch eine Welt, die einem Computer-Rollenspiel ähnelt. Während Kościów einen Plot voller Action und überraschenden Wendungen entwirft, stellt er gleichzeitig wichtige Fragen: „Weiß ich hundertprozentig, in welcher Welt wir leben?“, „Sollten wir uns bei wichtigen Lebensent- Entschuldige dich: ein Spielerratgeber Die Aleksander Kościów 56 Frau setzte sich einfach auf die Tasche, wodurch sie ein bisschen wie eine schlampig zusammengesetzte Marionette aussah. Sie starrte ausdruckslos vor sich hin auf den Bürgersteig und strich sich die Strähnen aus dem Gesicht, die gleich wieder an ihren vorherigen Platz zurückkehrten. „Was passiert ist?“, sagte sie leise, sie hob nicht einmal den Kopf dabei. „Das kann ich Ihnen sagen. Ich habe kein Geld, keine Karte, ich habe nichts, um jemanden anzurufen, der auf wundersame Weise irgendwie elektronisch bezahlen könnte, das ist ein Alptraum, Sie sind sich ja nicht bewusst, warum ich überhaupt hier bin ... Warum mir das alles zustößt ... Keine Ahnung ...“ Błażej stieg aus und kniete sich vor sie hin. Die Situation war ernst und erforderte Fingerspitzengefühl, Galanterie, Sorge, Takt – verschiedene Eigenschaften, die er schon lange nicht mehr Gelegenheit hatte zu üben. „Tun Sie, was Sie wollen“, begann er. „In der Handtasche war alles ... Geld, Karten, Ausweis, Führerschein. Glücklicherweise habe ich meinen Gesundheitspass in die Tasche gestopft. Auf dieser Grundlage haben sie mir auf der Polizei einen vorläufigen Ausweis ausgestellt, wenn ich wenigstens Zugang zu meinem Konto hätte, eine meiner Banken muss ihn doch akzeptieren, aber das ist erst morgen ... Sonst war nichts zu machen ...“, sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Ihre Stimme erreichte eine gefährliche Tonhöhe und ging in ein trauriges Piepsen über. „Ich weiß nicht ...“ „Ich verstehe. Weil Sie kein Geld haben, wissen Sie nicht, wo Sie übernachten sollen, reden wir nicht um den Brei herum, ich bringe Sie also zu mir nach Hause und schlafe selbst bei einem Freund, wir hatten sowieso vor uns zu treffen.“ Sie hob den Kopf, aber in der Dunkelheit konnte er ihren Blick nicht lesen, er sprach also schnell weiter: „Ich wohne alleine, niemand wird Sie stören. Ich gebe Ihnen die Schlüssel, wenn Ihnen das lieber ist ... Morgen geben Sie sie bei der Nachbarin ab. Man muss sich ausschlafen, und dann findet sich auch eine Lösung, früher oder später. Ich lasse Ihnen mein Handy, da haben Sie alle meine wichtigen Nummern, einschließlich der Nummer meines Freundes, den ich jetzt zurück zum Inhaltsverzeichnis gleich anrufen werde, falls Sie mir nicht glauben oder es ein Problem geben sollte, Sie werden einfach ruhig schlafen können bis morgen, und das ist ja wohl jetzt das wichtigste.“ Als er geendet hatte, ließ er eine Menge Luft ab, wobei er sich wunderte, wo sich diese die ganze Zeit über versteckt hatte. Die Frau sagte eine Weile nichts. „Es ist ein Uhr vierzig“, sagte sie schließlich, wonach sie wieder verstummte. Błażej nickte und wartete darauf, dass sie ihren Gedanken ausführte. „Sie sind ... unglaublich höflich. Was soll’s, hab’ ja auch ... nicht die Wahl, verdammt ... Stimmt, ich weiß nicht mehr weiter. Das ist überhaupt ein Alptraum.“ Sie vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und verharrte in dieser Position so lange, dass Błażej irgendwann aufstehen musste, um sich die Beine zu vertreten. Von der Kühle der Nacht war nur wenig zu spüren, und die Konzentration der sauerstofflosen Suspension hinderte ihn daran, seine Gedanken zu sammeln. Er begann sich mit einem Stadtplan, von dem sich schon der Umschlag löste, Luft zuzufächeln, die Frau blickte ihn an, also gab er ihr den Stadtplan und holte sich aus dem Handschuhfach eine alte Zeitung. So saßen sie eine Weile schweigend da und fächelten sich, aber der Raum zwischen ihnen wurde ausgefüllt vom Knirschen rieselnder Gedanken, Entscheidungen, verschiedener schwarz-weißer Pros und Kontras. „Sie sind unheimlich lieb ...“, sie hob den Kopf und lächelte. „Ich hoffe, die Schwierigkeiten, die ich Ihnen seit ein paar Stunden mache ...“ „Kein Problem. Wirklich.“ „Ich heiße übrigens Marta“, sie streckte ihm ihre verschwitzte Hand hin, die mit einem silbernen Ehering bestückt war. „Und ich Błażej”, lächelte er, ihren Händedruck erwidernd, dann wählte er Mateusz’ Nummer. „Wollen Sie jetzt anrufen? Es ist fast zwei Uhr nachts.“ „Erstens, heißt das nicht Sie, sondern Błażej. Zweitens, als wir zehn Jahre alt waren, haben Mateusz und seine Kumpel mir im Ferienlager am See abends ein Schlafmittel in den Tee getan und in der Nacht mein Bett mit mir auf zwei Boote gesetzt. Auf einem solchen Katamaran wachte ich auf, Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau zurück zum Inhaltsverzeichnis Entschuldige dich: ein Spielerratgeber Muza Warsaw 2008 130 × 215 • 566 pages paperback ISBN: 978-83-7495-546-1 Translation rights: Aleksander Kościów Contact: Muza 57 Aleksander Kościów mit fürchterlichen Kopfschmerzen, mitten auf dem nebligen See, umgeben von irgendwelchen Haubentauchern. Es ist mein gutes Recht, ihn um zwei Uhr nachts anzurufen, keine Sorge.“ Die Frau schnaubte durch die Nase, sie lächelte unmerklich und schaute sich dabei um. Während er Mateusz die Situation erläuterte, schüttelte sie nur mit dem Kopf, blickte hin und wieder zu Błażej herüber und schob das Lächeln unwillkürlich in die Mundwinkel, damit es kleiner wäre, falls es bemerkt werden sollte. „Geht klar. Sie haben übrigens gar nicht geschlafen. Wir hatten sowieso vor uns zu treffen, nach ihrer Rückkehr aus Portugal, also kann es auch jetzt sein.“ „Nicht schlecht“, sagte sie nur und ließ sich die Tasche abnehmen, die auf dem Rücksitz landete. „Na also“, befand Błażej, als er sich hinter das Steuer setzte und ihr ein zweites, frisch befeuchtetes Handtuch reichte. „Zeit zum Schlafen. Morgen wird alles gut werden.“ Marta machte ein trübsinniges Gesicht, nickte aber zustimmend. Unterwegs machten sie noch an einer 24-Stunden-Tankstelle halt. Als Błażej zum Auto zurückkam, sagte sie leise: „Ich bin gestern nach Warschau gekommen. Ich bin aus Krakau. Ich bin hierher gefahren, weil es so aussieht, als wäre mein kleiner Junge verschwunden. Er ist zehn.“ Sie fuhren durch leere Straßen, das Spiel der Lichter und ihrer Trugbilder, die von der Frontscheibe zurückgeworfen wurden, wies ihnen den Weg. Błażej war an den Kreuzungen übervorsichtig, schaute mehrmals nach links und rechts und war mit verschiedenen zusätzlichen Tätigkeiten beschäftigt, spritzte Wasser auf die Windschutzscheibe oder überprüfte, wie viel Spiel der Schaltknüppel hatte. Marta lehnte die Stirn an ihr Spiegelbild im Fenster. Das war schon nicht mehr die direkte Fortsetzung dieses verrückten Abends mit dem bekloppten Teenager, der so tat als sei er bewusstlos, und der Suche nach einem Hotel; das war es nicht mehr. Gesten Ignacy Karpowicz 58 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Grażyna Samulska zurück zum Inhaltsverzeichnis bleibt bei ihr. Er denkt über seine Vergangenheit nach, versucht sie zu verarbeiten, sein Leben in Ordnung zu bringen. Er hat jedoch nicht allzu viel Zeit, er erfährt nämlich, dass er krebskrank ist. Eine psychologisch präzise und erschütternde Analyse eines „vom Schicksal geschlagenen Mannes“. Kurz gesagt: Ein starkes Stück Literatur. Gesten Robert Ostaszewski Ignacy Karpowicz (geb. 1976) Erzähler, Reisender, Übersetzer. Gesten ist sein viertes Buch. zurück zum Inhaltsverzeichnis 59 Ignacy Karpowicz Bisher kannte man Ignacy Karpowicz vor allem als einen Prosaschriftsteller, der grotesk und ironisch, mit einem ganz eigenen Humor, vom heutigen Polen erzählte (ich denke hier an die Ro mane Nicht der Hit und Das Wunder). In seinem neuesten Buch, dem Roman Gesten, hat er das Genre und den Ton gewechselt, der jetzt ein ganz ernster ist. Und – das sei gleich vorweggeschickt – bewiesen, dass er ein ungewöhnlich vielseitiger Schriftsteller ist, der hervorragend mit verschiedenen Stilen zurechtkommt. Das Buch besteht aus den Aufzeichnungen des vierzigjährigen Helden und schildert hauptsächlich die letzten Monate seines Lebens, ergänzt um eine kurze Glosse (das ist auch der Titel des letzten Kapitels) von seiner ersten, großen und praktisch einzigen Liebe, die er bereits als Jugendlicher verließ, als sie krank wurde. Der Eintritt ins „Mannesalter“ ist für Grzegorz das „Tor zur Niederlage“, zwar ist er ein gefragter Theaterregisseur und Drehbuchautor, kommt aber mit seinem Leben überhaupt nicht klar. Er leidet an Schlaflosigkeit, verschiedenen Traumata und Phobien, seine Beziehungen zu Angehörigen und Freunden sind toxisch, zu Frauen kann er keine festen Bindungen aufbauen – überhaupt scheint er ein sehr asozialer Typ zu sein. Sein Hauptproblem ist aber wahrscheinlich, dass er nicht weiß, wozu und wie er leben soll. Er erklärt sich das u.a. so: „Ich bin das Kind meiner Eltern, das versteht sich von selbst, und ein Kind des Mangels. Es fehlte an Grundnahrungsmitteln und Produkten des täglichen Gebrauchs: Fleisch, Zucker, Hefe, Toilettenpapier – aber es fehlte auch an Autoritäten und Vorbildern“. An anderer Stelle bemerkt er: „Mein Leben scheint mir keinen Inhalt zu haben. Daher bemühe ich mich, ihm eine Form zu geben“, seine Reaktionen auf den Alltag sind nichts weiter als einstudierte Gesten, als spielte er eine Rolle in einer schlechten Fernsehserie (nicht zufällig schaut sich der Held gegen Ende seines Lebens leidenschaftlich gerne kitschige Fernsehserien an). Grzegorz’ Leben ändert sich plötzlich – und für ihn völlig unerwartet –, als er beschließt, in Sorge versetzt durch die Anrufe der allein lebenden Mutter, sie nach Jahren mal wieder im heimatlichen Białystok zu besuchen. Es stellt sich heraus, dass die Mutter schwer krank ist, Grzegorz Gesten Wenns und Als Ignacy Karpowicz 60 Wenn mein Bruder über meine ausgestreckten Beine steigen musste, sagte er: „Nimm deine Prothesen weg!“. Wenn Mutter Angst vor etwas hatte, begann sie zu essen. Sie hatte mehr Angst um andere als um sich selbst. Vor dem Tod des Vaters ging sie auf die Hundert zu. Wenn Vater gut gelaunt war und Zeit hatte, trug er mich huckepack. Wenn ich gut gelaunt war, verbrachte ich in Gedanken Zeit mit der Familie und den Freunden. Wenn Zuza jemanden zu mögen begann, wurde sie unfreundlich: für alle Fälle. Wenn ich als Student Oma besuchte, weinte sie vor Glück. Sie starb an Dehydration. Ich fuhr nicht zur Beerdigung, ich hatte gerade ein Stipendium im Ausland. Mutter meinte, man solle mir nicht Bescheid sagen. Wenn mein Bruder sein Blut sah, wurde er ohnmächtig. Wenn Mutter jemanden bluten sah, wusste sie genau, was zu tun war, null Panik. Ein Handgriff führte mit chirurgischer Präzision zum nächsten, einen Schnitt im Gewebe der Wirklichkeit hinterlassend. Als mir klar wurde, dass ich nicht besonders begabt bin und die Arbeitswut mich nur im Extremfall packt, wollte ich die Arbeit schmeißen. Als Vater starb, dachte ich, dass jetzt meine Freunde zu sterben beginnen. Ich schämte mich: Mein Vater war nicht mein Freund. Freunde kann man sich aussuchen. Als ich Kasia das erste Mal im Krankenhaus besuchte, ich glaube, da wusste sie es schon. Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich nur den Grabstein der Eltern. Wenn ich in die Vergangenheit blicke, sehe ich die Zukunft. Drüsen Schweiß, Talg und Milch, Speichel, Schleim und Galle. Das ist vermutlich alles, was der menschliche Körper, komplett und geschlossen, hervorzubringen vermag. Dazu noch den Ton der Stimmbänder. zurück zum Inhaltsverzeichnis Manchmal Blut aus der Nase, aus der Lunge, im Urin; den Auserwählten öffnen sich die Stigmata. Und noch Tränen. „Wen lädtst du zu deinem Geburtstag ein?“, fragt Mutter nicht zum ersten Mal am nächsten Tag. Ich weiß nicht, wie ich diese Frage verstehen soll. Ist es eine automatische Frage (Schlaganfall im Dezember)? Eine gedankenlose Frage (Mutter hat vergessen, dass ich in Białystok keine Freunde habe)? Oder vielleicht eine boshafte Frage („Meinen Bruder“, würde die Antwort mit der Höchstpunktzahl lauten)? „Pawel“, antworte ich. „Pawel“, wiederholt Mutter wie ein Echo. Wie ein hämisches Echo. Bereits im Krankenhaus, auf der anderen Seite, nachdem ich einen Platten gehabt hatte, beschloss ich, dass ich nicht viel denken werde, nicht mehr als die empfohlene Dosis. Ich lasse mich von Sätzen nicht ergreifen, von Wörtern nicht entführen: ich werde meiner ersten, mir selbst aufgezwungenen Liebe treu bleiben. Danach, ich weiß nicht wann, schon bald, zwinge ich mich das Resümee zu ziehen. Den Inhalt des Resümees kenne ich. Bleiben nur noch die Schlussfolgerungen. Die Schlussfolgerungen kenne ich nicht. Für die Schlussfolgerungen ist es schon zu spät. Man hat den Menschen auf verschiedene Weise in Einzelteile zerlegt. Die einfachste Zerlegung beschränkt sich auf die Bekleidung (das Flaschendrehen zum Beispiel). Etwas komplizierter ist die Zweiteilung in Seele und Körper. Die etwas ältere und edlere Teilung, die für die vom römischen Katholizismus (zu seinem eigenen Verhängnis, wie ich zu meiner Schadenfreude feststellen muss) entworfene Konsumwelt zu kompliziert war, verlor an Bedeutung, weil dafür ein beweglicher und scholastischer Geist erforderlich ist. Ich denke an die Dreiteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist. Am geheimnisvollsten ist der Geist, er ist sowohl eine Selbstverständlichkeit als auch eine Notwendigkeit, die jeden Körper durchdringt. Der Geist ist größer als die Person, aber individuell ausgeformt. Den Geist sieht man nicht. Er ähnelt der Luft, die immer da ist. Das Fehlen des Geistes führt zu Atemstillstand, zu einem qualvollen Tod, gegen den keine Berufung eingelegt werden kann: das Himmlische Tribunal tritt nicht zusammen. Aus dem Polnischen von Andreas Volk zurück zum Inhaltsverzeichnis Gesten Wydawnictwo Literackie Cracow 2008 148 × 210 • 240 pages paperback ISBN: 978-83-08-04260-1 Translation rights: Wydawnictwo Literackie Contact: Wydawnictwo Literackie 61 Ignacy Karpowicz Im zwanzigsten Jahrhundert ging das Zerlegen des Menschen weiter: zunächst bis auf den Bikini, dann wurde auch die Haut abgezogen, die Totalitarismen ließen die Seele in Rauch aufgehen, millionenfach. Es siegten die Holisten: die Meister des intellektuellen Puddings, die Herren der Vereinfachung. Man hat die Seele aus dem Körper vertrieben. Sie überlebte in Sätzen als Subjekt, zum Beispiel, als archaisches Substantiv. Die Seele benutzt man nicht, selbst jene sichtbare in den Bügeleisen verstaubt auf Dachböden und in Museen. Außer hypochondrischen Neigungen zeigte ich einen Hang zum Solipsismus. Der Solipsismus, durch Personen und Ereignisse, Rechnungen und Kontostand verifiziert, konnte sich nicht in dem Maße entwickeln, dass er dem Träger Erleichterung verschafft hätte. Der Solipsismus blieb eine verlockende, unerreichbare und – manchmal – melancholisch machende Vision. Das einzige Überbleibsel des Solipsismus ist vermutlich die ziemlich absurde Überzeugung, dass die menschlichen Körper nicht nur elektrische Energie produzieren, so als wären sie zweibeinige Batterien – es gibt kein Denken ohne Strom: totale Verdunkelung heißt vollkommene Einöde, Wüste, für deren Ausgestaltung es an Ideen, aber auch an Zeit fehlt. Im menschlichen Körper muss ein Organ existieren, siebenunddreißigstens, ein Organ, das immer noch darauf wartet, entdeckt zu werden, eine Drüse, die Zeit produziert. Körper produzieren Zeit. Je mehr Körper, desto mehr Zeit. Je mehr Zeit, desto geringer die Chance, sich die Zeit zunutze zu machen. Mit meiner Zeitdrüse begann es vor einiger Zeit bergab zu gehen. Ich hatte den Moment nicht bemerkt, falls es einen solchen Moment überhaupt gegeben haben sollte, als etwas anfing, mit der Zeit nicht mehr in Ordnung zu sein. Sie fließt sprunghaft, von Ereignis zu Ereignis, stürzt ab wie ein Betriebssystem, wochenlang: Ich sehe dann den blauen Bildschirm des Todes – ein kritischer Fehler, die Chancen sind praktisch gleich null, die Daten aus dem RAM-Arbeitsspeicher wiederzugewinnen; witzig ist, dass die Abkürzung RAM Speicher mit wahlfreiem Zugang bedeutet. Man muss die Welt resetten. Reset ist ein Wort, das das ältere Wort Reinkarnation verdrängt hat. Jacek Podsiadło 62 zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Leben und insbesondere der Tod Angélique de Sancés (geb.1964) Dichter, Erzähler, Feuilletonist, gilt als einer der wichtigsten Lyriker der mittleren Generation. Marta Mizuro zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Leben und insbesondere der Tod Angélique de Sancés Jacek Podsiadło 63 Jacek Podsiadło Weshalb muss Jacek Podsiadło ständig unterwegs sein? Nicht deshalb, weil bereits zahllose Wege angelegt sind und genauso viele darauf harren, ausgetreten zu werden. Der Verfasser von Das Leben und insbesondere der Tod Angélique de Sancés zieht nicht los, um Weg und Wahrheit zu begegnen, auch wenn er beide ganz groß schreibt, sondern der Sprache. Die es gibt – aber wie. Und dank der sogar auf dem Wegstück von Zuhause zum Kiosk Abenteuerliches geschehen kann. Der brillante Dichter und Feuilletonist, der hier als Erzähler debütiert, sagt über seine Begegnung mit dem Weg, der Sprache, dem Abenteuer (und bisweilen auch der Wahrheit): „Man muss vor allem festhalten, dass unsere Reise kein wirkliches Ziel hat.” Das sind keine leeren Worte, denn der Autor versteht es, alles zu verzaubern, was er sieht, hört und kostet. Er beschwört nicht nur das Reale, sondern webt auf der Leinwand der Wirklichkeit gleich der Spinne Jelitko Unwirkliches. Zuallererst mit der Spinne, die als erste mit einem Namen beschenkt wird und später an mehreren Romanepisoden unter Mitwirkung Angélique de Sancés, Rescators, Draculas, des Schamanen und anderer teilnimmt. Die Kapitel, die auf einem Spiel mit dem fremden Text basieren (z.B. der Poetik des im Buch oft angeführten Richard Brautigan), beweisen, dass Podsiadło ein literarischer Schamane ist, der sich durch die höchste Weihestufe ausweisen kann. Sie harmonieren dabei perfekt mit den illusionistischen „Übungen”, die darin bestehen, im Namen der Poesie oder des Lachens reale Situationen zu überformen. Podsiadło interessieren alle Wege – auch die bekannten, wie die Straße, die in die Slowakei führt, zu Egon Bondy, und die unbekannten Pfade, die zum ersten Mal erkundet werden. Von den Trassen, die im Roman verzeichnet sind, gibt es tatsächlich Hunderte, trotzdem versteht es der Reiseführer und Erzähler in einem, sogar eine Irrfahrt auf ihnen in ein Abenteuer zu verwandeln. Und das Ganze erscheint als eine Reise, auf die sich in der polnischen Literatur bislang niemand gemacht hat. Das Leben und insbesondere der Tod Angélique de Sancés Wenn Jacek Podsiadło 64 der Tod kommt, muss man da mischte sich immer angenehmer mit den von überall heransein, wo er hinkommt, sonst wird dringenden Echos von Salven und Saluten. Als die Kanoes nichts. nade und die Schreie ihren Höhepunkt erreichten, geschah etwas Seltsames. Das Zischen verstummte. Für Dorota Różycka Ich räusperte mich. Gedankenverloren rieb ich mir das Kinn mit der Ferse. Ich stand auf, machte das Licht an und Mit Beginn des neuen Jahrs hatte ich beschlossen, ein neues griff nach der Sylvesterausgabe der Zeitung. In einem dicLeben zu beginnen. Keine Verspätungen mehr. Keine Laus- ken Rahmen fand ich unter den Notrufen die Nummer des bübereien mehr. Nie wieder Martini im Express nach Kra- Gasalarms. Trotz des Maulkorbs um meine Hände gelang es kau, wenn man sich die Reiseödnis mit der schönen Lektüre mir, sie zu wählen. schöner Literatur in einem leichten, kunstvollen Rausch ver„Ist da der Gasnotruf?” süßt. Keine Lektüren mehr, das war das Wichtigste. Ich setz„Gas, ja, ja, Gas.” te mich, um mein Abschiedspoem unter dem Titel „Meine „Ein gutes Neues Jahr.” Rêverie“ zu verfassen. „Die Gasmänner sind immer auf ihrem Posten.” „Das ehrt Sie sehr. Und bei mir gab es gerade zu wenig Meine Rêverie Gas, Herr Gasmann.” Meiner Everie „Wann?” „Vor einem Augenblick, wahrscheinlich genau um Mitternacht.” Mir träumte, dass wir einst am Abend „Also doch, das hatten wir erwartet.” „Ich kann Ihnen nicht folgen.” Weiter kam ich nicht, weil ich keinen Reim auf „Abend” „Das Zweitausendjahrproblem.” fand, abgesehen von „grabend”, das mir überhaupt nicht in „Was für ein Problem?” das Gedicht passen wollte. Mir träumte, dass wir einst am „Zweitausendjahr. Der Anfang vom Ende. Haben Sie eiAbend zum Graben gingen. Grabend? Nie hatte ich beim nen Computer?” Herumtoben mit Everie Gräben gegraben. Ich nässte das „Nein, ich schreibe auf der Maschine.” für das Abschiedspoem bereit liegende Papier und dichte„Na, dann gehen Sie bitte zu Ihrer Maschine und versute mit dem entstandenen Papierbrei die Fenster ab. So ent- chen Sie, etwas zu schreiben. Entschuldigung, das andere stand Papier-Maché II. Ich nahm den Kaugummi aus dem Telefon klingelt. Gutes Neues.” Mund und verklebte damit den Spion. Die Lüftungsritzen Ich ging zur Maschine und versuchte den Titel „das lein Küche und Bad verhängte ich mit den erstbesten Bildern. ben und insbesondere der tod angélique de sancés” Das erinnerte mich daran, wie Letycja, als sie noch ganz zu schreiben. Meine Maschine schrieb nicht, die Buchstaklein war, beim Anblick ihrer beiden Omas auf einmal sag- ben erhoben sich, anstatt auf dem Papier zu bleiben, wie ein te: „Scheußlich alte Ritzen”. Draußen hörte man schon die Schwarm befreiter, feministischer Fliegen in die Lüfte. ersten Champagnerkorken und Feuerwerksraketen knallen. Ich legte Marcel Ponseeles Platte auf, der Sonaten für Oboe Ich löschte das Licht. Drehte alle Gashähne auf, legte mich und Bazooka herausschmettert, doch stattdessen hörte ich auf den Küchentisch und einen Maulkorb um meine Hän- in einem fort Robert Wyatt „Yolanda” singen. Es gelang mir de, einen Rosenkranz hatte ich nämlich nicht. Dafür hatte nicht, die Platte anzuhalten. Von diesem Augenblick an überich einen Hund, die räudigblinde Everie. Nie wieder blinde, schlugen sich die Ereignisse, wie man so sagt, lawinenartig. räudige Hündinnen. Das Zischen der Brenner beruhigte und Im Eisschrank wuchsen Schneeglöckchen. Die Dusche riss zurück zum Inhaltsverzeichnis Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier Znak Cracow 2008 124 × 195 • 320 pages paperback ISBN: 978-83-240-1016-5 Translation rights: Znak zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Leben und insbesondere der Tod Angélique de Sancés habe Probleme mit dem Einschlafen, und Rasieren will ich mich nicht, ehrlich gesagt rasiere ich mich wider mich selbst. Ich versuche die Zukunft aus den neuen Augen meiner alten Hündin zu lesen, die so rund sind wie zwei Nullen. 65 Jacek Podsiadło nicht ab von Anrufen von Bekannten, die fragten, wie ich mich im neuen Jahr fühlte. Der Staubsauger spuckte den ganzen Müll aus und beschloss mit dem Haarfön Kinder zu haben. Nach Ingangsetzung des Spülkastens strömte das Wasser aus der Schüssel empor und verschwand in Rohren, die gen Himmel führten. Geschichtsbücher über das dritte Jahrtausend werden mit den Worten enden: „Und es ward zum Wasserreservoir.” Meine blinde Hündin Everie, die ich nach mehreren Tagen aus dem Tierheim abholte, erlangte ihr Augenlicht zurück. Jetzt sah sie sogar die Zukunft. Sie las sich in Geschichtsbüchern über unsere wundersame Epoche fest. Die Skispringer sprangen bei der Vierschanzentournee rückwärts. Ein geplagter Nachbar klagte mir auf der Treppe, dass seine Frau, die bisher rechtschaffen und allem Abartigen abhold war, wünschte, jetzt nur noch von hinten genommen zu werden. „Das nennt sich: Umgekehrte Welt, habe ich in einem gewissen Buch gelesen. Und bei mir will die Dusche nicht abreißen.” „Was ist schon die Dusche, wenn die eigene Ehefrau wünscht, ausschließlich von hinten genommen zu werden.” „Dann nimm sie”, zuckte ich die Achseln. „Wenn er mir aber nicht steht.” „Drück dich aus. Ich habe die Absicht, den Außergewöhnlichkeiten dieser Tage eine Dokumentarerzählung für künftige Generationen zu widmen, zur Warnung.” „Also was ist, kann ich keine Erektion bekommen, ja?” „Vielleicht bist du nach all den Feiertagen einfach zu volltrunken?” „Nein. Ich komme gerade vom Sexuologen zurück, aus Warschau. Das Problem, das ich habe, ist das Zweitausendjahrproblem, das hat er gesagt. Und ist bei dir in der Sache alles in Ordnung?” Alles durch die Nullen, mit denen plötzlich die Daten endeten. Am Ende allen Denken und Tuns steht jetzt eine unvermeidliche, aufgeblasene Null. Die Schuhe, auf deren Sohlen der Schnee schmilzt, hinterlassen bei jedem Schritt eine neue Null auf dem Fußboden. Die Null belegt das ganze Bett, als ich schlafen gehen will, eine gelängte Null schaut mir morgens beim Rasieren aus dem Spiegel entgegen. Ich Der Taschenfrauenatlas Sylwia Chutnik 66 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Mikołaj Długosz zurück zum Inhaltsverzeichnis Marta Mizuro Sylwia Chutnik (geb. 1979) Absolventin der Kulturwissenschaften und Gender Studies, NGO-Aktivistin, Vorsitzende der Stiftung MaMa, Stadtführerin in Warschau. zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Taschenfrauenatlas eine Dokumentarbiologin erforderlich ist, verdeckt ihre enorme Empfindsamkeit nicht. Sie ist es, die neben der durchdachten Konzeption des Erzählbands und der Fähigkeit, sowohl Handlungsfäden zu spinnen wie auch glaubwürdige Porträts sozialer Gruppen oder Individuen zu konstruieren, die junge Autorin auszeichnet. Chutnik ist mit Sicherheit am interessantesten unter den dieses Jahr debütierenden Zwanzigjährigen. 67 Sylwia Chutnik Jedes Kapitel des Taschenfrauenatlas beginnt mit einer „Panoramafotografie”, in der namenlose weibliche Typen dargestellt und deren Daseinsbedingungen ausgeführt werden. Danach geht die Autorin zur „Nahaufnahme” über und konzentriert sich auf eine einzige ausgewählte Repräsentantin der von ihr unterschiedenen „Gattungen”. Die vier Hauptfiguren stehen für verschiedene HeldInnengenerationen – eine von ihnen ist ein feminisierter Mann – und sie verbindet die Tatsache, dass sie im selben Haus leben. Ihre Einzelwelten fügen sich also zu einer Wirklichkeit. Wenn man diese als „Wirklichkeit der Opaczewska-Straße” in Warschau deutet, kann man – unter Verwendung der biologischen Kriterien Sylwia Chutniks – von dem Haus als einem Ökosystem sprechen und von seinen BewohnerInnen als RepräsentantInnen einer autochthonen Gattung, die über die Beziehungen zur Außenwelt entscheidet. Wenn man die beiden Techniken, die die Schriftstellerin anwendet, zusammenführt, drängt sich der Vergleich zum Naturfilm auf. Aber: Die ausgewählten Typen sind nicht repräsentativ, sie spiegeln kein charakteristisches Lebensmodell wieder, sondern sind eindrucksvoll psychologisch. Die Autorin verfährt nicht wie eine Behavioristin, sondern sie blickt in die Seelen der Porträtierten. Oder besser sie erschafft ihnen eine Seele. Zum Beispiel kann Maria sich immer noch nicht vom Kriegstrauma befreien. Sie war eine tapfere Meldegängerin des Warschauer Aufstands, durch ein Wunder entrann sie dem Tod, und stirbt jetzt in völliger Vereinsamung. Kränklich und hilflos ringt sie sich zu ihrer letzten Protesthandlung auf, sie ist sich jedoch darüber im Klaren, dass ihre selbstmörderische Demonstration unbemerkt bleiben wird. Der Fall Marias spiegelt das Schicksal der alten Helden, die gegen Ende ihres Lebens zum Vergessen und zum Dahinvegetieren unter furchtbaren Bedingungen verdammt sind. Die anderen im Buch beschriebenen Schicksale sind ebenso rührend, auch wenn Chutnik sie in einer tragikomischen Tonlage beschreibt. Die Distanz, mit der sie ihnen begegnet und die für Der Taschenfrauenatlas Die Sylwia Chutnik 68 Hausfrau vom Tage der Geburt bis zu ihrem Tode. Teilnehmerin des RundumdieUhrHappenings „Für eine saubere Welt”. Ihr Leben sind immer neue Fortsetzungen eines unendlichen Bandwurms. Tausende sinnloser, öder Arbeiten. Versunken in sich wiederholende Tätigkeiten, Gesten nimmt sie das Leben so, wie es ist. Ohne irritierende Anfälle von Aufbegehren, existenzielle Vorwürfe, geschmacklose Rebellionen. TagWaschenPutzenNachtTag... Die Hausfrau sieht ein, dass das Hinnehmen sich wiederholender Tätigkeiten das Dasein regelt. Sie kann eine pulsierende Spannung in einem Brosamen Wirklichkeit finden und sie aufrechterhalten. Dank dessen rettet sie all die undankbaren Leichtfüße, die morgens das Bett nicht machen, kein anderes Messer für die Butter verwenden und nie – aber wirklich nie – den Boden hinter dem Backofen aufwischen. Die Hausfrau verwaltet Aufgaben, führt sie zu ihrem glücklichen Finale. Danach geht sie ohne Ruhepause, Urlaub und Lorbeeren fließend zur nächsten Bühne über. Das Bühnenbild findet Raum auf ein paar Dutzend Quadratmetern. Zu ihm gehören vor allem Waschmaschine, Kühlschrank, Fenster, Möbel und Boden. Die Hausfrau ist auch die Familienmanagerin, die berühmte Gastromutter. Das häusliche Matriarchat, das hauptsächlich ans Essen geknüpft ist, stopft den Frauen den Mund. Was soll das heißen, zeigt es, ihr habt keine Macht? Ihr seid doch die wahren Königinnen des Heimischen Herdes, don’t you see? Wahre Macht ist die von unten, unter der Maske eines Stapels Teller und den Resten einer gebrutzelten Ente. Die Frau kann die Mahlzeit planen, die Zeit und Art ihrer Darreichung. Helfen lässt sie sich nicht, das Rezept verrät sie nicht. Sie schuftet in der dunstverhangenen Küche, holt sich noch ein paar Krampfadern beim ewigen Aufpassen aufs Gas. Zur Belohnung isst sie die Reste vom Mittagessen, leckt die Teller leer, knabbert die Knochen ab. Die Gastromutter stiehlt sich, wenn alle längst schlafen, in die aufgeräumte Küche und streichelt sanft die Haushaltsgeräte. Still, schlaft, ihr Kinderchen, morgen erwartet euch die nächste Arbeit. Die Welt ist nicht schlecht, die Hausfrau ist nicht zurück zum Inhaltsverzeichnis traurig. Zuhause ist alles an seinem Platz, und jeder in der Familie hat seine Rolle. Ohne überflüssige Castings nimmt die Hausfrau mit einer schlichten Geste das Drehbuch vom Tisch und beginnt es zu spielen. Na, irgendjemand muss das tun. Stimmt schon, der Haushalt wurde in hohem Maße technisiert, aber Chefin gibt es nur eine. Und die Kinder? Sie eifern der Königin des Küchenreiches nach oder rebellieren und ziehen aus. Und so nimmt unsere Mania neben den Haushaltstätigkeiten eine Erwerbstätigkeit auf. “Die ist irgendwie verhext, schau die Augen”, und sofort konnte man sehen, dass das Mädchen nicht für den Basar taugte. Maria schaute ins Weite und träumte von schönen königlichen Gemächern. Doch sie war wie das blöde Aschentrampel ein Mädchen für alles. Um ihren Kopf flatterten die Fetzen von Basardialogen. Die Würze, die die Verkäufer beisteuerten: „Scheißkerl, du hast mir das Leben verschissen.” „Ich? Ach was, gib Ruh, du übertreibst.” Daneben: „Und ich war bei der Morgenmesse, ich sage Ihnen, liebe Frau, und der Priester hat so schön über die Toten und diese, na die Politiker gesprochen.” Maria versuchte, das Stimmengewirr der in den Bart gebrummten, gezischten, herausgebrüllten und -gespuckten Gespräche nicht zu hören. Sie sehnte sich nach Stille, nach einem Schweigeorden, Vipassanna und einer Stromsperre für den gesamten Basar. Ihre Mutter, die Matrioschka der Haushaltswarenallee, sprach mit donnernder und endgültiger Stimme in einem fort auf ihr einziges Kind ein. Sie hatte die Macht gepachtet, und sie konnte ausfallend werden. Wie ein Gift und Galle spritzender Starkstrom. Dass Vater sie zu selten übers Knie gelegt hatte, dass er sie verdorben hatte. Dass sie bucklig und ein Faulpelz war. Das Haar so glattgeleckt, dünn bis dorthinaus, ohne einen Zopf. Dass sie am Stand ein bisschen Fleisch zeigen soll, denn wenn die Jungs kommen, laufen sie gleich nochmal so schnell wieder weg. Es stimmt, Maria hatte mit dem anderen Geschlecht nicht allzu viel zu schaffen. Keine gebrochenen Herzen, nur alte Macker küssten ihr die Hand und starrten aufs Dekolleté. Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Taschenfrauenatlas Korporacja Ha!art Cracow 2008 110 × 180 • 232 pages paperback ISBN: 978-83-89911-99-5 Translation rights: Sylwia Chutnik Contact: Korporacja Ha!art 69 Sylwia Chutnik Aber war das Liebe und gab es sie denn überhaupt? War sie nicht dort, weit weg, draußen hinterm Glas des Fernsehers, und gab es sie nicht nur in Amerika oder Brasilien? Kommt ‘ne Oma an den Stand und sagt: „Fräuleinsche, gem Sie mir mal den Teekessel da, weil mein Kerl unsren schon wieder hat anbrennen lassen, Scheißkram. Er hat die Spiele geglotzt wie ein Weltmeister, Wasser aufgesetzt und es vergessen. Soll ihn doch, das Opfer. Ich halte ihn mir nur noch zu Hause, damit er mir den Rücken kratzt, wenn’s juckt. Vierzig Jahre Ehe und da hast du’s!”. Worauf sich Marias Mutter lachend zu Wort meldet: „Und woanders juckt es sie nicht?”. Und Maria senkt die Augen, weil sie auf dem Basar das Leben erlernt hat. Jetzt weiß sie, was eine Straßenstricherin ist und was G-Punkt bedeutet. In den Kiosks liegen die Nummern von „BravoGirl”, und drin stehen Ratschläge. Ein seltsames Geheimwissen auf dem Terrain des elterlichen Betts. “Liebe Bravo – ich bin dreizehn Jahre alt und seit zwei Jahren mache ich es mit meinem Freund. Ich schreibe, weil ich nicht weiß, ob wir, wenn wir lange Zungenküsse machen, dann auch Kinder kriegen können? Eure treue Leserin”. Und die Redaktion schreibt zurück, dass man über die Pubertätsprobleme mit der Mama, einem Pädagogen oder einem Priester reden soll und dass Jungs außerdem gerne an Brustnippeln rumbeißen. Daneben bunte Bilder, die ein Paar im Negligé in liebender Umarmung zeigen. Marias Phantasie arbeitet, aber sie ist nicht in der Lage, sich für Liebesdinge zu erwärmen. Sogar wenn ihr für einen Augenblick einmal ein paar Schmetterlinge durch den Bauch flattern. Dann überkommt sie die Dumpfheit. Sie träumt von Liebe, aber sie weiß nicht, was sie mit ihr anfangen sollte. Sich zurücklehnen wie eine Schauspielerin? Die Augen schließen und den Mund öffnen? Eins ist keins Piotr Milewski 70 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Dariusz Szurlej zurück zum Inhaltsverzeichnis originelle Buch ist ein Beweis dafür, dass „das Leben die bessere Literatur ist“. Nicht jeder versteht es jedoch sich das Schicksal zunutze zu machen, um Schriftsteller zu werden. Zum Schluss muss nämlich ausdrücklich betont werden, dass Eins ist keins ein Debüt ist. Und zwar ein außerordentlich reifes. Piotr Milewski, gelernter Jurist, arbeitet als Journalist, seit 1992 US-Korrespondent polnischer Medien. zurück zum Inhaltsverzeichnis Eins ist keins Marta Mizuro 71 Piotr Milewski „Das alles ist wirklich passiert. Ich habe nur die Namen geändert. Sie aber nur leicht variiert“, schickt Milewski als Motto seines Buches voraus. 2006 amüsiert sich ein polnischer Journalist in einem New Yorker Club und nimmt dabei verbotene Substanzen ein. Er gerät in eine Rauschgiftrazzia, wird festgenommen und kommt vor Gericht. Er verzichtet jedoch freiwillig auf einen Prozess und meldet sich zu einer einjährigen Zwangstherapie. Er unterzieht sich ihr zusammen mit Afroamerikanern und Latinos, deren Sozialprognosen in der Mehrzahl der Fälle nicht gerade rosig sind. Während des Jahres, das in dieser belletristischen Reportage beschrieben wird, muss Milewski versuchen das Vertrauen seiner Leidensgenossen zu gewinnen, gegen das Gefühl der Sinnlosigkeit kämpfen und brav seine Strafe absitzen. Hält er nicht durch, landet er im Gefängnis. Eins ist keins ist in erster Linie eine Erzählung über Entfremdung. Die Geschichte eines Fremden, der, was seinen kulturellen und sozialen Background betrifft, sich von den anderen Helden stark unterscheidet und mit einer extremen Situation zurechtkommen muss, die sowohl komisch als auch erschreckend ist. Milewski gibt sie hervorragend in all ihren Aspekten wieder. Er zeigt, wie er die Sprache und symbolische Gesten erlernt, die von den „Brüdern“ benutzt werden, wie er Mühe hat zu verbergen, dass er nicht einer von ihnen ist, und wie er sie allmählich an sich gewöhnt. Da Milewski sieht, was die Therapeuten nicht sehen – dass ihre Patienten vom amerikanischen System von vornherein zu Verlierern abgestempelt werden – weiß er, dass die Therapie illusorisch ist und dass er nur deshalb als einer der wenigen sie erfolgreich beendet hat, weil er zufällig in dieses Programm hineingeraten ist. Milewski versteht es mit dem nötigen inneren Abstand von den Dingen zu erzählen, die er selbst erlebt hat, wobei er erklärt, dass die von ihm beobachtete „Folklore“ derart irreal ist, dass man sie sich nur schwerlich selbst hätte ausdenken können. Die tragikomischen Episoden schildert er jedoch nicht nur im Bewusstsein, dass er in dieser Welt nur zu Gast ist, sondern mit Anteilnahme, die manchmal in Entsetzen, manchmal in Erheiterung umschlägt. Die Wirklichkeit, der sich normalerweise diejenigen von außen nähern, die ihr entkommen konnten, sieht er seinerseits von innen. Dieses nicht nur für polnische Verhältnisse Eins ist keins Der Piotr Milewski 72 Beamte Santiago ist außerordentlich frustriert. Er markiert den Harten und das derart aufdringlich, dass man nicht einmal lesen kann. Aber zuhören kann man dem Beamten Santiago schon gar nicht. Seit letzten Donnerstag dreht er am Rad. Er faselt etwas davon, dass nach den zwölf Schrittchen es für die Unverbesserlichen noch zwanzig spezielle Extraschrittchen gebe. Dazu kommt, dass ich sein Gelabere alleine ertragen muss. Meine Nigger sind den Empfehlungen von Little, Robinson & Co. nachgekommen, ich dagegen warte auf die Ergebnisse der Urinanalyse. Schließlich verliere ich die Beherrschung. Ich blaffe zurück, dass nach Meinung der Richterin ich zu gut für die MRT sei, und man mir eine Anstellung angeboten hätte. In der Tür steht Ricky. Er grinst breit über beide Ohren. „Peteee!“ „Ricky, bi, bi!“ Abklatschen mit An-die-Brust-Drücken, ein sogenannter „halber Bär“. Gerade das gefällt mir bei den Afroamerikanern so gut: die Herzlichkeit. Nicht die sabbernde und lallende Herzlichkeit der Bleichgesichter, die nüchtern nicht in der Lage sind, Gefühle zu zeigen, und besoffen nur noch peinlich sind, sondern die ungebremste, spontane, fröhliche und kindliche Herzlichkeit. Wir halten zusammen, wir kämpfen gemeinsam gegen das böse Schicksal, die Macht der feindlichen Welt, das System, und gemeinsam verlieren wir. Wir sind ein Geheimbund von Saboteuren. Daher dieses ganze Gegrüße, Abgeklatsche, Geschnipse, diese Fäuste – diese magischen Gesten, dieses Gefluche. Natürlich werde ich nie einer von ihnen. Wir tun auch nicht so, als hätte sich meine Hautfarbe geändert, beziehungsweise – was viel wichtiger ist als meine Pigmentierung – mein gesellschaftlicher Status, der wiederum von der Pigmentierung abhängt. Aber wir sind Kumpels. Die Latinos halten Distanz, sie trauen einem blanquito nicht, die Afroamerikaner behandeln mich wie einen Nigger, wie einen der ihren: ohne jegliche Hemmungen und null Fake, wenn sie ihre Gefühle, ja selbst wenn sie ihre Sympathien zeigen. Allerdings, wenn es ums Geschäft geht, ist der afroamerikanische Fake eine Klasse für sich. „Netten Urlaub gehabt?“ zurück zum Inhaltsverzeichnis Er zieht ein Grimasse, als würde ihm der Arsch wehtun. Er hat in Rikers zwei Wochen abgesessen, und nicht eine, wie man munkelte. „Hauptsache vorbei, scheiße Mann, wenn ich nächstes Mal höre, dass der Richter mich vor Gericht sehen will, besteige ich einen Flieger und ab nach Westarizona. Im Nachtbus über die Grenze – sollen die mich doch in Mexiko suchen. „Wie geht’s Kanjee?“ Das Schwesterchen hatte für Rickys Rückkehr ein Transparent gemalt mit der Aufschrift „Woz up Ricky?“ , aber sie begrüßte ihn mit einem blauen Auge. Sie hatte darauf bestanden, dass Mutter für das Brüderchen Bier kauft, da er doch so gerne Bier mag. Sie gerieten sich in die Haare, die Kleine fing an zu weinen, also klebte ihr Mutter ein paar zur Beruhigung. Ricky warnte Mutter, dass wenn sie Kanjee noch einmal anfasse, sie weder ihn noch sie jemals wieder sehen würde, und ging mit der Kleinen ein Eis essen. Im Viertel war alles wie immer. Alle wussten, dass Ricky aus dem Knast zurück war. Sofort tauchten Mädchen, Wodka und Drogen auf. Im quarter weiß jeder über jeden alles. Man weiß, wer ein hitman, dass heißt ein Auftragskiller ist, wer sich auf Messerstiche unter die Rippen spezialisiert, wer handelt und mit was, wer ins Büro geht von neun bis fünf. „Pete, ich kann dir alles besorgen, was du willst. Kommst du mal nach Bed-Stuy, bi? Bitte mir zu folgen: die Tür – Mord/Feuerwaffe, die Tür – Messer/Rippe, die Tür – Crack und Gras, die Tür – neun bis fünf, die Tür – H. Während ich gesessen habe, hat ein Typ, der immer schon ein hustler sein wollte, ein Vermögen verloren. Kind aus reichem Hause. Die Alten sind vor einem Jahr nach Long Island gezogen: weiße Vorstadt, weißes Häuschen, weißer BMW sogar weißer Hund, nur sie waren weiterhin schwarz. Aber statt was zu lernen, einen Abschluss zu machen, lief der dumme Schwanz lieber mit ein paar Kilo bling um den Hals rum. Was für ein Idiot. Er kam ins quarter und dachte er würde alle kennen, und irgendwie kannte er sie auch, aber an der Ecke handelten gerade ein paar Typen, die lange im Norden Urlaub gemacht hatten. Und die kannten ihn nicht. Vom Wagen blieb nur das Fahrgestell übrig. Sie nahmen ihm alles ab, was er hatte, keine Ahnung, wieso sie ihn nicht getötet haben. Er musste Aus dem Polnischen von Andreas Volk zurück zum Inhaltsverzeichnis Eins ist keins Niebieska studnia Warsaw 2007 125 × 205 • 400 pages paperback ISBN: 978-83-60979-04-4 Translation rights: Piotr Milewski Contact: Niebieska studnia 73 Piotr Milewski zurück zu seinen Alten, und die Alten erfuhren schnell von den alten Nachbarn, was Sache war – im quarter weiß jeder über jeden alles – also wollen sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er hat total verschissen. Ich habe nie davon geträumt, zu dealen, Pete. Aber was sollte ich machen? Aufs College konnte ich nicht gehen – ohne Kohle? Ich bin von der High School geflogen, weil ich wusste, dass ich sowieso nicht aufs College gehe. Mit High-School-Abschluss kann ich bei McDonalds dieselben Frikadellen umdrehen wie ohne. Ich bin ins Spiel eingestiegen. Aber im Spiel gibt es kein Pardon. Keine Loyalität. Hast du ein bisschen was verdient, beginnen die Geier über dir zu kreisen. Und du musst abdrücken. Ein dummer Nigger zahlt die Hälfte. Je größer die Hälfte ist, desto größer der Neid der Geier, denn sie denken: wenn die Hälfte so riesig ist, wie groß ist dann erst das Ganze? Zweimal so groß! Dir geht der Arsch auf Grundeis. Du sitzt daheim und schaust alle fünf Minuten durch die Jalousie, ob vor dem Haus nicht irgendeine Karre in der zweiten Reihe parkt. Du trittst vom Fenster zurück, überprüfst die Tür, ob alle fünf Riegel zu sind. Bum, bum – wer haut da gegen die Tür? Du guckst: dein bester Kumpel. Und schon weißt du, was gespielt wird. Während du ins Schlafzimmer läufst, um die Knarre zu holen, treten sie die Tür ein. Ehe du deine Kanone gezückt hast, sind sie schon drinnen. Bam, bam, bam-bam-bam-bam: und du bist tot.“ Der Umkleideraum Jerzy Franczak 74 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Piotr Kaliński zurück zum Inhaltsverzeichnis gebende Welt ernst zu nehmen. Und selbst wenn jemand Der Umkleideraum mit der Strömung des „Banalismus” in Verbindung bringen sollte, so sind die Fragen, die dieses Buch aufwirft, nicht dem Banalismus zugehörig, sondern nähern sich vielmehr einer der ältesten und wichtigsten Fragen der Philosophie: „Wie soll man leben?”. Jerzy Franczak (geb. 1978) Dichter, Erzähler, Literaturwissenschaftler, Doktorand an der Jagiellonen-Universität. Verfasser mehrerer Gedicht-, Erzähl- und Essaybände. zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Umkleideraum Jerzy Jarzębski 75 Jerzy Franczak Jurek, der Held des Romans von Jerzy Franczak, ist (wie auch der Autor) ein junger, talentierter Dichter und Schriftsteller, der in Krakau lebt. Jedoch distanziert sich der Autor entschieden von seiner literarischen Figur, setzt ihre Existenz quasi in ironische Anführungszeichen. Das größte Problem Jureks ist das Fehlen einer ausgeprägten Identität und eines konkreten Lebensentwurfs. Die Schriftstellerei erscheint in Der Umkleideraum nämlich als eine ausgesprochen seltsame Form des Broterwerbs. Sie zwingt den Schriftsteller, sein eigenes Leben unablässig mithilfe literarischer Mittel aufzuarbeiten, es zu erzählen, was gleichzeitig bedeutet, es aus dem Reich der Wirklichkeit in die Welt der Fiktion zu übertragen – eine Welt, in der man für nichts wirklich Verantwortung übernehmen muss und in der Dinge und Menschen jederzeit korrigiert, karikiert oder sogar völlig ausgelöscht werden können. Jurek und seine Freunde leiden an der Unwirklichkeit der sie umgebenden Welt und an der Unnatürlichkeit der von ihnen gespielten Rollen. Man könnte sagen, sie leben in einem „Umkleideraum”, in dem sie vorgefertigte Persönlichkeitsmasken anprobieren, austauschen, immer auf der Suche nach der einen, die zu ihnen passen könnte. Diese Situation bedeutet einerseits ein existenzielles Problem und andererseits einen großen literarischen Spaß, denn auch in der Welt der Literaten und Literaturliebhaber gibt es Masken in Form von fertigen Stilen und Zitaten. So darf etwa Jurek, der vorübergehend in einem Verlag arbeitet, den von Witold Gombrowicz in seinen Polemiken gegen Dante „korrigierten” Text der Göttlichen Komödie wieder in seine ursprüngliche Form „zurückkorrigieren”. Doch nicht immer kommt den literarischen Spielereien und Maskeraden ausschließlich eine ludisch-komische Funktion zu: Jurek und seine Freunde leiden an einem tief empfundenen Mangel an verbindlichen Werten und an der Unmöglichkeit, die sie um- Der Umkleideraum Für Jerzy Franczak 76 wen schreibe ich diese Worte? Es ist ein wenig, als würde ich mit mir selbst reden oder als hätte ich mich auf wundersame Weise in zwei Wesen geteilt, in mich und ihn – irgendein anderes Ich, das mir seltsam bekannt ist, so wie der Nachrichtensprecher im Fernsehen. Hinter jedem Wort verbirgt sich irgendein „Du”, aber ich kann es nicht einfach ansprechen und um Feuer bitten. Ich kann nur über mich selbst sprechen, mich zieren, mich in mehr oder weniger bequeme Kostüme hüllen. Mich mit denen verbünden, die an mich glauben. Immer wieder aufs Neue mein Testament ändern. „Ich vermache alle meine beweglichen und unbeweglichen Güter der Handtuchfabrik Jutrzenka in Oświęcim und dem Missionarskloster in Sobibor”. Ein paar ungelenk, blindlings aufgezeichnete Worte, und schon hat mein Leben einen Sinn. Ich bin befreit von der Unordnung, errettet vom Chaos – alles, was ich tue, geschieht als Opfer für die Menschheit. Doch die Menschheit schläft, es gibt keine Menschheit. Was von ihr übrig ist, sind Parks voller Rattengift, Telefonzellen, leere Straßen und Wohnungen, die mit zugeschlagenen Fensterläden vor dem Mondlicht geschützt sind. Alles ist leer und still, als sei der Mensch noch nicht erdacht. Es ist Zeit anzufangen. Wie jeder weiß, muss man, um die Geschichte seines Lebens zu schreiben, zunächst einmal schreiben können. Muss wissen, mit welchen Wörtern man den Leser davon überzeugen kann, existiert zu haben. – Nun gut – wirst du sagen – aber wenn du für einen Moment alles um dich herum vergäßest und dich einfach deiner Erinnerung überließest? – Das kann ich gerne tun – werde ich dir antworten – aber dann sei so gut und sage mir, wie ich jene Ecken meines Zimmers erzählen soll, in die ich meinen mit einem Käppchen bedeckten Kopf steckte? Oder mein Galoppieren durch einen schattigen Gang zwischen Hufeisen aus Licht? Oder meine Angst, als die Dunkelheit, die mir bis dahin zwischen den Gittern meines Bettchens aufgelauert hatte, in schweren, schlangenartigen Strängen auf mich herabfiel? Wie ist es möglich, dass ich mich nicht an jenen Moment erinnere, zurück zum Inhaltsverzeichnis in dem ich meine größte Entdeckung machte: Dass ich ich bin? Ich erinnere mich an die folgende Szene: Wir gehen, so scheint es mir, am Meer entlang. Immer wieder schwinge ich beide Beine in die Luft, und die riesigen Hände, an denen ich mich festhalte, heben mich über Pfützen und Spalten hinweg. Ich gebe zu: Ich weiß nicht, wann dies geschah, ich weiß nicht wo und ob überhaupt, ich weiß auch nicht, ob es irgendeine Bedeutung hat. – Was meine früheste Erinnerung ist, wolltest du fragen? Was war zuerst? Zuerst war der Abschied von meinem Vater. Das ist die früheste Erinnerung, die ich wachrufen und in Worte fassen kann. Schwer zu sagen, ob ich mich wirklich an jenen Abend erinnere, oder ob ich es mir einredete, während ich den Erzählungen meiner Mutter lauschte. Mit Sicherheit ist es eines jener ersten, bereits vollends bewussten Erlebnisse, die ich zu einer einheitlichen Geschichte zusammensetzen kann: Die nächtliche Taxifahrt, die gelben, schwankenden Straßenlampen, die in der Scheibe, an die ich meine Stirn drücke, verschwimmen, die Scharade aus Glastüren und Zwischengeschossen, die Flughafenterrasse mit Sicht auf die Startbahn – wir auf der Terrasse, den aufsteigenden Flugzeugen winkend. Ich bin müde – es ist kalt – Mama hält meine Hand fester als gewöhnlich, Papa hebt mich mit einem lang gezogenen Schnaufen in die Höhe, küsst mich auf beide Wangen und stellt mich wieder auf den Boden. Ich sitze auf dem Geländer und schaue: das Flugzeug dreht sich zweimal im Kreis und fliegt dann fort, wird kleiner, verschwindet, blinkt noch eine Weile, bis es sich schließlich zwischen den anderen Sternen verliert. An seiner Stelle leuchtet hell ein abgebissenes Stück Mond – meine Hand schmerzt vom Winken – Mama ringt mit ihrer Handtasche, auf der Suche nach ihren Taschentüchern. Du wirst sagen, das ist nicht viel, gerade mal eine Handvoll unklarer, verwaschener, durch häufiges Evozieren und Korrigieren verkleinerter Bilder. Doch ich kann mich noch gut erinnern: Ich war überzeugt, dass mein Papa zum Mond flog. – Er wird dort arbeiten – sagte Mama. Damit wir etwas zu essen haben. Seit dieser Zeit hieß der Mond für mich „Kanada”. Wenn ich nachts aus dem Fenster sah, fühlte ich mich beobachtet – ich stellte mir vor, wie mein Papa dort in einer Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Umkleideraum Korporacja Ha!art Cracow 2008 110 × 180 • 232 pages paperback ISBN: 978-83-89911-71-1 Translation rights: Jerzy Franczak Contact: Korporacja Ha!art 77 Jerzy Franczak Hängematte lag und von oben auf mich herabblickte. Doch bald darauf vergaß ich, wie er aussah. Der Mond kullerte jetzt wie ein großes Auge über den Himmel, blickte noch immer auf mich herab, doch irgendwie anders, man könnte sagen: von sich aus, auch wenn hinter ihm eine fremde, seltsam vertraute Macht stand. Ein anderes Mal schien es mir, dass sich hinter der leuchtenden Scheibe des Mondes irgendwelche trichterförmigen Untiefen und Gänge verbargen – fast meinte ich, das Grollen schwarzer Kegelbahnen zu hören! Dann wieder war ich überzeugt, dass, wenn ich das Fenster öffnete, mich auf die Zehenspitzen stellte, meine Hand nach dem Mond ausstreckte und ihn umdrehte, ich seine wirkliche, viereckige Gestalt erblicken würde. Es wird dich nicht überraschen, dass ich, kaum dass ich die ersten Buchstaben zusammensetzen konnte, bereits meine Liebe zur Astronomie entdeckte. Es war eine Liebe auf den ersten Blick. Sie begann an einem einsamen Nachmittag, als ich mich auf der Suche nach einem verlorenen Spielzeugauto in die häusliche Bibliothek verirrte und mir der Rücken eines wuchtigen Buches ins Auge sprang. Auf dem glitzernden, mit Sternenstaub besprenkelten Einband prangte in dicken Lettern der Titel: Der Himmel in deiner Hand. Ich nahm das Buch auf den Schoss und blätterte ehrfürchtig darin. Ich spürte, wie sich in mir zum ersten Mal ein tiefes Gefühl regte. Ich war fasziniert vom Toben der Supernovä, von der Wucht der mit Ringen umgürteten Gasriesen, vom Flug der Kometen, die auf unbekannten Bahnen durch das All irrten, von den bunten Fluten aus Sternennebeln, vielgestaltigen Suspensionen, eingefasst in ewig schwarzen Passepartouts ... Darin lag eine Magie, irgendeine Hexerei, die augenblicklich den Mythos meines Papas verdrängte. Das Foto Leszek Szaruga 78 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Włodzimierz Wasyluk zurück zum Inhaltsverzeichnis eintritt, also sei jegliches gemeinschaftliches Handeln eine Form der Usurpation. Die Verallgemeinerung ist unmöglich geworden, die Abrechung mit der Vergangenheit, das Sprechen von Recht, das Urteilen über die Verräter sollte, wie Das Foto überzeugen will, jeder bei sich selbst beginnen. Leszek Szaruga (geb. 1946) Lyriker, Essayist, Erzähler, Übersetzer deutscher Poesie, Hochschullehrer. zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Foto Przemysław Czapliński 79 Leszek Szaruga In einem Sanatorium begegnen sich vier Rekonvaleszenten – Männer verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Sie haben viel Zeit, ein gutes Gedächtnis, sind gesprächshungrig. Schnell schließen sie eine lebhafte Bekanntschaft und beginnen eine weitausgreifende Diskussion, in der sie ein ganzes Jahrhundert einer kritischen Würdigung unterziehen… So könnte zur Not auch eine Ankündigung des Zauberbergs lauten. Szaruga siedelte die Romanhandlung am Anfang des 21. Jahrhunderts an, zum Gespräch bat er Menschen, die verschiedene Generationen und verschiedene politische Grundpositionen repräsentieren – einen Sozialdemokraten, einen gemäßigten Nationalen, einen Anarchisten, einen Demokraten der 68er Generation. Im Laufe wochenlanger Diskussionen besprechen die Herren Schlüsselerlebnisse der polnischen Gesellschaft vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Sie bemühen sich, das Erbe auszumachen, das heute Gemeinschaft stiften könnte. Sie suchen zudem eine Antwort auf die Frage, ob nach all dem, was sich im 20. Jahrhundert ereignet hat, eine Katharsis denkbar ist. In diesen Gesprächen stoßen die Repräsentanten zweier Haltungen aufeinander. Die einen sagen, eine Reinigung sei unentbehrlich, auch wenn sie maximal individualisiert werden müsse. Die anderen sagen – gemäß der Ansicht, die den ganzen Roman wie ein Leitmotiv durchzieht: „Jegliches Sein ist Schuld“. Indem er diese beiden Einstellungen einander gegenüberstellt, konfrontiert Szaruga nicht so sehr politische Standpunkte, als vielmehr jedes politische Denken auf der einen Seite, eine gnostische Lösung auf der Gegenseite. Wenn wir den Roman zu Ende gelesen haben, verstehen wir, dass der Autor für die Seite des Lebens Partei ergreift, wider die Politik. Jetzt – so sollten wir wohl die Aussage des Buches deuten – befinden wir uns in einem Moment, in dem die Nation in die Phase des Zerfalls, eines Identitätswandels, des Verschwindens gemeinsamer Anliegen Das Foto Erst Leszek Szaruga 80 jetzt, im Laufe der langen, nicht enden wollenden Gespräche mit Mutter, erfuhr er die Wahrheit über Vater, auch jene furchtbarste, die ihn unvorbereitet traf, mit der er sich nicht abfinden konnte. Die Anfänge dieser Sache reichten bis ins Offlag zurück, wo Vater während der fünf Jahre Gefangenschaft von Geheimdienstoffizieren angeworben worden war. Er war ein um so köstlicherer Leckerbissen gewesen, als er sowohl Deutsch als auch Russisch flüssig und akzentfrei sprach. Russisch war die Sprache seines Vaterhauses gewesen. Seine Mutter, eine Griechin aus Odessa, hatte nie Polnisch sprechen gelernt. Großmutters Geschichte kannte er schon. Vaters Familie war nach dem Januaraufstand nach Sibirien verbannt worden, nach Tobolsk, und in die Heimat kehrte sie nach dem bolschewistischen Umsturz zurück. Der Weg führte über Odessa, wo sich Großvater in die Tochter eines griechischen Kaufmanns verliebte, eine romantische Geschichte, die mit der Auswanderung nach Polen und der Ansiedlung in der Freien Stadt Danzig endete. Er bedauerte, dass er – wie seine Altersgenossen – keine Großeltern mehr hatte, die verstorben waren, ehe es ihm gelungen war, auf die Welt zu kommen. Besonders, dachte er, interessant wäre es gewesen, die griechische Großmutter kennenzulernen. Es war furchtbar, mit einem Mal wurde ihm das klar, bis an ihr Lebensende hatte sie in dieser polnischen Familie nicht mehr ihre Muttersprache sprechen können. Obwohl es vielleicht nicht ganz so arg war, schließlich mochten sich in Danzig manchmal auch Griechen aufgehalten haben, griechische Unternehmer oder Seeleute. Aber eben dank dessen sprach Vater Russisch, was in seiner Generation recht selten war. Und genau seine Russischekenntnisse führten zum Drama seines Lebens. Im Lager einsitzende Geheimdienstler von der Abteilung Zwei, die den Lauf der Dinge verfolgten und über nur ihnen bekannte Kanäle Kontakt zur Außenwelt hielten, bereiteten sich auf den kommenden Kampf gegen die Sowjets vor. Für eben diese Ziele schien jemand mit solch ausgezeichneten Russischkenntnissen für den Geheimdienst als idealer Neuzugang. Vater willigte natürlich ein, wozu wesentlich die patrioti- zurück zum Inhaltsverzeichnis schen Regungen beitrugen, die die Gefangenen gegenseitig in sich nährten. Dann kam die Befreiung, der Marsch auf Berlin, die Rückkehr ins Vaterland. Die Lagergeschichten hatte er im raschen Rhythmus des Nachkriegslebens beinahe schon vergessen. Er war Redakteur in einem gerade entstehenden Musikverlag. Und so erschien bei ihm eines Tages ein Bote des Geheimdienstes, der ihn an die übernommenen Verpflichtungen erinnerte. „Und reingefallen war er”, sagte Mutter. Reingefallen, doch der steckte ihn nicht ins Gefängnis. Das war noch in Krakau, und ein damals renommierter Journalist, der etwas von einem Literaten aus der Vorkriegszeit hatte, ein überaus idealistischer Kommunist, boxte ihn heraus. Nur, dass sie jetzt etwas gegen ihn in der Hinterhand hatten. Und in Szczecin bekamen sie ihn dann zu fassen. Das hieß nicht nur Beitritt zur Partei, ich glaube sogar, dass die Partei eine Manöverfinte war, Maskerade, eine Art Tarnfarbe. Sie hätten ihn sicher lieber als Parteilosen gehabt. Aber sei’s drum. Es reicht, dass sie ihn zu fassen bekamen und zur Mitarbeit zwangen. Das geschah im übrigen sehr sanft, fast schon mit Samthandschuhen. Es gab da einen Sicherheitsmajor, außergewöhnlich intelligent, geistreich, ein paar Mal kam er sogar zu uns nach Hause. Er übte nicht einmal besonderen Druck aus, es wollte sogar scheinen, dass er die ganze Situation bagatellisierte. Und mit einem Mal wurde er, wie soll ich sagen? Nein, nicht brutal, das ist das falsche Wort. Entschieden – passt auch nicht. Vielleicht so – unnachgiebig. Es ging um einen Menschen, wohl etwas älter als wir, der gerade aus dem Gefängnis kam und der früher auch wie Vater im Stadtamt gearbeitet hatte, aber in einer anderen Abteilung. Der Fall muss für sie besonders wichtig gewesen sein. Es war unmöglich sich zu drücken. Und weißt du, was er gemacht hat? Natürlich führte er die ganze Szene mit dem scheinbar zufälligen Treffen auf der Straße auf, lud ihn zu uns nach Hause ein, aber er offenbarte ihm auch fast gleich von Anfang an seine Rolle. Welches Risiko das bedeutete, muss ich dir wohl nicht erklären. Was später mit diesem Menschen geschehen ist, weiß ich ganz einfach nicht. Er wohnte einige Tage bei uns, dann verschwand er. Und auch sie ließen scheinbar locker, vielleicht zwei oder drei Mal schrieb Vater Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Foto Wydawnictwo Forma Szczecin 2008 180 × 180 • 152 pages paperback ISBN: 978-83-60881-18-7 Translation rights: Leszek Szaruga and Wydawnictwo Forma Contact: Wydawnictwo Forma 81 Leszek Szaruga in der Sache Berichte, aber das hatte schon keine größere Bedeutung mehr. Er hörte all dem voller Entsetzen zu. Der Gedanke, dass sein eigener Vater viele Jahre, ach was, Jahrzehnte Geheimdienstspitzel war, schockte ihn. Noch viele Male kehrte er zu dem Fall zurück, aber Mutter wusste entweder nicht mehr oder sie glaubte nicht mehr sagen zu sollen. Eines Tages jedoch, als sie über die Nachkriegsjahre sprachen, kam sie nochmal auf das Thema zu sprechen. „Das waren furchtbare Zeiten. Auch heute nicht leicht zu verstehen. Es kam auch vor, dass Menschen buchstäblich von einem Augenblick auf den anderen verschwanden und niemand den Mut fand zu fragen, wo sie steckten. Bis heute ist unbekannt, was mit ihnen geschah. Und gleichzeitig konntest du unter Kommunisten Menschen begegnen, deren Bekanntschaft eine Ehre für dich war, ehrliche, moralisch makellose, im tiefsten Innern um die Hilfe für Andere, Schwächere, Bedrohte besorgte Menschen. Sie hatten damals auch Angst, und das war insofern entsetzlich, als sie vor den eigenen Leuten Angst hatten. Sie sprachen chiffriert, verständigten sich mittels einer sonderbaren Sprache, deren Bedeutungen heute niemand mehr entschlüsseln könnte.“ Die Fortsetzung der erzählten Geschichte kannte er schon, aber er hatte nicht die Fortsetzung zur Fortsetzung. Er wusste längst, und eigentlich hatte er es schon einen Augenblick vorher längst gewusst, dass von seinem Vater die Rede war, von Vater, der informeller Mitarbeiter des Amtes für Sicherheit war. Es war unklar für ihn, ob Vater ein Dokument unterschrieben hatte, eine Verpflichtungserklärung oder etwas in der Art, es war jedoch selbstverständlich, dass er dafür kein Geld genommen hatte und fast schon sicher, dass er sich eher mit Firlefanz herauswand als wirklich zu denunzieren. So war es auch in diesem Fall gewesen, was die Erzählung bewies, die er zu hören bekam. Der Komponist Sławomir Górzyński 82 Foto: Ola Sośnicka zurück zum Inhaltsverzeichnis gefundenen Manuskripts“ mit List nähert und damit sein Können im Spiel mit literarischen Konventionen unter Beweis stellt. Dies ist nicht die einzige Flucht vor – seien wir ehrlich – dem allgemein üblichen Schema. Doch diese Fluchten zeugen davon wie inspirierend die Korrespondenz unter den Künsten sein kann und was für ein Potential Künstler mitbringen, die „vonsonstwoher“ kommen. Der Komponist Marta Mizuro Sławomir Górzyński (geb. 1962) Geiger und Altist, Erzähler, lebt seit vielen Jahren in Finnland. zurück zum Inhaltsverzeichnis 83 Sławomir Górzyński Ein durchschnittlicher Künstler entdeckt zufällig die Werke eines unbekannten Genies, eignet sie sich an, nutzt die nicht verdienten, aber sich daraus ergebenden Vorteile, und tut gleichzeitig alles, damit die Sache nicht auffliegt. Als Sławomir Górzyński seiner Erzählung diese Idee zugrunde legte, musste er wissen, dass das nicht besonders originell ist. Und natürlich weiß er das, denn er versucht nicht, den Lauf der Intrige zu ändern, die nur ein Ziel ansteuert: den Betrug aufzudecken. Das Wichtigste ist jedoch, womit der Autor seinen Roman füllt und was er durch ihn übermitteln möchte. Es ist das Wichtigste und das Interessanteste, denn Górzyński siedelt den Komponisten im 21. Jahrhundert an und möchte nicht so sehr die Krise beleuchten, mit der jeder Schaffende zu kämpfen hat, sondern den Kollaps in der klassischen Musik überhaupt. Er stellt die Frage, ob sich dieser Kollaps überwinden lässt und will – wie es in dem Roman der Fall ist – ein neues musikalisches Universum schaffen, das frei ist von Anleihen bei Bach, Mozart oder Chopin. Dabei schreibt Górzyński sowohl über die Gegenwartsmusik als auch über die Klassiker mit einer Sachkenntnis, die der Leser nur von einem diplomierten, praktizierenden Instrumentalisten erwarten würde. Dank der fachkundigen Vorbereitung macht es dem Autor keine Mühe, Klang in Wort zu verwandeln, ohne nach lyrischen Entsprechungen für die abstrakteste aller Kunstgattungen zu suchen. Er verleitet den Leser, sich in die Denkweise der Musiker einzufühlen, wobei er an alles gedacht hat: angefangen beim Prozess, der sich während des Komponierens vollzieht, über die Vorbereitung zur Interpretation des Werkes, bis zur Rezeption, die er elegant auf „mediale“ Echos überträgt. Die stilistischen Fertigkeiten des Autors spiegeln sich nicht nur in fiktiven Rezensionen oder Interviews mit dem Protagonisten, Gregor Zwaite. In dem Roman finden wir auch die Notizen des echten Komponisten, Wilhelm Corrado Fuchs, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden sind – wobei nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Górzyński sich dem Motiv „des Der Komponist Zu Sławomir Górzyński 84 der Audienz bei Simon del Manio fuhr ich mit dem Zug. Im leeren Abteil überlegte ich mir eine Ansprache über Fuchs: wie ich ihn entdeckt habe, wie ich daran arbeite, seine Werke der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Doch die Worte und Formulierungen, die ich zunächst im Kopf hatte, wollten sich nicht verfestigen – ich sprach sie ohne Überzeugung aus und konnte sie deshalb nicht akzeptieren. Parallel dazu, auf einer anderen, unterschwelligen Schiene, die aber klarer und stärker war, dachte ich an Francesca Lammona, an ihre Begeisterung für die Lieder von Fuchs. Ich erinnerte mich daran, dass in ihren Kreisen gesagt wurde: „Wie nah beieinander liegen doch Bühne und Bett bei dieser Diva“. Ich sah uns zusammen, nach der Audienz, im Restaurant. Sie zog mich mit ihren Blicken aus, mit jedem Satz ermunterte sie mich zu gewagten Worten und Taten, bis wir uns nach oben begaben, ins Hotelzimmer, wo sie sich langsam auszog und dabei eins der Lieder von Fuchs summte, während ich wartete, kühl und ruhig, obwohl von ihrem Körper, ihrer Stimme und von dem, was wir gleich machen sollten entzückt. Ich stellte mir vor, wie Beatrice von meiner Romanze mit Francesca erfährt und von Eifersucht ergriffen beschließt, den einst verlassenen Geliebten wieder für sich zu gewinnen. Der Kampf zweier Frauen um meine Gunst beschäftigte mich viel mehr als das Verfassen einer Ansprache über Fuchs. Del Manio holte mich am Bahnhof ab. In seiner mit schwarzem Leder ausgelegten Limousine, schaute er mich aufmerksam an und schüttelte den Kopf. „Das ist unglaublich! Ich schaue Sie an, erkenne Sie und erkenne Sie nicht. Zambardi, übrigens ein sehr guter Freund von mir, Sie haben doch von Zambardi gehört, hat für mich, also auch für Sie, Gregor, Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie so anspreche, also wie ich sagte, hat Zambardi eine computologische Prognostik erstellt. Dabei stützte er sich auf Daten, die ich ihm zukommen ließ. Gregor, wissen Sie was raus gekommen ist? Es ist unglaublich, wunderbar, fantastisch, brillant. Ihre Zukunft, Gregor, stellt sich mit geradezu erschreckend vielen Erfolgen dar. Allerdings von An- zurück zum Inhaltsverzeichnis fang an mit einer Voraussetzung! Welche, werden Sie sicher fragen. Nun, eine ganz einfache; nämlich, dass wir unsere Kräfte zusammen tun. Ich und Sie. Was sagen Sie dazu?“ „Ich denke, wir werden uns schon einigen, Herr Simon.“ Von Zambardi hatte ich gehört. So ein Guru der heutigen Zeit, der aus Computern vorhergesagt hat, wie Astrologen früher aus den Sternen. Viele Leute, auch aus meiner Umgebung, haben seine Weissagungen absolut ernst genommen. Angeblich hat Ernest Skała, der vielseitigste und reichste Kollege meines Fachs, sich auf Zambardis Prognosen gestützt, als er entschieden hat, ob sein nächstes Werk eine Komposition der Unterhaltungsmusik oder noch eine Symphonie werden sollte. Ich habe auch gehört, dass die Lammona einmal eine Tournee durch Japan abgesagt hat, weil ihr Zambardi vorausgesagt hatte, sie würde während ihres Aufenthalts im Land der blühenden Kirschbäume erkranken und die Stimme verlieren. Und ich war selbst Zeuge, als Wiktor Korplow nach einem Klavierrecital zu einer kleinen Gruppe ihm Gratulierender sagte, er würde seine Konzertrouten gemäß Zambardis Ratschlägen festlegen. Schnell entstand der Zweig einer Pseudowissenschaft, computologische Prognostik genannt, die viele Nachahmer fand, Begeisterte und Schwindler. Doch Zambardi war der wichtigste – schon allein sein Name wurde fast wie ein Orakel behandelt. „Das denke ich auch, Gregor. Ihre Lieder sind eine Goldgrube. Doch was kann der Entdecker allein machen? Wird er wie ein Bergarbeiter schuften? Er muss doch Leute anwerben, die ihm helfen, Angestellte und schließlich... einen Leiter des Bergwerks. Ich bin nicht bescheiden, Herr Gregor, die Bescheidenen bringen es zu nichts. Ich kenne meinen Wert, Sie kennen den Ihren. Sie und ich, zusammen werden wir mit Ihren Liedern die Welt erobern. Und Francesca! Gott allmächtiger! Wie sie singt! Wissen Sie dass... Doch später davon. Wir sind da. Sagen Sie mir nur noch, ob Sie etwas in petto haben... irgendeinen Knüller, etwas, das uns während der Sendung in die Knie gehen lässt?“ „Ja, das hab’ ich“, sagte ich lachend. „Einen echten Knüller. Hier.“ Und ich zeigte auf den eigenen Kopf. Aus dem Polnischen von Joanna Manc zurück zum Inhaltsverzeichnis Der Komponist 85 Sławomir Górzyński Muza Warsaw 2008 205 × 145 • 256 pages paperback ISBN: 978-83-7495-474-7 Translation rights: Stanisław Górzyński Contact: Muza Das Buch der geretteten Träume Krystyna Sakowicz 86 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Barbara Lindenberg zurück zum Inhaltsverzeichnis Robert Ostaszewski Krystyna Sakowicz (geb. 1950) von Hause aus Psychologieabsolventin, Verfasserin von Romanen, Essays und Gedichten. zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Buch der geretteten Träume dass hinter den Grenzen der materiellen Welt, in der sie eingesperrt sind, sich riesige Weiten voller geistiger und intellektueller Reichtümer erstrecken. Doch nicht jeder hat den Mut, sich auf den Weg dorthin zu machen. Es ist ein starkes Buch – so stark wie zuweilen ein Traum sein kann. 87 Krystyna Sakowicz Manche Schriftsteller betrachten Träume schmunzelnd, wie lustige Spielereien des Unbewussten. Andere tun es mit ganzem Ernst und sogar mit einer eigentümlichen Andacht und halten sie für Zeichen und Signale, die ihnen helfen, die Welt und sich selbst besser zu verstehen, oder für transzendentale Berührungen. Dies ist der Fall bei Krystyna Sakowicz, der Autorin des Bands Das Buch der geretteten Träume. Im Grunde ist es schwer, hier eine Literaturgattung festzulegen; das Buch lässt sich irgendwo zwischen Essay, esoterischer Abhandlung und lyrischer Prosa ansiedeln. Anders kann es auch nicht sein, da die Autorin sich das Ziel gesetzt hat, den Leser über die Träume in eine andere Dimension der Wirklichkeit zu führen. In so einem Fall ist es ausgeschlossen, sich Formen zu bedienen, die zwar griffig und erprobt, jedoch genau deshalb auch starr sind. Die Autorin sucht sich Menschen aus, die sie über gewundene Wege durch das Land der Träume führen, und die sich genauso sehr voneinander unterscheiden wie ihre Träume. Sie schreibt von Karen Blixen, die einen faszinierenden und gleichzeitig grausamen Traum über Afrika hatte, der ihr erlaubte, ihre eigenen Wünsche besser zu verstehen und – vielleicht war das das Wichtigste – eine weltberühmte Schriftstellerin zu werden. Sakowicz berichtet von Vaclav Nijinskij, dem berühmten Tänzer an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, dessen ganzes Leben im Grunde ein ewiger Traum über Gefühl, Kunst und Gott war – ein Traum der ihn bis in den Wahnsinn trieb. Doch sie schreibt nicht nur über diese Künstler; unter anderem beschäftigt sie sich auch mit Maria Dąbrowska oder Jan Lechoń. Sie stellt deren komplizierte Biographien vor, zitiert oft aus ihren Texten, versieht diese mit ihren Kommentaren und fügt dem Ganzen ein paar eigene Erfahrungen hinzu. An manchen Stellen berührt das Buch nicht nur, sondern es erschüttert; als ob Sakowicz die Leser aufrütteln wollte, indem sie ihnen zeigt, Das Buch der geretteten Träume Manche Krystyna Sakowicz 88 Menschen sind die Träume dieser Welt. Sie durchdringen die Wirklichkeit an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, sie erscheinen und verschwinden, und hinterlassen Verwunderung oder Nebel. Ihr Leben erinnert an ein Drama, das nach den Regeln eines Traums abläuft. Träume, in denen ähnliche Gestalten auftauchen, überschatten unseren Tag. Dann sagen wir: ein Alptraum. Wir sagen, das sei nur ein Traum gewesen. Doch diese Beschwörungen ändern nichts an der Tatsache, dass manche Menschen das Gleiche für uns sind wie Träume; eine beunruhigende Lektion der Wahrheit. In den Träumen der Welt finden wir das, was die Welt nicht will, was sie nicht kennt, nicht weiß, nicht begreift, was sie ignoriert und nicht beachtet, oder umgekehrt: was sie nicht tolerieren will. Als Ganzes kann sich die Welt von nichts lossagen, nichts aus ihrem Umkreis entfernen, da es außer ihr nichts gibt, und alles, was in ihr erscheint sie selbst ist. Deshalb gibt es Träume. Osama bin Laden ist der Welt Traum von Rache, Mutter Teresa – von Barmherzigkeit. Menschen mit Depressionen träumen unsere Verzweiflung. Die Bewohner der Müllkippen sind die Alpträume von der Nutzlosigkeit. Wir alle träumen von uns gegenseitig und durchschauen einander. Jeder träumt die Träume, die allen gehören, da im grenzenlosen Raum der Welt Träume als etwas Privates unmöglich sind. Träume schaffen den Raum für einen dem Wachzustand unbekannten Sinn, in dem das, was nah und fern, verständlich und unbegreiflich ist, eng miteinander verbunden wird. Das Träumen führt uns zu diesem unbekannten und erhabenen Teil des Schicksals, vor dem wir alle zittern. Vaclav Nijinskij zitterte häufig wie Espenlaub. Er war ein großer Tänzer. 1898 kam er zur Welt, 1919 wurde er zum Traum, 1950 starb er und hinterließ wenige Fotografien und drei mit schwarzer Schrift und in Russisch voll geschriebene Hefte. Zwei enthalten das Buch mit dem Titel Leben, ein Heft beschreibt den Tod. Es sollte noch ein Buch über Gefühle geben, doch es gelang nicht, sie aus den Büchern Leben und Tod zu isolieren, also sind die beiden Bände auch das Buch über Gefühle, wobei das Leben Leben ist und der Tod unerwartet kommt. Nijinskij schreibt über das Kommen des zurück zum Inhaltsverzeichnis Todes: „Man sagte mir, ich sei geisteskrank. Ich dachte, ich sei lebendig. Man ließ mir keine Ruhe. Ich sagte mir, dass ich nicht mehr leben wollte.“ Nijinskijs Bücher wurden erst 1995 ohne Abänderungen und in voller Version veröffentlicht. Davor mussten die Texte abgeändert, gekürzt, verdreht werden, da sie sonst niemand richtig verstanden hätte. Die Menschen haben zu Tänzern kein Vertrauen, besonders nicht zu denen, die geisteskrank werden und behaupten, sie tanzten wie Gott. Nijinskij schrieb seine Bücher mit der Hand: mit Bleistift und mit einer Stahlfeder, die er in Tinte tauchte. Von Anfang an sagte er sich, er würde eine bessere Feder erfinden: einen Füllfederhalter. Und er hat ihn tatsächlich erfunden, was dann viel später in der realen Welt patentiert wurde. Die Füller, das Gold der Federn, ihre scharfen, das Papier zerreißenden und ausfransenden Spitzen werden in den Büchern häufig besprochen. Die Tinte Stephens’ Blue-Black Writing Fluid ist keine besonders gute Tinte, doch gerade mit ihr und mit diesen Federn, mit den zu kurzen Bleistiften und mit zittriger Hand – die sich an eine viel größere, an eine vollkommene Bewegung erinnern konnte – wurde die Lebens- und Todesgeschichte menschlicher Gefühle geschrieben. Das Laub der Espe hängt an langen, zarten, flachen Stielen; deshalb zittert es bei jedem Windhauch. Das Zittern ist eine kleine Bewegung, doch wenn wir versuchen immer stärker zu zittern wird ein großer Tanz daraus entstehen. Im Zittern ist der Umriss der Bewegung enthalten, die aus verschiedenen Gründen ihre ganze Kraft zunächst nicht entfaltet. Die Bewegung ist die Sprache des Körpers. So eine Sprache braucht keine Stimmen oder Buchstaben. Sie braucht das Fühlen und die Entfaltung. Sie ist das Gefühl im Körper und nicht der Verstand in ihm. Doch die Schrift ist auch Bewegung. In einer schönen Schrift ist auch viel Gefühl. Nijinskij ist ein Künstler, der den Körper und die Schönheit liebt. Er sagt: „Ich liebe das Gefühl und deshalb werde ich viel schreiben.“ Doch stellen wir uns vor, wir schreiben ein Buch über Gefühle, über das Leben und den Tod, über Gott, über Menschen und über ungemein wichtige Ereignisse, und es wird als das Zeugnis geistiger Krankheit, als ein Auswuchs des Irrsinns gewertet. In diesem Moment beginnt ein Alp- Aus dem Polnischen von Joanna Manc zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Buch der geretteten Träume Wydawnictwo Forma Szczecin 2008 180 × 180 • 174 pages paperback ISBN: 978-83-60881-12-5 Translation rights: Krystyna Sakowicz and Wydawnictwo Forma Contact: Wydawnictwo Forma 89 Krystyna Sakowicz traum. In diesem Traum urteilt jemand. Jemand entscheidet und behauptet wir hätten es mit Überlegungen zu tun, die als Anzeichen für Gespaltenheit typisch sind. Er nennt es Schizophrenie. Nijinskis Tagebuch ist laut diesen Urteilen nur ein so genanntes Tagebuch, der Text eines Irren, voll von Merkwürdigkeiten. Eine formale Gestörtheit des Denkens vielfältiger Art raubt dem Geschriebenen den Sinn. In einem Traum, in dem wir so etwas träumten, würden wir die ganze Zeit weinen. Wenn man Nijinskijs Bücher ohne Voreingenommenheit, bezüglich dessen wie und von wem sie geschrieben wurden, lesen könnte – und sie wurden mit schneller Schrift geschrieben, mal mit zittriger, dann wieder mit steifer Hand, mit eher kleinen als großen Buchstaben – könnte sich herausstellen, dass ihre Worte einen Sinn haben, ihre Sätze einfach sind, obwohl ihre Gedanken immer weitere Kreise ziehen und Dinge betreffen, die jeden und die ganze Welt interessieren: „Ich schreibe über Dinge, die die ganze Welt interessieren“, sagt Nijinskij und bittet sehr darum, immer und in allem verbessert zu werden. Er ist ein ungebildeter Mensch, ein Mensch mit Fehlern. Er hat in zwei Schulen in Sankt Petersburg schreiben gelernt und das sollte ausreichen fürs einfache Schreiben über Dinge, die die ganze Welt interessieren. Doch wir alle machen Fehler, wir sind keine schlechten Menschen, doch wir machen Fehler, die man immer korrigieren kann und auch sollte. „Wegen Fehlern, die nicht mehr wieder gut zu machen sind bitterlich weinen; ich habe geweint, bitterlich geweint“, sagt Nijinskij, „ich habe den Tod gespürt.“ Er schreibt keine Tagebücher, er schreibt über alles was war und über alles was ist. Honig und Wachs Krzysztof Lipowski 90 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Privatarchiv zurück zum Inhaltsverzeichnis schen, die von einem Tag auf den anderen – manchmal unfreiwillig durch Loyalitäten, die sich als falsch und tödlich erwiesen – zu Feinden wurden und ihr Leben zerstörten. Die Erinnerung an die Wunden und Traumata wird für die einen zur kaum zu schulternden Last, für die anderen zur treibenden Kraft, die es ihnen erlaubt, sich neue Identitäten zu schaffen. Krzysztof Lipowski (geb. 1961) Doktorand an der Universität Gdańsk, Lehrer. Honig und Wachs ist sein literarisches Debüt. zurück zum Inhaltsverzeichnis Honig und Wachs Marek Zaleski 91 Krzysztof Lipowski Honig und Wachs von Krzysztof Lipowski gehört zur – wie man sie heute gerne nennt – Erinnerungsliteratur nach der Er innerungsliteratur: Die Generation der Kinder der Opfer von Holocaust, Zweitem Weltkrieg, Konzentrations- und Internierungslagern, Deportation und Vertreibung kehrt zu den traumatischen Erlebnissen zurück, mit denen sie von der Generation ihrer Eltern und Großeltern gezeichnet wurde. Das Buch Honig und Wachs enthält vier Erzählungen. Sie alle sind mit der in der Danziger Bucht gelegenen Heimatstadt des Autors, Puck (dt: Putzig) verbunden. Sie erzählen die dramatischen Schicksale der deutsch-polnischen Bürger dieses Hafenstädtchens, über das die Dampfwalze der Geschichte hinwegrollte. Die Er zählung „Vaters weißes Hemd”, der der Titel des Erzählbandes entlehnt ist, berichtet vom Ende der polnischen Welt in Puck mit dem Ausbruch des Kriegs im September 1939. „Das Erlöschen” ist die Geschichte Pauls, eines Putziger Bürgers und Tübinger Theologiestudenten, der kurz vor Kriegsausbruch eingezogen wird und an der Ostfront fällt. „Zu Bronze erstarrt” porträtiert Lisa, die als junges Mädchen eine glühende Anhängerin des Nationalsozialismus in ihrer Vaterstadt Putzig war und nach dem Krieg in Berlin ihr Leben in Verbitterung und Einsamkeit fristet. Die abschließende Geschichte „Der Aschesammler” erzählt von einer für den Protagonisten selbst rätselhaften Rückkehr in die kleine Stadt und in das Land seiner Kindheit nach vielen Jahren. Das scheint auch für den Autor eine mutmaßliche Schicksalsvariante gewesen zu sein, wenn seine Familiengeschichte anders verlaufen wäre, das Urteil der Geschichte anders gelautet und ihn zum Deutschen erklärt hätte. Lipowskis bis ins kleinste historische Detail ausgefeilte, literarisch brillante Prosa bleibt frei von Hass und Vorurteilen, voreiligen Parteinahmen und Moralaposteltum. Sie gewährt einen Blick auf das Ende einer Welt von Nachbarn, bisweilen sogar deutsch-polnischer Familien, porträtiert Men- Honig und Wachs Lisa Krzysztof Lipowski 92 lag im Bett, dachte an das Plakat, mit dem alles angefangen hatte. Zum ersten Mal hatte sie es im Wartesaal unseres Bahnhofs gesehen. Die Wände des Bahnhofsgebäudes waren grau und schäbig, und auf ihrem Hintergrund erstrahlte das Plakat wie eine große Schachtel süßer Pralinen der besten Firma auf dem Markt. Ein junges, schwarz gekleidetes Mädchen mit blauen Augen und blondem Haar schaute sehr selbstsicher herab. In diesem Blick spiegelte sich Charakter, der mit starkem Willen einherging. Die Hand des Mädchens auf dem Plakat war zum Siegeszeichen erhoben. Lisa ging oft auf den Bahnhof, um das bunte Plakat in sich aufzusaugen, das ein neues Leben verhieß und zur Teilnahme an den Versammlungen in der schönsten Villa an der Bucht einlud. Wie groß war ihre Verblüffung, als sie feststellte, dass sie dasselbe Profil besaß wie das Mädchen auf dem Plakat. Wenn sie ihr Haar zurückkämmte, war die zarte Zeichnung ihrer Nase genauso markant. Wieder einmal sah sie im Kino einen Schwarz-Weiß-Film mit Marika Rökk und wusste längst, dass gerade sie die Frauengestalt auf dem Plakat darstellte. Ja, das war Marika Rökk! Sie rief dazu auf, sich den Reihen des Bundes deutscher Mädel anzuschließen! Ewig stand ihr der Abend vor Augen, an dem sich alle Mädchen am Ufer der Bucht versammelt hatten. In weißen Blusen und knielangen, blauen Röcken knieten sie vor der Fahne mit dem Hakenkreuz nieder. Sie hoben den rechten Arm, mit den Fingerspitzen berührten sie das flatternde Tuch. Über die Gesichter der Stehenden zuckte der Widerschein von Fackeln, die Flaggen, die an hohen Masten befestigt waren, schlugen laut im Wind. Auf das Zeichen der Führerin sprachen sie die heilige Eidesformel, die in einem donnernden Schrei endete, und sie sangen BDM-Lieder. Die Führerin überreichte jeder in einer rituellen Geste einen Gegenstand, der von der Form her an eine Brosche erinnerte – auf dunklem Grund erstrahlte ein helles Kreuz, das sich aus vier gedrehten griechischen Buchstaben Tau zusammenfügte. An diesem Abend entdeckte Lisa eine Freude am Singen neuer nationaler Lieder in sich und trug die Texte mehrerer davon in ihr privates Tagebuch ein. zurück zum Inhaltsverzeichnis Jetzt konnte sie schon in ihrer weißblauen Uniform die Hauptstraße unserer Stadt entlanggehen. Sie kaufte besseres Brot und mehr Seidenstrümpfe. In den Kaffeehausgärten bestellte sie heißes Wasser, mit dem sie ihren eigenen, echten Kaffee aufgoss. In ihn tunkte sie die von Zuhause stiebitzten Plätzchen, die Cecylia jeden Donnerstag buk. Sie nahm sie so behutsam fort, dass auf dem Tisch nicht ein einziges winziges Zuckerkriställchen zurückblieb. Ungeduldig harrte sie der Fahrt ins Sommerlager nach Ostpreußen, inzwischen nahm sie an Kursen für sparsames Haushalten und Haushaltskunde teil. Die Treffen fanden jeden Nachmittag statt, im ehemaligen jüdischen Gebetshaus. In der Ecke ihres Zimmers hegte sie sorgsam eine Nische mit dem Porträt des Führers, der eingerahmt von Blumen und Kerzen jeden Morgen und Abend auf sie herabblickte. Sie wusste sich geborgen und vom Volk gebraucht und dass sie sich nicht mehr den einstigen eitlen Neigungen hingeben durfte. Sogar eine verringerte Schokoladenzuteilung für das wahrhaft germanische Weihnachtsfest verdross sie nicht sehr. Sie spürte, dass ihrem Leben jetzt eine höhere Ordnung verliehen war. Am Sonntagvormittag ging sie wie früher von ihrem Zuhause in die Kirche. Im Sonntagsstaat machte sie hinter der Hausecke eine scharfe Kehrtwende nach rechts und verbarg sich vor Mutters Blicken. Durch die Küchentür ging sie in ihr Zimmer mit dem Führerporträt zurück. Im Alltag kleidete sie sich so schlicht wie möglich in einer herben, schneidigen Manier. Sie benutzte die einst so geliebten Parfums nicht mehr, nicht einmal die billigsten, französischen, von denen es seit einiger Zeit viele in unseren Läden gab. Die Schwarz-Weiß-Filme mit Marika Rökk, die in dem kleinen Saal des Lichtspielhauses vorgeführt wurden, mochte sie immer noch. Vor der Vorführung konnte man im Foyer Schokoladenpralinés kaufen. Seitdem der Besitzers des Kinos von Horst Wahrsieg einen Flügel erhalten hatte (genau den, der einst im prächtigsten Saal des Kurhauses gestanden hatte), musste sie nicht mehr Schlange stehen, um eine Eintrittskarte zu erhalten. Sie betrat den Saal mit den Wehrmachtsoldaten, die seit kurzem oft auf Urlaub herkamen. Nach dem Ende der Filmvorführung ging sie an den Grünen Steg spazieren. Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier zurück zum Inhaltsverzeichnis Honig und Wachs słowo/obraz terytoria Gdańsk 2008 143 × 205 • 144 pages paperback ISBN: 978-83-7453-750-6 Translation rights: Krzysztof Lipowski Contact: słowo/obraz terytoria 93 Krzysztof Lipowski An jedem Nachmittag legte Lisa voller Stolz die Uniform der BDM-Mädchen an. Sie war eher kleingewachsen, doch wenn sie zur Versammlung auf die Hauptstraße zur Villa an der Bucht schritt, dann reckte sie sich und ihr Kopf glitt majestätisch über den Köpfen der Passanten dahin. Dieser Zustand bereitete ihr Freude und verringerte ihr Minderwertigkeitsgefühl immer stärker. Sie wollte den einschneidenden Neid vergessen, den sie durchlitten hatte, als sie dem Leben der gesellschaftlichen Eliten zusah. Sie erinnerte sich an den Sommer 39, als sie diskret beobachtete, wie in den Villengärten unter einem Dach aus Kastanienbäumen die Ehefrauen polnischer Offiziere saßen. Sie hatte gesehen, wie man Foxtrott zu den Klängen eines Grammophons tanzte, lange Zigaretten rauchte und an bunten Likören nippte. Sie hatte die jungen Damen betrachtet, die glänzende, luftige Kleider trugen und Strohhüte mit Schildpattnadeln. Am besten hatte Lisa das Kleid einer Majorsgattin in strahlendstem Blau mit Rüschen aus durchsichtigem Musselin gefallen. Als in den letzten Augusttagen jenes Grammophon endlich verstummt war, hörte man in vielen Zimmern nervöses Telefonklingeln und hastige Frauenschritte. Über den Häusern an der Bucht machte sich Stille breit. Bald jedoch knirschte der verstreute Zucker unter Soldatenstiefeln. Die Deutschen zogen lärmend und selbstsicher ein, sie sprachen in einer Sprache, die nichts vom slawischen Rascheln, keine Weichheit besaß. Sie flözten sich genüsslich auf die aus dem Garten geholten Korbstühle und suchten Schatten vor der verblüffend heißen Septembersonne. Ihre Gesichter waren glattrasiert und dufteten nach „Echt Kölnisch Wasser”, dem hochmütigen Erobererduft. Zappzarapp Artur Daniel Liskowacki 94 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Michał Niedzielski zurück zum Inhaltsverzeichnis Prosaschriftsteller, Lyriker, Essayist, Autor von Hörspielen und Büchern für Kinder, Publizist und Theaterkritiker. Dariusz Nowacki zurück zum Inhaltsverzeichnis Zappzarapp Artur Daniel Liskowacki (geb. 1956), 95 Artur Daniel Liskowacki Zappzarapp ist ein Sammelband mit Erzählungen, die durch den Erzähler-Protagonisten miteinander verbunden sind. Dieser Protagonist – ein Schriftsteller und Journalist im mittleren Alter – wird zum Beobachter von meistens banalen, einfachen Ereignissen. In nur wenigen Erzählungen nimmt er selbst an der Handlung teil. Er beobachtet und belauscht die anderen heimlich, greift sich aus der Wirklichkeit das heraus, was ihm wichtig erscheint und was eine gewisse symbolische oder parabolische Bedeutung haben könnte. Diesen sonderbaren „Voyeur“ lässt der Autor grundsätzlich in drei Erzählräumen erscheinen: in einem Sanatorium am Meer, im Krankenhaus und in den städtischen Bussen. Diese Orte bestimmen gewissermaßen die Thematik der Erzählungen. Der Zyklus aus dem Sanatorium und dem Krankenhaus enthält hauptsächlich Erzählungen über menschliche Anschauungen und Verhaltensweisen. In den Bus-Erzählungen (so wurde der Zyklus genannt), hat der Autor den Ehrgeiz, ein Porträt der heutigen Polen zu erstellen. Das, was die Passagiere der Busse sagen, fügt sich zusammen zu einem Katalog von Meinungen, Ängsten, Illusionen des so genannten einfachen Bürgers. Es scheint kein Zufall zu sein, dass Liskowacki seinem Buch einen Titel gab, der auch eine der Geschichten aus dem Zyklus der Bus-Erzählungen überschreibt. Das heute etwas in Vergessenheit geratene Wort „Zappzarapp“ wird zumeist mit einem schlauen Diebstahl in Verbindung gebracht. Die Vorstellung, das heutige Polen sei ein Land, das völlig ausgeraubt wurde, ist ein hartnäckiges Stereotyp, das beim „Volk“ allgemein verbreitet ist. Solche falschen Mythen, mit denen sich die einfachen Bürger gegenseitig füttern, gibt es viele. Doch das heißt nicht, dass Zappzarapp ein publizistisches Buch ist. Liskowacki interessieren eher die „Krümel der Wirklichkeit“, Mikroereignisse, kleine Dialoge, gewöhnliche Situationen, die normalerweise niemand bemerkt. Für niemanden sind diese Situationen des sozialen Lebens von Bedeutung. Für niemanden – außer für den Wortkünstler, der aufmerksam die ihn umgebende Welt beobachtet und ihr genauso aufmerksam zuhört. Zappzarapp Das Artur Daniel Liskowacki 96 war nachdem man uns in die EU aufgenommen hat, vielleicht sogar am Tag darauf. Ich fuhr mit dem Bus die Strasse runter, vorbei an der Kirche, zur alten Ziegelei, von der nur noch ein paar übereinander liegende Ziegel übrig geblieben sind, und weiter steil nach unten, die Warcisława Strasse entlang. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich schuldig, gleich als ich einstieg. In der letzten Zeit schauten die Leute ein wenig zu aufmerksam auf die Titel der Zeitungen, die sie lasen, als dass ich mich hätte unschuldig oder gar ungestraft fühlen können. Glücklicherweise lesen die Leute immer weniger; wenn sie ganz aufhören werden, vor allem öffentlich zu lesen, wird allgemeiner Friede einkehren. Ich stand neben einem älteren Mann; lichtes, graues Haar, eine Weste mit neun Taschen (wofür brauchen Rentner so viele Taschen? Für Patronen, eine zweite Brieftasche, die Fotos aller Enkel?); poch, poch mit dem Fingernagel gegen die verstaubte Scheibe. Vor der ein Lastwagen vorbeirollte. Er war lang und wirklich schwer. Zusammengebundene Kiefernstämme. Sie sahen aus, als ob man sie gerade gefällt hätte. Ich spürte fast den Geruch des Holzes und der sonnendurchtränkten Rinde. Ich hörte fast wie sie knarrten in der Kurve, die der Wagen, der sie transportierte, ziemlich langsam nahm. Doch nicht langsam genug, um den Bus durchzulassen, von dem aus ich alles beobachtete. Der ältere Mann hörte auf, gegen die Scheibe zu pochen; als ob er verstummte. „Es hat angefangen“, sagte er schließlich und nickte. „Es hat angefangen.“ Eigentlich sprach er nicht mit mir, denn er hat nicht ein einziges Mal rübergeschaut seitdem ich neben seinem Sitzplatz stand, und trotzdem fühlte ich mich zu einer Antwort aufgerufen. Außerdem: Das war ja schon eine Antwort und ich kannte nur die Frage nicht. „Ja“, sagte ich unsicher. Zu unsicher, als dass er das hätte ignorieren können. Er schielte über die Schulter, aber nicht so, dass sich unsere Blicke hätten treffen können. Mir war nicht gleich klar, dass er genau das wollte. Dass er das nicht wollte. Sich treffen. Er wollte nur, dass ich sehe, dass er zu mir geschielt hatte. Genau das. zurück zum Inhaltsverzeichnis „Zapp-zarapp“, sagte er während er auf die Kiefern schaute, deren Querschnitt jetzt zu sehen war. Weiße Felder, tote Jahresringe. Er lachte trocken, hustete kurz. „Zapp-zarapp“, wiederholte er, mit einer merkwürdigen, wie schmerzlichen Erleichterung. Als ob es ein Abhusten, ein Ausspucken wäre. Dessen, was im Inneren quer lag. Ich ahnte schon was ich schuldig war. Eine Erklärung. Dass er saß und ich stand, war jedoch eine heikle Konstellation. Er tiefer und ich nicht höher, weil strammstehend. Ich sprach zu ihm in seinen Nacken, er zu mir in die Scheibe. Er vor sich hin, also wie zu niemandem, ich zu ihm, leicht nach unten gebeugt und deshalb wie unterwürfig. Ich versuchte es trotzdem. „Und warum meinen Sie, dass“, ich zögerte. Vielleicht hat er das gar nicht gedacht. Was? Nichts! Nichts woran ich dachte. „Zapp-zarapp“, wiederholte er mit Hartnäckigkeit, die aber mir galt. „...dass sie uns jemand wegnimmt und von hier abtransportiert?“, beendete ich. „Warum meinen Sie überhaupt, das sei schlecht? Mit Holz wird ganz einfach gehandelt. Und zwar mit einem ziemlich hohem Gewinn“, verstrickte ich mich immer mehr und kam mir vor wie die Axt im Wald mit dieser Vorlesung in Wirtschaft, die heute boshaft politisch schien. Er lachte auf, diesmal fast freudig. Er schaute mich immer noch nicht an. Deshalb konnte ich mich nicht vom Platz rühren, obwohl ich weitergehen konnte. Ihn zurücklassen, diesen Zappzarapp mit seiner wahr gewordenen Prophezeiung, mit seinem auf Erfahrung basierenden Beweis. Doch dann wäre er umso mehr bei mir geblieben. Mit meinen verstotterten Argumenten, mit meinem Augenglas (mal zwei) und Auge (minus fünf ), mit meiner Schuld, an unseren Sünden. Und wieder: „Zapp-zarapp“, irgendwie leiser. Als ob er mich vergessen hätte. Wir ließen den Viadukt hinter uns, und ab nach unten; karge, graue Mietshäuser des deutschen Proletariats, die General-Anders-Grünanlage, wo sie auf Bänken schlafen und in die Büsche pissen (rote Nasen auf dem Monte Cassino ), und gleich Manhatten. Aus dem Polnischen von Joanna Manc zurück zum Inhaltsverzeichnis Zappzarapp Wydawnictwo Forma Szczecin 2008 180 × 180 • 124 pages paperback ISBN: 978-83-60881-07-1 Translation rights: Artur Daniel Liskowacki und Wydawnictwo Forma Contact: Wydawnictwo Forma 97 Artur Daniel Liskowacki Der Markt; eine Bude neben der anderen und die Bullen nur paarweise, eigentlich die Stadtwachen, oder eher die Drachen, ohne Stadt allerdings, Kartoffeln, Rüben, Bananen, Schuhe nach Gewicht, auf einem Drahtzaun aufgehängte Büstenhalter, Bouquinisten, die die Schullektüre des Sohns und den verbleichten Winnetou aus der Wohnung tragen, um sie auf den Bürgersteigen auszulegen und für einen Obstschnaps zu sammeln. Der mit Holz beladene Lastwagen holperte vor uns, wir immer noch hinterher. Wären wir geradeaus gefahren, hätten wir die Piotr Skarga Strasse hochfahren können, und dabei die Tuwim Strasse passiert. Gib uns das Brot von polnischen Feldern, die Särge aus polnischen Kiefern wieder. Ach, verschluckte ich mich an mir selbst, ach so ist das. Als ob ich es sei, der Sehnsucht nach diesem Brot im Kiefernsarg hätte. „Ich verstehe Sie sogar“, sagte ich feierlich aber versöhnlich, „doch die Welt hat sich ein wenig geändert. Es kommt Ihnen so vor, dass...“ „Lass den alten Mann“, der hinter mir war näher als ich dachte. Kleiner als ich, mit einem schmalen, verbissenen Gesicht von jemandem, der weiß, dass er in der Mehrheit ist. Ich schielte zu beiden Seiten, niemand schaute zu uns. Wir wurden langsamer, um in den Busbahnhof einzubiegen. Der Lastwagen wählte deutlich das Zentrum, den langen Weg der Wyzwolenia Allee. „Wie? Lass ihn? Ich erkläre nur. Und wissen Sie warum?“ „Lass den alten Mann“, wiederholte der andere und drehte sich zum Fenster. Doch vor allem von mir weg. Ich stand da mit offenem Mund, obwohl meine Lippen geschlossen waren. „Alles nehmen sie uns weg“, sagte der ältere Mann. Er schaute mich an. „Alles.“ Wir hielten an, Endstation, jeder in seine Richtung. Ich stieg in die Straßenbahn um, und es ging weiter, in die Stadt. Ich machte meine Dinge, ein paar fremde auch, bis zum Abend. Und überlegte in freien Momenten des Überlegens ob Zappzarapp, als er mich ansah, Tränen in den Augen hatte. Kinderszenen Jarosław Marek Rymkiewicz 98 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Elżbieta Lempp zurück zum Inhaltsverzeichnis Marek Zaleski Jarosław Marek Rymkiewicz (geb. 1935) Literaturkritiker und –historiker, Essayist, Dichter, Dramatiker, Übersetzer, Professor der Polnischen Akademie der Wissenschaften. zurück zum Inhaltsverzeichnis Kinderszenen Irrsinn des Kampfes – allen politischen oder militärischen Überlegungen zum Trotz – gegenüber zu stellen. So findet die Idee des Aufstands ihre Rechtfertigung erst in der langfristigen Betrachtung der Geschichte, wenn das Blutvergießen sich insofern gelohnt, dass es durch die Kraft seiner Symbolik den polnischen Widerstandswillen und die Sehnsucht nach Unabhängigkeit aufrechterhalten hat. Rymkiewicz wählt aus Prinzip einen ausdrucksstarken Stil und weckt mit seinen Urteilen Widerspruch. Daher wird das Buch Kinderszenen – so wie alle bisherigen Bücher dieses Autors – in Polen, und vielleicht auch im Ausland, eine neue Diskussion auslösen. 99 Jarosław Marek Rymkiewicz Der neue Essayband von Jarosław Marek Rymkiewicz hat die charakteristischen Eigenschaften des Schreibstils dieses Autors: einen „körnigen“ Aufbau; das Lenken der Aufmerksamkeit auf scheinbar unwesentliche Details, deren tieferer Sinn jedoch bald aufgedeckt wird; die enge Verbindung persönlicher Erfahrungen mit der historischen Perspektive, sowie die Klarheit und Streitbarkeit der gestellten Thesen. In Kinderszenen (der Titel ist Robert Schumanns gleichnamigen Klavierminiaturen entnommen) wechseln sich zwei Motive ab; Erlebnisse aus der Kindheit des Autors - und Szenen des Gemetzels während des Warschauer Aufstands. Rymkiewicz beschreibt vor allem eine, ungewöhnlich blutige Szene, verursacht von einer „Panzer-Falle“, die die Deutschen den Aufständischen untergeschoben hatten; der Panzer explodierte gleich nachdem ihn die jubelnden Einwohner der Warschauer Altstadt umringt hatten. Diese Geschichte erzählt er langsam, eine Szene nach der anderen, über das ganze Buch hinweg, wobei er widersprüchliche Zeugenberichte zitiert und von zahlreichen anderen Grausamkeiten berichtet, die die deutsche Wehrmacht bei der Niederschlagung der Erhebung den Aufständischen zugefügt hatte. Das Kind, das Rymkiewicz in diesen Zeiten war, weiß nicht viel über die historischen Ereignisse, die gerade stattfinden und man könnte sagen sie prallen an ihm ab. Am wichtigsten sind damals für den Jungen die Begegnungen mit Tieren – Katzen, Pferden, Schildkröten, Krebsen und mit einem Hasen aus einer naturalistischen Erzählung von Dogasiński, die ihm seine Mutter vorliest. Doch das Schicksal der Tiere ergibt letztendlich nur den Hintergrund für das menschliche Schicksal, und der Tod des Menschen sowie seine Sinnlosigkeit hat ihr Spiegelbild im Tod der Tiere. Auf der einen Seite erkennt der Autor den biologischen, unmenschlichen Aspekt des deutsch-polnischen Ringens, dem jede rationale Grundlage fehlt. Andererseits sucht er nach einem höheren Sinn dieses Massensterbens und der Zerstörung und kommt schließlich zu der Einsicht, dass der Sinn des Aufstands darin lag, dem deutschen Irrsinn des Mordens den polnischen Kinderszenen DER Jarosław Marek Rymkiewicz 100 munitionswagen fährt in die kiliński Die Soldaten vom Bataillon „Gustaw“ scheint es irgendwie strasse ein nicht gestört zu haben (in der Nähe waren auch Offiziere des Bataillons), dass es einen Befehl vielleicht gegeben oder auch Es gibt mehrere Versionen über die Route, die der gepan- nicht gegeben hat, denn sie waren damit einverstanden, das zerte Munitionswagen zurückgelegt haben soll, als er von Fahrzeug herauszugeben. Die Barrikade wurde niedergerisder Kreuzung zwischen der Senatorska- und der Podwale sen (wahrscheinlich nur ein kleines Stück von ihr), die zwei, Strasse zu dem Punkt rollte, an dem von der Podwale Stras- die den Befehl hatten oder auch nicht hatten, stiegen in den se, in Richtung Długa Strasse, die Kiliński Strasse abgeht. Munitionswagen, untersuchten ihn von innen und fuhren Laut den von Ryszard Bielecki gesammelten Berichten der durch die Podwale Strasse in Richtung Kapitulna Strasse Soldaten des Bataillons „Gustaw“ (in dem Buch „Gustaw“ – los. Bekannt sind – obwohl nicht ganz sicher – die Namen „Harnaś“), die eine den Schlossplatz von der Podwale Strasse der zwei, sogar drei Soldaten (es konnten nämlich auch drei abgrenzende Barrikade verteidigten, erschienen dort gegen sein), sowie das Pseudonym von einem. Hauptmann Lucjan sechzehn Uhr zwei Soldaten mit dem Befehl, das Fahrzeug Fajer „Ognisty“1, stellvertretender Befehlshaber und Offiins Innere der Altstadt zu bringen. Als General Bór Komo- zier beim Bataillon „Gozdawa“, behauptete, es hätte mehrowski ans Fenster des Raczyński-Palais’ trat und den Mu- rere Soldaten gegeben und sie wären aus seinem Bataillon nitionswagen erblickte, war es „genau zwölf Uhr mittags“. gewesen – „hauptsächlich aus der motorisierten Kompanie Auch in der Erzählung von Hanna Malewska, einer Roma- ‚Orlęta’2“. Über die Strecke, die sie wählten, herrscht absolunautorin, die sehr gut weiß, was Geschichte bedeutet und te Unklarheit, da unter den Berichten darüber, solche zu finwie man mit ihr umgehen muss, also einer Person, die (gera- den sind, die sich entweder überhaupt nicht oder nur schwer de in solchen Dingen) absolut glaubwürdig ist, heißt es, der miteinander vereinbaren lassen. Vielleicht könnte man sie irMunitionswagen – Malewska bezeichnet ihn als „tief gelege- gendwie miteinander vereinbaren, wenn man annähme, der nen Schlepper“ – sei in der Altstadt mittags aufgetaucht. „Es Munitionswagen kreiste lange auf den Straßen der Altstadt, war Mittag, die Deutschen gaben Ruhe, als es plötzlich in wechselte ständig den Standort und kehrte zu Stellungen der Podwale Strasse von Schreien und Jubelrufen aufbrodelte zurück, an denen er zuvor gewesen war, weil er die Stelle [...]. Kinder, Frauen umringen den Panzer, der wohl eher ein suchte, an der er letztendlich stehen bleiben sollte: an dem tief gelegener Schlepper ist und wie man sieht, gerade erst er- Tor des Hauses in der Kiliński Strasse. Nach der Lektüre des obert; auf ihm vier lachende Soldaten, die die Straße entlang Buchs von Lucjan Fajer könnte man annehmen („So sind fahren“. Die Aussage über die zwei Soldaten, die angeblich sie in der Kiliński Strasse angekommen“), der Munitionsum sechzehn Uhr bei der Barrikade an der Podwale Strasse wagen sei die Podwale Strasse, Richtung Kapitulna Strasse aufgetaucht seien, um mit dem Munitionswagen von dort entlang gefahren und hätte ziemlich schnell, ohne unterwegs aus in die Kiliński Strasse zu fahren, scheint also – besonders anzuhalten oder vom Weg abzukommen, die Kiliński Straswas die Uhrzeit angeht - fragwürdig. Genauso, ja sogar noch se erreicht. Doch das erscheint mir sehr unwahrscheinlich. fragwürdiger erscheint der Befehl selbst, auf den sich – laut Basierend auf verschiedenen Berichten über den Aufstand, Bielecki – die zwei Soldaten beriefen; er wurde nicht schrift- stellte Ryszard Bielecki den Weg des Munitionswagens sehr lich herausgegeben. Es ist auch unklar, wer, welcher Befehls- verworren – und als einen sehr verworrenen – dar. „Der haber ihn gegeben haben soll. Mehr noch: Der Inhalt des kleine Panzerwagen fuhr über die Podwale- zur Kapitulna Befehls ist unbekannt, also weiß man auch nicht wohin und Strasse und drehte nach rechts in die Piekarska Strasse ab. mit welchem Ziel die zwei Soldaten mit dem Munitionswa- Über den Zapiecek fuhr er auf dem Marktplatz der Altstadt gen von der Barrikade aus fahren wollten. Begründet scheint ein [...] Von diesem Moment an hatte die Fahrt des Pandagegen die Annahme, es hätte gar keinen Befehl gegeben. zerwagens den Charakter einer Siegesparade. [...] der kleine zurück zum Inhaltsverzeichnis Aus dem Polnischen von Joanna Manc 1 2 dt. der Feurige dt. junge Adler zurück zum Inhaltsverzeichnis Kinderszenen Wydawnictwo Sic! Warsaw 2008 205 × 135 • 204 pages hardcover ISBN: 978-83-60457-60-3 Translation rights: Wydawnictwo Sic! 101 Jarosław Marek Rymkiewicz Panzerwagen fuhr vom Marktplatz über die Nowomiejska Strasse. Er erreichte die Freta Strasse und drehte hier nach links. Die Durchfahrt dauerte ziemlich lange, weil unterwegs ein paar Barrikaden niedergerissen werden mussten“. Es liegt nahe, dass der Munitionswagen dann, nachdem er von der Freta Strasse links abgebogen war, die Długa Strasse entlang zum Haupteingang des Raczyński Palais fuhr (das heißt gefahren wäre, denn ob er gefahren ist, weiß man nicht). Doch auch diese Version scheint mir recht unwahrscheinlich. Aber natürlich ist alles möglich. Fügen wir dem noch eine Version der Durchfahrt hinzu, die ganz offen derjenigen widerspricht, die wir in Marsch durch die Hölle finden, und die in Antoni Przygońskis Buch Der Warschauer Aufstand im August 1944 wiedergegeben wird. Dieser Autor behauptete nämlich (basierend auf irgendwelchen Berichten, deren Urheber er nicht preisgegeben hat), der Munitionswagen sei zwar durch die Wąski Dunaj Strasse gefahren, jedoch in eine andere Richtung, als es aus Podlewskis Buch resultieren würde. Er fuhr nämlich die Wąski Dunaj Strasse entlang nicht in Richtung „Alter Markt“ wie es Vater Tomasz Rostworoski geraten hatte, sondern er bog „von der Wąski Dunaj- in die Kiliński Strasse ein“ – und das bedeutet (zumindest kann man das annehmen), dass er in die Wąski Dunaj Strasse vom Markt der Altstadt oder von der Piwna Strasse eingebogen war. Witold Bereś, Krzysztof Burnetko 102 zurück zum Inhaltsverzeichnis Marek Edelman. Einfach das Leben Marek Zaleski Marek Edelman (geb. 1922) legendärer Kommandeur des Warschauer Ghetto-Aufstandes, Kardiologe, bis heute eine Autorität und ein führender Kopf in Politik und Gesellschaft. zurück zum Inhaltsverzeichnis Marek Edelman. Einfach das Leben illustriert, ist nicht nur ein faszinierendes Porträt eines großen Helden des 20. Jahrhunderts, eines Menschen mit großem Mut und nicht einfachem Charakter, der dem Gedenken seiner gefallenen Freunde treu bleibt und der, wie Lech Wałęsa über ihn sagte, „nicht in diese Welt der Bequemlichkeit, netten Gesten und freundlichen Worte passt“. Es ist auch eine philosophische Abhandlung über ein gutes Leben und eine breit gefasste Erzählung über das 20. Jahrhundert. 103 Witold Bereś, Krzysztof Burnetko Viele Leser kennen Marek Edelman, den letzten noch lebenden Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, der nach dem Krieg ein angesehener Herzchirurg in Łódź war, bereits aus seinem Gespräch mit Hanna Krall Dem Herrgott zuvorkommen (1977), das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Das von zwei prominenten Journalisten verfasste Buch Marek Edelman. Einfach das Leben ist die neueste und bisher vollständigste Biographie, die in enger Zusammenarbeit mit dem Protagonisten entstanden ist. Václav Havel sagte über Marek Edelman dieser verkörpere für ihn „das Beste an Polen“. Das Buch von Bereś und Burnetko erzählt von Edelmans jüdischer Kindheit in Warschau, seinen Jugendjahren als Mitglied des Jüdischen Arbeiterverbandes „Bund“ und vom Vorkriegswarschau, vom Aufbau der Jüdischen Kampforganisation „ŻOB“ und dem Leben im Ghetto, vom Ghettoaufstand im April 1943 und von Edelmans Teilnahme am Warschauer Aufstand im August 1944, von den Nachkriegsjahren und vom Schicksal jener polnischen Juden, die den Holocaust überlebt haben. Seit 60 Jahren lebt Marek Edelman in Łódź – trotz antisemitischer Attacken, die 1968 ihren Höhepunkt erreichten und seine Familie in die Emigration zwangen und ihm selber eine wissenschaftliche Karriere unmöglich machten (seine Habilitation wurde aus politischen Gründen abgelehnt). Wir lesen von seiner Arbeit als Herzchirurg, aber auch von seinem Engagement in der demokratischen Oppositionsbewegung in Polen und von dem Leben eines politisch Verfolgten und Schikanierten. Das Buch zeigt Edelman als Mitglied von „KOR“, dem „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“, und der illegalen „Solidarność“, sowie, nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von Polen im Jahre 1989, als Sejm-Abgeordneten, der nicht nur in polnischen Angelegenheiten aktiv wurde, sondern sich auch für die Hilfe den Opfern des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien einsetzte oder für den Dialog zwischen Israel und Palästina. Das Buch von Bereś und Burnetko, voll von Anekdoten und mit Aussagen von Edelman sowie von seinen Freunden und Feinden Marek Edelman. Einfach das Leben Marek Witold Bereś, Krzysztof Burnetko 104 Edelman: „Hört doch auf, aus mir irgendeinen Helden zu machen! Wen interessiert es, wie viele Karabiner es gab und wer wo geschossen hat! Ihr redet so ernsthaft darüber, aber wir waren doch damals auch junge Menschen, Rotznasen. Wisst ihr, welchen Blödsinn wir im Kopf hatten?“ Einige Stunden nach der Vernichtung des Bunkers und Anielewiczs Tod, bereits am Abend, geht Edelman zusammen mit einigen anderen, darunter auch mit „Celina”, um nachzusehen, was in der Miła los ist. Sie gehen durch ein Meer aus Ruinen. Plötzlich bricht unter „Celina“ eine Kellerdecke ein… Im letzten Moment rettet ihr Edelman das Leben. Und damals findet er auch in einem Versteck unter der Tür fünfzehn wie durch ein Wunder gerettete Menschen, von denen er erfährt, was im Bunker passiert ist… Es ist einer dieser Momente, in denen er jemandem das Leben rettet. Denn auch wenn er nie gerne davon sprechen wird, weiß man, dass er während des Warschauer Aufstands allein „Celina“ noch zwei Mal das Leben gerettet hat. Unerwartet – sogar für sich selbst – wird er zu dieser Zeit zu einer Stütze für andere. Joanna Szczęsna wird er später sagen, er wisse nicht, warum die Menschen auf ihn gehört haben, er sei damals doch nicht sehr ernsthaft gewesen. Heute fügt er hinzu: „Na gut. Wir waren tapfer. Mutig. Aber in militärischer Hinsicht? Nimmt man die Deutschen – dann gab es uns gar nicht. Es ist also vielleicht wichtiger, dass wir irgendwelche gemeinsamen Werte befolgt haben.“ Auch Freundschaft war hier wichtig. Pnina Grynszpan-Frymer erzählt Anka Grupińska (Stets im Kreis) eine ähnliche Geschichte: „Marek war der Kommandant eines Gebiets, der Kommandant der Kampfgruppe war Jurek Błones. In der Nacht schlug Marek einige Male einen solchen Alarm, er testete unsere Bereitschaft. Mit einer Uhr in der Hand schaute er, wie schnell wir zu einem Angriff bereit sind. Er war sehr kühl und sehr mutig. Er war ein verantwortungsvoller Mensch und deshalb fühlte ich mich sicher bei ihm. Schon während des Aufstands, nachdem das Gebiet der Bürstenfabrik liquidiert worden war, gingen wir vom Zen- zurück zum Inhaltsverzeichnis tralghetto in den Bunker in der Franciszkańska 32. Marek organisierte unsere Überführung. Er brachte drei Gruppen hinüber: meine, also die von Hersz Berliński, die Gruppe von Droru Henoch Gutman und seine eigene, die der Bundisten.“ Als wir im Frühjahr 2008 mit Pnina in Tel Aviv sprechen, ergänzt sie die Beschreibung dieser Situation: „Marek war mein Kommandant. Wortwörtlich. Es war so: Mein damaliger Kommandant sagte plötzlich, er wolle alleine, ohne uns, auf die arische Seite gehen. Ich war verzweifelt. Und als ich auf Marek zukam und ihm davon erzählte, antwortete er ruhig: ‚Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde jetzt dein Kommandant sein. Dir wird nichts passieren, bleib ruhig…’.“ Edelman: „Im Aufstand hatte ich auch einige Kommunisten unter mir. Irgendwann Anfang Mai fingen sie an sich zu beschweren, dass sie zu wenige Waffen hätten und kündigten mir an, in einen Hungerstreik zu treten. Bitte schön, sagte ich, es gibt sowieso nichts zum Essen, ihr könnt ruhig einen Hungerstreik veranstalten. Allerdings tauchte gerade irgendwelcher Zucker auf, jemand löste ihn in Wasser auf und alle konnten davon trinken. Und diese hier – Hungerstreik. Ich vertrug keine Auflehnung. Ich sagte zu meinen Leuten: Entwaffnet sie, und bringt sie her! Und die sagten weiterhin, dass sie dieses Zuckerwasser nicht trinken werden. Ich hatte aber ein Gewehr… Und so haben sie es getrunken…“. Was für ein Unterschied im Vergleich zu dem Edelman aus den ersten Tagen des Ghettos! Adina Blady-Szwajgier, Inka, schreibt über diese frühere Zeit: „Es war ein wunderschöner Julitag, noch bevor das Ghetto abgesperrt wurde. Ich kam zur Arbeit im Krankenhaus in einem sehr schönen Kostüm noch aus der Vorkriegszeit, aus Krepp. Es ist wichtig, dass es aus Krepp war, denn dieser Stoff darf nicht nass werden. Ich trat ans Fenster und sah Marek, wie er vor dem Haus den Rasen sprengte. Als er mich bemerkte, richtete er seelenruhig den Schlauch auf mich. Ich sprang aus dem Fenster, es war das Erdgeschoss, und wir fingen an, auf dem Rasen zu raufen.” Als Paula Sawicka einige Jahrzehnte nach dem Krieg auf Edelmans Bitte dessen damalige Verlobte Stasia in New York besucht und sie fragt, wie er damals war, hört sie: „Rück- Aus dem Polnischen von Aleksandra Kujawa-Eberharter und Markus Eberharter Marek Edelman. Einfach das Leben Und ich war kein Engel… Alles deswegen, weil ihr Leben plötzlich von mir abhing. Das von Inka und von Stasia und von Tosia Goliborska… Deswegen die ganzen Seufzer… Es ist übrigens egal. Wichtig ist, dass es den Aufstand gab, dass der Widerstand lange anhielt, dass die deutsche Armee, die tausende Soldaten hatte, drei Wochen lang mit zweihundert Jungs kämpfen musste. Das ist wichtig, und nicht, ob jemand aus einem Fenster in der Niska oder in der Śliska geschossen hat… Die meiste Zeit hat übrigens gar niemand geschossen, weil es nichts zu verschießen gab. Und außerdem – was hätte ich schon tun können? Es gab doch so viele, denen vorkam, dass sie von mir abhingen. Sehr viele. Nur dass wenige überlebten.” 105 Świat Książki Warsaw 2008 200 × 145 • 510 pages hardcover ISBN: 978-83-247-0892-5 Translation rights: Świat Książki zurück zum Inhaltsverzeichnis Witold Bereś, Krzysztof Burnetko sichtslos. Aber wir alle damals fühlten uns sicher bei ihm.“ Sawicka: „Stasia sagte zu mir: ‚Wir alle haben auf ihn vertraut. Wir saßen zuhause und warteten, bis er kommt und eine Kanne Suppe bringt. Sonst hätten wir gehungert. Wir brauchten uns um nichts zu sorgen, denn wir wussten, Marek wird alles richten.’ Es war ein unglaubliches Geständnis, auch deshalb, da sie ja alle älter waren als Marek.“ Stasia, d. h. Ryfka Rozensztajn. Wie sich Edelman erinnern wird, sang sie, hatte eine schöne Stimme, konnte hübsch zeichnen, trug schwarze Zöpfe und war eine Stütze für ihn. Edelman erzählte Sawicka einmal, dass Stasia im Ghetto Geld verdiente, indem sie die Griffe von Regenschirmen mit phantasievollen Mustern bemalte. Als Sawicka verwundert fragte, wie es möglich war, dass sich so etwas verkaufte („Im Ghetto?!“), hörte sie: „Was denn, glaubst du etwa, im Ghetto hat es nicht geregnet?“. Stasia war also die Freundin von Marek Edelman. Obwohl es danach aussieht, dass sie zu Beginn des Krieges auch mit Welweł Rozowski, dem „Włodek”, zusammen war … Alina Margolis kann sich jedenfalls erinnern, dass man über Rozowski sagte: „Der Mann von Mareks Frau”. Und Paula Sawicka: „Mir erzählte Inka, dass man von Marek als ‚dem Mann von Włodeks Frau’ sprach. In der kleinen Erzählsammlung von Alina Margolis Ala aus der Fibel gibt es die Erzählung Schüsse, in der die damalige Zeit beschrieben wird, auch wenn die Namen der Protagonisten geändert wurden. „Pnina, die nie außer Haus ging, kochte jeden Tag eine Suppe aus Ersatzprodukten. Manchmal schwammen darin Stückchen von Pferdefleisch. Sie wohnte zusammen mit ihrem Mann und ihrem Freund. Das wunderte mich nicht einmal… Mich wunderte dagegen, dass niemand protestierte, als sie für die beiden die besten Stückchen aus der dünnen Suppe aufhob.“ Edelman: „Stasia war meine Freundin! Und obwohl ich von ihr das Leben überhaupt gelernt habe, hörte sie auf mich! Ich kannte sie noch von früher, als große Aktivistin im Kinderverband „SKIF“, als ich noch eine kleine Rotznase war.“ - Wie kam es, dass Sie Chef wurden? „Man stellte mich einfach vor so eine Situation, dass ich befehlen musste und dann wurde alles andere unwichtig. Piotr Kletowski, Piotr Marecki 106 zurück zum Inhaltsverzeichnis ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] (geb.1940), einer der umstrittensten polnischen Filmregisseure; Drehbuchautor, Filmkritiker, Feuilletonist, Schauspieler und Schriftsteller. Andrzej Kołodyński zurück zum Inhaltsverzeichnis ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] Andrzej Żuławski 107 Piotr Kletowski, Piotr Marecki Obwohl sich Andrzej Żuławski bereits seinem 70. Geburtstag nähert, bleibt er als Künstler weiterhin sehr jugendlich – im Geiste und im Temperament. Eben: Als Künstler, denn er beschränkt sich nicht nur auf eine Kunstform. Am bekanntesten ist er als Filmregisseur und Drehbuchautor (14 Filme), selbst aber schätzt er seine Bücher (24 an der Zahl) höher ein. Er war auch als Filmkritiker und Schauspieler tätig, führte im Warschauer Teatr Wielki eine klassische Nationaloper auf, arbeitete beim Fernsehen und publizierte Gedichte. Der Gestalt Żuławskis verleihen in Polen seine Pariser Ausbildung, seine Herkunft aus einer intellektuellen und künstlerischen Familie sowie seine schönen Frauen, die berühmten Schauspielerinnen Małgorzata Braunek und später Sophie Marceau, eine snobistische Note. Andrzej Żuławski ist für seine scharfe Zunge und umstrittenen Ansichten bekannt. Das Gespräch nimmt also die Form einer lebhaften Diskussion an, die manchmal in eine Auseinandersetzung übergeht und deren, von den beiden Interviewern – zwei Kritiker und Kulturwissenschaftler – auferlegte Ordnung oft von der brillanten Unberechenbarkeit ihres Gesprächspartners gesprengt wird. Eine hinreißende Lektüre. Sie beginnt mit einem Versuch, die für Żuławski wichtigsten Medien, Kino und Literatur, zu definieren, bald aber kommt alles auf einmal: von der Kindheit bis zu den künstlerischen Faszinationen (Fjodor Dostojewski neben Sam Peckinpah, aber nicht nur!), von den dramatischen Erlebnissen in kommunistischen Zeiten (die zweimalige Ausweisung aus Polen und der unaufhörliche Kampf gegen die Zensur) bis hin zu den faszinierenden und nicht immer wohlgesinnten Charakterisierungen berühmter Menschen, denen er in seinem Leben begegnete. Bei allem Anschein von Anarchie, die er übrigens mit dem Zynismus eines selbstbewussten Künstlers auszunützen vermag – entsteht bei diesem Interview das Porträt eines Künstlers mit eindeutig linker Weltanschauung, der sich seiner privilegierten Position in der Gesellschaft durchaus bewusst ist und der auf seinem Recht besteht, über alles zu reden, was er für wichtig und wesentlich hält. ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] Über Kinski Piotr Kletowski, Piotr Marecki 108 Kinski war eine Mischung aus Vollidiot, Schwachkopf und einem Sensibelchen, fernab jeder Kultur. Kinskis Egomanie überragte jede Vorstellung. Ich habe ihn engagiert, nicht weil er in diesen Spaghetti-Western spielte, die ihn übrigens völlig aufgerieben haben, sondern wegen seiner Physiognomie, deswegen, weil er der erste Hamlet in den Ruinen von Berlin war, worüber ich oft spreche, denn dadurch habe ich erfahren, dass es einen solchen Schauspieler überhaupt gab. Zum ersten Mal hat ein Deutscher den Hamlet gespielt, 1945, in den Ruinen von Berlin, im Theater. Er war also ein Schauspieler mit Theatervergangenheit. Er war übrigens polnischer Abstammung. PK: Ja, aus Sopot. Nakszyński hieß er. Er war ein auf Effekthascherei bedachter Komödiant, im buchstäblichen Sinne, er hat es aber so weit getrieben, dass es an Genialität grenzte. Es gibt solche genialen Idioten. Die Autisten können zum Beispiel rechnen wie niemand auf der Welt, und er konnte spielen wie niemand auf der Welt, weil er eine Art Autist war. Außerdem darf man einige wesentliche Dinge nicht vergessen, vor allem, dass er drogenabhängig war, das heißt also, dass er nie nüchtern war, in dem Sinne, was wir für nüchtern halten. Er war permanent absolut high, was seinen natürlichen Rausch noch gesteigert hat. Ich persönlich kann von ihm nur Gutes sagen. Ich habe mich darauf versteift, dass er in diesem Film spielt. Dafür musste ich für die zwei Herren Koproduzenten aus Deutschland eine Schauspielerin mit sooolchen Titten engagieren. Sie kam in einem Rolls-Royce – ich habe es in einem meiner Bücher beschrieben – hatte ein winziges Röcklein mit Tüpfchen an, das ihr kaum die Möse verdeckte, und die Mama war mit dabei. Und sie war eine unschuldige, süße Schlampe, eine Vollidiotin einfach, aber sehr nett, ein guter Mensch. Ich habe zugestimmt, dass sie in diesem Film spielt, denn sonst wollten sie Kinski nicht dabeihaben, weil er einem dieser Produzenten mal die Fresse poliert hatte, in ei- zurück zum Inhaltsverzeichnis ner Bar in München, wegen seiner Nazivergangenheit. Dass Kinski selber eine Wehrmachtvergangenheit hatte, darüber hat man weniger gesprochen. Aber er hatte eine. PK: Herzog behauptet, Kinski wäre sogar in Stalingrad gewesen. Das ist gut möglich, bei ihm war absolut alles möglich, was immer Sie mir von ihm erzählen, ich würde sagen, dass es sehr wahrscheinlich ist. Aber zurück zum Thema. Wie es mir also gelungen ist, Kinski für den Film zu gewinnen, obwohl mir alle gesagt hatten, er sei der Antichrist? Ich habe diese Schauspielerin, diese Produzententussi zum Set gelassen. Als Frau – wirklich ein Traum: unglaubliche Titten, zwei Meter groß, den Namen sage ich nicht. Und jeden Abend haben diese deutschen Produzenten die Szenen mit ihr angeschaut, und alles hat gestimmt, also ließen sie Kinski mitspielen. Dieser spielte großartig und war sehr glücklich darüber, aber sie, diese Tussi natürlich, erscheint gar nicht auf dem Bildschirm. Ich habe diesen Produzenten nur einen Brief geschrieben: „Erpresst nie einen Regisseur, denn er wird euch immer austricksen“. Sie war da, sie war sogar in den Szenen, kommt aber auf dem Bildschirm gar nicht vor! Diese Figur gibt es gar nicht, es wurde so gedreht, dass man es rausschneiden konnte! Als ich am Anfang der Produktion sagte, ich will Kinski, hat man mir gesagt: „Bist du verrückt, der kann höchstens umsonst spielen, weil ihn niemand will. Er hat sich überall so furchtbar aufgeführt, dass er von allen gehasst wird, neuerdings spielt er sogar bei diesen Spaghetti-Western in Rom nicht mehr mit, niemand will mehr etwas von ihm hören, er ist am Boden“. Und als wir seinen Agenten in Rom anriefen, der vor Glück fast durchdrehte, rief Kinski sofort zurück, dass er schon auf dem Weg sei, und ich sagte zu ihm: „Komm noch nicht her, weil ich weiß noch nicht, ob ich das durchbringe. – Nein, ich komme, das ist wichtig. – Aber du hast das Drehbuch noch gar nicht gelesen. – Nein, ich komme“. Kinski kam und wohnte in so einem erbärmlichen kleinen Hotel. Er hatte eine ganz junge Frau, eine kleine Vietnamesin, mit der er später ein Kind hatte. Beide waren ständig auf Drogen und hatten deswegen PK: Er schreibt dort auch, dass er den ganzen Film gesehen, aber nichts davon verstanden habe. Das weiß ich nicht mehr, aber ich weiß, dass ich von ihm als ein scheinheiliger Pfaffe bezeichnet wurde, als kompletter Idiot, und da er in diesem Buch wirklich über alle herzieht, an niemandem ein gutes Haar lässt, ist er sehr einsam gestorben. Das war seine Einstellung überhaupt, zur Welt und zu allem. Ich kann mich erinnern, dass seine Tochter Nastassja mir erzählt hat, dass sie, als man sie gefragt hat, ob sie traurig geworden sei, als sie erfahren hat, dass ihr Vater gestorben ist, geantwortet habe: „Ja, für zwei Minuten“. Aus dem Polnischen von Aleksandra Kujawa-Eberharter und Markus Eberharter zurück zum Inhaltsverzeichnis ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] Wydawnictwo Krytyki Politycznej Warsaw 2008 118 × 165 • 528 pages paperback ISBN: 978-83-61006-38-1 Translation rights: Andrzej Żuławski, Piotr Kletowski, Piotr Marecki and Wydawnictwo Krytyki Politycznej 109 Piotr Kletowski, Piotr Marecki kein Geld für ein ordentliches Hotel. Wir haben etwas für sie organisiert, mit Wasser und Klo auf dem Gang, denn was anderes konnten sie sich nicht leisten, und die in der Produktion wussten nicht, ob er überhaupt spielen wird und ob sie das Geld für ihn auslegen sollten. Deswegen war er noch vor den Aufnahmen dankbar. Außerdem waren wir vom Temperament her recht ähnlich. Vielleicht sieht man das nicht gleich auf den ersten Blick, aber wenn ich wütend werde, kann ich einfach ziemlich gefährlich sein. Viele Regisseure, die ich kenne, haben so etwas, dass sie, wenn man ihnen auf den Senkel geht, einen töten könnten. Da also Kinski spürte, dass wir beide ein leicht erregbares Temperament haben, sah er das positiv und hat sich mehr als professionell verhalten. Er war eine Stunde früher als alle anderen am Drehort, und nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde hat er Troubles gemacht. Er hat sogar versucht, sich mit Romy Schneider anzufreunden, die ihn aber nicht besonders mochte. Wir haben uns unter Tränen verabschiedet, nachher aber habe ich in seinen Erinnerungen gelesen, er hat gesagt, ich sei ein Volltrottel gewesen, und hat geschrieben, nein – ich sei so eine Art Pfarrer gewesen, so ein heuchlerischer Moralist, so etwas hat er in seinen Erinnerungen geschrieben. Turulgulasch Krzysztof Varga 110 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Michał Mutor zurück zum Inhaltsverzeichnis und Gebräuche vor... Manche Motive behandelt er nur kurz, zu anderen kehrt er fast obsessiv immer wieder zurück. Auch seine seit frühester Kindheit erlebten Abenteuer mit den Ungarn und dem Ungarischsein behandelt er in diesem Buch, das mit Distanz, doch auch mit rauher Zärtlichkeit gschrieben ist. Krzysztof Varga (geb. 1968) Schriftsteller, Literaturkritiker, Journalist. Im letzten Jahr erschien sein sechster Roman. zurück zum Inhaltsverzeichnis Turulgulasch Robert Ostaszewski 111 Krzysztof Varga Turulgulasch ist eine in ausgezeichneter essayistischer Prosa verfasste Sammlung von Reisebeschreibungen über Ungarn. Die Wahl dieses Landes liegt auf der Hand, denn der Autor ist halb ungarisch. Der Titel des Buches mit seiner Kombinaton von ungarischem Mythos und ungarischer Küche gibt den Ton für das Buch an, in dem alle Kapitel ähnlich benannt sind, wie z.B. Horthy-Braten oder Sankt-Stefans-Salami. Seinen Besuchen in Restaurants und Kneipen verschiedenster Art widmet Varga viel Platz, ebenso wie den Bewertungen unterschiedlicher Gerichte, angefangen von der einfachen Blutwurst mit Brot, Senf und eingelegtem Gemüse, wie sie in den Metzgereien serviert wird, bis hin zu komplizierterem Gebratenem und Gesottenem. Wie sich herausstellt, geht er auf die Merkmale der ungesunden, fetten und schwer verdaulichen ungarischen Küche auch deshalb ein, um Parallelen zur ungarischen Psyche zu ziehen, die in erstickender Atmosphäre und quälenden Marotten versumpft. Varga präsentiert Ungarn als einen Ort unerbittlicher Melancholie, Nostalgie, Traurigkeit, ja sogar Verzweiflung, ein Ort der Depression und Unterlegenheitsgefühle, die mit masochistischem Genuss gehätschelt werden. Der Autor von Turulgulasch sieht den Grund für dieses spezielle kollektive Selbstwertgefühl der Ungarn in erster Linie in der wechselvollen Geschichte, die von zahlreichen Niederlagen und unerfüllten Träumen von Großungarn gekennzeichnet war, jedoch auch in der kulturellen Andersartigkeit der ehemaligen Nomaden, die werweißwoher nach Mitteleuropa kamen. Turulgulasch ist tatsächlich ein wenig gulaschartig, es ist ein Gemisch von vielem verschiedenem. Diesen Texteintopf hat Varga ganz bewußt so zusammen gebrutzelt. Er beschreibt keine Reise durch Ungarn, auch keine Epoche aus der Geschichte des Landes, er flaniert durch Zeit und Raum, erinnert an Ereignisse ferner Vergangenheit, aber schreibt auch über die Gegenwart (unter anderem über die groteske Revolte gegen Premierminister Gyurcsany 2006), er rühmt die Schönheiten Budapests, erzählt von Ausflügen in namenlose Dörfer, stellt Küche, Kultur Turulgulasch ...Es Krzysztof Varga 112 dauerte etwas, bis ich, aus der Welt der pflichtschuldigen Wochenendbesuche bei den Bekannten meines Vaters entlassen, schließlich begriff, dass diese Welt nicht nur aus Letscho, gefüllter Paprika und Kartoffelauflauf bestand, sondern auch aus Frustrationen, Komplexen, einer unheilbaren, schmerzlichen, verzerrten Erinnerung. Und dem nostalgischen Trauern um die Zeiten unter Regent Mihaly Horthy und Genosse János Kádár. Grund für die Nostalgie gab es nur insofern, als sie ein elementarer Bestandteil des ungarischen Lebens ist. Ich weiß noch, dass der Name von Genosse Kádár in den Unterhaltungen damals sehr oft fiel, wahrscheinlich deshalb, weil man sich über ihn beklagte – heute beklagt man, dass er nicht mehr da ist. Die Kadarschen Zeiten sind deshalb so nostalgieförderlich, weil es in Osteuropa die besten waren, aber gleichzeitig auch die schlimmsten – Zeiten der gebrochenen Rückgrate und der geistigen Fesseln. In Budapest trägt jede dritte Teestube den Namen „Nostalgia”, es gibt auch Nostalgie-Konditoreien, die Nostalgie zieht ihre Flechten über die Mauern der Häuser und das Pflaster der Straßen. Das ist das sehnsüchtige Schmachten nach alter Größe, obwohl die letzte wahrhaftige Größe zu König Matyas Corvinus’ Zeiten vor mehr als fünfhundert Jahren stattgefunden hat, wenn man die Ära der Größe des ungarischen Fußballs in den fünfziger und sechziger Jahren und die internationalen Erfolge der Bands Omega und Lokomotiv GT nicht rechnet. Nostalgisch ist sogar die Wettervorhersage der Fernsehstation Duna TV für das gesamte sogenannte Karpatenbecken, eine euphemistische Bezeichnung für den gesamten von ungarischen Minderheiten bewohnten Raum mit besonderer Betonung von Siebenbürgen. Zwischen unzähligen alten Pfeffermühlen, im Gewirr der Lampen, Flaschen und Orangeade-Etiketten im Trödelladen „Nostalgia” in der Klauzál utca steht eine disziplinierte Reihe Leninbüsten. Das Innere des Ladens beherrscht sein großes Porträt, und auch ein Stalin hat noch in der Auslage Platz gefunden. Im hinteren Teil des Ladens, neben dem Kleiderständer voll sowjetischer Soldatenmützen mit pizzagroßen Krempen stehen weitere Büsten, wahrscheinlich schon zeit- zurück zum Inhaltsverzeichnis genössischer Machart, sie sehen verdächtig nach Fließband aus. Dominierend sind die Leninköpfe, es gibt aber auch ein paar Stalins und sogar einen Adolf Hitler für siebentausendachthundert Forint. Im Stehlokal „Nostalgia” im Erdgeschoss der Markthalle am Lehel-Platz schwanken die lokalen Alkoholiker nostalgisch über den Gläsern. Das Bier kostet hier zweihundert Forint, ein Preis, der Erinnerungen an die guten alten Zeiten weckt. Es gibt ja nur alte Zeiten, die besser gewesen sein können, obwohl niemand überzeugend erklären kann, worin sich dieses „besser” ausdrückte. Vom nahegelegenen Nyugati-Bahnhof (Westbahnhof ) fahren „Nostalgiezüge” nach Esztergom und ins Donauknie, man kann siebzig Kilometer in eine Richtung mit dem Bummelzug fahren und sich an einstiger Herrlichkeit entzücken. Das Nostalgischste überhaupt aber sind die Turuls, die mythischen ungarischen Vögel, die man überall findet, wenn man sich nur richtig umschaut. Auf Denkmälern, Mietshäusern, Tafeln, militärischen Emblemen, den Rucksäcken der nationalistisch gesinnten Jugend und den flachen Brüsten der Mädchen, die in der Bäckerei „Brunch” an der Retek utca beim Moszkwa-Platz Brote verkaufen und Kaffee kochen. Der Turul, eine merkwürdige Kreuzung zwischen Adler und Gans ist die geballte Personifikation ungarischer Träume und Komplexe. In ganz Budapest hat er nur eine Straße und eine Gasse. Straße und Gasse befinden sich am Rand des zweiten Bezirks, nah an der Stadtgrenze und weit vom Zentrum. Der Bezirk IIA, wo die Turul utca liegt, ist eigentlich ein kleines Städtchen, das zwar zum Einzugsbereich der städtischen Verkehrsbetriebe gehört, doch die Straßen und Häuser erinnern an ein ausuferndes Dorf mit Ambitionen. Im Garten der Wirtschaft „Náncsi néni” an der Ördögárok utca kann man sich wie in längst verflossenen Ferien fühlen, irgendwo weit von Budapest entfernt in einer zweifellos besseren Vergangenheit, vielleicht sogar noch vor dem Krieg, und beim Verzehr einer Gänsekeule der obligatorischen Nostalgie nachhängen. Budapester und Ausländer kommen gerne zu „Tante Náncsi”, um das ausgezeichnete und natürlich auch durchaus teu- Aus dem Polnischen von Esther Kinsky zurück zum Inhaltsverzeichnis Turulgulasch Czarne Wołowiec 2008 125 × 195 • 196 pages paperback ISBN: 978-83-7536-040-0 Translation rights: Krzysztof Varga Contact: Czarne 113 Krzysztof Varga re Essen zu genießen – doch wer sieht sich die nahegelegene Turulstraße an, wo nur eine Autobushaltestelle und ein paar Häuser stehen? Budapest ist in dreiundzwanzig Verwaltungsbezirke eingeteilt, und jeder Straßenname kann in jedem Bezirk vorkommen. Theoretisch könnte es also dreiundzwanzig Turul-Straßen geben, so wie es auch eine Fülle von Straßen und Plätzen gibt, die nach Arány János, Attila, Batthyány, Bem, Kossuth, Petöfi, Rákoczi oder Vörösmarty benannt sind. Doch nur eine Straße ist nach dem Turul benannt. Und trotzdem stolpere ich auf ungarischem Schritt und Tritt über die Spuren dieses Vogels. Mein Interesse am Turul erwachte erst, als ich in der hügelig gelegenen Stadt Tatabánya, etwa sechzig Kilometer westlich von Budapest, auf einem Berg die stolze Replik des Vogels entdeckte, der am Budaer Schloss steht. Den Vogel von den Schlossmauern kennt jeder Budapester und jeder, der in der ungarischen Stadt touristisch unterwegs war, denn er breitet seine Riesenflügel an der von Touristen am meisten heimgesuchten Stelle aus. Ich kenne ihn seit ich denken kann, und er hat mich nie besonders berührt, schließlich erheben sich die Adler ja europaweit massenweise auf Denkmälern, Schlössern und Grabstätten in die Lüfte, und auch in Südamerika und Afrika recken sie stolz die Schnäbel und schärfen die Krallen. Ein Vogel mehr – daran ist ja wohl nichts Sensationelles? Nun, am Turul schon, insofern er kein gewöhnlicher sondern ein erfundener Adler ist. Es ist kein wirkliches Tier, das in der Natur vorkommt und Gegenstand eines Dokumentarfilms für den Sender Animal Planet sein könnte, in dem der Turul über der Puszta kreist und Mäuse jagt. Der Turul ist eine ganz besondere ungarische Version des Raubvogels, die scheinbar einem Adler gleicht, aber doch nicht so richtig. Gugara Andrzej Dybczak 114 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Tomasz Bielenia zurück zum Inhaltsverzeichnis Dybczak beschreibt jenes vom Rest der Welt vergessene Volk eindringlich, ohne zu verklären, doch auch mit einer gewissen (wenngleich spröden) Zärtlichkeit. So wie er auch über die sibirische Natur schreibt, die aller Zerstörung durch den Menschen zum Trotz noch immer durch ihre strenge Schönheit fasziniert. Andrzej Dybczak (geb. 1978) Ethnologe. Seinen Sibirienaufenthalt hielt er künstlerisch in dem Buch und dem gleichnamigen Dokumentarfilm „Gugara” fest. zurück zum Inhaltsverzeichnis Gugara Robert Ostaszewski 115 Andrzej Dybczak Unter den polnischen Schriftstellern galt bis dato Mariusz Wilk, der Autor von u. a. Auf den Spuren des Rens, als Experte für die russischen Grenzgebiete – Regionen, in die sich kaum je ein Tourist verirrt. Jetzt ist ihm mit dem jungen Andrzej Dybczak, der vor kurzem sein Buch Gugara veröffentlichte, eine unerwartete und – wie ich meine – ernsthafte Konkurrenz erwachsen. Der studierte Ethnologe Dybczak reiste in einen entlegenen Winkel Sibiriens, in ein Dorf, das ebenso schwer zu erreichen wie zu verlassen ist (der Autor schildert das lange Warten auf den Hubschrauber), um dort mit der indigenen Bevölkerung dieser Region, den Ewenken zusammenzuleben. Im Gegensatz zu Wilk, der sich vor allem für die Geschichte und die Kultur der von ihm besuchten Völker interessiert, konzentriert sich Dybczak vor allem auf die Gegenwart und den Alltag der Menschen. Und dieser Alltag ist nicht leicht, wie Dybczak am eigenen Leib erfahren durfte. Der Autor lebte nicht nur in der heruntergekommenen Siedlung, sondern auch in den Tschumen, den zeltartigen Behausungen, die die Ewenken an den Weideplätzen der Rentiere in der Taiga aufschlagen. Das Leben der Ewenken scheint stecken geblieben – irgendwo zwischen uralter Tradition und Moderne. Scheinbar leben sie ausschließlich von der Rentierzucht, wohnen in Tschumen und sprechen ihre eigene Sprache, doch auch sie können nicht mehr auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation verzichten. Ihre Geschichte, die Veränderungen, die man ihnen zur Zeit der Sowjetunion aufzuzwingen versuchte, haben tiefe Spuren in ihrem Bewusstsein hinterlassen und ihre Identität zerstört. Es verwundert somit kaum, dass sie auf ihren eigenen Untergang zusteuern: Viele der Jungen sterben bei wahnwitzigen Mutproben oder versuchen ihr Glück (zumeist erfolglos) in den Städten, während die Älteren sich zu Tode trinken. Sicher nicht zufällig hat der Autor zwei bedeutsame Szenen an den Schluss seines Buches gestellt: einen Trauerzug und ein Folklorefestival. Entweder die Ewenken sterben aus oder sie werden in einem folkloristischen Freilichtmuseum eingesperrt – scheint der Autor zu suggerieren. Gugara Mit Andrzej Dybczak 116 geschlossenen Augen, dem Mikrofon an den Lippen und ekstatisch gespreizten Fingern sang er ein sehnsuchtsvolles Lied. Für den Refrain verwandelte es sich in eine feierliche Hymne, die seine kleine Gestalt scheinbar über den vom Regen glänzenden Brettern der Bühne schweben ließ. In diesem Moment schien es, als schritte er über die Oberfläche eines dunklen Sees, einsam und winzig, assistiert lediglich von zwei schwarzen Mikrofonständern und einigen aufgereihten Bündeln bunter Luftballons. Von den schwarzen Lackschuhen bis zu den Schößen seines hellblauen Jacketts verliefen kreuz und quer silberne Tressen, Bändchen und zu ethnischen Motiven angeordnete Korallen. Das Himmelblau seines Kostüms hatte ein wenig an Intensität eingebüßt, durchnässt vom Regen, der aus dem fahlen Himmel auf ihn herabstürzte, und von den Nebelschwaden, die sich wie ein feuchter Schleier über das Stadion von Tura legten. Dafür wirkten sämtliche Ornamente, mit denen er bedeckt war, nur umso bunter, je mehr Regen in sie eindrang. Hell glänzten die Strassrauten an seiner großen Krawatte und die Korallenmuster an seinen hellblauen Ohrenklappen. Der Künstler bewegte seine vollen Lippen und sah aus wie ein exotischer Vogel, der vor dem Hintergrund der jenseits der Bühne ausgestreckten Eternitschuppen eines seiner komplizierten Paarungsrituale vollführte. Anscheinend hatte er nicht bemerkt, dass die Lautsprecher ausgefallen waren, denn er drückte das Mikrofon mit unverminderter Inbrunst an seine Lippen. Doch seine samtene Stimme drang nicht weiter als bis zur ersten Reihe der Zuschauer, die unmittelbar gegen die hohe Bühne zu seinen Füßen gelehnt stand. Er verbeugte sich tief, das Stück war zu Ende. Die vereinzelten Zuschauer spendeten einen ebenso vereinzelten, schwachen Applaus, der jedoch ausreichte, um eine Gruppe Vögel für einen kurzen Moment von ihrem Platz auf einer Hochspannungsleitung aufzuscheuchen. Dann erstarb der Applaus wieder und der Sänger machte sich an die Ausführung des nächsten Stücks. Dieses Mal gestikulierte er, zeichnete mit fließenden Bewegungen Bögen und Kreise in den Himmel, möglicherweise um die Schönheit der heimischen Landschaft zu illustrieren. Das Publikum spitzte die Ohren. Der Mann auf der Bühne war zurück zum Inhaltsverzeichnis der Star der jakutischen Musikszene, dessen Platten nicht nur in ganz Russland gehört wurden, sondern sich angeblich auch in Frankreich blendend verkauften. Dies musste keinem der Anwesenden zweimal gesagt werden. Alle verfolgten aufmerksam die Lippenbewegungen des Sängers, um wenigstens auf diese Weise den tieferen Sinn der auf der Bühne dargestellten Pantomime zu ergründen. Die Menschen standen in kleinen Gruppen, geschützt unter Regenschirmen, Kapuzen oder in einem der vier vor der Bühne aufgestellten Tschumen, in denen Bratwürste, Bier und Schaschliks verkauft wurden. Daneben waren mehrere mit Wachstuch bezogene Tische aufgebaut, die mit Dosenbier und im Regen dampfenden Fleischbergen vollgestellt waren. Um sie herum drängten sich vor allem die männlichen Festbesucher, und nachdem es vor wenigen Minuten zu einer Schlägerei gekommen war, hatten sich ihnen auch die beiden zum Schutz der Veranstaltung abgestellten Milizionäre und der Reservemajor, der einen überdimensionalen Pfannkuchen auf dem Kopf trug, dazugesellt. Alle drei sahen etwas angegriffen aus, vor allem der dicke Major, der letzte Nacht mit mir betrunken Motorrad gefahren war, um noch irgendwo eine Flasche Wodka aufzutreiben. Wir waren schließlich im Büro der Reservearmee fündig geworden, in der untersten Schublade des Schreibtisches, aufmerksam beobachtet vom Porträt eines lokalen Helden des Großen Vaterländischen Krieges namens Uwatschan. Dieser hatte angeblich mit einem Telefonkabel zwischen den Zähnen den Grund des Dnjepr durchschritten und auf diese Weise einen unter schwerem Artilleriefeuer stehenden Brückenkopf gerettet. Jetzt sahen die drei selbst aus, als hätten sie dringend eine größere Ration Trinkwasser nötig. Im Übrigen waren es vor allem Frauen und Kinder, die sich aktiv an den Bühnendarbietungen beteiligten, indem sie lebhaft auf jeden neuen Künstler reagierten, der mit ihnen zusammen den Internationalen Tag der Indigenen Völker (oder kurz Aborigine-Tag, wie mir der Major mitgeteilt hatte) beging. Die Tadschiken hielten sich ein wenig abseits. Vermutlich war es einer von ihnen gewesen, den man vor ein paar Minuten verprügelt hatte, also hielten sie gebührenden Abstand und blickten aus den Augenwinkeln in Richtung ihrer blonden, Bier trinkenden Widersacher. Ständige Be- Wer nie ein Wild erlegt, hat sein Leben nie gelebt ... Ihm blieb nur, den Blick auf die verhangenen Hügel der Taiga zu heften und von einem ähnlichen Erfolg wie dem des Jakuten zu träumen. Doch der Erfolg brachte auch gewisse Gefahren mit sich. Das vom langen Zuhören erschöpfte Publikum hielt es schließlich nicht länger aus, und einer der Zuhörer arbeitete sich durch die Ballonknäuel auf die Bühne hinauf. Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau zurück zum Inhaltsverzeichnis Gugara Zielona Sowa Cracow 2008 140 × 200 • 180 pages paperback ISBN: 978-837435-796-8 Translation rights: Zielona Sowa 117 Andrzej Dybczak wegung herrschte auch am Spielfeldrand. Dort befand sich eine Besucherlatrine, zu der ein stark frequentierter, schlammiger Trampelpfad führte. Auf den nassen Bänken ruhten Betrunkene, mit den Köpfen zwischen den Knien, in Begleitung ihrer regengefüllten Plastikbecher und zerdrückten Bierdosen. Doch all das diente lediglich als Kulisse für den lautlosen Auftritt des jakutischen Gesangstars. Er hatte seine Darbietung im Duett mit dem Vorsteher des Dorfes Jessej, der einzigen jakutischen Siedlung in Ewenkien, begonnen. Der etwas tollpatschige Beamte war ein wenig nervös gewesen, und genau in diesem Moment hatte der Lautsprecher, wie aus Bosheit, einwandfrei funktioniert. Als Ergebnis war anstelle des erforderlichen Opernpathos lediglich ein wenig melodisches Miauen erklungen. Dann wurde es wesentlich besser, bis die Lautsprecher schließlich ganz ausfielen. Zuvor waren bereits zahlreiche hiesige Künstler aufgetreten, die sich unterschiedlicher Beliebtheit erfreuten. Wenig Erfolg war zum Beispiel den heiseren Songs eines rotblonden Wyssozki-Doppelgängers beschieden, der in die Saiten drosch und röchelte: Nowa Huta – Eine Telenovela Renata Radłowska 118 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Ryszard Kozik zurück zum Inhaltsverzeichnis Robert Ostaszewski zurück zum Inhaltsverzeichnis Nowa Huta – Eine Telenovela Renata Radłowska 119 Renata Radłowska Zu Zeiten der Volksrepublik Polen sang man Lieder über Nowa Huta, brüstete sich mit der aus dem Nichts geplanten und in Rekordzeit erbauten (kein Wunder, wo doch die Stachanows und Henneckes jener Zeit die Arbeitsnormen um ein Mehrfaches übertrafen) Industrie- und Wohnstadt, die den Beginn einer neuen Zeit symbolisieren sollte. Mit dem Untergang des Kommunismus verfiel auch Nowa Huta und galt zunehmend als einer der heruntergekommeneren, gefährlicheren Stadtteile Krakaus. Seit einigen Jahren versucht man, Nowa Huta wieder in ein besseres Licht zu rücken, den Stadtteil zu revitalisieren und für die nach Krakau strömenden Touristen interessant zu machen. Und auch etwas wieder aufzubauen, was im Grunde nie wirklich existiert hat: eine Nowa-Huta-Identität. Einen Beitrag zu dieser Entwicklung leistet auch Renata Radłowskas Nowa Huta – Eine Telenovela, ein Buch an der Grenze zwischen Reportage und Prosa. Die Autorin schildert die Lebensgeschichten von etwa einem Dutzend Männer und Frauen, die in den (geb. 1973), Journalistin Fünfzigerjahren zumeist aus Dörfern in Kleinpolen nach Nowa Huta ka- und Reporterin. Sie wohnt im Zentrum von Nowa Huta men, auf der Suche nach einem besseren – oder wenigstens anderen und schreibt über den Stadtteil und seine Einwohner. – Leben. Der Begriff Telenovela erscheint nicht zufällig im Titel, das Buch enthält einfache Geschichten über einfache Menschen, über ihr Streben nach einer gewissen Lebensqualität, ihre Partnerschaften, ihre Familien, ihre alltäglichen Freuden und ebenso alltäglichen Sorgen; über ihr Verschmelzen mit dem Panorama einer neu entstehenden Stadt. Über Menschen, die sich ein Leben außerhalb von Nowa Huta nicht mehr vorstellen können, wie zum Beispiel der Held des Kapitels „Zbyszek der Nichtfahrer”, und über andere, die nur aus Trägheit geblieben sind. Radłowska erzählt sowohl von ungewöhnlichen Menschen, wie zum im Kapitel „Talia die Vorhersagerin der Zukunft”, als auch von unscheinbaren, alltäglichen Gestalten, wie in „Maria von den Ziegeln”. Sie schreibt schlicht und schnörkellos, doch es gelingt ihr, aus jedem ihrer Helden irgendeinen interessanten Charakterzug herauszuarbeiten. Nowa Huta – Eine Telenovela Sie Renata Radłowska 120 sagten ihm: „Nun fahr doch endlich mal hin. Du kannst doch nicht ewig hinter dem Mond leben”. Er antwortete: „Nie im Leben, für kein Geld der Welt fahr ich dahin”. Und wahrscheinlich hätte es Zbyszek ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft, als derjenige, der 30 Jahre lang kein einziges Mal nach Krakau fuhr. Weil er alles, was er brauchte, in Nowa Huta hatte. Er hätte es sogar ganz sicher geschafft, zumindest seine Familie war fest davon überzeugt, hätte er sich nicht doch noch eines Tages überwunden. Und da er sich nun einmal überwand (wenn auch unter geradezu grotesken Anstrengungen), wird es mit dem Eintrag im Guinness-Buch nun nichts mehr werden. Zbyszek: siebzig Jahre alt, seit einem halben Jahrhundert in Nowa Huta; Hüttenarbeiter (genauer gesagt Schweißer im Kombinat). Drei Söhne, Witwer. Lebt in einem neueren Teil von Nowa Huta, aber nicht seit jeher – unmittelbar nach seiner Ankunft im Jahr 1955 erhielt er einen Platz im Arbeiterhotel, später eine Wohnung in der Siedlung Hutni cze, und erst später, als seine Familie allmählich „evolvierte” (soll heißen „größer wurde”, aber Zbyszek liebt schwierige Wörter), begann er sich nach einer größeren Wohnung umzuschauen. Warum sollte man etwas über Zbigniew, Zbyszek oder einfach „Zbig” (wie er von seinen Bekannten genannt wird) schreiben? Zbigniew ist – oder war – eine ausgestorbene Gattung. So wie der Scharfzahntiger oder Schokoladenersatzprodukte. In der Zeit, als Nowa Huta entstand, fuhren die jungen Brigadearbeiter nicht ins Zentrum von Krakau; alles was sie benötigten – d. h. Essen, Alkohol und körperliche Freuden (auch ästhetische Genüsse) – gab es an Ort und Stelle. In der Zeit, als Nowa Huta allmählich fertiggestellt wurde und bereits seinen zehnten Geburtstag feierte, fuhren die jungen Brigadearbeiter (und jene, die gekommen waren, um Arbeit zu suchen) auch noch nicht nach Krakau. Jedenfalls nicht massenhaft. Das, was sie brauchten, hatten sie in Nowa Huta: Restaurants, Kinos, Cafés, ausgedehnte Grünflächen (nach Art der Błonia), Kulturhäuser und das Volkstheater. zurück zum Inhaltsverzeichnis Genau wie in einer eigenen, unabhängigen und selbstständigen Stadt. – Na sicher kannte ich auch welche, die, bevor sie nach Nowa Huta rausfuhren, unbedingt erst einmal eine „Sport” auf dem Krakauer Marktplatz rauchen mussten. Und sich erst hinterher in Huta ein Zimmer suchten – erzählt Zby szek und zieht genüsslich an seiner „Klubowe Fine”. – Aber die meisten von uns haben gedacht, dass sie in eine Stadt in der Nähe von Krakau kommen, die irgendwann einmal größer als Krakau werden soll. Von Sehenswürdigkeiten, dem Wawel oder den Tuchhallen, hatte vielleicht gerade mal jeder vierte etwas gehört. Na, die sind dann halt hingefahren zu den Sehenswürdigkeiten. Und die anderen? Die konnten nicht lesen, woher sollten sie etwas davon wissen? Oder sie kamen aus Dörfern, in denen es gar keine Schulen gab. Ja, die anderen. Aber Zbyszek fuhr aus völlig anderen Gründen nicht ins Zentrum von Krakau. Besichtigte Jahrzehnte lang nie die Altstadt. Und es ergab sich auch nie die Notwendigkeit. Weil Nowa Huta ihm alles gab, was er brauchte. Das ist ja nicht weit von Huta Rekonstruktion der Ereignisse: Herbst 1955; Zbyszek ist zwanzig Jahre alt und hat gerade seinen Eltern verkündet, dass er nicht auf dem elterlichen Hof bleiben wird (was war das auch für ein Hof, wo ihnen doch der Staat fast alles weggenommen hatte, sogar das Stück Land mit dem Klohäuschen, sodass sie das Klohäuschen näher zum Haus versetzen mussten). Die Eltern lamentieren, vor allem die Mutter. Doch der Vater sagt: „Mutter, lamentier nicht. Du bist jetzt achtunddreißig, da bekommen wir halt noch ein Kind. Und dieses Kind wird von klein auf dazu bestimmt sein, das Land zu lieben und vom Land geliebt zu werden” (und tatsächlich schlugen sie noch einmal über die Stränge und brachten einen Nachkommen zur Welt: eine Tochter, die auch nicht auf dem Hof blieb und nicht einmal in der Heimat). Rekonstruktion der Ereignisse: Zbyszek fährt von Niepołomice nach Nowa Huta. Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau Czarne Wołowiec 2008 125 × 195 • 160 pages paperback ISBN: 978-83-7536-053-0 Translation rights: Czarne zurück zum Inhaltsverzeichnis Nowa Huta – Eine Telenovela Zbyszek dorthin um. Alle waren begeistert: Die Stadt wurde größer, jeden Monat wurden weitere Siedlungen fertiggestellt. Und die Bäume waren so schnell gewachsen, dass man in warmen Nächten seine Decke unter ihnen ausbreiten konnte. Krakau brauchte hier keiner. 121 Renata Radłowska Ein Mann nimmt ihn auf seinem Fuhrwerk mit, er hat Säcke mit Mehl geladen, das in Nowa Huta zu Brot verarbeitet werden soll. Sie unterhalten sich: Der Fuhrmann: – Kommt Ihr von weit her? Zbyszek: – Na, schon ein Stückchen. Aus der Gegend um Gorlice. Nach Nowa Huta, zum Arbeiten. Der Fuhrmann: – Und als was? Zbyszek: – Weiß ich noch nicht. Aber Arbeit gibt es ja genug, da versuch ich es einfach irgendwo. Bei der Armee wollten sie mich nicht, vielleicht wollen sie mich ja beim Kombinat. Der Fuhrmann: – Und wart ihr schon mal in einer so großen Stadt? Zbyszek: – Nur in Gorlice, einmal. Na, aber jetzt fahre ich ja hin und baue die Stadt, nicht wahr? Der Fuhrmann: – Dann wart ihr noch nie in Krakau? Zbyszek: – Ach wo! Der Fuhrmann: – Na, jetzt werdet ihr ja sicher mal hinfahren, das ist ja nicht weit von Huta. Zbyszek: – Wozu soll ich denn nach Krakau? Als ob es dort nicht schon genug Leute hätte. Und was soll es da schon groß geben, was ich noch nicht gesehen habe? Diesen Wawel kenne ich vom Hörensagen, den kann ich mir vorstellen. Außerdem zählt jetzt die Zukunft, nicht die Vergangenheit. Ich will lieber etwas Neues bauen, als mir etwas Altes ansehen. Der Fuhrmann: – Na, da habt Ihr auch wieder recht. In Nowa Huta erwartete Zbyszek zunächst einmal eine Enttäuschung: Man kam nicht einfach an und bekam gleich Arbeit im Kombinat; man musste erst einen Kurs belegen. Also belegte Zbyszek einen Kurs. Er wurde Schweißer und erhielt einen Platz im Arbeiterhotel. Und er schloss Freundschaften. – Michał, Romek, Ziutek, die beiden Staszeks, Mietek, Jurek… Prima Jungs. Wir haben zusammen gearbeitet, zusammen gewohnt und zusammen unsere Freizeit verbracht. Noch nicht gleich in den Restaurants. Erst einmal draußen vor dem Arbeiterhotel (im Frühling und im Sommer) oder drinnen im Arbeiterhotel (im Herbst und im Winter). Ein wenig später, als die ersten Gaststätten aufmachten, zog Die Unsichtbaren Mateusz Marczewski 122 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Anna Hatłas zurück zum Inhaltsverzeichnis (geb. 1976), ist Autor von Reportagen und Essays. Sein Buch Die Unsichtbaren stand im Finale des Literaturwettbewerbs der Polnischen Kulturstiftung (2008). Dariusz Nowacki zurück zum Inhaltsverzeichnis Die Unsichtbaren Mateusz Marczewski 123 Mateusz Marczewski Die Unsichtbaren ist ein Buch über die Aborigines, das stilistisch zwischen Reportage und Essay angesiedelt ist. Marczewski konzentriert sich auf die aktuelle soziokulturelle Situation der australischen Ureinwohner, scheut jedoch auch vor geschichtlichen Exkursen nicht zurück. Um die Situation der Aborigines zu verdeutlichen, nähert sich ihnen der Autor soweit wie möglich, versucht an ihrer Lebenswelt und an ihrem Alltag teilzuhaben. Er bereist die abgelegensten Gegenden des Kontinents (vor allem des Northern Territory), besucht Dörfer, Farmen und Reservate der Aborigines, spürt ihren Pfaden und Wanderungen nach und unterhält sich mit Sozialarbeitern, assimilierten Aborigines und den weißen Nachbarn der „Unsichtbaren” – mit jedem, der etwas über sie zu berichten hat. Der Charakter dieser Berichte ist gewissermaßen im Vornhinein festgelegt: Die australischen Ureinwohner sind Opfer der europäischen Kolonisten, ihr Schicksal – sowohl das frühere als auch das heutige – ist der Makel der australischen Demokratie, eine Schande, auf die die Weißen nur mit Wegsehen reagieren (daher der Titel Die Unsichtbaren). Marczewskis Blick ist kritisch, doch nie tendenziös. Nach seiner Auffassung ist die hoffnungslose Situation der heutigen Aborigines (Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Armut) nicht nur ein soziales oder politisches Problem, sondern auch ein gewisses Mysterium. Hieraus erklären sich auch die zahlreichen philosophischen und anthropologischen Reflexionen. Die Unsichtbaren ist ein überaus ambitioniertes Buch, das weit über die Grenzen der engagierten, Stellung beziehenden Reportage hinausweist. Die Unsichtbaren Tokampini Mateusz Marczewski 124 Man kann dieses Phänomen nicht benennen, aber man kann versuchen, es zu dokumentieren. Bilder festzuhalten, die möglicherweise etwas verdeutlichen, eine bestimmte Wahrheit sichtbar machen. Diese Bilder sind noch immer lebendig, können als Illustration dienen. Aber – andererseits – warum soll man noch darüber schreiben? Wo doch alles so offensichtlich ist: die Überlegenheit einer Rasse gegenüber einer anderen, einer Hautfarbe gegenüber einer anderen. Doch die Farbe ist ein zu banales Kriterium. Sie ist sichtbar, auffällig, hervorstechend und wird in ihrer Verwendung als Adjektiv augenblicklich zu einem diskriminierenden Epitheton. Man muss also von einer anderen Unterscheidung ausgehen: der Überlegenheit einer Mentalität gegenüber einer anderen. Eben hier nimmt alles seinen Anfang. Da wären also sie – die Aborigines – und da ist die Klinge der Zivilisation. Die Zivilisation ist zu ihnen gekommen und sie müssen sich das Land mit ihr teilen. Die Städte der Weißen liegen an Hügeln, in fruchtbaren und schattigen Tälern, überall dort, wo es leichter fällt, in dem widrigen Klima zu überleben. Zu überleben und die Nacht mit flackernden Lichtern zu erhellen, mit Schnellstraßen, auf denen sich die dahinjagenden Autos entlang der dünnen, roten Linien ihrer Rücklichter aufreihen. Linien wie Striemen, wie Narben. Wir haben unsere Städte, sie haben ihr Nichts – eine sonnenverbrannte Ödnis. Und dann ist da noch etwas: der jahrzehntelange Versuch einer Durchdringung dieser anderen Kultur, ihrer Beherrschung. Und das ist bereits die ganze Geschichte. Die Aborigines sind wie Kinder. Wie asoziale Straßenkinder, die in der Stadt mit Flaschen nach dir werfen, einfach so – für den Klang zerspringenden Glases, für den Regen aus Splittern – um gleich darauf wegzurennen und sich in den Ruinen zu verschanzen, in die sie ihren Stadtteil verwandelt haben. Sie stinken und laufen in Gruppen herum, wie eine dumpfe, aber starke Spezies, die gleichzeitig Angst und Mitleid erregt. Lass dein Fahrrad im Garten stehen, und sobald es dunkel wird, klauen sie es dir. Geh in Sydney abends zurück zum Inhaltsverzeichnis durch den Stadtteil Redfern. Geh die Hauswände entlang zur Bahnstation, die Wände tragen die Farbe ihres Zorns und ihrer Revolution, die Flaggen der Aborigines: ein waagerechter roter, darüber ein schwarzer Streifen, in der Mitte ein gelber Kreis. Die Flaggen an den Wänden sind groß wie Häuser, Flaggen mit Mauertextur, geh dort entlang, und sie tauchen vor dir auf wie Raubtiere. Plötzlich und aus der Dunkelheit. Misshandlung, Vergewaltigung, das ganze Register. Die Einwohner Sydneys fürchten sich vor dieser tierhaften, wilden ... wie soll man es nennen ... na, du weißt schon ... sie sind einfach anders, irgendwie beängstigend ... du müsstest länger hier gelebt haben. Sie sind wie Kinder. Verdorben und verdummt durch die bunte Hülle der Welt, die in ihrem winzigem Dorf, ihrer von der örtlichen Polizei kontrollierten community Einzug gehalten hat, per Dekret eingesetzt wurde. Manchmal wohnen sie auch in ihnen zugewiesenen Stadtbezirken, so wie eben Redfern in Sydney. Dort bilden sie ihre eigenen Elendsreviere und negieren auf diese Weise die sie umgebende Stadt, die blitzenden Türme der City, das fröhliche Treiben der Einwohner. Die Häuser der Aborigenes in Redfern sehen aus wie nach Krawallen: eingeworfene Scheiben, schwarze Nischen und Risse in den Wänden, die mit flatternden Zeitungsfetzen dekoriert sind, parkende Autos, die aussehen wie Rosthaufen, wie ein auf dem Fußweg verstreutes Blechdomino. Dazu noch die Straßenfeuer und der Slalomlauf der betrunkenen Bewohner dieses Gettos. Jemand spielt Fußball, jemand schreit, der Ruf hallt mit einem metallischen Echo von den mit Zorn bemalten Wänden wider. Im Grunde existiert die Stadt hier gar nicht. Hier existiert etwas, das einmal Stadt war, eine dem Erdboden gleich gemachte Gleichheit. Und Redfern ist nur ein Bezirk von vielen. Als ich ihn durchquerte, war ich angespannt, nervös, wie in einem Käfig voller Raubtiere, denen ich schutzlos ausgeliefert war. Überall herrschte Stille, vielleicht hatten sie den umherirrenden Weißen noch nicht bemerkt. Ich sah sie. Sie standen um einen qualmenden Kokskorb herum, saßen auf Sofas, die sie aus ihren Wohnungen hervorgezerrt hatten, Hunde lagen im Sand und sonnten sich. Die Frauen waren schwerfällig, die Männer schlank, schmutzig, von Armut benebelt. Hinter ih- Czarne Wołowiec 2008 125 × 205 • 192 pages paperback ISBN: 978-83-7536-052-3 Translation rights: Czarne Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau zurück zum Inhaltsverzeichnis 125 Mateusz Marczewski Einmal saß ich in Alice Springs vor einem Supermarkt, einer Art australischem Aldi für die Ärmsten, ich saß auf dem Boden, müde von der Morgenhitze, unter der der Raureif der Nacht dahinschmolz. In diesem Moment kamen sie. Sie gingen in einer Gruppe, sie gehen immer in einer Gruppe, allein haben sie Angst. Zwei Männer und eine Frau. Ihre Gesichter waren aufgebläht wie Christbaumkugeln, als würde im nächsten Moment der Alkohol aus ihnen hervorschießen, ihre Augen waren wie Schlitze, sie suchten den Boden nach weggeworfenen Zigarettenstummeln ab und scharrten mit ihren nackten, gummiharten Füßen. Ihre Kleidung war voller Blumen und Löcher. – Ich habe dich gesehen, wie du vor zwei Tagen auf dem Hügel geschlafen hast, mitten in der Sonne. Dort, wo die Bahn fährt. – Ich habe nicht auf dem Hügel geschlafen. Vor zwei Tagen war ich im Norden. – Mir machst du nichts vor. Ich habe dich auf dem Hügel gesehen. Du hast in der Sonne gelegen und geschlafen. Besuch uns heute Nacht, wir feiern ein Fest. Frag nach Marg, das ist mein Name. Die Unsichtbaren nen, jenseits des Parks, schossen die silbernen Raketen der Citytürme in den Himmel, und es schien unmöglich, dass das, was hier im Vordergrund geschah, sich im Zentrum einer modernen Großstadt abspielte. Ihr Aussehen und dieses allgegenwärtige Durcheinander erinnerten eher an ein Dorf in Zentralaustralien. Ich ging durch Redfern und sprach vor mich hin: Dies ist kein Haus für euch, dies ist kein Ort für euch, die Eingeweide der glitzernden Stadt verschlingen euch, ihr müsst fliehen, fliehen, doch es gibt kein Wohin. PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo 126 zurück zum Inhaltsverzeichnis zurück zum Inhaltsverzeichnis PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts Vor eigentlich nicht allzu langer Zeit zog man, hörte oder las man Resümees über verschiedene Angelegenheiten der letzten Dekade des gerade zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts. Und jetzt plötzlich, so schnell und unvermittelt – wenn man es so sagen darf – neigt sich die erste Dekade des 21. Jahrhunderts ihrem Ende zu. Und wieder: Analysen, Synthesen, Betrachtungen und Schlussfolgerungen sowie mehr oder weniger eindeutige Prognosen für die kommenden Jahre. Eine davon habe ich bereits gelesen, angeschaut, durchgeblättert und zu den wichtigen und wertvollen Bildbänden gestellt, die dazu da sind, häufig angesehen zu werden. Krzysztof Dydo und seine Tochter Agnieszka präsentieren in ihrer beinahe 400 Seiten umfassenden exklusiven Publikation mit dem schlichten Titel Polski plakat 21 wieku / Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts 600 Abbildungen polnischer Plakate aus den Jahren 2001-2007. Diese stammen von 88 Künstlern, die unterschiedlichen Generationen, Stilrichtungen und Schulen angehören. Denjenigen, die am Ende des 20. Jahrhunderts den unvermeidlichen Untergang des Kunstplakats prophezeit haben, liefert dieser Bildband den Beweis, dass sie falsche Propheten waren und sich irrten, indem sie eine Agonie dieses Kunstzweiges voraussahen. Diejenigen, die auf die trübsinnigen Prognosen nicht hörten, werden durch diese Publikation der Krakauer Autoren in ihrem Glauben bestärkt. Es gibt jedoch eine traurige Ausnahme in diesem positiven Resümee des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Agnieszka Dydo schreibt darüber in ihrem Essay zur Geschichte der polnischen Plakatkunst folgendermaßen: „… Mit der Reform des politisch-gesellschaftlichen Systems gingen auch wesentliche Veränderungen in der Herstellung und der Funktionsweise des Plakats einher. Das anspruchsvolle Filmplakat wurde von kommerzieller Reklame im amerikanischen Stil ersetzt…“. Und ihr Vater fügt in seiner Abhandlung, in der er die heutige Situation behandelt, hinzu: „… Wir sind kritischer, denn wir wissen, was uns verloren gegangen ist – ich denke hier vor allem an das Filmplakat. Die 127 Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo Das erste Jahrzehnt Vertreiber von Filmen gehen davon aus, dass das künstlerische Filmplakat seine Werberolle nicht mehr erfüllt und die Entscheidungen des potentiellen Zuschauers nicht mehr zu beeinflussen vermag, da seine künstlerischen Vorzüge, die oft sehr viel Interpretationsfreiheit voraussetzen, nicht imstande sind, die Wirklichkeit und die Information zu ersetzen. Ich persönlich stimme mit dieser Argumentationsweise nicht ganz überein, denn ich kann mich gut erinnern, wie oft mich ein künstlerisch hervorragendes Plakat dazu verleitet hat, einen mittelmäßigen Film anzusehen. Und ich bin mir gar nicht sicher, ob ein Fotoplakat mich nicht gleich von einem Kinobesuch abgehalten hätte, wie es heute oft der Fall ist…“. Haben die düsteren Propheten in diesem Fall tatsächlich Recht? Es scheint so. Das künstlerische Plakat erfordert vom Autor nicht nur besondere intellektuelle und handwerkliche Fähigkeiten, sondern meist auch sehr viel Arbeitsaufwand, so dass es nicht in kurzer Zeit angefertigt werden kann. Hinzu kommt noch, dass das Publikum nicht immer für verkürzte Darstellungen oder kühne Metaphern, die hier unentbehrlich sind, empfänglich ist. Andererseits wissen aber diejenigen, die sich mit Kunstgeschichte beschäftigen, dass es in diesem Bereich schon öfter verschiedene Wiederauferstehungen gab, ja man könnte sogar die Behauptung riskieren, sie gehören dazu. Lassen wir uns also nicht entmutigen, wer weiß, was das dritte oder sechste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bringen wird? Das Buch von Agnieszka und Krzysztof Dydo erfreut in erster Linie durch die vielfältigen Abbildungen polnischer Plakate, häufig gerade auch dank den in ihrer künstlerischen Aussage raffinierten Reproduktionen. Es vermag sowohl einen erfahrenen und anspruchsvollen Leser als auch einen, der zum ersten Mal mit dem Kunstplakat in dieser Intensität zu tun hat, zufriedenzustellen. In diesem Bildband finden wir einerseits historische Namen und Abbildungen von Arbeiten jener Künstler, die die Tradition der polnischen Plakatkunst begründeten, wie: Teodor Axentowicz, Józef Czajkowski, Edmund Bartłomiejczyk, Witold Chomicz, Tadeusz Gronowski, Tadeusz Trepkowski, Jan Lenica oder Roman Cieśliewicz… Doch auch die lebenden Klassiker un- PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo 128 serer Plakatkunst werden gebührend gewürdigt: Mieczysław Górowski, Roman Kalarus, Piotr Kuce, Władysław Pluta oder Lech Majewski u. a. Daneben stehen die polnischen Plakatkünstler der mittleren bzw. der jüngeren Generation, wie beispielsweise Sława Harasymowicz, die in London studiert hat und die die Tochter eines bekannten polnischen Dichters ist, Max Skowider, Joanna Remus-Duda oder Justyna Czerniakowska… Agnieszka Dydo, Absolventin der philosophischen Fakultät der Jagiellonen-Universität und derzeit Studentin an der Kunsthochschule für Modedesign, konstruiert ihre bereits erwähnten historischen Erläuterungen klar und präzise. Dies trifft auch auf den Text ihres Vaters zu, der aus Betrachtungen und Reflexionen zum zeitgenössischen polnischen Plakat besteht. In beiden Fällen wird nochmals bestätigt: Je mehr Wissen man zu einem Thema hat, desto leichter fällt es einem, es anderen in klarer und einsichtiger Form zu vermitteln. Die geschichtliche Einführung ist nicht gegliedert, jedoch fügt die Autorin gekonnt gedankliche Pausen ein, sodass der Text dem Leser in Abschnitte unterteilt zu sein scheint, von denen ich neun gezählt habe. Die Einführung beginnt mit Betrachtungen über die Frühform von Plakaten, d. h. über die Affichen, und kommt anschließend auf die Geburtsstunde des Kunstplakats in Krakau und Lemberg im 19. Jahrhundert zu sprechen. Ausführlicher behandelt wird die Zäsur, die die 1898 vom Direktor des Krakauer Museums für Technik und Industrie Jan Wdowiszewski organisierte Internationale Plakatausstellung darstellte, in der u. a. Arbeiten von Henri Toulouse-Lautrec, Georges Meunier oder Alfons Maria Mucha zu sehen waren… Der Katalog zur Ausstellung mit einer Einleitung des Kurators wie auch der dort abgedruckte theoretische Text über das Kunstplakat sind ein Beweis für das vollends ausgebildete Bewusstsein, dass man es schon damals mit einer weiteren Erscheinungsform der wahren Kunst zu tun hatte, die gerade entstanden war. Getrennt bespricht die Autorin die Anfänge der polnischen Plakatkunst nach dem Ersten Weltkrieg und deren rasante Entwicklung in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. zurück zum Inhaltsverzeichnis Ein zweiter, genauso umfangreicher Teil dieser Abhandlung betrifft das polnische Plakat in der Nachkriegszeit – nach dem Zweiten Weltkrieg, als es internationale Anerkennung gewann und vielleicht sogar führend war. In den Jahren 1953-65 gab es doch solche weltweit bekannten Künstler wie Wojciech Zamecznik, Józef Morszczak, Henryk Tomaszewski, Jan Lenica, Roman Cieśliewicz, Jan Młodożeniec, Waldemar Świerzy und Franciszek Starowieyski, die von der internationalen Kunstkritik als „Polnische Plakatschule“ bezeichnet wurden. Es handelte sich hier v. a. um das an die Malerei angelehnte Plakat, das Krzysztof Dydo, dem Kenner, Sammler und weltweiten Botschafter dieser Kunst, besonders ans Herz gewachsen ist. Über die sechziger und siebziger Jahre, in denen ebenfalls herausragende Persönlichkeiten wirkten, kommt Agnieszka Dydo in ihrem Essay bis zur Zeit der „Solidarność“ und anschließend bis zum demokratischen und völlig unabhängigen Polen. Anfangs schien es, dass der Systemwechsel das Kunstplakat aus unseren polnischen Straßen gänzlich verdrängen wird. In den neunziger Jahren war der Rückgang zwar nicht zu übersehen, inzwischen hat sich aber die Situation stabilisiert. Die großen Meister des polnischen Plakats kehren langsam von den über die ganze Welt verstreuten Lehrstühlen für Plakatkunst zurück. Und so erreichen wir die Gegenwart – das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Und eben dieser Zeit ist der von der Krakauer Plakatgalerie herausgebrachte Bildband vorrangig gewidmet. Der Besitzer der Galerie ist Krzysztof Dydo, der Verfasser des zweiten kritischen Textes dieses Bandes, eines Textes, der nicht nur mit Leichtigkeit und Witz geschrieben ist, sondern den auch eine deutlich spürbare Sensibilität gegenüber dem Betrachtungsobjekt charakterisiert. Und dies ist bei einer kritischen Abhandlung eine Seltenheit. Hier allerdings verwundert sie nicht, denn Krzysztof Dydo besitzt eine der größten Sammlungen polnischer Plakate, die er selbst zusammentrug, verfasste über die Plakatkunst bereits zahlreiche kritische Texte, brachte eine Vielzahl von Bildbänden heraus und ist, kurz gesagt, ein wahrer Liebhaber dieser Kunstart. Der Krakauer Bildband beweist, dass es um die Plakatkunst in Polen zurzeit sehr gut bestellt ist. Die polnischen Andrzej Warzecha zurück zum Inhaltsverzeichnis PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts Galeria Plakatu Kraków Cracow 2008 244 × 300 • 400 pages paperback ISBN: 978-83-905899-5-4 Translation rights: Krzysztof Dydo Contact: Galeria Plakatu Kraków 129 Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo Künstler gehören auf diesem Gebiet weiterhin zur weltweiten Spitze. Die Vielfalt an künstlerischen Konzeptionen und Auffassungen, auch im handwerklichen Bereich, erweiterte in den letzten Jahren die Palette der angebotenen Plakate. Denn die polnischen Künstler können auf eine reichhaltige Tradition zurückgreifen, die die künstlerischen Maßstäbe sehr hoch gesetzt hat. Das Buch von Agnieszka und Krzysztof Dydo, versehen mit Kurzbiographien aller 88 besprochenen Künstler, einem alphabetischen Index und einem Verzeichnis aller ausländischen Präsentationen polnischer Plakate aus der Sammlung Krzysztof Dydos in den Jahren 2001-2007, ist sehr ausführlich, gleichzeitig aber auch in logischer Hinsicht sehr kompakt, klar und übersichtlich, mit einer Vielfalt von Informationen, sowohl für Plakatkenner als auch für zufällige, aber interessierte Leser. Die zahlreichen ausländischen Plakatliebhaber, die jährlich die von Krzysztof Dydo seit 1985 geleitete Krakauer Plakatgalerie in der Stolarska 8-10 besuchen, werden Krakau diesmal bestimmt mit einer neuen Trophäe verlassen – der neuesten Publikation der Galerie, diesem Bildband, dessen Text auch auf Englisch abgedruckt ist. Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus Ewa Toniak 130 Janusz Anderman DAS IST ALLES Foto: Ewa Karpf zurück zum Inhaltsverzeichnis Marek Zaleski zurück zum Inhaltsverzeichnis Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus Ewa Toniak 131 Ewa Toniak Die Riesinnen, eine reich bebilderte, extrem interessante und sehr gut geschriebene Essaysammlung der Kunsthistorikerin und kritikerin Ewa Toniak, kreist um das Bild der Frau in der Kunst des „sozialistischen Realismus“, also der polnischen Variante der totalitären Kunst aus den Jahren 1948-54. Die Autorin, die sich des Instrumentariums der feministischen Kritik bedient, untersucht sowohl Frauenbilder in der von Männern geschaffenen Kunst als auch in der der Frauen; sie analysiert die damalige Malerei, die Presseillustrationen (darunter die aus Frauenzeitschriften), Filme, Wochenschauen, die Mode sowie die kunsttheoretischen und politischen Diskussionen. Sie interessiert sich sowohl für den ideologischen und politischen Aspekt der Darstellung des weiblichen Körpers in der stalinistischen Kunst als auch für die kulturellen Geschlechterkonstruktionen in einer dem sozialistischen Mythos verpflichteten Kunst. Toniak zeigt die Hypokrisie der damaligen Darstellungen des Körpers oder der „Weiblichkeit“: Der sozialistische Realismus verkündete Emanzipation – Kunstkritikerin und -historikerin. und Revolution, deklarierte Gleichberechtigung, in Wahrheit aber blieb Ihr Schwerpunkt liegt auf der Gegenwartskunst aus er einem patriarchalen Kulturbild feministischer Perspektive und der Präsenz der Frauen in verpflichtet, aktivierte geschlechtsder Kunstgeschichte. bezogene Klischees und begünstigte das „Unsichtbarwerden“ der Frauenproblematik bzw. gestand den Frauen bestenfalls das Recht zu, so zu sein wie die Männer. Die Autorin erörtert nicht nur die Kodifizierungen des weiblichen und des männlichen Körpers in der Propaganda (z. B. die Darstellungen der Bestarbeiter), sondern auch die Varianten der symbolischen Präsenz der Frauen im öffentlichen Raum sowie die Manifestationen der weiblichen Sexualität oder des Begehrens (bzw. im Prinzip deren Fehlen) in der visuellen Kultur jener Zeit. Einen Kontext bildet hier einerseits die sowjetische Kunst, andererseits aber auch die Kunst aus der Zeit der Französischen Revolution und die Kunst der postromantischen Moderne, bis hin zu postmodernen Realisationen, in denen die Autorin nach Residuen der von ihr untersuchten Ästhetik sucht bzw. nach Pasticci oder Versuchen ihrer wesentlichen Umarbeitung oder Revision. Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus Ewa Toniak 132 Im Jahre 1948 existieren in der Zeitschrift Mode und Praktisches Leben noch zwei Ordnungen: eine, in der die Aktivität der Frau auf das Häusliche beschränkt und sie selbst das Objekt der männlichen Begierde bleibt, und eine Ordnung der Arbeiterin, der Anderen. Jedoch werden sich, wie auf Fangors Bild, diese Ordnungen, zumindest in der Übergangszeit, bis der sozialistische Realismus endgültig verordnet wird, gegenseitig dekonstruieren. Ähnlich dringt die Welt der Politik nicht geradlinig zu den Leserinnen durch – was wahrscheinlich dem „Ausschließungsdiskurs“ zu verdanken ist –, sondern buchstäblich, zwischen den Zeilen, am Rande der Ratgeberrubrik, in der erklärt wird, wie man einen Schleier bügelt oder eine Schirmmütze macht. Im Januar 1948 bringt der historische Kalender noch die Hierarchie und die Ordnungen durcheinander: Auf der gleichen Seite stehen nebeneinander das Todesdatum von Lenin und das Geburtsdatum des berühmten polnischen Schauspielers Ludwik Solski. Mir scheint, das neue, asexuelle und jenseits des Geschlechtlichen situierte Weiblichkeitsideal, die Arbeiterin, begann ihren blutlosen Siegeszug durch die Frauenmagazine auch von den Rändern aus. Zwei Jahre später ist sie dort bereits vollständig etabliert. Die „manierierten Models“, wie es beispielsweise in einem Artikel über die Vorzüge der Serienprodukte der Warschauer Bekleidungsbetriebe heißt („Serienprodukte können hübsch und effektvoll sein“), verschwinden nicht nur von den Titelseiten, sondern ganz aus der Zeitschrift. Es gibt dort auch keinen Platz mehr für die als „Kanon der Weiblichkeit“ verstandene Mode. Der Artikel, eigentlich eine Werbung für die neueste Produktion der genannten Bekleidungsbetriebe, ist ein weiterer Austragungsort des ideologischen Kampfes: „Die Modeschöpfer“, lesen wir dort, „interessierten sich nicht dafür, wie eine Arbeiterin, eine einfache Beamtin oder eine Dorfbewohnerin aussieht und wie sie sich kleidet. Mode war ausschließlich für die Reichen“. In einer um die Jahreswende 1948/49 durchgeführten Umfrage unter dem Titel Was wünschen wir uns im Neuen Jahr kommen sowohl bekannte (die Professorin Eleonora Reicher oder die hervorragende Künstlerin Mieczysława Ćwiklińska) zurück zum Inhaltsverzeichnis als auch völlig anonyme Frauen (eine Studentin der Technischen Hochschule in Warschau und eine Friseurin) zu Wort, unter ihnen auch die Bauarbeiterin Józefa Bąkowa. Unter den wie auf Vorkriegsfotos posierenden Frauen zeichnet sich das Gesicht der Arbeiterin dadurch aus, dass sie keine Pose einnimmt, nicht zum Bild wird. Es ist ein Gesicht, das in seiner anonymen Unbewegtheit jenseits des Kanons der Weiblichkeit und der Schönheit steht, jenseits des Geschlechtlichen. Der größte Traum von Józefa Bąkowa ist, ihr jüngerer Sohn möge in das Kinderheim des Arbeitervereins Kinderfreunde aufgenommen werden, wo sich der ältere bereits befand („so wüsste ich, dass er eine richtige Erziehung kriegt“). Als einzige unter den befragten Frauen arbeitet sie auf dem Bau „mit den Männern zusammen“ und macht „die gleiche Arbeit wie sie“. Die Zeitschrift glättet nicht einmal ihre grobe Sprache. Bąkowa „schuftet“ einfach „auf dem Bau“. „Und schaffen Sie das?“, fragt die Zeitschrift, man weiß nicht ob aus Sorge oder Unglauben. „Ja, ich schaffe das“, antwortet die Frau erwartungsgemäß, obwohl aus dem weiteren Teil der Antwort hervorgeht, dass ihr eine leichtere Arbeit lieber wäre. Das Foto von Józefa Bąkowa in einem schwer zu bestimmenden Alter (so wird die Bedingung des Typischen erfüllt), in nichtssagender Bekleidung (Arbeiteroverall) und mit traurigem Gesichtsausdruck eröffnet die Reihe der neuen Heldinnen des Frauenmagazins. Heldinnen, deren Körper immer mehr verhüllt werden, deren Gesichter schwer zu merken sind. Ihre Fotos erscheinen auf den Seiten der Zeitschrift monoton, wie am Fließband. Rüschen und Spitzen, die in Schneiderkunst investierte Körperlichkeit, verschwinden. Der Zweck dieser „Bildbearbeitung“ ist im Totalitarismus „das Aufheben der Spannung, die der Andere ins ideologisch einheitliche Bild einbringt“. Nur scheinbar führen die Titelblätter nach dem Vereinigungskongress der polnischen Arbeiterpartei die Frauen aus dem Fotostudio hinaus. Die meist als Büste porträtierten Bäuerinnen, Arbeiterinnen mit Schraubenschlüssel über der Schulter oder Studentinnen, werden immer von unten aufgenommenen, mit nach oben gerichtetem reglementiert vertrauensvollem Blick, beleuchtet von einem scharfen Licht, das tiefe Kontraste ergibt (pralle Sonne). Sie verharren in einem zeitlosen Korporacja Ha!art Cracow 2008 155 × 225 • 168 pages paperback ISBN: 978-83-89911-97-1 Translation rights: Ewa Toniak Contact: Korporacja Ha!art zurück zum Inhaltsverzeichnis Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus Aus dem Polnischen von Markus Eberharter und Aleksandra Kujawa-Eberharter 133 Ewa Toniak nirgendwo, verlieren ihre schlanke Taille und die schmalen Schultern (Mai 1949), um schließlich (September 1949), die wiederaufgebaute Altstadt Warschaus und die neuen Wohngebiete im Hintergrund, mit einer Spitzhacke als Allegorie der Arbeit dazustehehen: der Körper dicht verhüllt im Overall, die Haare glatt nach hinten gekämmt. Die Enterotisierung und Taylorisierung des weiblichen Körpers erreichen ihren Höhepunkt in dem Bild der sowjetischen Pilotin L. Witkowskaja. Von den Fallschirmgurten umschlungen, mit Helm und Overall, wird sie zur visuellen Entsprechung des hinter ihren Rücken hervorragenden Propellers: Pilotin und Maschine sind eins. Dieses um zwanzig Jahre verspätete Postulat des Proletkults illustriert die Titelseite der Juliausgabe: „Wenn die Arbeit der Bauern von der Maschine ersetzt wird…“. Die Maschine, also das zähmende Symbol der Kollektivisierung, ist eine junge Traktoristin. Krzysztof Tomasik 134 zurück zum Inhaltsverzeichnis Stimmen aus dem Schrank. Nicht zu Ende erzählte Biografien. Skizzen Przemysław Czapliński Krzysztof Tomasik (geb. 1978) Literatur- wissenschaftler, Publizist, Redaktionsmitglied von Krytyka Polityczna. 1 A uf Polnisch wird „ein Coming-out haben” auch als „aus dem Schrank kommen” umschrieben (Anm. d. Ü.) Krzysztof Tomasik Homobiografie Wydawnictwo Krytyki Politycznej Warszawa 2008 145 × 205 • 164 pages paperback ISBN: 978-83-61006-20-6 Translation rights: Krzysztof Tomasik and Wydawnictwo Krytyki Politycznej zurück zum Inhaltsverzeichnis Stimmen aus dem Schrank. Nicht zu Ende erzählte Biografien. Skizzen sondern darin, in ihnen Akzentverschiebungen vorzunehmen. Tomasik behandelt die Leben anderer nicht als fertige Werke, die sich aus Fakten zusammensetzen, sondern als bewegliche Texte, die von den Diskursen bestimmt werden, die über den Schrank wachen. Das zweite Thema des Buches sind die Lebensstrategien der Schrankbewohner: Wie verhielten sie sich, wie bauten sie sich eine Existenz auf, wie gestalteten sie ihre Beziehungen zu anderen, was für Liebesverhältnisse gingen sie ein, und wie erzählten sie von sich selbst. Aus dieser Sicht sind die Homobiografien keine Biografien von Homosexuellen, sondern von Menschen. Homo Biografie. 135 Krzysztof Tomasik Krzysztof Tomasik erzählt von sechzehn Künstlern – fast alle nationale Berühmtheiten: Maria Konopnicka, Maria Rodziewiczówna, Karol Szymanowski, Jan Lechoń, Maria Dąbrowska, Anna und Jarosław Iwaszkiewicz, Witold Gombrowicz, Zygmunt Mycielski, Jerzy Andrzejewski ... Wir lesen eine kurzweilige, vorzüglich erzählte „Mehrfachbiografie”: die immer ein allgemeiner Abriss ist, gleichzeitig aber voller konkreter Details, die das Kolorit der Zeit wiedergibt, Häuser und Cafés beschreibt und Begegnungen und Gespräche registriert. Gerüchte (aus Büchern und Briefen), Ereignisse, Erfolge, Tragödien, Skandale. Kurz gesagt: Gesellschafts- und Gefühlsleben. Lohnt sich die Lektüre? Auf jeden Fall. Die wichtigste Botschaft, die Tomasik am „Schrank”1 lauschend vernommen hat, ist schlicht folgende: Sie alle waren sexuell anders Orientierte, die nicht in die „normale” Erzählung hineinpassten. Allein die Bekanntgabe ihrer sexuellen Identität ist jedoch noch kein Wert an sich. Es geht in diesem Buch vielmehr um zwei vollkommen elementare Fragen, die von Tomasik diskutiert und interpretiert werden und dessen Buch derart lesenswert machen. Erstens, es ist eine Erzählung darüber, wie andere von den „bekannten polnischen Kulturschaffenden” erzählten. Tomasik analysiert folglich die Strategien – Verschweigen, Euphemismen, Anpassung, Disziplinierung, Erpressung, Ausschließung –, die gegenüber sexuell anders Orientierten angewandt wurden. Dadurch sehen wir, wie zum Beispiel Dąbrowska, die sich verdienterweise ungeheurer Anerkennung erfreute, wegen ihres „unordentlichen Geschlechtslebens“ mal als aggressiv, ein andermal euphemistisch, nie jedoch normal beschrieben wurde. Wir sehen zum Beispiel auch wie Lechońs Selbstmord von den einen als radikale Verneinung des Kommunismus interpretiert wurde, von anderen dagegen als Akt der Verzweiflung aufgrund seines versiegenden Talents. Tomasik fügt den beiden Versionen, wobei er weder die eine noch die andere in Frage stellt, eine dritte hinzu – Liebeskummer eines Menschen, der darunter litt, dass seine Liebe nicht gesellschaftsfähig war. Tomasiks Strategie besteht also nicht darin, die bisherigen Arbeiten über berühmte polnische Schriftsteller für überflüssig zu erklären, Blitze 3 Julia Hartwig 136 zurück zum Inhaltsverzeichnis (geb. 1921) exzellente Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin französischer Literatur, Verfasserin zahlreicher Gedichtbände. Marek Zaleski Julia Hartwig Trzecie błyski Wydawnictwo Sic! Warsaw 2008 205 × 135 • 132 pages hardcover ISBN: 978-83-60457-59-7 Translation rights: Julia Hartwig Contact: Wydawnictwo Sic! zurück zum Inhaltsverzeichnis Blitze 3 Julia Hartwig 137 Julia Hartwig Blitze 3 heißt das neue Buch der brillanten Lyrikerin, die wiederum zur Form lyrischer Notizen zurückgekehrt ist, die sie bereits mehrfach verwandt hat. „Beim Schreiben der Blitze hatte ich sofort das Gefühl, dass das eine völlig autonome Form ist. Das sind weder Schnittreste noch Gedichtideen, sondern etwas anderes”, sagte sie in einem Interview. Was sind die Blitze? Epiphane Erleuchtungen, Lektüreausschnitte, festgehalten in der Form einer kurzen Notiz, nach der die Dichter heute gerne greifen. „Nein, die Wahrheit über unsere Epoche vermittelt kein Epos, kein Krieg und Frieden, keine tiefschürfende soziologische Analyse. Blitze, stockende Wörter, kurze Sentenzen – allerhöchstens das”, schrieb einst Czesław Miłosz, ein Autor, auf den sich Hartwig oft beruft. Die Notizen in diesem Buch sind Übungen im Erstaunen und bisweilen im Begeistern, Betrachtungen zur Poesie, zur Alchemie der Literatur, Erinnerungsbilder, Bonmots, Tagebuch der Lektüren und Auszüge aus den Lieblingsautoren, Fragmente eines intimen Tagebuchs, aber bisweilen auch Zeitungssätze, die die Autorin pointiert notiert und mit einem lyrischen Kommentar versieht. Bisweilen gnomische Sätze, die an japanische Haikus erinnern oder Aphorismen antiker griechischer Philosophen, aber auch manchmal völlig prosaische Niederschriften aus dem Alltag, der jedoch den Stoff künftiger Gedichte bildet. Manchmal ein Gedichtfragment, jedoch bewusst festgehalten in seiner unvollendeten und nichtausziselierten Form. „Meisterwerke begeisterten mich, Skizzen aber ließen meine Phantasie auflodern”, lesen wir in einer Notiz. „Wer mich besser kennen lernen möchte, komponiert sich aus den Blitzen ein Bild des Teils meiner Persönlichkeit, der in den Gedichten nicht zu Tage tritt”, sagte Julia Hartwig. Und gleich fügte sie hinzu: „Blitze sind Spuren des alltäglichen Verstandesdickichts, von dem die Lyrik auf den steilen Pfad eines Gedichtes oder rhythmischer Prosa aufbrechen will.” Bożena Keff 138 zurück zum Inhaltsverzeichnis Ein Werk über Mutter und Vaterland Przemysław Czapliński Bożena Keff Lyrikerin, Schriftstellerin, Essayistin und Publizistin, von Hause aus Philosophin und Polonistin. Sie lebt in Warschau. Bożena Keff Utwór o matce i ojczyźnie Korporacja Ha!art Cracow 2008 200 × 200 • 100 pages paperback ISBN: 978-83-89911-92-6 Translation rights: Bożena Keff Contact: Korporacja Ha!art zurück zum Inhaltsverzeichnis Ein Werk über Mutter und Vaterland tisemitischen, patriotischen Geschwafels beweist, dass Fremdenfeindlichkeit die polnische vaterländische Gemeinschaft zusammenschweißt. Um das Vaterland anders zu konstruieren, sind Erzählungen notwendig, die jene düstere, aber starke Verbindung des Patriotismus zum Fremdenhass formulieren. Bożena Keffs Buch ist ein Beispiel für ein außergewöhnliches Zur-Sprache-Bringen des Hasses auf das Mutter-Vaterland. Eine Äußerung, nach der niemand – die Holocaustopfer, die Opfer der Holocaustopfer, die Antisemitismusinfizierten – für sich das Recht auf Hass in Anspruch nehmen darf und niemand annehmen kann, dass er in seinem Hass keine Schuld auf sich lädt. 139 Bożena Keff Ein Werk über Mutter und Vaterland ist eine Kreuzung aus Oper, Tragödie und Oratorium. Die einander durchwirkenden Stimmen der Erzählerin, der Meter und des Chors erzählen das Leben einer Mutter, die der Shoa entronnen ist, und das Leben ihrer Tochter, die im Leiden der Mutter gefangengehalten wird. Aus diesem Grund kann man das Buch Bożena Keffs als – herausragende und in ihrer Form völlig unerwartete – polnische Variante von Art Spiegelmans Mouse betrachten. Bei dem Vergleich geht es weder um eine Nachahmung noch um formale Nähe, sondern den für beide Autoren zentralen Kampf des Kindes und Künstlers mit der gewaltigen historischen Erfahrung, die die Eltern repräsentieren. Den Kampf um eine eigene Identität, um das Recht auf ein eigenes Leben, um den Exodus aus dem Holocaust-Mausoleum, in dem die Eltern ihrem Kind eine winzige Wohnung mit behaglicher Pritsche eingerichtet haben. Die Mutter aus Keffs Buch gehört zu den Holocaustüberlebenden. Sie hat überlebt, also steht ihr Leiden außer Frage, ihre Beheimatung in der Vergangenheit ist fraglos, ihre Daseinsberechtigung – nicht abzusprechen. Sie gebar eine Tochter wider das Nichts und den Holocaust, also hat das Kind, anders als die Mutter, kein Recht auf Leiden und kein eigenständiges Recht auf ein eigenständiges Sein. Die Tochter sucht vor allem in der Kunst Befreiung. Sie wird zur Dichterin, für die es „keine unsagbaren Dinge gibt!”. Und da die Wirklichkeit, die sie auszudrücken hat, ein Knäuel von Widersprüchen ist, greift sie nach widersprüchlichen Ausdrucksmitteln, erhabenen und vulgären Wörtern, hoher und populärer Kunst, sucht Rückhalt in emanzipatorischen Diskursen. Alles erscheint jedoch noch nur als Halbheit, weil das Band zwischen Mutter und Tochter aus so vielen historischen und soziologischen Strängen geknüpft ist, dass jeder allgemeinen Konzeption ein Teil des Gewirrs entgleitet. Das Auffinden durchlässiger Grenzen der eigenen Autonomie ist für den Epilog wesentlich. Die dort erscheinende Mischung an- To and Fro Piotr Kletowski, Piotr Marecki: Piotr Kletowski, Piotr Marecki: tr Marecki: ŻUŁAWSKI. ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift Reader der Zeitschrift ift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] [Ein Gespräch] Poesie 140 Marcin Czerkasow Fałszywe zaproszeBroda nia Marzena Das Recht des Pfirsichbäumchens auf Blitzschlag Instytut Mikołowski Mikołów 2008 148 × 210 • 96 pages paperback ISBN: 978-83-60949-36-8 Translation rights: Marzena Broda and Instytut Mikołowski zurück zum Inhaltsverzeichnis Tadeusz Pióro Asortyment Marcin Czerkasow Falsche Einladungen Tadeusz Pióro Sortiment Wydawnictwo WBPiCAK Poznań 2008 125 × 195 • 46 pages paperback ISBN 978-83-60746-04-2 Translation rights: Wydawnictwo WBPiCAK Wydawnictwo WBPiCAK Poznań 2008 125 × 195 • 158 pages paperback ISBN 978-83-60746-21-9 Translation rights: Wydawnictwo WBPiCAK To and Fro Piotr Marecki: Piotr Kletowski, Piotr Marecki: Piotr Kletowski, Piotr Marecki: schrift ŻUŁAWSKI. ŻUŁAWSKI. na. [Ein Gespräch] Reader der Zeitschrift Reader der Zeitschrift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] Marcin Sendecki Trap Roman Honet Amüsier dich Biuro Literackie Wrocław 2008 160 × 215 • 80 pages paperback ISBN 978-83-60602-65-2 Translation rights: Biuro Literackie Poesie 141 Bartosz Konstrat Traktaty Konstrata KONSTRAT'S Marcin Sendecki TREATISES Fallreep Biuro Literackie Wrocław 2008 162 × 215 • 36 pages paperback ISBN 97883-60602-50-8 Translation rights: Biuro Literackie Bartosz Konstrat Konstrats Traktate Stowarzyszenie Inicjatyw Wydawniczych: Górnośląskie Centrum Kultury Katowice 2008 148 × 210 • 48 pages paperback ISBN: 978-83-92185-13-0 Translation rights: Bartosz Konstrat zurück zum Inhaltsverzeichnis To and Fro To and Fro Von den vielen Gedichtbänden, die im letzten halben Jahr erschienen sind, verdienen besondere Beachtung die neuen Bücher von Marcin Sendecki, Roman Honet, Tadeusz Pióro, Marzena Broda, Marcin Czerkasow und Bartosz Konstrata. Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf sie zu werfen. Bei der Gelegenheit stellt man fest, wie unterschiedlich deren Spannweite, Möglichkeiten und Strategien sind. Es fällt schwer zu glauben, dass diese Publikationen alle im gleichen Sprachraum entstanden sind. Poesie 142 In Das Recht des Pfirsichbäumchens auf Blitzschlag zeigt Marzena Broda, die zu Beginn der Neunzigerjahre debütierte, ihren Hang zu einer formal und gedanklich disziplinierten Poesie. Im Gedichtband dominieren Eintragungen, die an eine Art Wettertagebuch erinnern: Naturlandschaften gehen ungehindert in Körperlandschaften über. Infolgedessen sind die wichtigsten Probleme mit der Sehkraft und dem Tastsinn verbunden. Und deshalb spielt sich alles, zumindest aber viele der Stimmungsbilder, Narrationen und Landschaften, zwischen dem Blick und dem Kuss ab, also im Raum der Unanständigkeit, der Sünde und des Vergehens. Stilistische Akrobatik sowie die häufig verwendeten Figuren des Spiegels, der Wolken, des Eises, des Schnees und des Auges umgeben die Welt der menschlichen Leidenschaften mit einer geheimnisvollen Aura. Broda fühlt sich auf dem Feld der Ausweichmanöver, Tarnungen und Metamorphosen zu Hause. Sie testet die Möglichkeiten des harmonischen, fließenden Satzes und der eleganten Metapher. Das Ergebnis sind Gedichte, die, obwohl sie in scheinbar ausgeglichenen, stabilen und abgekühlten Phrasen daherkommen, in heftigen Sprachentladungen gipfeln. Broda, so sieht es aus, setzt auf bewährte Techniken, um größere Aufmerksamkeit zu erregen: Jeder Vorhang weckt und belebt das Begehren statt es zu löschen. lageartigen Momentaufnahmen, abgerissenen Dialogen und seltsamen „Geheimratsecken“ der Sprache, da er dadurch die Möglichkeit hat, eine comicähnliche Verkürzung zu erreichen, andererseits schreckt er aber auch nicht davor zurück, weite Räume zu entwerfen, in denen sich in einer Bilderflut verschiedene Zeiten und Personen kreuzen. Man darf weder den absurden Humor dieser Gedichte noch deren poetische Formgebung unterschätzen, am meisten überrascht jedoch die improvisierte Phantasie. So steht die sentimentale Phrase vom „gebrechlichen, zinnernen Sommer“, gleich neben den Minigeschichten von der Frau, deren Mann eine Affäre mit einer Fledermaus hat, und von dem Mann, dessen Hand in einer Wand seines Hauses eingemauert ist, usw. Die Welt, von der Czerkasow erzählt, erinnert an eine Glaskugel, aus deren Inneren nur verzerrte Geräusche nach außen dringen. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Czerkasow häufig den menschlichen Kontakt mittels Brief oder Telefon thematisiert und aus der Telefonzelle einen strategischen Ort des schreibenden Subjekts macht. Das gibt ihm das Gefühl, unsichtbar zu sein, während die Szenen in seinen Gedichten so gezeigt werden, als würde man durch ein Teleobjektiv blicken. Tadeusz Pióros Sortiment ist eine umfangreiche Anthologie, in der Gedichte aus seinem Gesamtwerk – von seinem ersten Lyrikband 1993 bis hin zu seinem letzten, der 2004 erschien, plus einigen neuen Texten – versammelt sind. In der Retrospektive erkennen wir die für Pióro charakteristischen rhetorischen Bilder, die nicht so sehr ins Auge springen würden, hätten wir es mit einer einzelnen Gedichtsammlung zu tun. Recht überraschend ist aber auch die Entdeckung, dass dieser außerordentlich moderne, avantgardistische Dichter, den englischsprachige Autoren inspirieren, dieser Weltmann und Kosmopolit, Volkstümliches, Urslawisches, auf die Welt der Technik treffen lässt. Kurz gesagt, Industrieszenen, ausgedehnte städtische Territorien, anonyme Kontakte, Anrufbeantworter und Computer werden parallel zu Freiluftmuseen, Das Debüt von Marcin Czerkasow Falsche Einladungen ist der Legende von Wanda, die keinen Deutschen wollte, Bisdagegen ein Lyrikband, der viel freier mit Dialogen, Szenen kupin, dem Morgenstern, rituell entzündeten Feuern, usw. und Motiven operiert. Einerseits spielt Czerkasow mit col- gezeigt. Diese Vision, in der ein Wortschatz aus grauer Vor- zurück zum Inhaltsverzeichnis Um Fallreep von Marcin Sendecki zu beschreiben, nimmt man am besten die Kunst als Bezugspunkt. Seine Gedichte erinnern nämlich an Kompositionen, die, obwohl sie vollkommen geschlossene Strukturen aufweisen, sich durch die Verschiebung ihrer Umrisse auszeichnen. Mit anderen Worten, Sendecki interessieren Translokationen und verschiedene Transfers: Wenn das, was sich als starre und stabile Verbindung erweist (wie die scheinbar simple Phrase: „Sehr gute Milch“ aus dem Gedicht Distrikt Oulu), in eine Form übergeht, die für andere Kompositionen charakteristisch Bartosz Konstrat setzt in seinem zweiten Buch, Konstrats Traktate, insofern die Tradition des Traktats fort, als er versucht bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens abzugrenzen und sie auf etwas exzentrische Weise zu kommentieren, wobei er gewöhnlich über ein Detail, ein scheinbar unbedeutendes und leicht verständliches Element nachdenkt. Er erzählt also z. B. „von einer bestimmten Art von Blindheit“, „von Ersatzhandlungen“, „von Treue“, „von einfachen Liedern“, dabei behält er stets einen übersteigerten dandyhaften Manierismus, einen leicht exaltierten Ton und eine zarte Liedhaftigkeit bei. In den Beschreibungen enttäuschter Liebe und körperlichen Verlangens verzichtet er nie auf die artifizielle, theatralische Geste: Er stattet das schreibende Ich mit allen Attributen eines weinerlichen und begehrenden Epheben aus. Er wechselt jedoch die Sprache und das lyrische Konzept, wenn er – was zugegebenermaßen recht selten geschieht – zu einem witzigeren und salopperen Slang übergeht. Dann gewinnt die Exzentrizität seines Kommentars an Lockerheit, wie in dem Text, in dem es heißt, dass über Identität etwas derart Unbestimmtes wie die Straße der Möwen entscheiden kann, die in dem Gedicht gleichsam einem Lacan’schen „gründenden Wort“ funktioniert. Anna Kałuża zurück zum Inhaltsverzeichnis To and Fro Beim vierten und neuesten Lyrikband von Roman Honet, Amüsier dich, haben wir es mit einer grundverschiedenen Vision zu tun: Wir befinden uns in der Provinz, weit weg vom zivilisatorischen Schutzwall, der uns von der Biologie und unseren Bindungen zur Natur trennt. Honet zeigt ein fast wildes, ungezähmtes, von den Geistern der Verstorbenen heimgesuchtes Terrain. Diese füllen die Welt der Lebenden aus, und ihre Erinnerungen, ihre Schicksale bestimmen das individuelle Gedächtnis: ein traumatisches, von Todesahnungen besessenes Gedächtnis. Deshalb macht Honet auf seiner lyrischen Reise, die mit Särgen, Krematorien und Friedhöfen ausgefüllt ist, gewöhnlich an zwei symbolischen Stationen halt. Die eine ist die Welt der kindlichen Vorstellung, in der die Gewalt des Todes nicht so deutlich wird, beziehungsweise sogar in ein perverses Gefühl körperlichen Überflusses übergeht, denn der Körper gibt noch mehr Anlass zur Freude als Grund zum Erschrecken. Die zweite Station ist die Welt des Beobachters, der außerhalb der menschlichen Zeit steht. Er hält sich am Rande der Welten auf und spürt am stärksten die Schwerkraft dessen, was immateriell geworden ist. Ein seltsamer Bewusstseinszustand, der für den Verfall und das Zubruchgehen des Lebens empfindlich ist, bildet eine Grunderfahrung des schreibenden Subjekts, was sich seit Hornets Debüt beobachten lässt. ist (im selben Gedicht, zum Schluss: „Sei lecker, nutze den Tag“). Am meisten profitiert seine Poesie vom Bezugnehmen auf Prozesse des wirtschaftlichen Austauschs und den Strom der Bedeutungen, aber es ist der Klang, der Rhythmus, die Stofflichkeit des Wortes, die er in den Vordergrund rückt. Fallreep ist folglich ein Buch über die Schwerelosigkeit der Materie und das Schwingen der Klänge, wenn die Wörter die kritische Funktion gesellschaftlicher Wirklichkeit übernehmen (die Welt der billigen Anreize und der beliebigen Austauschbarkeit denunzieren) und ihre ausgezeichnete Dysfunktionalität zur Schau stellen. Ein raffiniertes, nicht für jedermann bestimmtes Lesevergnügen. 143 Poesie zeit mit der Expresssprache des Post-Neo-Industriemenschen verbunden wird, die also Ausflüge ins Archaische mit Zeitsprüngen in die Zukunft assoziiert, dominiert hier, obwohl man in Sortiment natürlich vieles mehr finden kann. wski, Piotr Marecki: Piotr Kletowski, Piotr Marecki: . ŻUŁAWSKI. Zeitschrift Reader der Zeitschrift ityczna. [Ein Gespräch]Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] 144 Chopin Fryderyk Chopin BARKAROLA FIS-DUR OP. 60 Fryderyk Chopin Barcarolle Fis-dur Op. 60 Fryderyk Chopin Etiuden Op. 10 The Fryderyk Chopin Institute Warsaw 2007 216 × 280 • 8 pages hardback ISBN: 978-83-923583-6-7 Translation rights: The Fryderyk Chopin Institute The Fryderyk Chopin Institute Warsaw 2007 348 × 250 • 26 pages hardback ISBN 978-83-923583-3-6 Translation rights: The Fryderyk Chopin Institute zurück zum Inhaltsverzeichnis Fryderyk C ETIUDY O Piotr Kletowski, Piotr Marecki: Piotr Kletowski, Piotr Marecki: Piotr Marecki: ŻUŁAWSKI. ŻUŁAWSKI. schrift Reader der Zeitschrift Reader der Zeitschrift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch] na. [Ein Gespräch] 145 Marita Albán Juárez, Ewa Sławińska-Dahlig Chopin’s Poland The Fryderyk Chopin Institute Warsaw 2008 154 × 227 • 234 pages paperback ISBN 978-83-61142-03-4 Translation rights: The Fryderyk Chopin Institute Translation: John Comber Fryderyk Chopin ETIUDY OP. 10 Chopin Fryderyk Chopin ETIUDY OP. 10 Marita Albán Juárez, Ewa Sławińska-Dahlig Chopins Polen Hrsg. Artur Szklener Chopin in Performance: History, Theory, Practice The Fryderyk Chopin Institute Warsaw 2007 154 × 227 • 234 pages paperback ISBN 978-83-917410-8-5 Translation rights: The Fryderyk Chopin Institute The Fryderyk Chopin Institute Warsaw 2004 174 × 228 • 242 pages paperback ISBN 83-917410-6-0 Translation rights: The Fryderyk Chopin Institute zurück zum Inhaltsverzeichnis Chopin 146 Am 1. März 2010 jährt sich der Geburtstag von Frédéric Chopin zum 200. Male. Aus diesem Anlass wurde das Jahr 2010 zum Chopin-Jahr erklärt. Die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten des Jubiläumsjahrs koordiniert das Nationale Frédéric-Chopin-Institut (NIFC), eine Institution, die 2001 vom polnischen Parlament ins Leben gerufen wurde. Zu den wichtigsten Aufgaben des NIFC gehört die Popularisierung des Chopinschen Œuvres, daher kommt der Publikationstätigkeit im Rahmen der Institutssaufgaben zentrale Bedeutung zu. Veröffentlicht werden vor allem die Werke des berühmten Komponisten selbst und Bücher über ihn. Die Monographien, die das Nationale Frédéric-Chopin-Institut herausgibt, stammen von renommierten polnischen und internationalen Wissenschaftlern und Schriftstellern, sie bilden eine wertvolle Informationsquelle für die Wissenschaft wie auch den interessierten Laien und Musikliebhaber. Wichtig ist hierbei, dass die Verfasser dieser Bücher in erster Linie mit den Originalmanuskripten des Komponisten arbeiten, die ihnen u.a. in den Sammlungen des Instituts zur Verfügung stehen. Die Sorge um den Erhalt und einen breiteren Zugang zu den Werkmanuskripten des Künstlers, die heute über die ganze Welt verstreut, aber unermesslich wichtig und wertvoll für weitergehende Forschungen zum geistigen Erbe des Komponisten sind, war ein Hauptgrund für die Initiierung des internationalen Wissenschafts- und Publikationsprojekts „Die Werke Chopins. Faksimile-Ausgabe”. An dieser Edition beteiligen sich Repräsentanten Polens, Frankreichs, Großbritanniens, der Schweiz, Deutschlands und der USA, koordiniert wird das Gesamtprojekt von seinem Initiator, dem Nationalen Frédéric-Chopin-Institut in Kooperation mit dem Verlag „Bernardinum”. Ziel des Editionsvorhabens ist die Veröffentlichung aller heute bekannten Handschriften der Werke des Komponisten als Faksimiles, begleitet von einem sechssprachigen Kommentar. Das ist das erste derartige Editionsprojekt in der Geschichte; die vollständige Publikation wird die einzigartige Möglichkeit schaffen, originalgetreue Kopien aller Chopin-Autographen zu besitzen. Bis zum heutigen Tage sind bereits 11 Bände erschienen, darunter das Faksimile der h-moll-Sonate op. 58, des f-moll-Konzerts op. zurück zum Inhaltsverzeichnis 21, der Barcarolle fis-Dur op. 60, mehrerer Mazurken und Etüden. Zur Zeit wird an zwölf weiteren Bänden gearbeitet, darunter auch die Faksimile-Ausgabe der Polonaise as-Dur op. 53. Eine andere Publikationsreihe des Instituts sind die Konferenzbände, die auf der Basis von Vorträgen entstehen, die während der alljährlichen Internationalen Konferenzen für Chopinologie gehalten werden, die das Nationale Frédéric-Chopin-Institut veranstaltet. Diese Publikationen, die auch Übersetzungen ins Englische bieten, ermöglichen die schriftliche Präsentation der allerneuesten Arbeiten der polnischen Chopin-Forschung. Bisher erschienen Bände über Forschungsgegenstände wie die Sprache Chopins – Überlegungen zu Universalität und Regionalität der Werke des Komponisten, die Sprache der heutigen Musikerziehung und die Rezeption Chopins in der Gegenwart, Einflüsse auf Chopin und seinen Schaffensprozess im Lichte der Quellen, unvollendete Werke, Rekonstruktionsversuche des Urtextes, verschiedene Methoden zur Analyse Chopinscher Texte, den Wandel der Werkinterpretation und die Rolle der Interpreten für die Ausformung eines musikalischen Werkes. Heute liegen bereits vier Bände der Reihe vor: Chopin - In Search of a Common Language, Chopin’s Work. His Inspirations and Creative Process in the Light of the Sources, Analytical Perspectives on the Music of Chopin und Chopin in Performance: History, Theory, Practice. Zu den allerneuesten eigenständigen wissenschaftlichen Publikationen, die das NIFC in Sachen Chopin veröffentlichte, gehört das Buch Polska Chopina – Przewodnik po miejscach związanych z pobytem kompozytora [Chopins Polen – Führer zu den Wirkungsstätten und Aufenthaltsorten des Komponisten] von Marita Albán Juárez (historische Darstellung) und Ewa Sławińska-Dahlig (zeitgenössische Elemente und fotografische Dokumentation), das auch in englischer Sprache vorliegt (Chopin’s Poland. A guidebook to places associated with the composer, übers. von. John Comber). Es handelt sich dabei um die erste Publikation dieser Art auf dem polnischen Buchmarkt wie auch weltweit. In dem Buch werden Orte in Masowien, Großpolen und Kleinpolen beschrieben, an denen Chopin für längere Zeit oder auch nur den Sommer über lebte, und Orte, denen er nur auf der Durchreise einen Besuch abstattete. In jedem Kapitel findet der Leser auch en détail die äußerten Umstände des Aufenthalts des Komponisten am konkreten Ort wie auch dessen Geschichte und den heutigen Zustand des Ortes oder Objektes. Die größte Aufmerksamkeit gilt den Chopin-Orten in Warschau, es werden auch Spaziergänge durch Warschau auf den Spuren Chopins vorgeschlagen. Der Führer enthält Reproduktionen von nahezu 50 historischen Illustrationen, die aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen, 3 Karten und rund 100 Fotografien, die speziell für diese Publikation entstanden. Unter den Verlagsankündigungen des NIFC findet man außerdem den Essayband von Irena Poniatowska. W kręgu recepcji i rezonansu muzyki – szkice chopinowskie [Im Umfeld musikalischer Rezeption und Resonanz – Essays zu Chopin], ein Buch u.a. über die Rezeption der Werke Frédéric Chopins als ästhetisches und theoretisches Problem. Die Autorin schreibt zudem über die Transkription der Mazurken Chopins und die zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten seiner Préludes. Eine völlig andersartige Publikation des Instituts wird dagegen der Text Die Tagebücher Fryderyk Graf Skarbeks sein, die erstmals vollständige Ausgabe der Erinnerungen des Grafen Fryderyk Skarbek (1792-1866), eines Schülers Mikołaj Chopins und des Taufpaten Frédéric Chopins. Der Verfasser war ein exponierter Vertreter des intellektuellen Lebens im Polen des 19. Jahrhunderts. Die Gesamtausgabe der Erinnerungen, die anhand von Handschriften vervollständigt wurden, ist reichhaltig illustriert. Sie sind außerdem mit ausführlichen Anmerkungen und biographischen Angaben zu den einzelnen Personen versehen. Herausgegeben wird diese Ausgabe von Piotr Mysłakowski. Chopin 147 Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier zurück zum Inhaltsverzeichnis Adressen der Verlage und Agenten 148 Biuro Literackie Muza ul. Tęczowa 50a/9 PL 53-602 Wrocław Tel.: +48 71 346 08 23 [email protected] www.biuroliterackie.pl ul. Marszałkowska 8 PL 00-590 Warszawa Tel.: +48 22 621 17 75 Fax: +48 22 629 23 49 [email protected], www.muza.com.pl Czarne Niebieska Studnia Wołowiec 11 PL 38-307 Sękowa Tel.: +48 18 351 00 70, +48 502 318 711 Fax: + 48 18 351 58 93 [email protected], www.czarne.com.pl ul. Ponikowskiego 12a PL 00-707 Warszawa Tel.: +48 22 651 07 03 [email protected] www.niebieskastudnia.pl Galeria Plakatu Kraków Nisza ul. Stolarska 8-10 PL 31-043 Kraków Tel./Fax: +48 12 421 26 40 [email protected] www.cracowpostergallery.com/ ul. Styki 23a PL 03-928 Warszawa Tel.: +48 12 617 89 61 [email protected], www.nisza-wydawnictwo.pl Górnośląskie Centrum Kultury ul. Grunwaldzka 74/3 PL 80-244 Gdańsk Tel.: +48 58 345 47 07 Fax: +48 58 520 80 63 [email protected], www.terytoria.com.pl pl. Sejmu Śląskiego 2 PL 40-032 Katowice Tel.: +48 32 255 38 06 Fax: +48 32 609 03 15 [email protected], www.gck.org.pl Instytut Mikołowski Słowo/obraz terytoria Świat Książki ul. 1 Maja 8/5 PL 43-190 Mikołów Tel.: +48 32 738 07 55 [email protected] ul. Rosoła 10 PL 02-786 Warszawa Tel.: +48 22 654 82 00 [email protected] www.swiatksiazki.pl Korporacja Ha!art The Fryderyk Chopin Institute Pl. Szczepański 3a PL 31-011 Kraków Tel./Fax: +48 12 422 81 98 [email protected] www.ha.art.pl Plac Piłsudskiego 9 PL 00-078 Warszawa Tel.: +48 22 827 54 71 Fax: +48 22 827 95 99 [email protected], www.nifc.pl zurück zum Inhaltsverzeichnis W.A.B. Wydawnictwo Sic! ul. Łowicka 31 PL 02-502 Warszawa Tel./Fax: +48 22 646 05 10, +48 22 646 05 11 [email protected], www.wab.com.pl ul. Chełmska 27/23 PL 00-724 Warszawa Tel./Fax: +48 22 840 07 53 [email protected] www.wydawnictwo-sic.com.pl ul. Bolesława Prusa 3 PL 60-819 Poznań Tel.: +48 61 66 40 850 Fax: +48 61 66 27 366 [email protected], www.wbp.poznan.pl Wydawnictwo Forma ul. Nowowiejska 63 PL 71-219 Szczecin-Bezrzecze Tel./Fax: +48 91 488 62 40 [email protected], www.ppiw-forma.pl Wydawnictwo Krytyki Politycznej ul. Chmielna 26 lok. 19 PL 00-020 Warszawa Tel.: +48 22 828 11 66 [email protected] www.krytykapolityczna.pl Zielona Sowa ul. Cegielniana 4A PL 30-404 Kraków Tel./Fax: +48 12 266 62 92, +48 12 266 62 94 [email protected] www.zielonasowa.pl Znak ul. Kościuszki 37 PL 30-105 Kraków Tel.: +48 12 619 95 01 Fax: +48 12 619 95 02 [email protected] www.znak.com.pl 149 Adressen der Verlage und Agenten WBPiCAK Wydawnictwo Książkowe Twój Styl ul. Dzika 19/23 PL 00-172 Warszawa Tel.: +48 22 576 82 72 Fax: +48 22 576 82 62 [email protected], www.wkts.com.pl Wydawnictwo Literackie ul. Długa 1 PL 31-147 Kraków Tel.: +48 12 619 27 40 Fax: +48 12 422 54 23 [email protected] www.wydawnictwoliterackie.pl zurück zum Inhaltsverzeichnis Ziel des Programms ist es, Übersetzungen der polnischen Literatur zu fördern sowie deren Präsenz auf den ausländischen Buchmärkten zu stärken. Das Programm umfasst insbesondere: »» Belletristik und Essayistik »» Kinder- und Jugendliteratur »» Sachbücher Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen. Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert werden: »» bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs »» bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus dem Polnischen Das Übersetzungsprogramm ©POLAND 150 Das Buchinstitut ul. Szczepańska 1 PL 31-011 Kraków e-mail: [email protected] tel.: (+48-12) 433 70 40 fax.: (+48-12) 429 38 29 Dem Angebot müssen folgende Unterlagen beigefügt werden: »» das ausgefüllte Angebotsformular »» Kopie des Lizenzvertrags (oder Kopie des Vorvertrags) »» Kopie des Übersetzervertrags (oder Kopie des Vorvertrags) »» aktuelles Verlagsprogramm und allgemeine Informationen zum Verlag »» Bibliographie des Übersetzers »» kurze Begründung für die Wahl des jeweiligen Werks »» detaillierter Kosten- und Finanzierungsplan der Publikation unter Angabe der Vertriebsform Anträge auf die Förderung von Übersetzungen polnischer Literatur können von Verlegern bei dem Buchinstitut in Krakau gestellt werden (spätestens 4 Monate vor der geplanten Publikation). Das Angebotsformular des Programms kann bei dem Buchinstitut angefordert werden, oder von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden. zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen Verlegern zu präsentieren. Die Programm-Voraussetzungen sind folgende: »» Es werden 20 Seiten einer Übersetzung bezahlt (1800 Zeichen pro Seite) »» Der/die Übersetzer/-in reicht eine Bewerbung ein, die folgendes beinhaltet: a)die Motivation, warum er/sie dieses zu übersetzende Buch ausgesucht hat b)ein Handlungsplan c)seine/ihre Bibliographie d)Informationen hinsichtlich der Übersetzungskosten (Brutto) e)das ausgefüllte Angebotsformular »» Der/die Übersetzer/-in muss mindestens eine Buch-Übersetzung gemacht haben bevor er/sie sich bewirbt. »» Es muss die erste Übersetzung des Buches in die jeweilige Sprache sein und der Beispieltext darf nirgendwo zuvor veröffentlicht worden sein. Das Angebotsformular des Programms kann bei dem Buchinstitut angefordert werden, oder von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden. Das Buchinstitut ul. Szczepańska 1 PL 31-011 Kraków e-mail: [email protected] tel.: (+48-12) 433 70 40 fax.: (+48-12) 429 38 29 zurück zum Inhaltsverzeichnis Sample Translations ©POLAND 151 Das Buchinstitut ul. Szczepańska 1 31-110 Kraków Tel: +48-12 433 70 40 Fax: +48-12 429 38 29 [email protected] www.bookinstitute.pl Warschauer Filiale des Buchinstitutes P. Defilad 1, IX p., pok. 911 00-901 Warszawa Tel: +48-22 656 63 86 Fax: +48-22 656 63 89 [email protected] Warszawa 134, P.O. Box 395 152 © Das Buchinstitut, Krakau 2008 Redaktion: Izabella Kaluta, Joanna Czudec, Elżbieta Kalinowska Übersetzung: Ursula Kiermeier, Esther Kinsky, Albrecht Lempp, Olaf Kühl, Aleksandra Kujawa-Eberharter und Markus Eberharter, Martin Pollack, Heinz Rosenau, Paulina Schulz, Renate Schmigdall, Andreas Volk Weitere Informationen über die polnische Literatur auf: www.bookinstitute.pl. Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel 48 New Books from Poland. Fall 2008 kann über das Buchinstitut bezogen werden. Graphik und Satz: Studio Otwarte st udi otwar te www.otwarte.com.pl zurück zum Inhaltsverzeichnis Das Buchinstitut stellt die Literaturprogramme bei polnischen Auftritten auf in- und ausländischen Buchmessen, bereitet Lesungen polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals oder im Rahmen seiner PR-Maßnahmen für die internationale Verbreitung polnischer Kultur vor, gibt regelmäßig den Katalog „NEUE BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in dem literarische Neuerscheinungen präsentiert werden, organisiert Studien- und Fortbildungsmaßnahmen sowie Treffen und Seminare für Übersetzer polnischer Literatur, zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und verleiht auch den PREIS TRANSATLANTYK für den besten Vermittler polnischer Literatur im Ausland. DAS PROGRAMM TU CZYTAMY! besteht aus einer Reihe von Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und NGOs richten. Dazu gehören u.a.: Bildungsprogramme, Vermittlung der zeitgenössischen polnischen Literatur für Jugendliche, Vorbereitung und Publikation eines polnischen Literaturatlas, Organisation von Buchdiskussionsklubs. Ein Teil des Programms ist auch der jährliche Literaturfestival-Zyklus 4 Pory Książki. FESTIVAL 4 PORY KSIĄŻKI ist das größte Literaturfestival in Polen. Es findet parallel in mehreren Städten statt. Das Festival besteht aus vier Events: POPLIT (April), Pora poezji / Lyrikzeit (Juni), Pora prozy / Prosazeit (Oktober), Festiwal kryminału / Krimifestival (November). www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland, präsentiert Neuerscheinungen und Verlagsprogramme, betreibt auch ein regelmäßiges Rezensions-Service. Man findet dort außerdem über 100 Biogramme zeitgenössischer polnischer Autoren, die Vorstellung von über 500 Publikationen, Fragmente, Essays, Anschriften der Verleger. Alles über polnische Bücher – auf Polnisch, Englisch und Deutsch.