Paweł Huelle - Instytut Książki

Transkrypt

Paweł Huelle - Instytut Książki
Das Buchinstitut (Instytut Książki) ist eine staatliche Kultureinrichtung, die vom Kulturminister der Republik Polen ins Leben
gerufen wurde. Seit Januar 2004 ist das Institut in Krakau angesiedelt, 2006 entstand auch ein Büro in Warschau. Die Hauptziele des Institutes liegen darin, die Lesebereitschaft zu fördern,
das Buch als Medium und die Leselust in Polen zu verbreiten sowie weltweit für die polnische Literatur zu werben. Diese Ziele
werden umgesetzt durch:
» Vorstellung und Werbung für die besten polnischen Bücher
und ihre Autoren
» Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten
Umgang mit dem Buch als Medium verdeutlichen
» Programm zur Leseförderung Tu Czytamy! / Hier wird gelesen!
» jährlicher Literaturfestival-Zyklus 4 Pory Książki / Die vier
Jahreszeiten des Buches
» Präsentation der polnischen Literatur im Ausland
» Übersetzerkolleg
» Seminare für Verleger
» ÜBERSETZUNGSPROGRAMM © POLAND
» Informationszentrum für Kinderbücher
» einen leichteren Zugang für ausländische Interessenten
zu Informationen über das polnische Buch und den Buchmarkt.
» Informationsportal zur polnischen Literatur
www.bookinstitute.pl
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Jerzy Pilch
Paweł Huelle
Janusz Anderman
Inga Iwasiów
Józef Hen
Marian Pankowski
Andrzej Bart
Wojciech Kuczok
Tomasz Piątek
Marek Nocny
Andrzej Bobkowski
Manuela Gretkowska
Jarosław Maślanek
Aleksander Kościów
Ignacy Karpowicz
Jacek Podsiadło
Sylwia Chutnik
Piotr Milewski
Jerzy Franczak
Leszek Szaruga
Sławomir Górzyński
Krystyna Sakowicz
Krzysztof Lipowski
Artur Daniel Liskowacki
Jarosław Marek Rymkiewicz
Witold Bereś, Krzysztof Burnetko
Piotr Kletowski, Piotr Marecki
Krzysztof Varga
Andrzej Dybczak
Renata Radłowska
Mateusz Marczewski
Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo
Ewa Toniak
Krzysztof Tomasik
Julia Hartwig
Bożena Keff
Poesie
Chopin
Adressen der Verlage und Agenten
Marsch, Polonia
Erzählungen von einem kalten Meer
Das ist alles
Bambino
Der Tischtennisspieler
Da ist keine Jüdin
Die Fliegenfängerfabrik
Schläfrigkeit
Palais Ostrogski
Der Traumkontrolleur
Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter
Die Bürgerin
Haschischopenken
Entschuldige dich: ein Spielerratgeber
Gesten
Das Leben und insbesondere der Tod Angélique de Sancés
Der Taschenfrauenatlas
Eins ist keins
Der Umkleideraum
Das Foto
Der Komponist
Das Buch der geretteten Träume
Honig und Wachs
Zappzarapp
Kinderszenen
Marek Edelman. Einfach das Leben
Reader der Zeitschrift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
Turulgulasch
Gugara
Nowa Huta – Eine Telenovela
Die Unsichtbaren
PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts
Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus
Stimmen aus dem Schrank. Nicht zu Ende erzählte Biografien. Skizzen
Blitze 3
Ein Werk über Mutter und Vaterland
Inhalt
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Marsch, Polonia
Jerzy Pilch
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Foto: Olga Majrowska
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stellungsstücke, im anderen dienen die anachronistischen, national-katholischen Ideen der theatralischen Vorbereitung des
Gemetzels. Im nationalen Imaginarium sind alle Sprachen einer
kollektiven Identität mittlerweile austauschbar geworden und
befinden sich durchweg im Stadium der Selbstauflösung.
Jerzy Pilch
(geb.1952) Erzähler und
Publizist, einer der bekanntesten polnischen
Gegenwartsautoren.
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Marsch, Polonia
Przemysław Czapliński
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Jerzy Pilch
Zeit der Handlung: Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
Ort der Handlung: Polen. Doch sind das keine konstanten Parameter. Wie überhaupt nichts in diesem Roman sicher ist,
außer dem Moment, wo der Protagonist am Vorabend seines
52. Geburtstags mit dem festen Vorsatz das Haus verlässt, sich
zum Geschenk, eine neue Frau kennenzulernen. Das Vorhaben
scheitert, dafür aber gerät der Held auf einen großen Empfang,
der von Beniamin Bezetzny gegeben wird, dem verhassten
Pressesprecher der kommunistischen Machthaber zu Zeiten des
Kriegsrechts und heute Besitzer eines riesigen Vermögens, zu
dem er es im freien Polen als Pressemagnat gebracht hat.
Die Kraft der Anziehung des Bezetznyschen Hauses ist so groß
wie die Kraft, mit der die Menschen demoralisiert werden.
Wenn sie die Schwelle seines Palastes überschreiten, verlieren sie ihre
Identität, und mit ihr den Nonkonformismus und die Fähigkeit zur Verteidigung ihrer eigenen Ansichten.
Es bleiben ihnen rituelle Streitgespräche, die um so heftiger
ausfallen, als sie völlig irrelevant sind. Sie tragen sie über den
Kellern aus, in denen der Hausherr ein Panoptikum des 20. Jahrhundertes versammelt hat: Wachsfiguren polnischer Schriftsteller, weltberühmter Präsidenten, einheimischer Kommunisten.
Das Herz des Untergrunds aber, sein bestbewachter Ort, ist
ein spezieller Raum, in dem sich ein geheimnisvoller Märtyrer
aufhält – eine Leiche, eine Halbleiche, ein Opfer vergangener
Zeiten. Man weiß nicht, wer er ist. Wer immer es ist, er funktioniert im Bewusstsein aller als Gewissensbiss und als persönliche
Reliquie zugleich.
Marsch, Polonia ist eine Art Diagnose der Vorstellungskraft von
Gruppen, die sich anmaßen, kollektive Ideen zu formulieren.
Eine phantasmagorische Zeichnung zeigt zwei verfeindete Lager: Im einen, in Bezetznys Palast versammelt, verwandeln sich
alle früheren Vorstellungen von den Konflikten in museale Aus-
Marsch, Polonia
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Jerzy Pilch
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Namen des Vaters, des Sohnes und des erzählerischen Geistes, Amen. Am Vorabend meines 52.
Geburtstags beschloss ich, am nächsten Tag die
Bekanntschaft einer neuen Frau zu machen. Dieses Vorhaben hatte schon seit längerer Zeit in mir rumort, doch seine
endgültige Tonlage hatte es erst allmählich erlangt.
Es war kein billiger Zeitvertreib, kein Spiel und keine
Wette. Ich übertrieb es nicht mit der Leichtigkeit: Ich hatte die ehrgeizige und ernst gemeinte Absicht, innerhalb von
vierundzwanzig Stunden ein intelligentes, schlankes und
mindestens ein Meter siebzig großes Mädchen im Alter von
knapp unter dreißig zu treffen, es kennen zu lernen und zu
verführen.
Ich wollte mir ein intensives Geschenk machen und wollte
testen, ob ich noch das Zeug hätte, mir ein intensives Geschenk zu machen. Dem Augenschein nach war ich in Form,
aber ich spürte, wie das mir innewohnende Monster langsam
seinen Geist aufgab. Zwar erfreute ich mich noch eines üblen
Rufs, in Wahrheit aber zehrte ich vom Ruhm vergangener
Tage. Allem Anschein zum Trotz war Zynismus nie meine
starke Seite gewesen; die Ironie und die instrumentale Perspektive meiner Geschichten von Frauen, sollte das ihnen
zugefügte Unrecht kaschieren; jetzt maskierte ich mit den
Resten an Zynismus, den Überbleibseln an Ironie und dem
Anschein instrumentalen Handelns meine Verzweiflung und
meine Sehnsucht.
Seit mindestens einem Jahr verzehrten mich böse Ahnungen, bebte mein Herz und die Transzendenz trat immer
deutlicher zutage. Ich suchte Erleichterung darin, meine Erinnerungen zu schreiben und Musik zu hören. Die Erinnerungen beruhigten die Nerven kurz, aber folgenlos; die Musik
verschaffte mir eine lange und tiefe Erholung, aber mit fürchterlichen Folgen: Die Leere nach der „Zauberflöte“ ist unerträglich, der Kater nach einer Überdosis Gluckscher Arien
geradezu tödlich. Trotzdem zog es mich mit aller Macht zur
höchsten Kunst der Künste, zog es mich zum Hören wie einst
zum Trinken. Dieser Trieb spiegelte sich auch in meinem Liebesleben wider: Es überwogen die Musen der Musik.
Ich war zu jener Zeit hin- und hergerissen zwischen einer
eine große Karriere beginnenden Balletttänzerin, einer eine
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große Karriere vorantreibenden Opernsängerin und einer
auf eine große Karriere verzichtenden Geigerin mit bewegter
Vergangenheit.
Außerdem, und das versteht sich von selbst, rief ich ständig lauter verschiedene Mädchen an, verführte Models,
Kellnerinnen und Gymnasiastinnen; unter dem Vorwand,
Fremdsprachenunterricht nehmen zu wollen, hielt ich ein
unaufhörliches Casting von Sprachlektorinnen ab; ließ mich
auf riskante Vertraulichkeiten mit einer appetitlich gerundeten Medizinstudentin ein; fand großen Gefallen an Gesprächen mit einer zartgliedrigen Adeptin der angelsächsischen
Literaturgeschichte, die überhaupt nicht mein Typ war;
konnte mich dem anziehenden Charme einer kohlrabenschwarzhaarigen Virtuosin der Interpunktion, die ich rein
zufällig kennengelernt hatte, nicht entziehen; wartete, bis
eine noch ganz junge Leiharbeiterin aus Dublin zurückkehrte (für die Telefonate mit ihr gab ich Unsummen aus); eine
zu ihrer Zeit berühmte Schnellläuferin, mit der ich 1999
eine heiße Affäre hatte, wohnte gleich um die Ecke und
stellte noch immer eine ziemliche Versuchung dar; mehrfach
kehrte ich in Gedanken zu Majka (einer hochgewachsenen,
biegsamen Brünette) und Magda (einer massiven, untersetzten Albinofrau) zurück, die mich im letzten Sommer besucht
hatten und auf mich so scharf gewesen waren wie auf sich;
ganz ernsthaft zog ich die Ehe mit einer estländischen Millionärin in Erwägung, ging den Straßendirnen nicht aus dem
Weg und wurde doch immer noch von das Chaos verstärkenden Anwandlungen heimgesucht, dass die entscheidende
Bekanntschaft erst noch vor mir läge.
Jedoch waren die Sängerin, die Balletttänzerin und die
Geigerin die drei Pfeiler meiner Verwirrung. Die Verbindung
mit der Sängerin (von den Kritikern „Engelskehle“ genannt)
war die längste, die intensivste und auch die komplizierteste.
Die Balletteuse währte nur kurz: außer dem Orgasmus hatte
keines der menschlichen Gefühle Zugang zu ihr. Die Geigerin war gerade erst erschienen und der Reiz, der von ihr
ausging, war himmlisch. Tiefe Gefühle waren wohl ihre Domäne nicht, doch der in ihrem Dekolleté sichtbare Schatten
zwischen ihren Brüsten hatte die Kraft großer gesellschaftlicher Bewegungen.
Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp
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Marsch, Polonia
Świat Książki
Warsaw 2008
130 × 215 • 192 pages
paperback
ISBN: 978-83-2471-161-1
Translations rights:
Świat Książki
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Jerzy Pilch
Von dem ganzen Trio war sie die älteste, die schönste und
die durchgeknallteste. Sie war schon deutlich über vierzig,
hatte einen Teint von sepiafarbenem Glanz, zerbrechliche
Züge und die Figur einer Fitnesstrainerin. Manchmal wollte
man sie für die klügste Person der Welt halten, dann wieder
bestand kein Zweifel: Sie schnallte überhaupt nichts.
Sie behauptete steif und fest, der Heilige Geist habe sie
mit einer Gabe gesegnet, und sie könne die menschlichen
Gedanken lesen; sie ging zu einem Psychotherapeuten, den
sie während der qualvollen Sitzungen nervlich fertig machte;
fünf Tage in der Woche ernährte sie sich von Weizensprossen, dienstags und donnerstags machte sie Krafttraining; an
den Wochenenden stand sie nicht aus dem Bett auf, trank
den Magenbitterschnaps direkt aus der Flasche und fraß sich
voll wie ein Tier. Am Telefon gab sie unglaubliche Schweinereien von sich, schrieb schockierend pornografische SMS
und verschickte E-Mails angefüllt mit jeder erdenklichen
Verderbtheit – doch wochenlang ließ sie sich nicht einmal
küssen.
Zu allem Überfluss war sie begeistert von japanischen Restaurants und verabredete sich nur dort. Gemeinsame Ausflüge ins Kino, ins Theater, ein Konzert oder ein Spaziergang,
das allereinfachste der Welt, kam bei ihr alles nicht in Frage.
Immer redete sie sich damit heraus, keine Zeit zu haben,
obwohl letztlich nicht klar war, was sie eigentlich trieb; seit
über einem Jahr war sie nicht mehr aufgetreten, hatte sie
nicht geübt oder ihr Repertoire erweitert, hatte sie keine Proben gehabt und keinen Unterricht gegeben. Sie war verheiratet, lebte aber seit Jahren in Trennung. Selbst wenn sie mit
ihrem getrennt lebenden Mann irgendwelche geschäftlichen
Tätigkeiten verbanden, so waren diese nicht zeitaufwendig.
Und trotzdem war mein Spielraum begrenzt: In Frage kamen
ausschließlich SMS, E-Mails und japanische Lokale.
Erzählungen von einem kalten Meer
Paweł Huelle
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Paweł Huelle
ERZÄHLUNGEN
VON EINEM
KALTEN MEER
Foto: Elżbieta Lempp
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Jerzy Jarzębski
Paweł Huelle (geb. 1957) einer der populärsten
polnischen Gegenwartsautoren, in über ein Dutzend
Sprachen übersetzt.
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Erzählungen von einem kalten Meer
sches Abenteuer – mit einer Frau, die er zufällig kennengelernt
hat und die aus enttäuschter Liebe verrückt spielt.
Die Hieroglyphe hat bei Huelle also keine eindeutige Lösung
– der Held betrachtet die Zufälle des Lebens wie die Empfehlungen des chinesischen Buchs der Wandlungen, das nur vage Antworten gibt, die einer weiteren Interpretation bedürfen; doch es
geht wohl nicht so sehr um den Sinn der Ereignisse, als vielmehr
darum, wie der geheimnisvolle Doktor Tscheng in der gleichnamigen Erzählung sagt, „sich von den Gedanken zu befreien und
die Wirklichkeit anzunehmen.“
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Paweł Huelle
Paweł Huelle ist mit Sicherheit einer der besten polnischen Prosaisten der Gegenwart, was sein neuer Band von Erzählungen
bezeugt. Teilweise werden in ihnen Motive weitergeführt, die
wir von früher kennen, die meisten Texte bringen jedoch neue
Themen. Es sind nicht – wie in der bisherigen Prosa von Huelle
– fast ausschließlich „Danziger“ Motive. Seine Helden begeben
sich diesmal in alle möglichen Himmelsrichtungen: auf die Insel Øland, nach Zürich, nach New York, in die Sahara und so
weiter. Ihre Wirklichkeit wird also stark erweitert, wenn auch
die meisten Motive den Leser dennoch wieder in die Heimatstadt des Autors führen. Danzig ist für Huelle also immer noch
der Ort, wo die Fabel entsteht. Sicher auch deshalb, weil dort
verschiedene Gesellschaften lebten, verschiedene Völker, Kulturen und Religionen – bisweilen in tragischen Konflikten, wenn
sie auch durch Familienbande oder den gemeinsamen Wohnort
eng miteinander verbunden waren.
In Danzig geschahen auch historische Ereignisse von großer Bedeutung. Doch die Geschichte bildet in
diesen Texten nur den Hintergrund
– manchmal zwar einen sehr wichtigen, wie in der Erzählung
Fahrradpost, die zur Zeit der Entstehung der Solidarność spielt,
aber nicht immer ist er wesentlich.
Im Zentrum dieser Geschichten steht das menschliche Schicksal,
als Hieroglyphe betrachtet – denn der Autor sucht darin einen
Sinn, eine Art Bekrönung der Konstruktion, und findet meist ein
Geheimnis, eine unerwartete oder gar absurde Koinzidenz von
Ereignissen. Der Nachfahre einer pommerschen Adelsfamilie,
Joachim von Kotwitz, ermüdet und angeekelt von den nationalen
Konflikten in seiner Heimat, opfert sein Leben und seinen Besitz
der Suche nach einer mythischen „Ursprache“, die allen Menschen gemeinsam ist. Aber in der Sahara fällt er berberischen
Räubern in die Hände und stirbt in der Fremde (Abulafia). In der
Erzählung Franz Carl Weber erbt der Held unverhofft von seinem
Vater eine große Summe, aber auf der Suche nach seinem goldenen Vlies, die ihn nach Zürich führt, verhält er sich nicht wie
ein Millionär, sondern versucht sich seinen Kinder- und Jugendtraum zu erfüllen: eine elektrische Eisenbahn und ein romanti-
Erzählungen von einem kalten Meer
Die
Paweł Huelle
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Straßenbahnen und Busse verkehrten nicht
mehr. Deshalb herrschte im Waggon der
S-Bahn ein fürchterliches Gedränge. Es gab
keine andere Möglichkeit, ins Zentrum von Danzig zu gelangen, und schließlich wollten alle dorthin, zum Hauptbahnhof, von wo es nur sieben Minuten zu Fuß bis zum Eingang
der Werft waren. Und eigentlich sprachen alle, flüsternd
oder halblaut, über das gleiche: Im Moment wurde noch
nicht geschossen – aber sie würden sicher irgendwann anfangen, ohne Zweifel, die Frage war nur, zu welchem Zeitpunkt!
Auch ich erinnerte mich an den Dezember vor genau zehn
Jahren: Ich war mit Vater in die Dachkammer gegangen, um
durch das offene Fenster den Lärm aus der Innenstadt zu hören. Die frostige Luft trug das Knallen einzelner Schüsse heran, die Sirenen der Krankenwagen, das Dröhnen der Panzer.
Über der Stadt hing ein roter Feuerschein. In dem dunklen
Raum dahinter erschien immer wieder ein Hubschrauber. Er
warf Leuchtraketen ab, und in dem kurzen Moment, wo der
Himmel erhellt war, hörten wir deutlich zwei oder drei Salven aus schweren Maschinengewehren. Wenn diese Geräusche verstummten, kam es uns manchmal vor, als hörten wir
den wie ein Refrain wiederkehrenden Schrei der Menge.
„Merk dir“, hatte mein Vater gesagt, als wir die zwei Stockwerke zu unserer Wohnung hinuntergingen, „das ist der Anfang vom Ende für sie.“ Mit „sie“ meinte er natürlich nicht
die Arbeiter. Das abgebrannte Parteigebäude sah ich ein paar
Tage danach, als die Sperrstunde schon aufgehoben war,
vom Fenster der Straßenbahn aus. Auf einer Kreuzung der
Hucisko-Straße, gleich neben der Haltestelle, fand ich einen
Arbeiterhelm, platt wie eine zertretene Streichholzschachtel.
In der Luft hing überall Brandgeruch und der Gestank von
Tränengas. Die Erhöhungen der Lebensmittelpreise hatte
man zurückgenommen. Die Leute machten eilig ihre Weihnachtseinkäufe. Ebenso eilig wurden in allen Klassen meiner
Schule die Porträts der ihres Amtes enthobenen Parteiführer abgehängt. Unser Zeichenlehrer zwinkerte, als wir sie
auf einem großen Scheiterhaufen neben der Müllkippe der
Schule verbrannten. Cyrankiewicz brannte wesentlich länger
als Gomułka. Vielleicht, weil seine Fotografien von schlechterem Papier waren. Abends, zuhause, sprachen die Leute
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alle über das gleiche: Dass die Arbeiter vor dem Danziger
Parteikomitee die Internationale sangen, dass in Gdynia auf
sie geschossen wurde, dass die Verhafteten gefoltert wurden,
dass die Toten heimlich begraben wurden, im Begleitschutz
der Geheimpolizei. Dass sowjetische Schiffe auf der Reede
in Danzig Stellung bezogen. Dass der neue Parteisekretär im
Fernsehen dem ganzen Volk Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit versprach.
All das spulte sich in meinem Gedächtnis ab wie ein alter,
längst vergessener Schwarzweißfilm aus Kinderzeiten. Jetzt,
als die Masse der verschwitzten Menschen aus den Waggons
der S-Bahn auf den Bahnsteig quoll und in der Augusthitze
zum Eingang der Werft ging, konnte man sich nur schwer
vorstellen, dass auf die bunte Menge von Einheimischen,
Touristen und Sommerfrischlern jemand schießen könnte,
schon gar nicht bei Tageslicht, vor den Kameras ausländischer Reporter. Außer dem offensichtlichen Unterschied,
dass jetzt Sommer und damals Winter war, gab es noch einen
anderen, wesentlich wichtigeren. Die Arbeiter hatten sich in
der Werft verschanzt, sie gingen nicht auf die Straße, sondern
die Straße kam zu ihnen und brachte ihnen unentwegt Essen,
Geld, Informationen. Am Werfteingang hatte man neben einem Blumenstrauß und der polnischen Flagge ein Porträt
des Papstes aufgehängt. Die durch das Megaphon verlesenen
Kommuniqués klangen wie eine Litanei: buchstäblich von
Stunde zu Stunde schlossen sich dem Streik Betriebe aus
ganz Polen an. Der gipserne Lenin im Sitzungssaal der Werft
musste geduldig zusehen, wie sich die Forderung herauskristallisierte: Ja, wir wollen Lohnerhöhungen, aber vor allem
wollen wir eigene, völlig unabhängige Gewerkschaften.
„Vorläufig sieht es aus wie ein Picknick“, hörte ich Fredeks
Stimme hinter mir, „aber wie wird es wohl enden?“
„Wenn sie die Bewegung zerschlagen wollen“, ich drehte
mich um und sah, dass er mit dem Fahrrad zur Werft gekommen war, „dann können sie es nur nachts tun, wenn
niemand hier ist.“
„Kann ja sein“, sagte Fredek ganz und gar nicht betrübt,
„aber zuerst müssen sie das Tor mit einem Panzer stürmen.
Und sie müssen sie aus allen Ecken holen. Bei passivem Widerstand dauert das mehrere Stunden. Und wenn die Jungs
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
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Erzählungen von einem kalten Meer
Znak
Cracow 2008
126 × 206 • 208 pages
hardcover
ISBN: 978-83-240-1031-8
Translation rights: Znak
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Paweł Huelle
ein paar Flaschen Acetylen abfackeln? Oder ein Schiff entern
und die Taue kappen? Außerdem“ – wir waren endlich am
Zaun neben dem Tor angelangt, wo Fredek sein Fahrrad abstellte, indem er es an das Stahlnetz lehnte – „außerdem gibt
es noch etwas“, sagte er und zeigte auf das Papstporträt. „Wir
haben ihn, und das ist mehr als eine Division!“
„Ich würde lieber auf die vielen streikenden Fabriken zählen. Und die, die bereit sind, sich anzuschließen.“
„Aber das passiert ja gerade“, Fredek holte eine Schachtel
Sport aus der Tasche und wir steckten uns eine an, „siehst du
nicht, dass das eine richtige Revolution ist?!“
So vergingen einige Viertelstunden. Wir rauchten und
redeten. Immer neue Delegationen wurden durch das Tor
gelassen und mit Beifall begrüßt. Durch das Megaphon
flossen unablässig Kommuniqués, Beschlüsse des Komitees,
Gedichte und Gebete. Und die Atmosphäre in der Massenversammlung wurde noch dichter, als auf der Innenseite des
Tors ein Arbeiter mit Binde am Arm auftauchte: mit von
Druckerfarbe beschmierten Händen warf er Flugblätter in
die wogende Menge. Kein einziges Stück Papier blieb auf
dem Boden liegen. Jeder wollte, und wenn auch nur als
Andenken, ein Bulletin haben, das von keinem Zensor verschandelt worden war.
„Nicht schlecht, das Vervielfältigungsgerät“, meinte Fredek, „nur zu viel Farbe nehmen sie, sie haben noch keine
Erfahrung.“
„Und wenn sie das jetzt im Radio lesen würden, in ganz
Polen“, scherzte ich, „was meinst du?“
„Das Radio gehört uns noch nicht“, sagte Fredek, plötzlich
ernst geworden, „aber hast du eigentlich ein Fahrrad?“
„Nein“, antwortete ich, „aber du hast doch gehört, was sie
gesagt haben“, ich wies auf das Megaphon, „auf Bitte des Komitees werden die Eisenbahner weiterfahren, um die Stadt
nicht lahmzulegen.“
„Das meine ich nicht“, winkte Fredek ab, was geht mich
die S-Bahn an? Ich denke an Fahrradpost!“
Und mit dieser einfachen Idee von Fredek begann meine
persönliche Augustrevolution.
Das ist alles
Janusz Anderman
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Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Maciej Zienkiewicz/Agencja Gazeta
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seiner Ehe. Es fehlt in dem Roman allerdings nicht an Signalen,
die den realistischen Charakter dieser Aussage aufheben. Möglicherweise haben wir es also mit einem raffinierten literarischen Scherz zu tun, einer Fiktion in der Fiktion, einem düsteren,
aber zugleich witzigen Phantasiegebilde über die Verfassung
des zeitgenössischen Künstlers.
Janusz Anderman (geb. 1949). Prosaschrift-
steller, Autor von Filmdrehbüchern, Theaterstücken
und Hörspielen. Übersetzer tschechischer Literatur.
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Das ist alles
Dariusz Nowacki
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Janusz Anderman
Der Protagonist des Romans Das ist alles ist Marek Torm, ein
schon etwas abgestandener, verbitterter Schriftsteller. Einst
ein Stern am literarischen Himmel, Autor von elf hoch gelobten und in hoher Auflage gedruckten Romanen. Seine Glückssträhne endet mit der Wende im Jahre 1989. Torm macht eine
Schaffenskrise durch, für längere Zeit veröffentlicht er nichts,
schnell ist er vergessen. Der Held ist überzeugt, dass in der
heutigen literarischen Kultur nur die Schriftsteller eine Chance
haben, wahrgenommen zu werden und Anerkennung zu finden,
denen es gelingt, eine Sensation auszulösen (am besten einen
Sittenskandal), über die sich die Regenbogenpresse auslassen
wird und für die sich das Fernsehen interessiert. Er hat die Hoffnung, dass unter dem Einfluss eines sensationellen Ereignisses
seine Werke neu aufgelegt werden und das Interesse an seiner
Person neu entfacht wird. Also beschließt er, seinen Selbstmord auf
Video aufzunehmen. Vor laufender
Kamera möchte er eine pathetische
Abschiedsrede halten und sich dann
mit einer Pistole in den Kopf schießen. Aus diesem Grund fährt er von Warschau nach Krakau, der
Stadt seiner glücklichen Jugend, jeder Menge künstlerischer Erfolge und gelungener Liebeseroberungen. Er richtet sich in einer
Wohnung ein, die ihm sein Verleger als bequeme Arbeitsstätte
überlassen hat. Das ist alles ist als Monolog eines frustrierten
Schriftstellers geschrieben und entwickelt sich auf zwei Ebenen.
Auf der aktuellen Ebene ist es eine Geschichte über die drei letzten Tage vor dem Selbstmord, die Torm damit verbringt, allein
seinen Wodka zu trinken und nachzusinnen. Diese Grübeleien,
in denen er Bilanz zieht und sich in abschweifenden Erinnerungen ergeht, bilden die eigentliche Ebene der Erzählung. Hier sind
das Wichtigste die durch eine radikale Misogynie charakterisierten Abrechnungen mit der Welt der Frauen. Im Vordergrund
steht die schmerzhafte und gleichzeitig extrem ironische Bilanz
Das ist alles
Ich
Janusz Anderman
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kam in diese Stadt, um mich auf spektakuläre Weise umzubringen. Ich habe beschlossen,
mich effektvoll zu erschießen, weil ich überdauern will. Dieser schockierende Tod, der unweigerlich
einiges Aufsehen verursacht, wird meine Bücher auf Jahre
hinaus wieder zu Leben erwecken. Man wird sie suchen und
man wird sie lesen, berufene Literaten werden die Perlenketten meiner Worte aufmerksam durch ihre Finger gleiten lassen, und sentimentale Polonistikstudentinnen werden über
die einst vergessenen Werke Magisterarbeiten schreiben.
Vielleicht entstehen auch Doktorarbeiten und ich komme
auf die Liste der Schullektüren? Bestimmt werde ich meinen
Platz in den Schulbüchern lange behalten und in populären
Abhandlungen wird man mich als „verfemten Künstler“ bezeichnen. Das klingt prätentiös, aber schön.
Seit vielen Jahren habe ich kein einziges Buch mehr geschrieben. Früher, noch im alten System, war ich in aller
Munde. Mein untypischer und leicht zu merkender Name
Torm galt viel in der Literatur. Er wurde geachtet und stand
hoch im Kurs. Im Verlaufe von knapp fünfzehn Jahren erschienen elf Romane von mir. Die Verlage rissen sich um
mich und ich verstand es, auf jeden geschichtsträchtigen
Moment mit ausgefeimter Wirksamkeit zu reagieren, was
mir erlaubte, die Liebe meiner Leser zu bewahren sowie
die Anerkennung meiner Kollegen und so etwas wie Neutralität seitens der Machthaber. Das erforderte verschiedene
taktische Züge, doch war nicht weiter schwer. Ich musste
nur vorausschauend handeln, die Ereignisse und politische
Wechsel manchmal antizipieren und den Moment erfühlen,
in dem es besser war, sich in den Schatten zurückzuziehen.
Zuerst wurde von mir geschrieben, ich sei die Hoffnung
der Literatur, später, ich sei die erfüllte Hoffnung, und eines
Tages dann bezeichnete mich ein Kritiker als herausragenden
Schriftsteller.
Nach dem Fall des Systems schrieb ich noch zwei Romane,
doch zum ersten Mal versagte mein Instinkt. Vor allem gab
ich sie zum falschen Zeitpunkt heraus. Ich hätte einige Jahre
warten und erst dann an mich erinnern sollen. Ich hatte es
eilig und das wurde mir zum Verhängnis. Zwar waren die
Auflagen noch immer hoch, doch der Markt war bereits mit
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Büchern von Emigrationsschriftstellern überschwemmt, die
aus Neugier gekauft wurden, und mit drittklassigen Liebesromanen aus dem Westen, die in nur wenigen Nächten von
Studenten übersetzt wurden. Sie erhielten von den Verlegern
je ein dutzend Seiten zur Übersetzung und die so erstellten
Texte gingen sofort in Druck und gelangten in attraktiven,
bis dahin unbekannten Einbänden mit vergoldeten und erhaben geprägten Buchstaben unverzüglich in den Handel.
In dieser Flut ertranken meine Romane. Zudem verkümmerte in jenen stürmischen Zeiten schnell das Interesse an
Literatur. Es erschienen bunte Wochen- und Monatszeitschriften, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden, neue
Fernsehstationen wurden geschaffen und auf den Mattscheiben tummelten sich die Helden unzähliger Telenovelas; es
verging nicht viel Zeit und schon hatte niemand mehr Lust
oder Zeit, Bücher zu lesen. Nach ein paar Jahren verbesserte
und stabilisierte sich die Situation zwar etwas, doch ich hatte
bereits das Etikett eines Autors, der Verluste einbringt.
Die erste Erniedrigung erfuhr ich in meinem Schriftstellerleben, als ich sah, dass ein Roman von mir in der Ko­
szykowa-Halle verramscht wurde. In Plastikbehältern mit
hundert anderen zufällig zusammengewürfelten Titeln. Der
einzige Unterschied bestand im Preis, der auf Pappkärtchen
vermerkt war. Mich entdeckte ich in der Schachtel mit dem
niedrigsten Preis. Schnell verließ ich diesen Friedhof, weil
ich Angst hatte, dass einer der wenigen Käufer mein Gesicht
erkennen könnte.
Sofort rief ich meinen Verleger an und informierte ihn,
dass ich die Zusammenarbeit mit ihm aufkündige. Er verstand mich nicht.
„Das verstehe ich nicht, Herr Torm”, sagte er.
„Wieso nicht? Verdammte Scheiße, was ist daran so schwer?
Mein Buch in der Koszykowa? In einer Plastikkiste? Wie eine
verdammte Karotte? Eine Kartoffel?”
„Sie verstehen die neuen Zeiten nicht. Ich habe damit
nichts zu tun, das ist Sache des Grossisten, der im Eifer ein
paar Hundert Exemplare zu viel genommen hat und sie
nachher nicht an die Buchläden hat loswerden können. Der
größte Teil der Auflage, den ich den Grossisten nicht unterjubeln konnte, ging zum Altpapier.“
Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp
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Das ist alles
Wydawnictwo Literackie
Cracow 2008
125 × 195 • 312 pages
paperback
ISBN: 978-83-08-04261-8
Translation rights:
Wydawnictwo Literackie
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Janusz Anderman
Das waren mir bis dato unbekannte Worte.
„Verdammt nochmal, das ist schon wie zu Hitlers Zeiten?
Wie bei Stalin? Vielleicht wär es noch einfacher, die Bücher
gleich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen?“
„Sie begreifen nicht, was Sache ist”, sagte mein Verleger ruhig, doch dann verlor er die Beherrschung: „Verdammt noch
mal, wissen Sie eigentlich, was die Lagerhaltung kostet? Die
kostet mehr als die ganze Auflage wert ist! Wer soll das bezahlen? Ich? Leck mich doch, verdammt nochmal!”, schrie
der bisher so gefühlvolle Kenner der Klassik, während ich
wortlos den Hörer auflegte.
Danach war ich jahrelang nicht im Stande, einen Roman
zu schreiben.
Jetzt bin ich hierher gekommen, um mich auf spektakuläre Weise umzubringen und so meine Leser, Kritiker und
die Literaturhistoriker zu zwingen, wieder mit meinen alten
Romanen zu leben.
Den Grundstein für diesen Plan legte ein zufälliges Treffen
auf der Warschauer Buchmesse, die ich aus alter Gewohnheit
besucht hatte.
Der Ort, an dem ich mich erschieße, ist geradezu ideal.
Es ist ein hoher Uhrturm, der zu einem Verlagshaus gehört.
Um hinauf zu kommen, muss man durch die Toreinfahrt des
Verlags gehen, dann auf den düsteren Innenhof hinaus und
nach rechts zu einer Tür. Danach genügt es, noch 82 Betonstufen zu bewältigen. Auf dem letzten Treppenabsatz befindet
sich rechter Hand der Eingang zu Räumen, von denen aus
man wohl noch höher kann, dorthin, wo sich das Uhrwerk
befindet. Linker Hand ist die Tür zu den Gästezimmern des
Verlags. Man betritt einen langen Flur, auf dem sich das Klo
befindet. Hinter der nächsten Tür geht der Flur weiter. Drei
Türen. Zur Küche, ins Bad und in ein großes Zimmer, von
dem aus man ins Schlafzimmer kommt. In dem Zimmer,
gegenüber einem dreiflügligen Bogenfenster, steht ein Tisch,
an dem ich ein Buch schreiben soll, doch diesen Tisch werde
ich nicht brauchen.
Bambino
Inga Iwasiów
14
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Marta Eloy Cichocka
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erfolglos versuchen ihre Traumata, ihre schmerzlichen Erinnerungen der Vergangenheit, zu überwinden, was im Grunde dazu
führt, dass sie alle scheitern, die Chancen ihres Lebens verspielen, sich unerfüllt und einfach unglücklich fühlen. Bambino ist vor
allem ein Roman über die bitteren Konsequenzen der Entwurzelung und gespaltenen Identität.
Inga Iwasiów
(geb. 1963) Schriftstellerin,
Literaturkritikerin, Professorin für Literaturgeschichte
an der Universität Szczecin.
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Bambino
Robert Ostaszewski
15
Inga Iwasiów
Bambino ist eine Erzählung von Menschen und von einem Ort.
Eigentlich von mehreren Orten. Einer der Ort ist die Imbissbar
„Bambino“, in der sich die vier Hauptfiguren des Romans begegnen. Der zweite Ort ist Stettin und Umgebung, eine Stadt,
die von der Geschichte gezeichnet ist, in die nach dem Krieg aus
den verschiedensten Orten Polens Menschen gebracht wurden.
Wir verfolgen die Schicksale der vier Helden von der Vorkriegszeit bis zum Jahr 1980. Marysia wurde in den ehemaligen polnischen Ostgebieten in eine kinderreiche Familie hineingeboren.
Nach dem Krieg wurde sie mit der gesamten Familie repatriiert.
Sie ließen sich in einem pommerschen Dorf nieder, als Einziger
gelang ihr der Sprung in die Stadt, wo sie Krankenschwester
wurde. Dort lernte sie Janek kennen (und heiratete ihn), ein
uneheliches Kind aus der Gegend von Posen, den seine Mutter
verlassen hatte und der später versuchte, die Jahre der Erniedrigung zu
kompensieren, indem er der Staatssicherheit diente, was letztendlich
zum Zerbrechen der Ehe führte. Anna stammt aus Gorlice, von
wo sie vor der allzu strengen Mutter und ihrem gleichgültigen
Stiefvater floh. Mit Mühe beendete sie ihr Studium, sie heiratete
spät, ging eine Vernunftehe mit einem Kapitän der Handelsmarine ein, der älter als sie war. Ula ist deutschstämmig und als
einzige der Protagonisten in Stettin geboren. Durch den Krieg
verlor sie praktisch den Kontakt zur Familie, weshalb sie in der
Stadt blieb und versuchte, wie eine normale Polin zu leben. Ihre
nicht übermäßig leidenschaftliche Beziehung zu Stefan, einem
Holocaustüberlebenden, dem einzigen Mann, mit dem sie zusammen sein wollte, wurde von der Geschichte brutal zerstört,
denn Stefan wird 1968 gezwungen, das Land zu verlassen.
Iwasiów erzählt die Lebensgeschichten konkreter Menschen,
die zwar in den gesellschaftlichen und historischen Realien ihrer Zeit verankert sind, sich aber zu einem Muster menschlichen
Schicksals zusammensetzen: innerlich verletzte Menschen, die
Bambino
Maria
Inga Iwasiów
16
trägt das in sich, nehme ich an. Das
Bild des Weges, aber nicht nur. Etwas, was im Verlauf geschah. Etwas
Weit-hinter-sich-Zurückgelassenes. Wie alle anderen hat
sie dieses etwas in sich, die Fäden laufen zusammen, Gene,
kreuzen sich, verschiedenes kann aus den Kombinationen
entstehen, ich aber will erfahren, wer sie sind, vielleicht ist
das gerade meine Geschichte, genauso gut ist es aber nicht
meine, niemandes Geschichte. In den Bildern, Durchschlägen und Speiseresten stöbern. Es gibt nichts, an das man sich
halten kann, kein Album, kein Tagebuch. Keine leitende
Idee, nur ein Bedürfnis. Eher zusammenhanglose Erzählungen. Was wer sich über die eigene Person ausdenkt. Über die
Figur, die er oder sie ist. Und das Leben, ganz einfach, ihres
oder das von irgendjemandem. Das vergangene und das noch
dauernde. Mehr haben wir zu diesem Thema nicht. Eine Bewegung von innen heraus, von hinten zum Ziel kommen,
das gleiche, aber gewiss nicht auf die gleiche Weise. Maria,
Mutter all dieser verlorenen Illusionen.
Ich beginne mit Maria, weil ihr Name mich anzieht. Alle
Frauen heißen Ewamaria. Diese um so mehr. Als wäre sie mit
ihrem Namen gleich an den Anfang gestellt worden und das
sofort, mehr als Ewa, natürlich weniger auserwählt, weniger
aus der Menge herausgehoben, aber das hat ihr ja schließlich
auch niemand versprochen. Niemand, als er dem Mädchen
den Namen gab, aber gerade danach sehnt es sich, gezeichnet
zu sein. Das Schicksal, das dem Mädchen leichtsinnigerweise
diesen Namen gegeben hat, führt in Versuchung und verflucht. Das heißt, auserwählt sicherlich, vergessen wir jedoch
nicht: Maria ist in dieser Situation ein ganz gewöhnlicher
Name. So heißt bestimmt jede dritte Heldin, die in den Verhältnissen gezeugt wurde, die mich interessieren. Die ich für
einen Bildausschnitt des Weges halte. Unsere Großmütter
hießen einfach oft so. Ich habe keinen Grund mich zu loben,
sehen wir uns einmal an, was mit den Namen und mit ihnen
weiter geschieht.
Sie wurden erst 1957 hergebracht. Hergebracht. Der Zug
hatte sie gebracht, aber zunächst hatte jemand die Erlaubnis
gegeben, Dokumente ausgestellt, ihnen ihre Entscheidungen
abgestempelt. Ihr Zögern und das der anderen, schon, schon
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war eine Entscheidung getroffen, aber dann wurde die Hand
zurückgezogen, das Rad zurückgedreht, stand man weiter
am gleichen Zaun. Bis zu dem letzten Moment. Und es ging
keineswegs lustig und heldenhaft zu in diesen – klar, heute
würde man sagen „Viehwagons“. Aber alle fuhren mit ihnen,
was Wunder, es war immer noch Nachkriegszeit. Der ganze
Wagenpark verschlissen, die Salonwagen zu etwas anderem
gebraucht. Zum Herumfahren wichtiger Leute, die wichtige
Entscheidungen trafen. Und selbst die Wagons vierter Klasse. Die Wagons sämtlicher Klassen. In was hätte man auch
die Leute mit all ihrem Zeug verfrachten sollen? Und was
für – wer, wo – transportierte Vieh? Was bedeutete „Vieh“
zu der Zeit, als die Wagons deutsche, gewöhnliche deutsche
Fabriken verließen? Die russischen, sowjetischen Fabriken,
eine andere Spurweite, also auch die Achsen, es hätte der
Anlass sein können, und es war der Anlass zu vielen sentimental-symbolischen Ausführungen. Also Betonung, Wiederholung, dass sie in Viehwagons ... Zu der Stadt, weiter, zu
einer größeren Stadt, waren alle, jeder und jede von ihnen,
irgendwann einmal gefahren. Vergleicht man es, beginnt
„Viehwagon“ etwas anderes zu bedeuten. Sie haben auch
ihre Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die man
nicht als vollkommen souverän bezeichnen kann. Es fällt
schwer, überhaupt von einer Entscheidung zu sprechen. Ja,
vielleicht sollte das der Anfang sein – es fällt schwer, von
einer Entscheidung zu sprechen. Sie beginnt danach, man
kann sich den Ereignissen entsprechend eine passende zurechtlegen. Sie stecken dir dein Haus in Brand, wieder kommen sie und wollen dein Getreide, obwohl es nicht einmal
Kartoffeln gibt, seit langem gibt es auch keine Arbeit als
solche (vielleicht hat es Arbeit als solche auch nie gegeben;
Arbeit als Manifestation, dass es sie gibt, dass es sie früher
gegeben hat, das schon), der kleine Garten bis auf die letzte Gurke leer gegraben, in der Schule verlernen die Kinder
die Sprache (heißt es zumindest, es ist nämlich nicht ganz
klar, ob sie nicht eben, was auch heikel ist, die Sprache, die
richtige Sprache für die Zukunft lernen), die Nachbarin von
gegenüber muss ihrem Geliebten vom NKWD etwas gesagt
haben, sie ist wütend wegen irgendwelcher alten Geschichten, vielleicht wegen dem, was hinter ihrem Rücken erzählt
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
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Bambino
Świat Książki
Warsaw 2008
130 × 214 • 350 pages
hardcover
ISBN: 978-83-247-1261-8
Translation rights:
Świat Książki
17
Inga Iwasiów
wird, der linke Nachbar sagt immer lauter, dass das merkwürdig sei. Vielleicht eine Kränkung aus der Jugendzeit, sie
kommen von einem Tanz zurück, sie nicht mit dem, auf den
sie Lust hatte. Diese aber ... natürlich, mit dem, auf den sie
... Ganz normale Geschichten, wie es sie in jedem kleinen
Ort gibt, jeder kennt sie, jeder hat sie kennengelernt, ohne
im nächsten Augenblick zu wissen, was sie bedeuten, denn
erst aus der entsprechenden Entfernung erkennt man ihr
Gewicht.
Dass sie nicht nach Osten deportiert wurden, das ist merkwürdig. Dass sie von hier nicht abgehauen sind, das ist merkwürdig. Dass sie selbst nicht wissen, was sie wollen, das ist
merkwürdig. Dass sie hier sind, das ist merkwürdig. Dass ...
Es ist nicht so ganz klar, was besser ist. Welche Sprache man
benutzen soll. Aus welchem Grund hätte man sie deportieren
sollen. Wenn jemandem ihr Hof gefallen hätte. Aus irgendeinem Grund gibt es immer Gründe. Sie warten also seit
Jahren auf eine Entscheidung und müssen selbst entscheiden, wer sie mehr sind. Welchen Großvater eher verstecken,
welchen eher zur Schau stellen. Welcher Großvater könnte ein Alibi sein, sich als Kapital erweisen. Obwohl beide
Urgroßväter fast bis in die mythische Vergangenheit zurück
verästelt sind, sollten wir uns hier auch an die mythischen
Ururgroßmütter erinnern, schließlich waren sie es, die es
verstanden, sich Mehl oder eine Sprache zu leihen, das heißt
gewöhnlich erweisen sich die Großväter als entscheidend, als
Fundamente der Epochen, die im Rückblick erforscht werden, selbst wenn ihr Schweigen legendär ist, denn Schweigen
soll Nachdenken bedeuten, in Wirklichkeit aber war es ein
ganz gewöhnlicher Autismus, die normalste Dummheit der
Welt, alle paar Generationen beziehungsweise in den Nebenlinien durchsetzt mit dem Talent zum Geschichtenerzählen,
das wie ein bösartiges Gen dem Überleben einen schlechten
Dienst erweist, denn wer spricht, bringt sich selbst in die
Bredouille.
Der Tischtennisspieler
Józef Hen
18
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Magdalena Słysz
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der antisemitischen Propaganda der rechten Presse, die Feier
im Ort als eine jüdische Verschwörung betrachtet, die es zum
Ziel hat, von Polen gigantische Wiedergutmachungsleistungen
zu erschleichen.
Józef Hen (geb. 1923) Roman- und Drehbuch-
autor, Biograf, Essayist. Seine Werke wurden in
achtzehn Sprachen übersetzt.
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Der Tischtennisspieler
Marek Zaleski
19
Józef Hen
Der Tischtennisspieler fällt in das Genre der Populärliteratur und
ist ein Roman, dem es an Liebesmotiven und satirischen Elementen nicht fehlt. Dabei spielt sich alles auf dem Hintergrund
der Morde in Jedwabne ab, eines kleinen Ortes im Nordosten
Polens, wo im Juli 1941 die Polen, von Deutschen angestiftet,
ihre jüdischen Nachbarn ermordeten. Wir haben das Jahr 2001.
Zu der Einweihungsfeier des Denkmals, das an die Ermordeten erinnern soll, kommt ein pensionierter Richter aus Amerika,
der früher in dem Ort gelebt hat. Damals, als Teenager, ist es
ihm nicht gelungen, seinen jüdischen Freund, mit dem er leidenschaftlich Tischtennis gespielt hatte, vor dem Pogrom zu retten.
In dem Städtchen leben immer noch die Täter. Das, was sich
während der Besatzungszeit ereignete, wird von den heutigen
Ortsbewohnern unterschiedlich bewertet. Nach all den Jahren
sind die Gespräche mit den Zeugen, mit den Tätern und den
Mitschuldigen, mit ihren Söhnen und
Töchtern, mit neuen Ortsbewohnern
sowie denjenigen, die zur Feier aus
dem Ausland angereist sind, eine
Gelegenheit für die bittere Abrechnung mit der Vergangenheit.
Immer wieder kommen dunkle Geheimnisse des Pogroms ans
Licht, immer wieder kommt die finstere Natur des Menschen zu
Wort. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, besonders die Geschichte dieses Teils Europas, ist eine Tragikomödie – sagt der
Romanheld. Der Friedhof, auf dem die Opfer ruhen, wird zwar
aufgeräumt, doch die früheren Verbrecher und ihre Nachkommen haben weiterhin das Sagen. Im Ort lebt man das Leben der
Sieger: Liebesbeziehungen und neue Freundschaften werden
geschlossen, sogar wichtige Gespräche finden statt, doch das
vermeintliche „Happy End“ ist nur Schein und die Abrechnung
mit der Vergangenheit eine Parodie. Die Verbrecher werden
nicht bestraft, das Geheimnis ihrer Taten bleibt unergründlich.
Das Gewissen Mancher rührt sich; neben den innerlich versteinerten Schuldigen gibt es auch Menschen, die Bereitschaft
zeigen, die Vergangenheit zu konfrontieren. Doch über allem erhebt sich das Gestammel des Dorftrottels, der, angestochen von
Der Tischtennisspieler
Sie
Józef Hen
20
gingen rüber in die Wohnung. Ein großer
Tisch, Stühle. An der Wand eine stehengebliebene Standuhr. Viertel nach neun. Wann
ist sie zu dieser Uhrzeit verstummt? Und warum setzte sie
dieser einsame Mann nicht wieder in Bewegung? Mike zeigte
auf die Uhr und fragte:
„Von den Ehrlichs?“
„Nein. Von den Wolfowiczs. Ich ging zu ihnen, sagte,
dass sie gehen müssten, dass Kostek es angeordnet hätte, Sie
wissen welcher, Waldeks Vater. Da sagt er, der Wolfowicz,
zu mir: ‚Nimm das Stefan, nimm’s, mir ist es lieber, du
nimmst es.’“
„Warum war ihm das lieber?“
Der Obstbauer schlug die Arme auseinander:
„Ich weiß nicht. Vielleicht spürte er, dass ich keine Zufriedenheit finden kann. Ich weiß nicht“, wiederholte er. „Er
gab mir noch eine Armbanduhr: Nimm’s, warum soll es jemand anders bekommen?“
„Wo ist diese Uhr?“
„Ich habe sie meinem Sohn gegeben.“
„Zur Kommunion?“
„Hm...“, bejahte er.
„Wusste Ihr Sohn, wessen Uhr das ist?“
„Woher denn? Vielleicht hat er es später geahnt.“ Betrübt
fügte er hinzu: „Ich haben meinen Sohn seit längerer Zeit
nicht gesehen. Vielleicht hat er sie in den Fluss geworfen.“
„Wären Sie darüber verärgert?“
„Deswegen? Nein. Ich glaube nicht. Obwohl eine Sache ja
ihren Wert hat. Man sollte sie schätzen. Doch heute würde
mich das nicht wundern.“
„Und damals?“
„Ich habe die Uhr doch genommen.“
„Haben Sie Wolfowicz ‚danke’ gesagt?“
„Weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Vielleicht habe ich sie
so genommen, als ob sie mir zustehen würde. Für die schwere Arbeit. Weil das schwere Arbeit war. Wie das Ausheben
eines Grabens. Dieser Herr Wolfowicz – vielleicht wird Sie
das interessieren – hat etwas in seinen Bart gemurmelt als wir
das Haus verließen. Ich glaube auf Hebräisch. Da frage ich
ihn: Was Murmeln Sie da? Und er darauf: Das Buch Hiobs.“
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Der Obstbauer nickte in Gedanken, dann sagte er: „Ich habe
mich nach Jahren auch daran gemacht.“
„An das Buch Hiobs?“
„Ja, daran. Ich habe die Heilige Schrift, ich habe sie, obwohl es eine evangelische ist.“
„Und was haben Sie dort gelesen?“
„Dass es gut endet. Hiob gründete eine neue Familie, ist
wieder reich geworden.“
„Und Ihr Hiob starb in den Flammen – wollten Sie sagen?“
„Starb in den Flammen – genau das wollte ich sagen.“
„War es sinnlos sich mit Hiob zu vergleichen?“
Der Obstbauer antwortete nicht. Er nickte nur auf seine
Art. Mike begann zu vermuten, dass er sich so einen Tic angeeignet hat. Er fragte:
„Waren Sie bei der Scheune? Wie fühlten Sie sich dort?“
Man hörte das Ticken des Weckers. Der Obstbauer ging rüber zu der Standuhr. Während er auf das Zifferblatt starrte,
presste er heraus:
„Furchtbar.“
Heute denkt er so – oder schon damals?
„Dachten Sie: was mache ich da?“
„Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich habe ich an
nichts gedacht. Mein Kopf war leer. Ich kann mich erinnern,
dass ich Durst hatte.“
„Warum sagen Sie dann: ‚furchtbar’?“
„Weil es das auch war. Etwas Furchtbares.“
„Herr Stefan“, sagte eine Journalistin, „erzählen Sie über
Mirka. Hören Sie zu, Herr Richter.“
Der Hausherr setzte sich an den Tisch, stützte den Kopf
mit den Händen.
„Mirka...“, begann er. „Sie war älter als Ihr Freund. Ungefähr neunzehn Jahre alt. Genau richtig zum Heiraten.
Wunderschönes Mädchen. Sie war nicht zu Hause, als sie
die Ehrlichs holten, sie versteckte sich in der Umgebung.
Damals haben Sie Ihren Freund raus gebracht.“
„Es hat nicht geklappt“, erinnerte ihn Mike.
„Es hat nicht geklappt. Waldek hat euch gejagt, ich weiß.
Ich laufe nach Hause übers Feld, müde, kann mich kaum
noch aufrecht halten, als mir Mirka entgegenläuft. Die Haa-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Der Tischtennisspieler
21
Józef Hen
re zerzaust, mit Ähren drin, die Augen wie bei einer Irren. nicht abgelehnt.“ Er hob den Kopf. „Und was denkt der
Ich schreie: Mädchen, wohin willst du? Versteck dich! Und Herr Richter darüber?“
sie darauf: Ich will zu Mama, zu Siggi! Mit ihnen ist es vorbei,
Richter Murphy nahm einen hochoffiziellen Ton an.
sage ich, du kannst dich retten, geh’ dahin zurück von wo du
„So eine Sache hatte ich noch nicht.“
gekommen bist! Da fällt sie auf die Knie. Lieber Herr Stefan,
Zum Abschied fragte Mike:
erschießen Sie mich, ich flehe Sie an, ich will zu Mama! Ich
„Sie wissen was das für eine Feier morgen ist?“
darauf: Was redest du da, hast du den Verstand verloren? Du
Der Obstbauer nickte.
kannst leben! Es wäre schade um so ein prima Mädchen!“
„Ich weiß.“
„Das haben Sie anders gesagt“, stellte Mike ohne Zögern
Und das war alles.
fest.
„Nun ja, ich sagte es anders, ich war ein Primitivling, unAus dem Polnischen von Joanna Manc
gehobelt. Manchmal dachte ich, dass wenn ich es vorsichtiger, klüger gesagt hätte... Und sie: Stefan, ich flehe dich an,
tue es für mich, ich will zu Mama. Ich werde doch sowieso
sterben, es ist meine letzte Bitte, das zählt doch. Du hast eine
Pistole, schieß.“
„Hat sie geweint?“
„Ich glaube nicht. Ich nahm die Pistole hinterm Gürtel
W.A.B.
Warsaw 2008
hervor und schoss ihr direkt ins Herz. Damit sie sich nicht
123 × 195 • 224 pages
quälte. Ich zog sie vom Pfad runter und legte sie ins Roghardcover
genfeld. Ihre Beine waren bis dahin entblößt, da habe ich
ISBN: 978-83-7414-426-1
ihr den Rock bis über die Knie gezogen. Nachts bin ich mit
Translation rights: W.A.B.
einem Pferdefuhrwerk gekommen und schmiss sie auf den
Wagen, die Stute schnaubte – wissen Sie, wenn es kein gewöhnliches Pferd ist, dann mag es so eine Ladung nicht. Ich
brachte sie zum jüdischen Friedhof, grub ein Grab und bestattete sie. Alles heimlich.“
„Warum heimlich?“
„Die hätten mich dafür nicht gerade gelobt.“
„Haben Sie das dem Priester gebeichtet?“
„Nein.“
„Meinten Sie nicht, dass der Mord eine Sünde war?“
„Das war eine Sünde. Ich musste sie nicht töten.“ Nach
einer Weile fügte er hinzu: „Die anderen hätten sie getötet.
Und sie wollte, dass ich sie töte. Ich konnte nicht ablehnen.
Sagen Sie mir: konnte ich?“
„Sie konnten sie retten“, sagte Ania wütend.
„Sie wollte zur Mutter.“ Während er sprach starrte er auf
den Tisch. „Ich habe das häufig vor Augen; sie fleht auf Knien: Stefan, meine letzte Bitte. Und ich schieße. Ich habe
Da ist keine Jüdin
Marian Pankowski
22
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Patrycja Musiał
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ne Zeit, um über Auschwitz zu thronen.“ Fajgas Geschichte ist
eine unablässige Reihe von Demütigungen und Beweis für die
Fremdheit zwischen dem polnischen und dem jüdischen Besatzungsschicksal, aber die Bilder von ihrem Aufenthalt in Amerika
zeigen auch ihre Fremdheit in der dortigen jüdischen Community, die unfähig war, Fajgas Kriegserlebnisse zu verstehen.
Marian Pankowski
(geb. 1919) Dichter,
Erzähler, Dramatiker, Literaturkritiker, Literaturhistoriker, Übersetzer, emeritierter Professor der
Université Libre in Brüssel.
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Da ist keine Jüdin
Marek Zaleski
23
Marian Pankowski
Marian Pankowski (1919), der seit 1945 in Brüssel lebende Erzähler, Dichter und Dramatiker, schreibt eine „umstürzlerische”
Prosa, seine Spezialität sind kontroverse Themen, verschwiegene und tabuisierte Fragestellungen. Sein bekanntester und
in viele Sprachen übersetzter Roman Rudolf (1980) erzählt die
Geschichte der Freundschaft eines Polen, eines in die Jahre kommenden Universitätsprofessors, politischen Emigranten und einstigen Insassen deutscher Konzentrationslager, und eines etwas
älteren Deutschen, der an der Weichsel aufwuchs, eines einstigen Wehrmachtssoldaten, Frontdeserteurs und Homosexuellen. Pankowskis sprachlich innovative und moralisch freizügige
Prosa wurde in den vergangenen Jahren zur Kultlektüre junger
polnischer Schriftsteller und Leser. Die polnische Schwulenbewegung und die junge polnische Linke sehen in Pankowski ihren
Guru. Seine älteren Bücher werden zur Zeit gerne neuaufgelegt,
die Neuauflagen mit Preisen ausgezeichnet (Die KZ-Erinnerungen Von
Auschwitz nach Belsen waren 1999
auf der Shortlist der für den Nike-Literaturpreis nominierten Bücher; für
seine Prosa Der letzte Kongress der
Engel erhielt er 2008 den renommierten Literaturpreis der Stadt
Gdynia).
Das winzige Büchlein Da ist keine Jüdin widmete er seiner Frau,
Regina Fern-Pankowska. Die Geschichte der Romanheldin
Fajga Oberlender, die auf der Fahrt ins Vernichtungslager aus
dem Deportationszug sprang, erzählt eine Variante ihres Besatzungsschicksals. Diese Prosa entzündet sprachliche Feuerwerke, changiert zwischen den Gattungen: Manchmal gemahnt sie
an Spielszenen mit Prolog und Epilog; Threnos und Klagelied
gehen über in Erinnerungsbilder und Phantasmagorien, die Erzählhandlung unterbrechen Exkurse des Verfassers. Der Autor
greift (wie häufiger in der jüngsten Vergangenheit) das Thema
Krieg, Besatzung und Judenvernichtung auf und tut das mit der
ihm eigenen schriftstellerischen Nonchalance: „Der liebe Gott
war damals in Castel Gandolfo und legte Patiencen. Er hatte kei-
Da ist keine Jüdin
Es
Marian Pankowski
24
war Ende März. Tauwetter. Die Dachrinnen
schepperten, dass es eine wahre Freude war. Die
Amseln hielten eine Versammlung ab. Die Kinder
– ich hörte sie durch die undichten Fugen meines Schuppens
– spielten zum ersten Mal Verstecken... Als könnte ich an
ihrer Sorgloskeit teilhaben, stand ich von meiner Pritsche auf
– sie legt die Stirn peinlich berührt in Falten – und begann
einfach so herumzuwirbeln, fast schon zu tanzen... Und ich
erinnerte mich daran, wie Mutter gesungen hatte... Summend wirbelte ich im Kreise tanzend – ergriffen beginnt sie
ein Wiegenlied zu singen, „Wigele”; als sie zur Besinnung
kommt, schweigt sie.
„Und die Kinder?”, erinnert sie Sara Krynitzerowa.
„Ich hatte sie schreien gehört, und als ihre Schreie verstummt waren, dachte ich, sie hätten sich getrennt, wären
nach Hause gegangen... und dabei beobachteten sie mich!
Durch die Astlöcher. Sie liefen zu Mareks Mama.”
„Mama”, ruft Marek schon auf der Türschwelle. „Die Jüdin, die weggelaufen ist, die ist gar nicht weggelaufen! Sie hat
sich in der Scheune versteckt!”
„Sie singt da vor sich hin”, das war Jarek.
„Und tanzt.”
„Und streichelt ihr Baby, wiegt sich und tanzt...”. Das waren die Stimmen von Ania und Mania. „Man hört es wieder,
zumindest das, ein Wiegenlied.”
„Kinder! Was habt ihr nur für Flausen im Kopf!”, empört
sie sich. „Das habt ihr mir schön erfunden, ihr seid vielleicht
Lügenmäuler! Weg mit euch, ich will euch nicht mehr sehen!”
Die Kinder verließen das Haus. Sie biegen links ab, zum
Bach runter. Und niemand wusste, auf welche Idee sie kommen würden. Weder Baśka noch ihre Mutter; nur der Autor
hörte Jarek-zeig-die-Uhr den Kopf schütteln und:
„Marek... deine Mutter, was denkt die sich, dass wir „Lügenmäuler” sind! Und dass da keine Jüdin gewesn wär??? Ich
habe sie gesehen, und du, Mania?”
„Ich habe sie auch gesehen.”
„Ich auch”, fügt Ania mit verschreckter Stimme hinzu.
Marek hält inne.
„Ich habe sie auch gesehen. Morgen zeigen wir sie Mama
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und Oma!” Und er wendet sich so leise flüsternd an die drei
Indianer, dass es nicht einmal der Autor hören kann.
Wie jeden Samstag machte Baśka, will heißen Mareks
Mutter, die Wäsche, Oma ging in der Zeit einkaufen. Sie
nahm die Tasche, aber sie sah nochmal nach, ob sie Geld
dabei hatte. Und da kam Marek an:
„Oma... ich kann doch auch das Brot und die Brötchen
holen gehen.”
„Gut, mein Kind”. Die Oma war positiv überrascht. „Du
weißt, was für eins, ein halbes... na und sechs Brötchen...
Warte, hier hast du Geld.” Sie gab ihm Papier-Złotys.
Marek zog los, stolz wie der Frontsoldat beim Angriff aus
der Geschichte Herrn Bałbeckis, dessen hehrer Mut sicher
zum Sieg bei dem Angriff beigetragen hatte, den er aus der
Zeit der österreichischen Balkan-Offensive geschildert hatte... Er ging kerzengerade. Erst kurz danach schlossen sich
ihm die drei Verschwörer an.
Gemeinsam betraten sie die Bäckerei. Frau Podpłomykowa,
die gerade mit dem Halbieren eines Brotlaibs für zwei Kundinnen beschäftigt war, lächelte die kleine Schar an. Sie waren an der Reihe.
„Und für euch, Kinder?”
„Bitte ein halbes Großes und sechs Brötchen... und noch...
eine kleine Challa”, und er legte die in der Hand zerknüllte
Banknote auf die Lade.
Schon auf dem Weg ins Freie drehten sich die Frauen um
und die eine schüttelte den Kopf Richtung Bäckerin, die
ebenfalls der letzte Kaufwunsch der Kinder in Erstaunen
setzte.
„Ist die für euch, die Challa?”
Schweigen, sie schauten sich an. Marek war ein heller
Kopf:
„Wir wollen Juden spielen, liebe Frau.”
Die pausbäckige Frau Podpłomykowa brach in lautes Gelächter aus, ein Gelächter, das sich sofort in den Falten um
den Mund verlor, um das fertige Wort herum, das sie im
letzten Augenblick noch zensierte.
Kehren wir zurück ins Haus der Hazenlaufs in Azojville.
Fajga erzählt, als habe sie bereits den Tumult trübseliger Assoziationen im Griff, ruhig, als läse sie kranken Kindern das
habt euch ein Märchen über eine Jüdin ausgedacht, einverstanden. Sie ist erschienen, tanzte und verschwand. Ein
Wahn ist der Traum, auf Gott wolln wir traun! Schluss mit
dem törichten Spiel... Vergesst nicht, dass man den Katechismus wiederholen muss, denn bald ist Ostern... Ihr werdet im
Kinderchor singen „Er hängt am Kreuze.” Und jetzt... könnt
ihr weiter spielen gehen.”
Wydawnictwo
Krytyki Politycznej
Warsaw 2008
125 × 195 • 70 pages
paperback
ISBN: 978-83-61006-39-8
Translation rights:
Marian Pankowski
and Wydawnictwo
Krytyki Politycznej
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Da ist keine Jüdin
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
25
Marian Pankowski
Märchen Die Zwerge und das Waisenkind Marysia vor.
„Mich weckte das Herumgerenne und Schreien der Gören. Ich stehe auf, gehe zu meiner „geheimen” Tür... schiebe
die Diele zur Seite... und dort... auf dem festgestampften
Schnee, drei Schritte vor der Scheune, liegt eine braungebackene Challa! Lieber Gott, da hat die liebe Baśka an solch
eine Freude für mich gedacht! Ein Geschenk, dass man vor
Dankbarkeit weinen möchte! Ich springe vor und schnapp!
Halte die Challa in Händen. Ich habe noch keinen Schritt
zurück in mein Versteck gemacht, da stecken die Kinder ihre
Köpfe hinter der Scheune vor und:
„Jü-din!
Jü-din!
Schwarze Eule voller Dreck,
nachts eine Diebin, tags im Versteck!
Mit Petroleum vergiftet sie die Quellen,
und stinkt nach fauligen Zwiebelabfällen!”
Und gleich danach Baśkas Stimme, keine Stimme, sondern
ein furchtbarer Aufschrei, und zwar so einer, dass die Kinder,
die sich immer noch vorbeugten, wie verwunschen erstarrten.
„Kommt mir sofort ins Haus! Aber sofort!” Sie atmet so,
dass man jene Zeit, in der das geschah, hören kann. Sie blickt
die Mittafelnden an. „Als es dunkel wurde... als wäre nichts
geschehen... bekam ich eine Schüssel heißer Suppe und eine
Scheibe Schmalzbrot... Ich schlief nicht. In meinem Kopf
hämmerte der Reim der Kinder, die selig waren, weil sie das
hungrige Wild gestellt hatten, indem sie einen raffiniert ausgewählten Köder gelegt hatten.
Fajga schaut die Juden von Azojville an. Jetzt scheint ein
trauriges Lächeln über ihr Gesicht zu huschen:
„Die Fortsetzung soll der Autor selbst erzählen... Ich könnte es nicht.”
Als die Kinder in der Küche saßen, wartete Basia einen Augenblick, wie ein Richter, der schon allein mit seinem Blick
bei den Angeklagten das Bewusstsein ihrer Schuld weckt.
Doch jetzt ermutigte sie die Kinder mit einer Stimme voll
unvermuteter Süße zur Übernahme ihrer Version:
„Liebe Kinder... das war ein bisschen viel Kino... das Herumgerenne und Geschrei rings um die arme Scheune... Ihr
Die Fliegenfängerfabrik
Andrzej Bart
26
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Elżbieta Lempp
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tiert wurden, das Recht haben, ihre Meinung über ihren Ältesten
zu äußern. Dank dessen bietet der groteske Prozess die Gelegenheit, sich den Erinnerungen zu stellen und die Ambivalenz
der Moral zu Holocaustzeiten vorzuführen. Was für die einen
Mitarbeiter Rumkowskis Verrat bedeutete, erwies sich für die
anderen als ihre Rettung.
Die Fliegenfängerfabrik
Przemysław Czapliński
Andrzej Bart
(geb. 1951) Erzähler, Drehbuchautor, Dokumentarfilmer, gilt als einer der
interessantesten Verfasser postmoderner Prosa.
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27
Andrzej Bart
Im September 1939 ernannten die Deutschen Chaim Rumkowski zum „Ältesten der Juden” des Lodzer Ältestenrats. Rumkowski – ein jüdischer Unternehmer und ausgezeichneter Organisator – formte das arme und übervölkerte Lodzer Ghetto rasch in
eine perfekt, wenn auch inhuman aufgebaute Produktionsstätte
um. Der Judenälteste kämpfte um das Überleben der Mehrheit,
also entschied er sich immer für das „kleinere Übel”: Wenn die
Deutschen die Steigerung der Produktion forderten, steigerte er
sie, wenn sie die Herausgabe der Kranken zur Deportation forderten, gab er sie heraus, wenn sie die Bereitstellung der Kinder
bis zum zehnten Lebensjahr forderten, stellte er sie bereit. Er
war der Ansicht, allein die wirtschaftliche Nützlichkeit der Juden
könnte eine Trumpfkarte zum Handeln mit den Deutschen sein
– stärker als der deutsche Antisemitismus und die Judenvernichtungspläne.
Das Lodzer Getto existierte also noch, als alle anderen Judenviertel in Polen längst liquidiert waren. Aus ihm wurden etwa
zehntausend Juden gerettet – mehr
als aus jedem anderen Ghetto auf
polnischem Territorium. Rumkowski erreichte also viel, obwohl man
nicht vergessen darf, um welchen
Preis. Alle zwang er zu inhumaner
Arbeit, er verstand es nicht, seinem Hochmut und den Verlockungen des Reichtums zu widerstehen, unter Ausnutzung seiner
Position verweigerte er seinen Nächsten die Solidarität; sie verhungerten.
Andrzej Barts Roman ist ein intelligent konstruierter Bericht vom
Prozess gegen Chaim Rumkowski. Alle Prozessbeteiligten – der
Richter, der Vertreter der Anklage, der Verteidiger, die Schöffen
– sind Juden. Verurteilt wird Rumkowski zu „ewigem Erinnern,
so wie er gewesen ist”, ein aufgeblasener Fatzke, den seine Eitelkeit an seine Einzigartigkeit und seine Judenrettungsmission
glauben ließ.
Natürlich hat der Prozess nie stattgefunden. Aber Bart kam zur
Ansicht, dass alle, die mit Rumkowski in Berührung kamen, die
im Ghetto von Litzmannstadt lebten und nach Treblinka depor-
Die Fliegenfängerfabrik
Regina
Andrzej Bart
28
sah auf dem Bildschirm Fotos
„Und was soll aus diesem schauspielerischen Auftritt resuldes sprechenden Chaims. Sie tieren? Ich glaube nicht, dass die Geschworenen dem Herrn
war damals bei ihm gewesen Ältesten nach diesen väterlichen Ermahnungen böse Absichund wusste, dass er nicht so fürchterlich ausgesehen hatte ten unterstellen werden. Natürlich werden Komplexe deutwie auf den Fotografien.
lich, sogar eine gewisse Lust daran, sich gegenüber diesen
„...Die Neuankömmlinge würden uns gerne zu ihren Menschen aufzuspielen. Aber hatte der Herr Älteste nicht
Sklaven machen, aber wir haben hier schon genug eigene Recht damit, dass die Einsiedlung von Juden aus ganz EuroVorkriegsintelligenzler.” Wilski schrie fast schon. „Dieser pa seiner Überlebensvision schaden könnte?”
‘Artikel’ hat im Ghetto seinen Wert verloren. Hier muss man
„Als die Deutschen ein paar Monate später, Anfang 1942,”
sich an eine Arbeit machen, die der Allgemeinheit nützt, an der Ankläger zögerte nicht mit der Antwort, „mit der Deein Handwerk und einfache körperliche Arbeiten. Ich verste- portation ins Gas begannen, wählte Rumkowski als erste
he natürlich, dass ihr behagliche Nachmittagsspazierfahrten Verbrecher und Sozialhilfeempfänger aus, aber dann rund
in der Droschke diesen Aussichten vorziehen würdet. Ver- zehntausend Neuankömmlinge, unter ihnen auch Profesgesst nie, dass ich dergleichen nicht dulden werde!”
soren, große Namen in der Wissenschaftswelt, ihre Frauen
Widerwillig musste sie eingestehen, dass er schauspieleri- und Kinder, also Menschen, die vielleicht keine Schuhe oder
sches Talent besaß, denn er sprach so suggestiv, dass mehrere Mützen anfertigen konnten, die ihren Lodzer Brüdern aber
Personen sich hintereinander zu verstecken versuchten.
ein Beispiel hätten geben können.”
„Hohes Gericht, bitte schützen sie die Öffentlichkeit. Der
„Darauf kommen wir noch”, sagte der Richter.
Ankläger erschreckt sie, und sie haben in ihrem Leben schon
„Verzeihung Herr Richter, aber ich muss jetzt antworten.
genug Angst gehabt.” Bernstein erhob sich von seinem Stuhl. Der Herr Ankläger beliebt zu scherzen. Er hätte es lieber ge„Die Anklage zitiert einzig und allein Ihren Klienten. Fah- habt, dass die Schwerarbeiter aus Lodz weggeschickt worden
ren Sie bitte fort...”
wären, dank derer das Ghetto noch bestand, und er hätte die
„Danke, hohes Gericht.” Wilski las in noch bedrohliche- gelehrten Neuankömmlinge geschont. Ich frage jetzt diejenirem Tone weiter: „Hier im Ghetto muss man sich die höfi- gen von ihnen, denen das Schicksal höhere Bildung verwehrt
sche Geheimräterei ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen. hat, ob sie ihrer Ansicht nach als erste ins Gas hätten gehen
Schwestern und Brüder, ich muss euch eine Schuld gestehen. sollen.”
Es zeigt sich, dass ich ein unverbesserlicher Träumer gewesen
„Genug. Bitte veranstalten Sie mir hier keine Abstimbin. Ich hätte mich nicht gegen Zigeuner im Ghetto wehren mung.” Der Richter rezitierte nachdrücklich: „Ich bitte jetzt
sollen, es wäre besser gewesen, sogar zwanzigtausend von ih- Doktor Ulrich Schulz aus Prag in den Zeugenstand.”
nen hier unterzubringen als die zugereisten Juden. Kommt
Ans Pult drängte sich ein älterer eleganter Herr mit einem
zur Besinnung! Aus der Notlage hilft nicht einmal der Titel Binokel, der drei Reihen hinter Regina gesessen hatte. Von
eines Geheimrats. In den heutigen Zeiten spielen Titel nicht ihm hatte sie noch nie gehört, sie war also neugierig, was er
mehr die geringste Rolle. Viele von euch haben ein negati- sagen würde. Der Richter wohl auch, denn er deutete auf
ves Verhältnis zur Arbeit. Ihr sagt euch: Wozu soll ich arbei- den Bettlakenbildschirm, auf dem ein Plakat erschien, das
ten, wenn ich auch vom Verkauf mitgebrachter Dinge oder auf Deutsch und Hebräisch die Erschießung von Dr. Ulrich
Geldreserven leben kann. Aber ich werde euch das Arbeiten Schulz aus Prag wegen Widerstandes gegen die Polizeigewalt
und ein anständiges Verhalten lehren, vor allem werde ich bekanntgab.
euch eure Unverschämtheit austreiben!”
„Melden diese Bekanntmachungen Ihre Erschießung?”
Im Saal wurde es still, jedoch nicht lange, weil der Vertei„Ich möchte bezweifeln, dass es im Ghetto einen anderen
diger aufsprang und ausrief:
Ulrich Schulz aus Prag gab.”
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Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
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Die Fliegenfängerfabrik
W.A.B.
Warsaw 2008
123 × 195 • 248 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-513-8
Translation rights: W.A.B.
29
Andrzej Bart
„Bitte erzählen Sie, wie es dazu kam.”
„Ganz einfach, ich wollte mich nicht aus dem Ghetto deportieren lassen.”
„Weshalb? Schließlich wurde den Menschen nicht gesagt,
dass sie in den Tod fuhren.”
„Ich hatte einfach nachgedacht: Wenn wir als Unproduktive gemeinsam mit den Verbrechern herausgeworfen wurden,
dann stand eine Verschlimmerung unserer Situation zu erwarten. Und eine schlimmere Situation konnte meiner Ansicht nach nur der Tod sein. Daher meldete ich mich nicht
beim Sammelpunkt. Die deutsche Polizei fand mich und
zerrte mich raus. Um dem so schnell wie möglich ein Ende zu
machen, ohrfeigte ich den Ranghöchsten. Also schoss er...”
„Wie wir alle sehen, trägt die Bekanntmachung über den
Vorfall die Unterschrift des Ältesten Rumkowski.” Der Verteidiger stand auf und gab vor, die Unterschrift in Augenschein zu nehmen. „War der Herr Älteste bei dem Ereignis
anwesend?”
„Ach woher, es gehörte ganz einfach zu seinen Pflichten,
alle deutschen Bekanntmachungen zu unterzeichnen.”
„Also machen Sie ihn nicht für Ihren Tod verantwortlich?”
„Nicht im geringsten.”
„Keine weiteren Fragen.”
„Ich danke Ihnen und bitte entschuldigen Sie, dass wir Sie
für nur so kurz hierher bemüht haben”, sagte der Verteidiger
in wessen Namen auch immer.
„Ich folge jeder Aufforderung gerne.” Schulz verneigte sich
und ging zur Tür, anstatt an seinen Platz zurückzukehren.
Wilski fiel plötzlich etwas wieder ein, denn er schlug sich
an die Stirn und schrie: „Nur noch eine Frage! Sie waren
nicht ganz drei Monate im Ghetto. Ich weiß, das ist wenig
Zeit, um sich eine Meinung zu bilden, aber das war eine
besondere Situation. Könnten Sie trotz einer so kurzen Zeit
den Herrn Ältesten auf irgendeine Weise charakterisieren?”
Schulz sann über die Antwort recht lange nach, aber am
Ende beließ er es bei einem einzigen Wort, danach verneigte
er sich nochmals und ging hinaus.
Schläfrigkeit
Wojciech Kuczok
30
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Elżbieta Lempp
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Ruhmes, den sie durch ihre Krankheit (Narkolepsie) fast ruiniert,
Robert dagegen erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu
leben hat. Der Erste von ihnen kämpft um das große Glück,
der Zweiten gelingt es, ihre Depression zu bewältigen und auf
die Bühne zurückzukehren, und dem Dritten ist alles einerlei,
nichtsdestoweniger überwindet er sich dazu, mit dem Spiel des
Scheins Schluss zu machen.
Wojciech Kuczok
(geb. 1972) Erzähler,
Dichter, Filmkritiker und Drehbuchautor, NIKEPreis für seinen Roman Dreckskerl. In zehn Sprachen
übersetzt
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Schläfrigkeit
Marta Mizuro
31
Wojciech Kuczok
Die titelgebende „Schläfrigkeit“ bringt uns dem Zustand näher,
in dem sich die drei Hauptfiguren des Romans befinden. Ihrer
Müdigkeit, die ihnen trotz aller Unterschiede gemein ist, kann
man ganz unterschiedliche Namen geben: Gleichgültigkeit, Lethargie, Trauma, Abwarten, Depression, Krise usw. – je nach
Einzelfall.
Alle von Kuczok beschriebenen Seelenkrankheiten haben jedoch die gleiche Ursache: Adam, Róża und Robert leiden, weil
sie Rollen spielen müssen, die nicht ihrem eigenen Ehrgeiz entsprechen, sondern den Ehrgeiz anderer erkennen lassen. Obwohl sie als einzige im Roman Namen haben, sind sie nichts
weiter als menschliches Dekor: Ihre Aufgabe ist es, ihren Familien Glanz zu verleihen. Dieser Zwang bringt sie an den Rand
der Verzweiflung, und genau in diesem Moment – im Moment der Krise
– lernen wir sie kennen. Um dann zu
beobachten, wie sie ihre Lethargie
überwinden. Das ist aus zweierlei
Gründen interessant. Erstens, die
Helden, ein Arzt, eine Schauspielerin und ein Schriftsteller, sind
Erfolgsmenschen, die also unabhängig sein könnten. Zweitens
deutet aber nur wenig darauf hin, dass sie es schaffen werden,
sich loszureißen von den Lebensmodellen, die ihnen aufgezwungen wurden. Dass sie sich zu einer spektakulären Geste
aufraffen und mit der Vergangenheit, Gegenwart sowie Zukunft
brechen. Auch Letztere gibt zu keinen Hoffnungen Anlass. Denn
während sie warten, dass etwas passiert, verlieren sie das, was
sie ausmacht: die Künstler ihr Talent, der Arzt das Gefühl, einen
Auftrag zu haben.
Wie man sich leicht denken kann, kommt es aber keinesfalls
zu einer völligen Selbstverleugnung. Inwieweit jedoch die Pro­
tagonisten ihr Leben umkrempeln, hängt davon ab, in welcher
Lebensphase sie sich befinden. Adam beginnt gerade erst, eine
eigenständige Existenz zu führen, Róża steht auf der Höhe ihres
Schläfrigkeit
Róża,
Wojciech Kuczok
32
das schönste Gesicht der Stadt, vielleicht überhaupt das schönste Gesicht des Landes, das Gesicht der
größten Kosmetikkonzerne, war nie gut im Rechnen gewesen, sie überließ ihr Leben dem Zufall und fühlte sich, dank
ihres bedingungslosen und unerschütterlichen Glaubens,
dass der Mensch von Natur aus gut ist, vielleicht nur nicht
immer uneigennützig, sicher dabei.
Als reizende und talentierte Lebenskünstlerin erreichte sie
alle ihre Ziele gleichsam im Vorbeigehen, ungewollt, ohne
besondere Mühe, und das hatte gerade den größten Charme, jene Nichtnotwendigkeit; Róża musste nicht notwendig
Schauspielerin werden, sie fühlte sich einfach wohl im Theater, besonders im klassischen Repertoire, sie fand in diesem
Zufluchtsort des hohen Stils ein Gegengift gegen die plebejische Mittelmäßigkeit der Großstädter, gegen deren arme
und vulgäre Sprache, eine Sprache, die man reduziert hatte
auf die in der Firma und im Bett nützlichen Begriffe, das
Theater war ein gutes Versteck vor den Scharen von geistig
vernachlässigten Menschen sowie ein edles Heilmittel gegen
ihre weiterhin ungebändigte Einsamkeit. Sie hatte sich auch
nicht um eine Filmkarriere bemüht, und schon gar nicht
um eine Karriere im Fernsehen, Kino und Fernsehen hatten
sich um sie bemüht, sie ließ sich aus purer Neugier auf diese
Abenteuer ein, wobei sie die Rollen sorgfältig auswählte, so,
dass sie sich nicht am Terror der allgemeinen Gewöhnlichkeit beteiligte, das Kino machte ihr weniger Vergnügen als
das Theater, verschaffte ihr aber ein höheres Einkommen,
Róża hatte als geborene Improvisatorin nie Ersparnisse, aus
Sorge um ihre finanzielle Unabhängigkeit beendete sie das
Abenteuer Film und begann mit dem Abenteuer Fernsehen,
das ihr erlaubte schneller mehr Geld zu verdienen, zuletzt,
von einem großen Kosmetikkonzern eingeladen, das Gesicht
seiner Kampagne zu werden, kam sie jedoch zu dem Schluss,
dass erst das Abenteuer Werbung ihr erlaube, Ersparnisse zu
haben, trotz ihrer völligen Unfähigkeit zu sparen, sie wurde also zu einem Gesicht großen Formats und kehrte zum
Theater zurück. Die Abenteuer Fernsehen und Werbung
hatten zur Folge, dass ihre ungebändigte Einsamkeit ihr
stärker zuzusetzen begann als je zuvor, die engsten freund-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
schaftlichen Bindungen lockerten sich und konnten sich
jeden Augenblick ganz lösen, plötzlich bemerkte sie, dass
selbst den altbewährten Bekannten und Freundinnen von
früher die Unterhaltung mit ihr Schwierigkeiten zu bereiten
begann, es schien, als ob sie plötzlich die Fähigkeit verloren
hatten, ein uneigennütziges Gespräch zu führen, deshalb beschloss Róża zum Theater zurückzukehren, zur Bühnengemeinschaft, sich zu verstecken in den Rollen der klassischen
Heroinnen, die in Versen sprechen; zu lange hatte sie in den
Kreisen der Fernseh- und Werbeleute verkehrt, sie sehnte
sich nach der Sprache der alten Meister, die Fernseh- und
Werbeleute bedienten sich einer derart reduzierten, niedrigen und hässlichen Sprache, dass Róża nach ihrer Rückkehr
zum Theater längere Zeit nur alte Stücke zitierte, wenn sie
sprach, auch außerhalb der Bühne, um schnellstmöglich aus
der Erinnerung die Sprache der reduzierten, niedrigen und
hässlichen Menschen zu tilgen, sprach sie ausschließlich in
Zitaten, die zum Theaterkanon zählten; die alten Freunde
und Freundinnen unterhielten sich lieber untereinander
über ihre Schrulligkeit, Exaltiertheit und Starallüren, als dass
sie sich mit ihr unterhielten. Ungefähr zu dieser Zeit begann
sie öfter einzuschlafen als gewöhnlich. Der Arzt erkannte auf
Übermüdung: das ist die Lieblingsdiagnose von Patienten
und Ärzten, man verordnet dann Erholung, eins der wenigen
Medikamente, die wirklich schmecken, solange man es nicht
überdosiert; Róża begriff, dass sie das Reich des Bühnenflüsterns verlassen, sich um ihre sogenannte innere Harmonie
kümmern sollte, die alten eigennützigen Freundinnen suggerierten, sie sollte endlich jemand Festes finden, die eigennützigen Freunde rieten ihr das Gleiche, nur persönlicher.
Róża hatte Pech, dass ausgerechnet damals Herr Mann ihre
Bekanntschaft machte, die er mit einem Heiratsantrag begann, Herr Mann wagte es einfach als Erster ihrer Tausenden
Verehrer sich vorzustellen und um ihre Hand anzuhalten,
das war zumindest angenehm, zumindest interessant, von
dem Verlangen erfüllt, ein neues Abenteuer zu erleben, ließ
sie ihn zu Wort kommen; sie hatte Pech, denn Herr Mann
konnte überzeugend sein. Während sie seinen Argumenten
zuhörte, roch sie an dem Blumenstrauß, den er ihr mitgebracht hatte, und konnte das Lachen nicht unterdrücken,
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
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Schläfrigkeit
W.A.B.
Warsaw 2008
123 × 195 • 256 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-486-5
Translation rights: W.A.B.
33
Wojciech Kuczok
was ihn keineswegs in Verlegenheit brachte, Herr Mann
kannte sich mit menschlichen Reaktionen aus, unkontrolliertes Lachen nahm er für bare Münze. Herr Mann hatte
Glück, dem er zusätzlich nachhalf, indem er Überredungstechniken anwandte, die er perfekt beherrschte, und als er
damit fertig war, hatte sie, obwohl es spät geworden war,
keineswegs Lust, nach Hause zu gehen, sie begriff, dass die
Logik gebot, den Heiratsantrag anzunehmen, doch der Verstand riet ihr, dies nicht sofort zu tun. Nach der Heirat, ach,
nach der Heirat zogen sie in die Berge, dorthin, wo es gesunder, frischer, waldiger, vögeliger, wiesiger und bächiger war.
Unterbrechen wir diese Lovestory, Róża sollte nicht so lange auf dem Fußboden liegen, erlauben wir ihr aufzuwachen,
sie schläft entschieden zu oft ein, die Ehe bekommt ihr ganz
offensichtlich nicht. Herr Mann schenkt dem Bellen des
Hundes erst Beachtung, als dieser herbeigelaufen kommt,
Herr Mann streichelt ihn, ohne von den Rechnungen aufzuschauen, die er gerade prüft, er ruft Róża, keine Antwort,
er ruft noch einmal, schließlich geht er nachsehen, ob nicht
etwas passiert ist, er sieht sie bewusstlos, sie muss plötzlich
eingeschlafen und hingefallen sein, aber warum, hat sie sich
vielleicht über etwas aufgeregt, hat sie etwas erschreckt, er
bemerkt in ihrer Hand ein Fußkettchen, aha, nun ja, eine
Unachtsamkeit, irgendjemand will ihm wieder das Leben
schwer machen; vorsichtig biegt er Różas Finger auseinander, nimmt ihr das Kettchen aus der Hand und steckt es ein,
erst jetzt klopft er ihr leicht die Wangen, versucht sie aufzuwecken, daraus wird aber nichts, sie schläft, er legt ihr also
ein Kopfkissen unter den Kopf und sagt zu dem winselnden
Hund:
„Pass auf Frauchen auf.“
Er geht, in Gedanken kehrt er zu seinen Zahlen zurück, er
wird noch einmal die letzten Operationen genau bilanzieren
müssen, etwas stimmt da nicht.
„Bist du da?“
Oh nein, kehrt marsch, sie ist doch aufgewacht, sie erhebt
sich zerknautscht vom Boden.
„Ich habe wieder geschlafen ...“
Palais Ostrogski
Tomasz Piątek
34
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Grzegorz Święcicki
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Palais Ostrogski
Palais Ostrogski ist kein klassischer Roman, was eine Ausnahme
in Piąteks bisherigen Schaffen ist. Piątek hat hier diverse Texte
unterschiedlicher Stilrichtungen und Gattungen zu einem Band
zusammengeheftet. Drei Ebenen überschneiden sich hier: die
Erinnerungsebene, die essayistische und die literarisch-phantastische Ebene. In den Vordergrund gerückt werden dabei
Themen, die einen biografischen Bezug haben, insbesondere
Piąteks Überlegungen zur Heroinsucht. Diese Notizen fügen
sich zu einer Art „Tagebuch eines Drogensüchtigen” zusammen.
Der autobiografische Held fällt immer wieder in die Sucht zurück und macht sich keine Illusionen, dass er sie irgendwann
endgültig besiegt. Tomasz Piątek (so heißt auch der Held und Erzähler in Palais Ostrogski) entwirft seine eigene Philosophie der
Sucht, die zu der These neigt, dass die Drogensucht gleichsam
Bestandteil seiner Persönlichkeit ist,
deren geistiges Erbe, dem man sich
nicht entziehen kann. Die diskursive Ebene des Buches setzt sich aus
Miniessays (Geschichte, Kunst, Theologie, Theorie und Praxis
der Werbung) zusammen, die nur so von Exkursen strotzen. Auf
der literarischen Ebene haben wir es schließlich mit kleinen Erzählungen oder vielmehr Phantasien zu tun, deren gemeinsamer
Nenner die Geheimnisse des titelgebenden Warschauer Palais
sind. Während Piątek sich zu vielen verschiedenen Themen äußert (vom Dekalog bis Beethoven), Anekdoten und Fantasien
zum Besten gibt, spricht er die ganze Zeit von sich, beziehungsweise kreist um Probleme, die ihm besonders nahe sind. Ihn
interessiert der Konflikt zwischen Materie und Gefühlen, zwischen Chaos und Ordnung, und vor allem die Suche nach einem
anderen, alternativen Leben.
(geb. 1974) Schriftsteller,
Journalist, Feuilletonist, Autor zahlreicher Romane
Dariusz Nowacki
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35
Tomasz Piątek
Tomasz Piątek
Palais Ostrogski
Auf
Tomasz Piątek
36
der einen Seite sagen euch alle, dass der
Mensch eine Vielzahl verschiedener Rechte
hat. Die Herren von der UNO und vom
Weltverband der Psychologen werden euch sagen, dass der
Mensch ein Recht auf Leben, Essen, Trinken, Kleidung,
Arbeit, Lohn, Wohnung, Freiheit, Liebe, ärztliche Versorgung und Sicherheit hat. Aber auf der anderen Seite gibt
es welche, die euch sagen, dass der Mensch in Wirklichkeit
keinerlei Rechte hat und ihm nichts zusteht, und wenn er
dennoch etwas erhält, dann nur aus Gnade. Das sagen der
Protestant Martin Luther und der katholische Aristokrat
Joseph de Maistre. Und das sagt der Kommunist und Homosexuelle Pier Paolo Pasolini, den de Maistre für etwas
außerordentlich Degeneriertes gehalten hätte (vielleicht sogar für etwas noch Degenerierteres als das von einer Kuh
geborene Fleischgeschwulst in Gestalt Luthers, das einige,
über die Reformation entsetzte französische Katholiken im
sechzehnten Jahrhundert beschwören), nämlich für die Ausgeburt eines Ungeheuers. Genau genommen sagt Pasolini:
Menschen, die um ihre Rechte kämpfen, haben Charme.
Mehr Charme haben Menschen, die für die Rechte anderer
kämpfen. Aber am meisten Charme haben Menschen, die
nicht wissen, dass sie überhaupt irgendwelche Rechte haben.
Sich seiner Rechte bewusst ist der Städter. Der Revolutionär,
der dem Volk seine Rechte bewusst macht, hat es folglich
mit einem tragischen Paradox zu tun – statt autonome Individuen, die sich freiwillig zusammenschließen, um nach
eigenem Gutdünken Gedichte oder Schuhe zu produzieren,
erschafft er eine Horde von Kleinbügern, die genauso egoistisch und besitzergreifend wie das Großbürgertum, aber
aufgrund ihrer Oberflächlichkeit und ihres nicht ursprünglichen Charakters noch niederträchtiger sind. Wahrscheinlich
hat Pasolini Recht gehabt. Dort, wo die Kommunisten an
die Macht kamen, gaben sie den Menschen zwar nur ein paar
Rechte, diese waren aber, wie die Kommunisten selbst sagen
würden, von einem extrem breiten Zuschnitt. Das Recht auf
Faulheit, Trunkenheit sowie passiven Diebstahl. Damit das
den Menschen nicht zu Kopf stieg, erschossen die Kommunisten Tausende und ermordeten Millionen in den Gulags.
Aber das half nichts. Denn der Kommunismus hatte zur
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Folge, dass die Kleinbürger ihn zu Fall brachten und auf seinen Trümmern ein System errichteten, das (vom satirischen
Standpunkt aus) eine ideale, geradezu geniale Karikatur des
klassischen bürgerlichen Kapitalismus war: einen osteuropäischen Kapitalismus, einen Kapitalismus quasi für alle, nur
quadratischer, kantiger, unnatürlicher und gezwungener.
Aber das Problem, um auf unsere Hauptfrage zurückzukommen, ob Menschen auf irgendetwas ein Recht haben
oder nicht, scheint unlösbar zu sein. Auf der einen Seite sagen uns Autoritäten des Geisteslebens sowie unser eigenes
Mitgefühl (und auch unser Egoismus, machen wir uns da
nichts vor), dass die Menschen eine ganze Menge Rechte für
eine ganze Menge Dinge haben. Auf der anderen Seite sagen
kluge Menschen, Rechte wie de Maistre, Linke wie Pasolini,
und solche wie Nietzsche, die weder aus der rechten noch
der linken Ecke kommen, dass Menschen auf nichts ein
Recht haben – und unser Gewissen sagt das auch manchmal,
wenn wir uns selbst betrachten. Meins sagt das zumindest.
Habe ich das Recht, etwas Gutes für mich zu erhoffen? Ich
weiß, dass ich den Tod von mindestens einigen Menschen
verschuldet habe. Neulich hatte ich einen Traum: Ich erhalte
einen großen, grauen Umschlag mit der Aufschrift „Tomasz
Piątek”, in ihm mehr als dreißig Bilder von Beerdigungen.
Im Traum weiß ich: Das sind die Menschen, die nach der
Lektüre meines ersten Romans, Heroin, zu fixen begannen.
Und die Lösung des Problems? Ich spreche hier nicht von
den Personen, die ich vielleicht getötet habe, denn für dieses
Problem lässt sich keine Lösung mehr finden. Nein, nein,
damit werde ich mich nicht beschäftigen. Ich werde mich
jetzt mit einem abstrakten, hehren philosophischen Problem
beschäftigen, das da heißt: Hat der Mensch irgendwelche
Rechte auf irgendetwas? Man könnte großmütig und gerissen annehmen, dass ich auf nichts ein Recht habe, meine
Mitmenschen aber schon! Ich spreche ihnen diese Rechte zu,
ich spreche ihnen sämtliche Rechte zu, bravo. Das ist die
Einstellung eines wahren Altruisten. Aber diese großmütige
Annahme (nach dem Motto: Ich spreche meinen Mitmenschen sämtliche Rechte zu, mir aber keine) ist gerissen, denn
wenn ich diesen Grundsatz für richtig erkläre, dann schlage ich ihn auch allen meinen Mitmenschen vor. Also, liebe
Menschheit, verzichte auf sämtliche Rechte und spreche sie
MIR zu. Wie man sieht, lässt sich dieser theoretische philosophische Altruismus irgendwie nicht ganz mit der praktischen Lebenseinstellung eines Menschen vereinbaren, der
einen Roman über die Freuden des Fixens herausgegeben
hat, ohne darüber nachzudenken, ob er damit nicht jemandem schade – beziehungsweise diese Überlegungen in der
dunkelsten Höhle seiner Seele begrub, dort, wo die Skorpione leben.
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37
Tomasz Piątek
W.A.B.
Warsaw 2008
125 × 200 • 310 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-411-7
Translation rights: W.A.B.
Palais Ostrogski
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
Der Traumkontrolleur
Marek Nocny
38
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des 20. Jhdts. geboren. Er schreibt beruflich,
allerdings über andere Themen und ist unter einem
anderen Namen bekannt. Er hat einen Hund.
Marek Zaleski
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Der Traumkontrolleur
Marek Nocny wurde in der zweiten Hälfte
39
Marek Nocny
Der Traumkontrolleur ist ein Abenteuer- und Sensationsroman
mit Tücken. Der Autor verbirgt sich hinter einem Pseudonym,
doch erkennt man die Handschrift eines Meisters. Marek Nocnys ansprechend geschriebene Erzählung von Liebe und Gewalt
wendet sich in erster Linie an jugendliche Leser und erzählt den
Mythos von Orpheus und Eurydike in einer auf das Zeitalter der
Cyberkultur zugeschnittenen Version. Ein wenig wie polnische
„Matrix“ mit alterglobalen Elementen. Der Held des Romans, der
Physikstudent, Flunkerer, Superman und Schwächling mit dem
Spitznamen Rastaman, steigt in den Hades hinab, um Agnieszka – seine Eurydike – zu finden. Allerdings ist der Hades heute
ein modernes Einkaufszentrum, das Heiligtum unserer Zeit, Ort
der Verführungen und der Ausübung symbolischer Gewalt. Dort
hat sich heimlich die Gesellschaft „True Life Ltd“ eingerichtet,
deren Ziel es ist, den Geist der Menschen zu beherrschen und
uns unsere vermeintlichen eigenen
Träume zu verkaufen. Das Unternehmen handelt rücksichtslos, und mit
seinen Geschäftsführern kämpft der
Held auf Leben und Tod. Der Traumkontrolleur ist auch ein literarisches
Spiel mit Bezügen auf Calderon de
la Barca und sein Stück Das Leben ist ein Traum. Marek Nocnys
Helden experimentieren mit Träumen, wobei sie in Wirklichkeit
von dem Unternehmen manipuliert werden, doch sie finden einen Weg, um ihre Freiheit wiederzuerlangen. Denn die Träume
in diesem Roman sind auch der Ozean des Unbewussten, das
– ähnlich wie das Meer in Lems Solaris – Gedanken und Wünsche entstehen lässt.
Der Traumkontrolleur bietet nicht nur Lesevergnügen, es lässt
sich auch in mehr als einer Richtung lesen und stellt ein hervorragendes Beispiel postmoderner Literatur dar. Realität und Fiktion lassen sich nicht voneinander unterscheiden, unentwegt haben wir es mit dem Karussell der Identitäten des Helden zu tun.
Experimente mit Träumen, Jagden, Flucht, detektivische Spekulationen, literarische Anspielungen, Liebeszerwürfnisse, Humor
und tiefere Bedeutung – all das macht den Traumkontrolleur zu
einem Buch, das ebenso unterhaltsam wie spannend ist.
Der Traumkontrolleur
... Ich
Marek Nocny
40
kenne ein paar Sachen, die kriegst
du nicht für Geld. Sie heißen Glaube, Hoffnung, Liebe.
„Renonce in allen drei Farben“, unterbrach Rastaman
bitter.
Keine gute Hand, was? Höchstens für Bridge. Und für
noch etwas, wovon du bestimmt noch nie gehört hast. Kann
ich weiterreden?
Rastaman nickte bejahend.
„Du hast dir die Karten nicht ausgesucht. Du hast sie ausgeteilt bekommen und kannst sie nicht umtauschen. Also
guck sie dir an und überleg dir, zu welchem Spiel sie passen.“
„Hast du mir in die Karten geschaut?“
Der Kleine zuckte mit den Achseln.
„Eine starke Karte ist gut, aber nur in real. Mit einer
schwachen kannst du was auf der Traumseite ausspielen. Da
könntest du ein ganz cooler Typ werden. Versuch’s mal, es
lohnt sich.“
Ein cooler Typ auf der Traumseite...
„Das würde mich sogar interessieren“ lachte Rastaman.
“Bloß – ich hab schon lang nichts mehr geträumt.“
Wie lange – das wusste er nicht mehr. Seit Wochen. Er
wäre wirklich froh, wenn er ab und zu von Agnieszka träumen würde. Jetzt, wo er keine Erwartungen mehr hatte,
wäre er mit einem schönen Traum schon ganz zufrieden. Ein
schöner Traum mit der unumstößlichen Illusion ihrer Gegenwart. Am besten jede Nacht. Anstelle von Begegnungen
in real. Was nicht möglich war.
„Du träumst nicht? Das gibt es nicht in der Natur. Du hast
jede Nacht ein paar Träume vielleicht sogar ein ganzes Dutzend. Sag besser, du hast den Kontakt zu deinen Träumen
verloren. Aber den kannst du wiederfinden. Es ist nur eine
Frage der richtigen Technik.“
Rastaman wurde so neugierig, dass er sich vorbeugte, bis
der Knopf seines Cordhemds am Tischrand hängen blieb.
„Alles eine Frage der Technik... Führ das mal näher aus.
Benutzt du irgendeinen schlauen Apparat?“
Jetzt grinste der Kleine von einem Ohr zum anderen, dass
es blitzte. Seine Zähne waren mit einer Zahnspange ver-
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klammert. Dieses Vergnügen hatte ihm bestimmt Bomber
spendiert. Er schickte die Knete für alle größeren Ausgaben.
Für den Englischkurs, die Renovierung des Badezimmers
und einen Wintermantel für den Alten. Seit er ins Ausland
gegangen war, war er der Sohn und Bruder ohne Fehl und
Tadel geworden. Ein erbauliches Beispiel für den Kleinen,
ob den beiden das gefiel oder nicht.
„Dazu braucht man keinen Apparat. Es reicht vollkommen, was du in der Grundausstattung hast. Der Schlaf
überkommt dich, ohne dass du es merkst, und am Morgen
wachst du verdreht auf und kannst dich an nichts mehr erinnern. Als wärst du im falschen Film clubben gewesen.
„Ich kenn keine bessere Art zu clubben.“
„Wir reden aber von einer besseren Art zu träumen.“
Ganz schön ehrgeizig: eine bessere Art zu Träumen. Weiter
nichts.
„Das wird ja immer interessanter“, sagte Rastaman mit
einer einladenden Geste – er wickelte mit der Hand ein unsichtbares Schnürchen auf.
Der Kleine verfolgte die Hand mit den Blicken, machte
einen etwas dümmlichen Gesichtsausdruck, weil er nicht
wusste, ob das ernst gemeint war oder umgekehrt.
„In Träumen kannst du das haben, was dir im Leben fehlt“,
sagte er schließlich mit leichter Gekränktheit in der Stimme,
und es sah aus, als würde er sich jetzt lang bitten lassen. Er
trank einen Schluck aus dem Glas, sah sich um und winkte jemandem. Jungen mit Skateboards. Sie erwiderten den
Gruß. Zum Schluss winkten auch die Mädchen, die bei ihnen waren. Und schon waren sie weg, keiner mehr zu sehen,
die Rücken anderer Passanten verdeckten sie. Der Kleine
starrte einen Augenblick verdutzt. Doch sein Lieblingsthema, die Träume, zog ihn schnell wieder in seinen Bann.
Denk nicht, dass das so leicht geht. Erstmal muss man
schon etwas in die Gänge kommen. Das eine oder andere
können. Zuerst die ganz einfachen Dinge. Lern vor allem
den Umgang mit der Realitätsprüfung. Woran kannst du
erkennen, dass du zum Beispiel jetzt, in diesem Augenblick
nicht träumst? Woher nimmst du die Sicherheit, dass du
wirklich in einem Einkaufszentrum bist und nicht in deinem Bett?
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
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Der Traumkontrolleur
Nisza
Warsaw 2007
123 × 92 • 301 pages
hardcover
ISBN: 987-83-922819-86
Translation rights:
Marek Nocny and Nisza
Contact: Nisza
41
Marek Nocny
„Du machst Witze!“ unterstellte Rastaman mit einem unsicheren Blick. Schwer zu sagen, wer hier auf wessen Kosten
Witze machte. Im Einkaufszentrum pulsierte das Leben. Das
war das Leben. Kein Traum. Darüber braucht man nicht
nachzudenken.
Der Kleine hob den Blick von seinem Glas.
„Hast du noch nie einen Traum gehabt, von dem du dich
hast vollkommen foppen lassen? Im Traum sind die Menschen leichtgläubig. In real unaufmerksam. Die meisten
können das eine nicht vom anderen unterscheiden. Sie träumen im Wachen, und im Traum ist es umgekehrt, da werden
sie merkwürdig konkret. An deiner Stelle wäre ich mir über
nichts so sicher. Diese zwei Schachteln??? Im Einkaufszentrum? Und die toleranten Aufpasser? Und hast du gesehen,
dass jemand mit einem Baby im Kinderwagen gekommen
ist? Zähl lieber mal die Finger an deiner Hand. Ich mein es
ernst, zähl sie nach!“
Rastaman wunderte sich, aber er zählte nach. Die Fingernägel waren abgekaut. Sein Blick blieb kurz an der Handmulde hängen. Dort hatte er sich vor ein paar Stunden etwas
mit dem Kugelschreiber hingekritzelt, weil er keinen Zettel
bei sich hatte. Sweet Dreams. Das waren Schlaftabletten. Der
Name war so doof wie das Mädchen, das sie ihm gegeben
hatte. Er kannte sie noch aus der Grundschule. Alle nannten sie Daisy. Er hatte sie zufällig in der U-Bahn getroffen.
Ein leichtes Mittel, rezeptfrei, hundertprozentig zuverlässig.
Früher hatte sie auch schlecht geschlafen, aber jetzt nahm
sie Sweet Dreams... und dazu dieser lange, vielsagende Blick
unter den Wimpern, eine Szene wie in der Fernsehwerbung.
Er erinnerte sich an Daisy von früher. Sie saß immer in der
ersten Bank und sah damals schon aus wie in einer Reklame. Im Unterricht zeigte sie dauernd auf, sie wusste alles. Im
Leben ebenso. Sie hatte für jedes Problem ein Patent bereit.
Gute Ratschläge für jedermann, immer mit einem Anflug
von Überheblichkeit. Bomber musste sie auch noch kennen.
Aber der Kleine wahrscheinlich nicht.
Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter
Andrzej Bobkowski
42
Andrzej
Bobkowski
RUHEPUNKT
Andrzej Bobkowski
Briefe aus Guatemala an die Mutter
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Foto: Institut Littéraire
Jerzy Jarzębski
Andrzej Bobkowski (1913-1961) einer der
brillantesten polnischen Exilautoren, Erzähler
und Essayist.
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Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter
entdeckt, bearbeitet und herausgegeben werden. Einige Bände dieser Korrespondenz sind bereits erschienen (besonders
wichtig sind die Briefe Bobkowskis an Jerzy Giedroyc, den Redakteur der Pariser „Kultura”). Zu diesem Zyklus gehören auch
die Briefe aus Guatemala an die Mutter. Bobkowskis Briefe sind
eine hervorragende Ergänzung seiner Prosa, weil sie dieselbe
philosophische und existentielle Problematik auf andere Weise, nämlich viel persönlicher erfassen, und gleichzeitig sind sie
berührende Zeugnisse seiner Lebensabenteuer. Der Autor der
Briefe war ein Lebenskünstler, der es verstand, die geistigen und
emotionellen Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen und zu
beschreiben, wobei ihn allerdings nie das Gefühl für die tiefe
Wesentlichkeit der Existenz im Stich ließ, die er – auf den Spuren
seines Meisters, Joseph Conrad – zu begreifen und angemessen
zu erleben suchte.
43
Andrzej Bobkowski
Obwohl Andrzej Bobkowski seit vielen Jahren tot ist, stellt sein
Schreiben für die polnischen Leser und Literaturkenner bis zum
heutigen Tag ein großes Abenteuer dar. Lange war er vor allem
als Autor der als Zeugnis außergewöhnlich packenden, zugleich
aber in ihrem Urteil über den Zustand der europäischen Zivilisation sehr bitteren Federskizzen (deutscher Titel des ersten Teiles:
Wehmut? Wonach, zum Teufel?, mehr ist bisher nicht erschienen)
bekannt: ein Tagebuch, geschrieben in den Jahren 1940-1944,
anfangs während einer außergewöhnlichen Reise mit dem Fahrrad durch die nicht besetzte französische Zone und dann in Paris.
Bobkowski konstatierte, daß dem Nachkriegseuropa der Wille
fehlte, seine wichtigsten Werte gegen die totalitären Regime zu
verteidigen, und dass es bereit war, sich von äußerlichen Kräften
dominieren zu lassen – sei es von der UdSSR oder den USA. Fanatisch mit der Idee der individuellen Freiheit verbunden, machte er sich auf nach Guatemala, wo er bis zu seinem Tod (er starb
frühzeitig an Krebs) seinen Lebensunterhalt mit einem Laden für
Modellbauer bestritt.
Da er im kommunistischen Polen wegen seiner Ansichten auf
dem Index stand, erlangt Bobkowski erst heute die ihm zustehende
Stellung: nach der polnischen Ausgabe der Federskizzen erschienen
einige Sammlungen von Erzählungen und schließlich der Band
Ruhepunkt: eine komplette Ausgabe seiner Prosa und Dramen
(mit Ausnahme der Federskizzen). Die Handlung dieser Werke
spielt in Frankreich und Mittelamerika und hat oft einen abenteuerlichen Charakter, durchmischt mit diversen sensationellen
Elementen: denn das Gebiet, in dem Bobkowski sich niederließ, war weit entfernt von einer politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Stabilität, es stellte vielmehr eine Bühne dar für harte, männliche Abenteuer. Doch selbst an solchen Orten standen
für den Autor existenzielle Fragen im Vordergrund, die Literatur
und die Philosophie, verstanden als persönliche, moralische
Herausforderungen, und schließlich die Liebe. Bobkowski stellt
stets von neuem die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem
Schicksal der Welt.
Bobkowski war nicht nur ein ungemein begabter Prosaist. Er
schrieb auch literarisch geschliffene Briefe, oft sehr umfangreich,
an Freunde und Familienangehörige, die erst heute langsam
Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter
Andrzej Bobkowski
44
Am
nächsten Tag schlief ich länger und fühlte
mich nach dem Aufwachen recht seltsam.
Etwas war geschehen und ich wußte, dass es
nicht aufhören würde. Ich warf einen seitlichen Blick auf den
kleinen Koffer, in dem ich die vollgeschriebenen Seiten eingeschlossen hatte, und es schien mir, als hätte ich dort etwas
Lebendiges eingesperrt. Ich überprüfte sogar instinktiv, ob
nichts daraus entkommen war. Nein, ich las es nicht, mir bereitetete derjenige Kopfzerbrechen, der sich in diesem Stoß
von zwanzig Bögen Papier befand. Ich wurde ungeduldig
und wollte alles so rasch wie möglich hinter mich bringen.
Gegen elf Uhr setzte Father Andrew in der Lagune auf.
Kaum war er auf den Schwimmer gestiegen, winkte er uns
mit einer Korbflasche „Baccardi” zu und rief, außerdem habe
er noch jemandem ein Kistchen echte „Partagas” aus Havanna zu einem Dollar das Stück abgeluchst. Wir halfen ihm
festzumachen und das Faß mit Benzin herauszuziehen. Er
berichtete, in Yukatan regne es bereits ohne Unterlaß, in ein
paar Tagen werde der Regen sicher auch bei uns eintreffen.
Unwillkürlich behandelte ich ihn jetzt mit Achtung, ein wenig wie man reisende Agenten großer Firmen behandelt.
An Bord stieß ich nach einem kurzen Gespräch hervor:
„I wanted to have a little chat with you”, dann nahm ich
ihn an der Hand und führte ihn in die Kabine. Dort blickte er mich fragend an, und als ich nickte, lächelte er und
nahm auf einer Kiste Platz. Ich reichte ihm meinen Aufsatz.
Wieder herrschte totale Stille, nur durch das Fenster war das
monotone Schluchzen der Gruyas zu hören. Er holte aus der
hinteren Tasche eine Stola und legte sie sich um den Hals.
Weißt du, eine Stola zu einem geblümten Hemd mit kurzen Ärmeln, engen Blue Jeans und dazu nackte Füße ..... Ich
habe keine Ahnung von der Liturgie, aber ich fürchte, er war
damit ein wenig auf Kriegsfuß. Weiter verlief alles normal.
Er las, und ich betrachtete sein Profil und dachte mir, in
diesem Hemd, mit seinen athletischen Schultern, sehe er aus
wie William Holden. Dann rief ich mir unwillkürlich meinen Text ins Bewußtsein, und ich war überrascht, dass ich
mich fast an jedes Wort erinnern konnte.
Das dauerte fast eine Stunde. Dann legte er die Seiten zusammen, zerriß sie in kleine Stücke, erhob sich und warf sie
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durchs Fenster ins Wasser. Ich stand ebenfalls auf. Ich war
wie erschlagen, ich schwankte, mein Gleichgewicht war ganz
durcheinander. „Das tut gut – man kann sich daran gewöhnen”, sagte er. Ich nickte. „Wissen Sie,” setzte er fort, „mein
Vater meinte, alles sei vor allem eine Frage der Gewöhnung.
Als ich kurz nach dem Krieg heiraten wollte, sagte er mir:
heirate – du wirst dich daran gewöhnen.” Er lachte. „Was Sie
am Ende sagen, ist richtig. Und was folgt daraus? – fragen
Sie. Das wissen wir nicht. Es gibt Menschen, die versuchen,
mit dem Rauchen aufzuhören, obwohl sie nie völlig aufhören. Aber es geht darum, dass sie es versuchen. Versuchen Sie
es. Schon das zählt. Wir alle müssen es versuchen. Aus diesen
Versuchen gehen manchmal – Heilige hervor.” Wir gingen
wieder nach oben.
Nach einem Drink an Bord flog er zu seinem See, nachdem
er uns einen glücklichen Start gewünscht hatte. Ja, jedenfalls
fühlte ich mich jetzt bedeutend besser und ich versuchte,
nicht mehr an jenes Ereignis zu denken. Ich probierte den
Motor aus und beruhigte mich, nun war ich wieder bereit
für alles und fühlte mich angriffslustig. Zur Abwechslung
störte mich nur meine innere Heiterkeit, derer ich mich vor
mir selber schämte. Das Heilmittel erschien mir allzu einfach und zu bequem, ich vernahm ein ständiges Raunen des
Stolzes – des Stolzes eines Menschen, der plötzlich entdeckt
hat, dass er allein schwieriger und würdiger lebt, dass nichts
größer ist als etwas. Mag sein. Als ich das jedoch bis ans Ende
durchdachte, als ich mich wieder meiner Erfahrung zuwandte, schien mir, dass keiner der beiden Wege schwieriger ist
als der andere. Beide sind gleich schwierig, unter der Bedingung, dass man sich nur für den einen entscheidet und ihm
konsequent folgt. Was wir tun, ist ein ständiges Hin- und
Herspringen von einem zum anderen. Bequemlichkeit.
Nach ein paar Tagen setzten die Regenfälle ein. Ein unablässiges Rauschen, Ströme von Wasser, die sich aus den
Wolken auf die Erde ergießen und einem den Atem rauben.
Und Kühle, endlich richtige Kühle. Wenn der Regensturz
aussetzte, was für gewöhnlich vor Mittag geschah, und die
Sonne durch die Wolken schien, stieg heißer Dampf vom
Wald auf. Die Farben änderten sich beinahe stündlich. Die
Lagune füllte sich rasch, nach jeder Nacht hatte sich das Ufer
Ruhepunkt, Briefe aus Guatemala an die Mutter
Wydawnictwo Literackie
Cracow 2008
125 × 195 • 414 pages
hardcover
ISBN: 978-83-08-04075-1
Translation rights:
Wydawnictwo Literackie
45
Wydawnictwo Książkowe
Twój Styl
Warsaw 2008
165 × 220 • 244 pages
paperback
ISBN: 978-83-7163-494-9
Translation rights:
Henryk Ignacy Boukołowski
Contact: Twój Styl
Aus dem Polnischen von Martin Pollack
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Andrzej Bobkowski
wieder weiter abgesetzt. Burt schwamm in jeder Regenpause
mit unserem Boot hinaus, maß die Tiefe und traf Vorbereitungen. Ich sammelte alle Geräte ein, die wir zurücklassen
mußten, um die Maschinen nicht unnötig zu belasten.
Es gelang. Dieser Morgen wird mir ewig in Erinnerung
bleiben. Ich saß neben Burt. Schmutzige Wolken bedeckten
den Himmel, aber sie standen ziemlich hoch. Nachdem es
die ganze Nacht geregnet hatte, kam Wind auf. Als die Motoren ansprangen und wir langsam zu schwimmen begannen, um den Kahn zum Start bereit zu machen, und als wir
dann einen Moment später mit 2550 Umdrehungen loslegten, erstarrte ich. Es gelang. Ich kann nicht ausdrücken, was
in diesen langen Sekunden in mir vor ging. Ich verwandelte
mich in die beiden Motoren. Zuerst kam das gegenüberliegende Ufer immer schneller auf uns zu, ich verspürte eine
sanfte Wendung, dann verschwammen die Umrisse der fernen Bäume und die leicht gewellte, cremefarbene Oberfläche
des Wassers in der Lagune vor den Augen, um beinahe zu
verschwinden. Als wir uns in der letzten Moment losrissen,
auf den Millimeter genau, und der Schwamm des Dschungels dicht über uns dahinflitzte, und als sich dann die weite
Fläche des Meeres vor uns ausbreitete, lachte Burt mir zu
und streckte beide Daumen nach oben. In diesem Moment
kam mir plötzlich das Prinzip von Le Chatelier in den Sinn.
Wenn demnach eine zusätzliche Kraft auf ein im Gleichgewicht befindliches System einwirkt, verlagert sich der Ruhepunkt in diesem System in die Richtung, in der die Wirkung
der Kraft geringer wird. Ich begann darüber nachzudenken,
denn als ich schon draußen war, auf dem Meer, umgeben
vom monotonen, gesunden Brummen der Motoren, machte
ich mir bewußt, daß dort, in dieser Lagune, meine ganzes
System dem Wirken einer Kraft ausgesetzt gewesen war,
gegen meinen Willen, und dass sich mein Ruhepunkt mit
Sicherheit verlagert hatte. Allerdings nicht in die Richtung,
in der das Wirken der Kraft sich verringert. Und das läßt mir
bis heute keine Ruhe.
Die Bürgerin
Manuela Gretkowska
46
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Krzysztof Opaliński
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bringt uns Momente der Zweifel und des Triumphs nahe, und
vor allem berichtet sie über den Partei-Alltag.
Es ist wichtig zu betonen, dass obwohl es die Bekenntnisse einer
Person sind, die weder sozialaktivistische noch diplomatische
Erfahrung besitzt, man diese Frau nicht für naiv halten kann.
Manuela Gretkowska ist der tragikomische Charakter dieser
Begebenheiten sehr wohl bewusst, und sie betrachtet sie mit
einer gehörigen Dosis Ironie. Doch diese Ironie lässt den Leser
keineswegs an ihrem Engagement zweifeln.
Manuela Gretkowska
(geb. 1964),
Schriftstellerin und Publizistin, hat bisher 12 Bücher
veröffentlicht und wurde in zahlreiche Sprachen
übersetzt.
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Die Bürgerin
Marta Mizuro
47
Manuela Gretkowska
Die Bürgerin ist mittlerweile der dritte Teil des brandheißen
Tagebuchs von Manuela Gretkowska, das die Schriftstellerin
in einer ungewöhnlichen Rolle präsentiert: als Gründungsmitglied und dann Vorsitzende der Partei der Frauen. Das Buch beschreibt die Kulissen des politischen „Krachs“, beantwortet die
Frage, wie die Künstlerin auf diese nicht alltägliche Idee gekommen war und erklärt, was sie dazu bewogen hatte.
Alles fing mit einem Zufall an, als aus einer Zeitung Gretkowskas
Feuilleton entfernt wurde, in dem die Autorin den Regierungsstil
der Gebrüder Kaczyński kritisierte; dann wurde in einer Wochenzeitschrift ein unangepasstes Statement über die Situation
der modernen „Mutter Polin“ veröffentlicht. Anschließend gab
es das (im Buch abgedruckte) „Manifest“, in dem Gretkowska
die Frauen dazu aufrief, über ihre Rechte zu bestimmen und
eine eigene Partei zu gründen. Diese
Initiative blieb nicht ohne Echo, wobei sofort selbstverständlich wurde,
dass die charismatische Schriftstellerin diese neue politische Kraft anführen sollte.
Wer es von außen verfolgte, bekam den Eindruck, diese Angelegenheit sei eine Verbindung von Kabarett und Happening.
Obwohl Tausende von Frauen diese Initiative enthusiastisch begrüßten, bekam sie keinerlei Unterstützung von einer der formalen politischen Gruppierungen. Die Partei der Frauen ernst zu
nehmen wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass zwischendurch ein neuer Roman der Gretkowska Premiere hatte – so
wurde allgemein angenommen, das politische Vorhaben sei lediglich ein origineller Werbegag.
Die Bürgerin beleuchtet und klärt diese „Affäre“ zweifelsohne.
Vor allem wirft das Buch ein helles Licht auf die Autorin selbst,
die tatsächlich sehr engagiert die Rolle des Don Quijote im Rock
übernommen hatte. Sie kämpfte nicht nur mit der Kritik von außen, sondern auch gegen die Reibungen unter ihren Mitarbeitern. Gretkowska erzählt offen und ehrlich von den Kämpfen mit
den Mechanismen der Politik und der menschlichen Natur, sie
Die Bürgerin
3.Dezember
Manuela Gretkowska
48
Ein schnelles Mittagessen in einer Kneipe in der Nähe von
„Montownia“. Endlich Erleichterung nach einer Woche mieser Imbisse. Die Gąsiorkis – die große dunkelhaarige Ania,
mit der Schönheit einer Ikone, und der gutmütig pummelige Jacek mit roten Löckchen überall – haben auf die Wand
hinter mir das Plakat projiziert. Ich stelle mich mitten auf
die Bühne, Leute kommen noch nach, es fehlt an Stühlen.
Es sind an die vierhundert Menschen da, vor allem Frauen,
unterschiedlichen Alters.
„Frau Gretkowska, Sie reden nun seit einer Viertelstunde, und nichts passiert …“, wundert sich eine ungeduldige
Greisin.
„Dabei sollten wir schon im Sejm sein, nicht seit einer
Viertelstunde, sondern seit einigen Jahren!“, heize ich auf.
Nachdem sich der Saal ausgelacht hat, erzähle ich weiter:
„Was lässt uns nicht im Sejm sein? Wo werden wir blockiert?
In unseren Köpfen?“ Ich erzähle, warum die Partei der Frauen
eine reguläre politische Armee ist, und keine Partisanen-Vereinigung. Ich bin so überzeugt von der Richtigkeit meiner
Argumente, der Einfachheit der Lösungen, dass die Bühne zu
einer Startbahn für die Ideen und für mich wird. Die Bühnendielen werden länger, die Lichter werden zu einem leuchtenden
Wegweiser. Ich erhebe mich über die Menschenmassen, kann
gerade noch einzelne Gesichter ausmachen. Die Augen, die
sich auf meine Worte konzentrieren, führen mich, zwinkern,
geben mir Zeichen, ob ich in die richtige Richtung unterwegs
bin. Mittlerweile kann ich mich selbst nicht mehr hören, ich
habe keine Ahnung, was ich als nächstes sagen werde. Ich falle
in Trance und habe Angst, das Bewusstsein zu verlieren. Ich
bremse mich selbst, bitte um Fragen. Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken, was hier gerade passiert ist.
Aus der ersten Reihe erheben sich Frauen. Sie stellen sich
vor: aus Lodz, Allenstein, aus Schlesien. Blitzsaubere, weiße,
gebügelte Hemdblusen, dunkelblaue Röcke – wahre Aktivistinnen. Ich, in einem Sweatshirt und in unförmiger Cordhose, sehe neben ihnen wie eine Rockmusikerin aus. Iwona,
eine Politologin, meldet sich zu Wort, dann ein paar Frauen
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von diversen Organisationen. Ich sammele Visitenkarten
und Zettelchen. Ein Mädchen kommt auf mich zu: sie will
als meine Assistentin arbeiten. Ich frage sie direkt, ob sie eine
psychiatrische Behandlung hinter sich hat. Schock. Ich erkläre ihr, dass es eine derart schwere Arbeit ist, dass jemand
entweder gar nicht abschätzen kann, worauf er sich da einlässt, oder kann die Wirklichkeit nicht adäquat einschätzen.
Piotr hat das Treffen von der Galerie aus beobachtet.
„Gott, fünfziger Jahre, die Frauen sind erwacht und meinen, irgendwelche Rechte zu haben!“ Hinter Spott verbirgt
er seine Rührung.
Małgosia Marczewska, die ich bei einem Foto-Shooting
kennen gelernt habe, mein Beinahe-Coach, versucht, ein
Resümee zu ziehen:
„Du hast keine Zettel im Raum herum gehen lassen, um
aufzuschreiben, wer dabei war, mit Kontaktadresse und Anfrage, wer was übernehmen kann. Der Rest des Treffens: wie
nach einer Schulung beim CIA! Bevor du angefangen hast,
hast du den Versammelten drei Fragen gestellt; ob alle Stühle
haben, ob man dich hören kann … Fünf Fragen wären perfekt gewesen.“
Ich weiß nicht, ob sie es ernst meint oder sich über mich
lustig macht. Sie schult Firmen, Direktoren großer Unternehmen.
„Du musst dein Privatleben von der Partei trennen. Mach
nach den Treffen dein Mobiltelefon aus.“, rät sie mir.
Das Handy, das ich in der Hosentasche trage, wurde zu
einer Art tretenden, bei den Vibrationen der eingehenden
Anrufe auf und ab springenden Fötus, der sich in meine
Seite festbeißt. Jeden Tag bekomme ich es immer mehr zu
spüren. Es weckt mich nachts auf, lässt mich tagsüber nicht
zur Ruhe kommen.
Wir kehren nach Hause zurück; wie üblich haben alle Läden schon zu. Nur noch die Tankstelle bleibt uns, aber wir
haben keine Kraft mehr, anzuhalten und Brot zu kaufen.
„Wenn das länger so gehen soll, schaffe ich es nicht!“ Piotr
kapituliert. Nach der Versammlung hat er mit einem Komitee an weiblichen Führungskräften für die Partei gerechnet.
Er hat gehofft, dass wir dann nicht mehr so eingespannt sein
würden.
Świat Książki
Warsaw 2008
123 × 195 • 320 pages
hardcover
ISBN: 978-83-24712-09-0
Translation rights:
Świat Książki
Aus dem Polnischen von Paulina Schulz
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49
Manuela Gretkowska
Am Morgen reden wir nicht miteinander, er muss nach
Lodz, unsere Kleine abholen. Ich renne zwischen dem Telefon und dem Internet hin und her. Nach dem Treffen in
„Montownia“ hat sich nicht viel verändert. Vielleicht heute
Abend, in der Filtrowa-Straße, bei Małgosia … Iwona will
kommen, die Parteien-Fachfrau. Die Gąsiorkis haben angeboten, sich um die emails zu kümmern. Sie haben eine einige
Monate alte Tochter und einen Knall, was soziales Engagement angeht. Wenn nur ein kleiner Anteil der Menschheit,
nur so groß wie das Kerngehäuse eines Apfels, diesen beiden
ähnlich sein könnte, wäre die Welt ein Paradies.
Mittags Hunger, und Leere im Kühlschrank. Jemand fragt
am Telefon:
„Ist etwas passiert?“
Ich begreife nicht sofort, wer das ist und warum dieser
Mensch nicht weiß, was los ist … Ein Landsturm!
„Wir waren im Restaurant verabredet. Sie wollten unsere
Speisekarte für die Zeitschrift bewerten …“, erinnert mich
eine Stimme aus einem vergangenen Leben.
Ich habe dieses Treffen vergessen, obwohl es in meinem
Terminkalender notiert war. Ich habe alles aus meinem Gedächtnis gelöscht, was nicht mit der Partei zu tun hat. Leider
auch das Zahlen von Rechnungen. Als ich hinunter gehe, um
auf das Taxi zu warten, das mich ins Restaurant bringen soll,
finde ich im Briefkasten Mahnungen. An mich – die ich das
monatliche Begleichen von Rechnungen für Strom und Telefon als die Erleichterung einer Absolution ansehe. Es ist,
als würde ich meiner Mami das Zeugnis meiner moralischen
Führung bringen.
Ich habe mich vom Internet losgerissen, von der Akquise der
Partei-Koordinatorinnen für die Regionen, und betrete eine
andere Welt: eine Kneipe, die im Stil japanischer Belle Epoque
umgebaut wurde. Ich bekomme foie gras in Schokolade und
Dorsch mit Rosenblüten. Ich schlinge es hinunter, bewerte das
Essen für die kulinarische Rubrik, und renne nach Hause.
Die Bürgerin
4.Dezember
Haschischopenken
Jarosław Maślanek
50
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Katarzyna Skoczyńska-Maślanek
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Przemysław Czapliński
Jarosław Maślanek
(geb. 1974) ist
studierter Politologe, Journalist.
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Haschischopenken
mit der Anwerbung inoffizieller Mitarbeiter aus den Reihen der
„Solidarność” hätten.
Verblüffenderweise gelingt es dem Autor, anhand der Schilderung des ersten Jahres des Kriegszustandes aus der Perspektive
zweier Jungen und ihrer Freundschaft mehr zu erzählen, als es
die Bilder von Mitgliedern der „Solidarność”, von Streiks und
Demonstrationen tun. In Jarosław Maślaneks Roman scheitert
die „Solidarität” nicht, weil sie gegen die Staatsgewalt unterliegt,
sondern weil sie keine gelebte Solidarität ist. Und dies ist nicht
das Scheitern einer gesellschaftlichen Bewegung, sondern einer
gesamten Gesellschaft.
51
Jarosław Maślanek
Haschischopenken ist ein Roman über die Freundschaft zweier
zwölfjähriger Jungen – Maksymilian und Wronek. Max’ Vater engagiert sich in der „Solidarność”, Wroneks Vater ist bei der Miliz.
Die Handlung spielt im Jahr 1982, unmittelbar nach der Ausrufung des Kriegszustandes, irgendwo in der polnischen Provinz,
in einem kleinen Ort, der nur aufgrund einer ansässigen staatlichen Rüstungsfabrik existiert. Alles, was die Wirklichkeit hervorzubringen vermag, ist ständige Frustration, Antipathie und Hass.
In dieser Welt versuchen die beiden Helden, sich einen Rest von
Unabhängigkeit und Sinn zu bewahren. Sie suchen Zuflucht in
ihrer Freundschaft, die ein Gegengewicht zu dem schleichenden
Verfall um sie herum bilden soll. Beide leben in zerfallenden Familien (Max’ Eltern stehen kurz vor der Scheidung, Wroneks Vater
wird von einem Transporter überfahren), beide sind schulische
Außenseiter. Ohne es zu merken, tragen die Jungen ihre familiären Probleme in ihre Freundschaft hinein, doch sie sind zu jung,
um auf diese Weise eine echte Beziehung aufzubauen und sich
selbst zu retten. Voller wilder Verzweiflung und aus unerwiderter Liebe geborener Grausamkeit sind sie zu
jeder Dummheit fähig – inklusive eines unbeabsichtigten Mordes.
Der Mord verbirgt sich hinter dem wahnwitzigen Plan einer Abrechnung mit einem Outlaw. Dieser Mann, der den seltsamen
Beinamen „der Dreizehner” trägt, ist ein ehemaliges Mitglied der
Freiwilligen Reserve der Bürgermiliz, der meistgehassten Organisation der Volksrepublik Polen, die von der kommunistischen
Regierung zur Niederschlagung gesellschaftlicher Proteste eingesetzt wurde. Inzwischen ist der Dreizehner alt, allein und von
allen geächtet. Ihn umgibt eine Atmosphäre vager Verdächtigungen, die für Max und Wronek Grund genug ist, ihn zum Opfer
zu erwählen.
Ihr Plan ist im Wesentlichen ein Versuch der Wiederherstellung
einer zerstörten Ordnung. Wronek und Maksymilian suchen intuitiv nach einer Möglichkeit, sich ihren Platz in diesen sozialen
Gruppen zurückzuerobern. Die Atmosphäre wird zusätzlich
vom Kriegszustand vergiftet, der Misstrauen und Verrat zwischen die Menschen bringt: In dem kleinen Ort hängt zu viel
von der staatlichen Fabrik ab, als dass die Machthaber Probleme
Haschischopenken
Ende und Anfang
Jarosław Maślanek
52
Ich konnte nicht einschlafen. Lag aufgedeckt und verschwitzt
da. Starrte an die Decke, die in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Meine Schulter brannte leicht, die Verletzungen
im Gesicht pulsierten schmerzhaft. Ich hörte, wie sich meine
Eltern mit dem Dreizehner unterhielten. Erst ruhig, dann
immer lauter. Unser Nachbar verließ uns spät in der Nacht.
Die Tür meines Zimmers öffnete sich einen Spalt breit und
mein Vater blickte hinein. Einen Moment später zog er sich
leise wieder zurück.
Als ich endlich einschlief, hatte ich einen seltsamen Traum:
Ich sitze mit Wronek auf meinem Zimmer, er auf dem Sessel
zwischen dem Schreibtisch und dem Fenster, ich auf dem
Stuhl, und wir quatschen wie immer über alles und nichts.
Aus Versehen stoße ich das Glas mit dem Tee um. Der heiße
Tee ergießt sich über Wronek, aber er merkt es nicht. Das
Glas rollt über die Tischplatte, fällt auf den Sessel, mitten
durch meinen Freund hindurch. Ich wachte auf. Es war
schon hell.
Ich ertrug keine Veränderungen, fürchtete mich vor Neuerungen. Aus diesem Grund mochte ich unseren Wohnblock:
ein Ort, den ich seit meiner Kindheit kannte, mit klar abgesteckten Grenzen; mit ihm verband ich meine frühesten Erinnerungen. Und wahrscheinlich fürchtete ich mich deshalb
vor diesem Traum, den ich in der letzten Nacht der Ferien
von Mittwoch auf Donnerstag im Jahr Neunzehnhundertzweiundachtzig geträumt hatte. Wronek war seit Langem
mein Freund, ich wollte ihn nicht verlieren. Aber ich hatte
auch keine Lust, unsere Fehde mit dem Dreizehner fortzusetzen. Ich traf eine Entscheidung, musste nur noch mit
Wronek darüber sprechen.
Ich hörte, wie mein Freund von unten nach mir pfiff. Ich
sah hinaus. Wronek versteckte sich hinter den Sträuchern. Er
winkte und deutete auf den Keller. Ich verstand. Dann lief er
selbst dorthin, in gebückter Haltung, wie unter Beschuss.
Ich verließ mein Zimmer. Meine Eltern waren nicht da.
Ich blickte auf die Uhr. Schon weit nach zwölf!
Ich lief rasch ins Bad, pinkelte, wusch mir das Gesicht.
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Mein Spiegelbild verdeckte ich mit der Hand. Ich wollte
mich nicht ansehen.
Ich lief in den Keller. Die Kälte und die abgestandene
Luft vertrieben den letzten Rest von Schlaf. Ich hatte leichte
Kopfschmerzen. Sicher, weil ich so lange geschlafen hatte.
Wronek wartete unten. Er stand in einer Ecke, die vom
Licht der Glühbirne nicht erhellt wurde.
Hallo – sagte ich und kam gleich zur Sache. – Hör mal, ich
will mich nicht mehr mit dem Dreizehner anlegen. Lassen
wir ihn in Ruhe. Das war okay für die Ferien, aber jetzt geht
die Schule wieder los.
Zu spät – unterbrach er mich. Ich konnte nicht sehen, ob
er lächelte, aber es kam mir so vor.
– Wie, zu spät?
– Zu spät, um ihn in Ruhe zu lassen. – Er kam auf mich
zu.
Seine Kleidung klebte am Körper, als sei er durch einen
blutigen Regen gelaufen. Seine roten Haare waren zu dicken
Strähnen verklebt, dazwischen hingen schwärzliche Brocken
getrockneten Blutes.
– Was hast du getan?! – schrie ich. Ich glaubte, mein Kopf
würde vor Schmerz zerplatzen.
– Das, was wir geplant haben. – Sein mit getrocknetem
Blut verklebtes Gesicht wurde von einem Lächeln verzerrt.
– Das ist nicht wahr!
– In seiner Wohnung.
Er nahm mich an der Schulter. Führte mich die Treppe
hinauf. Ich bemerkte, dass er Arbeitshandschuhe trug, die
feucht von Blut waren.
Ich stützte mich auf ihn, aber er war sehr stark, wie ein
Erwachsener. Er führte mich zur Tür mit der Nummer Dreizehn. Stieß sie auf und zog mich in die Küche.
Der Dreizehner lag auf dem Fußboden. Wronek kniete
sich neben die abgehackte Hand. Er hob sie hoch, betrachtete sie und warf sie weg. Dann griff er nach dem Beil mit der
rostigen Verzierung an der Schneide.
– Ich habe es so gemacht, wie es uns der Holzfäller beigebracht hat, erinnerst du dich? – Er stand über der Leiche,
hob das Beil in die Höhe. – Sich selbst nichts abschneiden,
was noch gebraucht wird. Und nicht zu hoch ansetzen. Er-
Doch mir schien es, als beträfe das alles nicht mich, sondern
einen anderen. Immer weiter fiel ich in mir zusammen, mein
Bewusstsein schlief ein. Das war nur ein Traum, ein furchtbarer Albtraum, ich löste mich auf.
W.A.B.
Warsaw 2008
123 × 195 • 256 pages
hardcover
ISBN 978-83-7414-470-4
Translation rights: W.A.B.
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Haschischopenken
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
53
Jarosław Maślanek
innerst du dich? – sagte er und nahm die Handschuhe ab.
Dann schüttelte er sie aus, so wie Jędrek es getan hatte, und
warf sie auf die Leiche.
Wie hypnotisiert starrte ich auf den toten ORMO-Kämpfer. Er lag auf dem Rücken. In seinem einen Auge steckte
ein Bleistift, die rechte Hand war abgehackt, der Bauch aufgeschlitzt, seine Eingeweide ergossen sich über den Boden.
Eine Pfütze erstarrten Blutes.
– Schluss mit Haschischopenken – sagte Wronek.
Ich schaute und wollte nicht sehen. Ich versuchte die Augen zu schließen, doch die Lider senkten sich nicht; wollte
sie mit den Händen bedecken, doch die Arme verweigerten
mir den Gehorsam.
Ich schrie los.
– Du hetzt uns noch den ganzen Block auf den Hals! –
Wronek sprang auf mich zu und hielt mir die Hand vor den
Mund. – Gleich sind alle hier, du Idiot! – Er stieß mich gegen
die Wand und weiter in Richtung Ausgang. Er öffnete die
Tür und schubste mich auf den Flur hinaus. Im Treppenhaus
herrschte helle Aufregung. Als Erste kam uns die Piastowa
entgegen, wie immer an der Spitze der Nachrichtenabteilung. Hinter ihr erblickte ich einige andere Nachbarn, darunter auch den Aufseher Polepa, der doch eigentlich in der
Arbeit hätte sein sollen. Sie schrien irgendetwas, es herrschte
ein Höllenlärm, der vom Echo im Treppenhaus noch verstärkt wurde. Immer weitere Türen gingen auf.
– Schneller! – schrie Wronek. – Immer verbockst du alles.
Die Piastowa blieb wie angewurzelt stehen, als sie den
blutbefleckten Wronek erblickte. Polepa lief an ihr vorbei in
die Wohnung des Dreizehners.
Mein Freund stieß mich noch einmal in den Rücken und
ich stolperte in die Wohnung von Wronkiewiczs. Ich lehnte
mich gegen die Wand und ließ mich langsam zu Boden sinken. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Helm aufgesetzt, der mich vor den Reizen der Außenwelt abschirmte.
Die Geräusche erreichten mich wie von fern, die Bilder
drangen durch einen dichten Nebel.
Ich sah, wie Wronek die Tür verbarrikadierte; ich hörte
den Lärm, der sich im Treppenhaus erhob, als unsere Nachbarn entdeckten, was bei dem Dreizehner geschehen war.
Entschuldige dich: ein Spielerratgeber
Aleksander Kościów
54
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Robert Morawski
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Robert Ostaszewski
Aleksander Kościów
(geb. 1974), ist
gelernter Komponist und Bratschist. Entschuldige dich
ist sein zweiter Roman.
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Entschuldige dich: ein Spielerratgeber
scheidungen unbedingt von unserem gesunden Menschenverstand und der Vernunft leiten lassen oder eher unserer Intuition
vertrauen?“. Die Suche nach Szymon wird für die Erwachsenen
gleichzeitig zur Selbstfindung; am Ende der Suche sind sie schon
nicht mehr die gleichen Menschen wie zu Beginn.
55
Aleksander Kościów
Nachdem Błażej seine wissenschaftliche Karriere abgebrochen
hat und seine Freundin Ewa ihn verlassen hat, führt er ein monotones, langweiliges Leben, das kaum Abwechslung bietet. Mit
jedem Jahr versinkt er mehr und mehr in Lethargie, sogar das
Höhenbergsteigen, seine größte Leidenschaft, hat er aufgegeben. Er erwartet keine Veränderungen und scheint das auch gar
nicht zu wollen. Eine Zufallsbegegnung lenkt sein Schicksal aber
in eine vollkommen andere Richtung. Auf dem Rückweg von der
Arbeit überfährt er beinahe die junge Zuzanna (die hartnäckig
behauptet, dass sie eigentlich Fix heißt), die vor jemandem auf
der Flucht ist. Anfänglich hat es den Anschein, dass sie vor Marta
flieht, das stellt sich jedoch als falsch heraus. Błażej erfährt auch,
dass Marta nach Warschau gekommen ist, um ihren kleinen
Sohn Szymon wiederzufinden, der unter ungeklärten Umständen verschwunden ist. Ohne groß nachzudenken, beschließt
Błażej, der Frau bei ihrer Suche zu helfen, bei der auch Zuzanna
eine wichtige Rolle spielen wird ...
Die Exposition des Romans Entschuldige dich macht einen recht
gewöhnlichen Eindruck, aber das ist
nur ein Täuschungsmanöver. Aleksander Kościów wäre nicht Aleksander Kościów, würde er nicht plötzlich
seiner ungezügelten Phantasie freien Lauf lassen, die in die dem
Leser bestens vertraute Wirklichkeit einsickert. Fix beharrt darauf, eine Art Superheldin zu sein, die in einer Parallelwelt mit einem Geiermenschen kämpft, der auch Martas verschwundenem
Sohn auflauert. Anfangs sehen die Erwachsenen in ihr einen verrückten Teenager mit einer übertriebenen Phantasie. Sie ändern
jedoch ihre Einstellung, als sie entdecken, dass Fix sie mühelos
immer wieder auf die Spur des verschwundenen Jungen bringt.
Kościów fährt zweigleisig. Einerseits erzählt er von Błażejs und
Martas „verrückter Woche“ auf der Suche nach dem Jungen. Andererseits schildert er die Wanderung von Dala – wohinter sich
wahrscheinlich Szymon versteckt – durch eine Welt, die einem
Computer-Rollenspiel ähnelt. Während Kościów einen Plot
voller Action und überraschenden Wendungen entwirft, stellt er
gleichzeitig wichtige Fragen: „Weiß ich hundertprozentig, in welcher Welt wir leben?“, „Sollten wir uns bei wichtigen Lebensent-
Entschuldige dich: ein Spielerratgeber
Die
Aleksander Kościów
56
Frau setzte sich einfach auf die Tasche, wodurch sie ein bisschen wie eine schlampig
zusammengesetzte Marionette aussah. Sie
starrte ausdruckslos vor sich hin auf den Bürgersteig und
strich sich die Strähnen aus dem Gesicht, die gleich wieder
an ihren vorherigen Platz zurückkehrten.
„Was passiert ist?“, sagte sie leise, sie hob nicht einmal
den Kopf dabei. „Das kann ich Ihnen sagen. Ich habe kein
Geld, keine Karte, ich habe nichts, um jemanden anzurufen,
der auf wundersame Weise irgendwie elektronisch bezahlen
könnte, das ist ein Alptraum, Sie sind sich ja nicht bewusst,
warum ich überhaupt hier bin ... Warum mir das alles zustößt ... Keine Ahnung ...“
Błażej stieg aus und kniete sich vor sie hin. Die Situation
war ernst und erforderte Fingerspitzengefühl, Galanterie,
Sorge, Takt – verschiedene Eigenschaften, die er schon lange
nicht mehr Gelegenheit hatte zu üben.
„Tun Sie, was Sie wollen“, begann er.
„In der Handtasche war alles ... Geld, Karten, Ausweis,
Führerschein. Glücklicherweise habe ich meinen Gesundheitspass in die Tasche gestopft. Auf dieser Grundlage haben
sie mir auf der Polizei einen vorläufigen Ausweis ausgestellt,
wenn ich wenigstens Zugang zu meinem Konto hätte, eine
meiner Banken muss ihn doch akzeptieren, aber das ist erst
morgen ... Sonst war nichts zu machen ...“, sie schloss die
Augen und schüttelte den Kopf. Ihre Stimme erreichte eine
gefährliche Tonhöhe und ging in ein trauriges Piepsen über.
„Ich weiß nicht ...“
„Ich verstehe. Weil Sie kein Geld haben, wissen Sie nicht,
wo Sie übernachten sollen, reden wir nicht um den Brei herum, ich bringe Sie also zu mir nach Hause und schlafe selbst
bei einem Freund, wir hatten sowieso vor uns zu treffen.“
Sie hob den Kopf, aber in der Dunkelheit konnte er ihren
Blick nicht lesen, er sprach also schnell weiter: „Ich wohne
alleine, niemand wird Sie stören. Ich gebe Ihnen die Schlüssel, wenn Ihnen das lieber ist ... Morgen geben Sie sie bei der
Nachbarin ab. Man muss sich ausschlafen, und dann findet
sich auch eine Lösung, früher oder später. Ich lasse Ihnen
mein Handy, da haben Sie alle meine wichtigen Nummern,
einschließlich der Nummer meines Freundes, den ich jetzt
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gleich anrufen werde, falls Sie mir nicht glauben oder es ein
Problem geben sollte, Sie werden einfach ruhig schlafen können bis morgen, und das ist ja wohl jetzt das wichtigste.“
Als er geendet hatte, ließ er eine Menge Luft ab, wobei er
sich wunderte, wo sich diese die ganze Zeit über versteckt
hatte. Die Frau sagte eine Weile nichts.
„Es ist ein Uhr vierzig“, sagte sie schließlich, wonach sie
wieder verstummte. Błażej nickte und wartete darauf, dass
sie ihren Gedanken ausführte. „Sie sind ... unglaublich höflich. Was soll’s, hab’ ja auch ... nicht die Wahl, verdammt ...
Stimmt, ich weiß nicht mehr weiter. Das ist überhaupt ein
Alptraum.“
Sie vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und verharrte
in dieser Position so lange, dass Błażej irgendwann aufstehen
musste, um sich die Beine zu vertreten. Von der Kühle der
Nacht war nur wenig zu spüren, und die Konzentration der
sauerstofflosen Suspension hinderte ihn daran, seine Gedanken zu sammeln. Er begann sich mit einem Stadtplan, von
dem sich schon der Umschlag löste, Luft zuzufächeln, die
Frau blickte ihn an, also gab er ihr den Stadtplan und holte
sich aus dem Handschuhfach eine alte Zeitung. So saßen sie
eine Weile schweigend da und fächelten sich, aber der Raum
zwischen ihnen wurde ausgefüllt vom Knirschen rieselnder
Gedanken, Entscheidungen, verschiedener schwarz-weißer
Pros und Kontras.
„Sie sind unheimlich lieb ...“, sie hob den Kopf und lächelte. „Ich hoffe, die Schwierigkeiten, die ich Ihnen seit ein paar
Stunden mache ...“
„Kein Problem. Wirklich.“
„Ich heiße übrigens Marta“, sie streckte ihm ihre verschwitzte Hand hin, die mit einem silbernen Ehering bestückt war.
„Und ich Błażej”, lächelte er, ihren Händedruck erwidernd, dann wählte er Mateusz’ Nummer.
„Wollen Sie jetzt anrufen? Es ist fast zwei Uhr nachts.“
„Erstens, heißt das nicht Sie, sondern Błażej. Zweitens, als
wir zehn Jahre alt waren, haben Mateusz und seine Kumpel mir im Ferienlager am See abends ein Schlafmittel in
den Tee getan und in der Nacht mein Bett mit mir auf zwei
Boote gesetzt. Auf einem solchen Katamaran wachte ich auf,
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
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Entschuldige dich: ein Spielerratgeber
Muza
Warsaw 2008
130 × 215 • 566 pages
paperback
ISBN: 978-83-7495-546-1
Translation rights:
Aleksander Kościów
Contact: Muza
57
Aleksander Kościów
mit fürchterlichen Kopfschmerzen, mitten auf dem nebligen
See, umgeben von irgendwelchen Haubentauchern. Es ist
mein gutes Recht, ihn um zwei Uhr nachts anzurufen, keine
Sorge.“
Die Frau schnaubte durch die Nase, sie lächelte unmerklich und schaute sich dabei um. Während er Mateusz die
Situation erläuterte, schüttelte sie nur mit dem Kopf, blickte
hin und wieder zu Błażej herüber und schob das Lächeln unwillkürlich in die Mundwinkel, damit es kleiner wäre, falls es
bemerkt werden sollte.
„Geht klar. Sie haben übrigens gar nicht geschlafen. Wir
hatten sowieso vor uns zu treffen, nach ihrer Rückkehr aus
Portugal, also kann es auch jetzt sein.“
„Nicht schlecht“, sagte sie nur und ließ sich die Tasche
abnehmen, die auf dem Rücksitz landete.
„Na also“, befand Błażej, als er sich hinter das Steuer setzte
und ihr ein zweites, frisch befeuchtetes Handtuch reichte.
„Zeit zum Schlafen. Morgen wird alles gut werden.“
Marta machte ein trübsinniges Gesicht, nickte aber zustimmend. Unterwegs machten sie noch an einer 24-Stunden-Tankstelle halt. Als Błażej zum Auto zurückkam, sagte
sie leise:
„Ich bin gestern nach Warschau gekommen. Ich bin aus
Krakau. Ich bin hierher gefahren, weil es so aussieht, als wäre
mein kleiner Junge verschwunden. Er ist zehn.“
Sie fuhren durch leere Straßen, das Spiel der Lichter und
ihrer Trugbilder, die von der Frontscheibe zurückgeworfen
wurden, wies ihnen den Weg. Błażej war an den Kreuzungen
übervorsichtig, schaute mehrmals nach links und rechts und
war mit verschiedenen zusätzlichen Tätigkeiten beschäftigt,
spritzte Wasser auf die Windschutzscheibe oder überprüfte,
wie viel Spiel der Schaltknüppel hatte. Marta lehnte die Stirn
an ihr Spiegelbild im Fenster. Das war schon nicht mehr die
direkte Fortsetzung dieses verrückten Abends mit dem bekloppten Teenager, der so tat als sei er bewusstlos, und der
Suche nach einem Hotel; das war es nicht mehr.
Gesten
Ignacy Karpowicz
58
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Grażyna Samulska
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bleibt bei ihr. Er denkt über seine Vergangenheit nach, versucht
sie zu verarbeiten, sein Leben in Ordnung zu bringen. Er hat jedoch nicht allzu viel Zeit, er erfährt nämlich, dass er krebskrank
ist. Eine psychologisch präzise und erschütternde Analyse eines
„vom Schicksal geschlagenen Mannes“. Kurz gesagt: Ein starkes
Stück Literatur.
Gesten
Robert Ostaszewski
Ignacy Karpowicz
(geb. 1976) Erzähler,
Reisender, Übersetzer. Gesten ist sein viertes Buch.
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59
Ignacy Karpowicz
Bisher kannte man Ignacy Karpowicz vor allem als einen Prosaschriftsteller, der grotesk und ironisch, mit einem ganz eigenen
Humor, vom heutigen Polen erzählte (ich denke hier an die Ro­
mane Nicht der Hit und Das Wunder). In seinem neuesten Buch,
dem Roman Gesten, hat er das Genre und den Ton gewechselt,
der jetzt ein ganz ernster ist. Und – das sei gleich vorweggeschickt
– bewiesen, dass er ein ungewöhnlich vielseitiger Schriftsteller
ist, der hervorragend mit verschiedenen Stilen zurechtkommt.
Das Buch besteht aus den Aufzeichnungen des vierzigjährigen
Helden und schildert hauptsächlich die letzten Monate seines
Lebens, ergänzt um eine kurze Glosse (das ist auch der Titel
des letzten Kapitels) von seiner ersten, großen und praktisch
einzigen Liebe, die er bereits als Jugendlicher verließ, als sie
krank wurde. Der Eintritt ins „Mannesalter“ ist für Grzegorz das
„Tor zur Niederlage“, zwar ist er ein gefragter Theaterregisseur
und Drehbuchautor, kommt aber mit seinem Leben überhaupt
nicht klar. Er leidet an Schlaflosigkeit, verschiedenen Traumata
und Phobien, seine Beziehungen zu
Angehörigen und Freunden sind toxisch, zu Frauen kann er keine festen
Bindungen aufbauen – überhaupt
scheint er ein sehr asozialer Typ zu sein. Sein Hauptproblem ist
aber wahrscheinlich, dass er nicht weiß, wozu und wie er leben
soll. Er erklärt sich das u.a. so: „Ich bin das Kind meiner Eltern,
das versteht sich von selbst, und ein Kind des Mangels. Es fehlte an Grundnahrungsmitteln und Produkten des täglichen Gebrauchs: Fleisch, Zucker, Hefe, Toilettenpapier – aber es fehlte
auch an Autoritäten und Vorbildern“. An anderer Stelle bemerkt
er: „Mein Leben scheint mir keinen Inhalt zu haben. Daher bemühe ich mich, ihm eine Form zu geben“, seine Reaktionen auf
den Alltag sind nichts weiter als einstudierte Gesten, als spielte er eine Rolle in einer schlechten Fernsehserie (nicht zufällig
schaut sich der Held gegen Ende seines Lebens leidenschaftlich
gerne kitschige Fernsehserien an). Grzegorz’ Leben ändert sich
plötzlich – und für ihn völlig unerwartet –, als er beschließt, in
Sorge versetzt durch die Anrufe der allein lebenden Mutter, sie
nach Jahren mal wieder im heimatlichen Białystok zu besuchen.
Es stellt sich heraus, dass die Mutter schwer krank ist, Grzegorz
Gesten
Wenns und Als
Ignacy Karpowicz
60
Wenn mein Bruder über meine ausgestreckten Beine steigen
musste, sagte er: „Nimm deine Prothesen weg!“.
Wenn Mutter Angst vor etwas hatte, begann sie zu essen. Sie
hatte mehr Angst um andere als um sich selbst.
Vor dem Tod des Vaters ging sie auf die Hundert zu.
Wenn Vater gut gelaunt war und Zeit hatte, trug er mich
huckepack.
Wenn ich gut gelaunt war, verbrachte ich in Gedanken Zeit
mit der Familie und den Freunden.
Wenn Zuza jemanden zu mögen begann, wurde sie unfreundlich: für alle Fälle.
Wenn ich als Student Oma besuchte, weinte sie vor Glück.
Sie starb an Dehydration. Ich fuhr nicht zur Beerdigung, ich
hatte gerade ein Stipendium im Ausland. Mutter meinte,
man solle mir nicht Bescheid sagen.
Wenn mein Bruder sein Blut sah, wurde er ohnmächtig.
Wenn Mutter jemanden bluten sah, wusste sie genau, was zu
tun war, null Panik. Ein Handgriff führte mit chirurgischer
Präzision zum nächsten, einen Schnitt im Gewebe der Wirklichkeit hinterlassend.
Als mir klar wurde, dass ich nicht besonders begabt bin und
die Arbeitswut mich nur im Extremfall packt, wollte ich die
Arbeit schmeißen.
Als Vater starb, dachte ich, dass jetzt meine Freunde zu sterben beginnen. Ich schämte mich: Mein Vater war nicht mein
Freund. Freunde kann man sich aussuchen.
Als ich Kasia das erste Mal im Krankenhaus besuchte, ich
glaube, da wusste sie es schon.
Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich nur den Grabstein
der Eltern.
Wenn ich in die Vergangenheit blicke, sehe ich die Zukunft.
Drüsen
Schweiß, Talg und Milch,
Speichel, Schleim und Galle.
Das ist vermutlich alles, was
der menschliche Körper, komplett und geschlossen, hervorzubringen vermag. Dazu noch den Ton der Stimmbänder.
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Manchmal Blut aus der Nase, aus der Lunge, im Urin; den
Auserwählten öffnen sich die Stigmata. Und noch Tränen.
„Wen lädtst du zu deinem Geburtstag ein?“, fragt Mutter
nicht zum ersten Mal am nächsten Tag. Ich weiß nicht, wie
ich diese Frage verstehen soll. Ist es eine automatische Frage
(Schlaganfall im Dezember)? Eine gedankenlose Frage (Mutter hat vergessen, dass ich in Białystok keine Freunde habe)?
Oder vielleicht eine boshafte Frage („Meinen Bruder“, würde die Antwort mit der Höchstpunktzahl lauten)?
„Pawel“, antworte ich.
„Pawel“, wiederholt Mutter wie ein Echo. Wie ein hämisches
Echo.
Bereits im Krankenhaus, auf der anderen Seite, nachdem
ich einen Platten gehabt hatte, beschloss ich, dass ich nicht
viel denken werde, nicht mehr als die empfohlene Dosis. Ich
lasse mich von Sätzen nicht ergreifen, von Wörtern nicht
entführen: ich werde meiner ersten, mir selbst aufgezwungenen Liebe treu bleiben. Danach, ich weiß nicht wann, schon
bald, zwinge ich mich das Resümee zu ziehen. Den Inhalt
des Resümees kenne ich. Bleiben nur noch die Schlussfolgerungen. Die Schlussfolgerungen kenne ich nicht. Für die
Schlussfolgerungen ist es schon zu spät. Man hat den Menschen auf verschiedene Weise in Einzelteile zerlegt. Die einfachste Zerlegung beschränkt sich auf die Bekleidung (das
Flaschendrehen zum Beispiel). Etwas komplizierter ist die
Zweiteilung in Seele und Körper. Die etwas ältere und edlere Teilung, die für die vom römischen Katholizismus (zu
seinem eigenen Verhängnis, wie ich zu meiner Schadenfreude feststellen muss) entworfene Konsumwelt zu kompliziert
war, verlor an Bedeutung, weil dafür ein beweglicher und
scholastischer Geist erforderlich ist. Ich denke an die Dreiteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist.
Am geheimnisvollsten ist der Geist, er ist sowohl eine Selbstverständlichkeit als auch eine Notwendigkeit, die jeden Körper durchdringt. Der Geist ist größer als die Person, aber
individuell ausgeformt. Den Geist sieht man nicht. Er ähnelt
der Luft, die immer da ist. Das Fehlen des Geistes führt zu
Atemstillstand, zu einem qualvollen Tod, gegen den keine
Berufung eingelegt werden kann: das Himmlische Tribunal
tritt nicht zusammen.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
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Gesten
Wydawnictwo Literackie
Cracow 2008
148 × 210 • 240 pages
paperback
ISBN: 978-83-08-04260-1
Translation rights:
Wydawnictwo Literackie
Contact:
Wydawnictwo Literackie
61
Ignacy Karpowicz
Im zwanzigsten Jahrhundert ging das Zerlegen des Menschen
weiter: zunächst bis auf den Bikini, dann wurde auch die
Haut abgezogen, die Totalitarismen ließen die Seele in Rauch
aufgehen, millionenfach. Es siegten die Holisten: die Meister
des intellektuellen Puddings, die Herren der Vereinfachung.
Man hat die Seele aus dem Körper vertrieben. Sie überlebte
in Sätzen als Subjekt, zum Beispiel, als archaisches Substantiv. Die Seele benutzt man nicht, selbst jene sichtbare in den
Bügeleisen verstaubt auf Dachböden und in Museen.
Außer hypochondrischen Neigungen zeigte ich einen Hang
zum Solipsismus. Der Solipsismus, durch Personen und Ereignisse, Rechnungen und Kontostand verifiziert, konnte
sich nicht in dem Maße entwickeln, dass er dem Träger Erleichterung verschafft hätte. Der Solipsismus blieb eine verlockende, unerreichbare und – manchmal – melancholisch
machende Vision.
Das einzige Überbleibsel des Solipsismus ist vermutlich die
ziemlich absurde Überzeugung, dass die menschlichen Körper nicht nur elektrische Energie produzieren, so als wären sie
zweibeinige Batterien – es gibt kein Denken ohne Strom: totale Verdunkelung heißt vollkommene Einöde, Wüste, für deren
Ausgestaltung es an Ideen, aber auch an Zeit fehlt. Im menschlichen Körper muss ein Organ existieren, siebenunddreißigstens, ein Organ, das immer noch darauf wartet, entdeckt zu
werden, eine Drüse, die Zeit produziert. Körper produzieren
Zeit. Je mehr Körper, desto mehr Zeit. Je mehr Zeit, desto geringer die Chance, sich die Zeit zunutze zu machen. Mit meiner Zeitdrüse begann es vor einiger Zeit bergab zu gehen. Ich
hatte den Moment nicht bemerkt, falls es einen solchen Moment überhaupt gegeben haben sollte, als etwas anfing, mit
der Zeit nicht mehr in Ordnung zu sein. Sie fließt sprunghaft,
von Ereignis zu Ereignis, stürzt ab wie ein Betriebssystem,
wochenlang: Ich sehe dann den blauen Bildschirm des Todes
– ein kritischer Fehler, die Chancen sind praktisch gleich null,
die Daten aus dem RAM-Arbeitsspeicher wiederzugewinnen;
witzig ist, dass die Abkürzung RAM Speicher mit wahlfreiem
Zugang bedeutet. Man muss die Welt resetten. Reset ist ein
Wort, das das ältere Wort Reinkarnation verdrängt hat.
Jacek Podsiadło
62
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Das Leben und insbesondere der Tod
Angélique de Sancés
(geb.1964) Dichter,
Erzähler, Feuilletonist, gilt als einer der
wichtigsten Lyriker der mittleren Generation.
Marta Mizuro
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Das Leben und insbesondere der Tod
Angélique de Sancés
Jacek Podsiadło
63
Jacek Podsiadło
Weshalb muss Jacek Podsiadło ständig unterwegs sein? Nicht
deshalb, weil bereits zahllose Wege angelegt sind und genauso viele darauf harren, ausgetreten zu werden. Der Verfasser
von Das Leben und insbesondere der Tod Angélique de Sancés
zieht nicht los, um Weg und Wahrheit zu begegnen, auch wenn
er beide ganz groß schreibt, sondern der Sprache. Die es gibt
– aber wie. Und dank der sogar auf dem Wegstück von Zuhause
zum Kiosk Abenteuerliches geschehen kann.
Der brillante Dichter und Feuilletonist, der hier als Erzähler debütiert, sagt über seine Begegnung mit dem Weg, der Sprache,
dem Abenteuer (und bisweilen auch der Wahrheit): „Man muss
vor allem festhalten, dass unsere Reise kein wirkliches Ziel
hat.”
Das sind keine leeren Worte, denn der Autor versteht es, alles zu verzaubern, was er sieht, hört und kostet. Er beschwört
nicht nur das Reale, sondern webt auf der Leinwand der Wirklichkeit gleich der Spinne Jelitko Unwirkliches. Zuallererst mit
der Spinne, die als erste mit einem
Namen beschenkt wird und später
an mehreren Romanepisoden unter
Mitwirkung Angélique de Sancés,
Rescators, Draculas, des Schamanen und anderer teilnimmt. Die Kapitel, die auf einem Spiel mit dem fremden Text basieren (z.B.
der Poetik des im Buch oft angeführten Richard Brautigan), beweisen, dass Podsiadło ein literarischer Schamane ist, der sich
durch die höchste Weihestufe ausweisen kann. Sie harmonieren
dabei perfekt mit den illusionistischen „Übungen”, die darin bestehen, im Namen der Poesie oder des Lachens reale Situationen zu überformen.
Podsiadło interessieren alle Wege – auch die bekannten, wie
die Straße, die in die Slowakei führt, zu Egon Bondy, und die
unbekannten Pfade, die zum ersten Mal erkundet werden. Von
den Trassen, die im Roman verzeichnet sind, gibt es tatsächlich
Hunderte, trotzdem versteht es der Reiseführer und Erzähler in
einem, sogar eine Irrfahrt auf ihnen in ein Abenteuer zu verwandeln. Und das Ganze erscheint als eine Reise, auf die sich in der
polnischen Literatur bislang niemand gemacht hat.
Das Leben und insbesondere der Tod
Angélique de Sancés
Wenn
Jacek Podsiadło
64
der Tod kommt, muss man da mischte sich immer angenehmer mit den von überall heransein, wo er hinkommt, sonst wird dringenden Echos von Salven und Saluten. Als die Kanoes nichts.
nade und die Schreie ihren Höhepunkt erreichten, geschah
etwas Seltsames. Das Zischen verstummte.
Für Dorota Różycka
Ich räusperte mich. Gedankenverloren rieb ich mir das
Kinn mit der Ferse. Ich stand auf, machte das Licht an und
Mit Beginn des neuen Jahrs hatte ich beschlossen, ein neues griff nach der Sylvesterausgabe der Zeitung. In einem dicLeben zu beginnen. Keine Verspätungen mehr. Keine Laus- ken Rahmen fand ich unter den Notrufen die Nummer des
bübereien mehr. Nie wieder Martini im Express nach Kra- Gasalarms. Trotz des Maulkorbs um meine Hände gelang es
kau, wenn man sich die Reiseödnis mit der schönen Lektüre mir, sie zu wählen.
schöner Literatur in einem leichten, kunstvollen Rausch ver„Ist da der Gasnotruf?”
süßt. Keine Lektüren mehr, das war das Wichtigste. Ich setz„Gas, ja, ja, Gas.”
te mich, um mein Abschiedspoem unter dem Titel „Meine
„Ein gutes Neues Jahr.”
Rêverie“ zu verfassen.
„Die Gasmänner sind immer auf ihrem Posten.”
„Das ehrt Sie sehr. Und bei mir gab es gerade zu wenig
Meine Rêverie
Gas, Herr Gasmann.”
Meiner Everie
„Wann?”
„Vor einem Augenblick, wahrscheinlich genau um Mitternacht.”
Mir träumte, dass wir einst am Abend
„Also doch, das hatten wir erwartet.”
„Ich kann Ihnen nicht folgen.”
Weiter kam ich nicht, weil ich keinen Reim auf „Abend”
„Das Zweitausendjahrproblem.”
fand, abgesehen von „grabend”, das mir überhaupt nicht in
„Was für ein Problem?”
das Gedicht passen wollte. Mir träumte, dass wir einst am
„Zweitausendjahr. Der Anfang vom Ende. Haben Sie eiAbend zum Graben gingen. Grabend? Nie hatte ich beim nen Computer?”
Herumtoben mit Everie Gräben gegraben. Ich nässte das
„Nein, ich schreibe auf der Maschine.”
für das Abschiedspoem bereit liegende Papier und dichte„Na, dann gehen Sie bitte zu Ihrer Maschine und versute mit dem entstandenen Papierbrei die Fenster ab. So ent- chen Sie, etwas zu schreiben. Entschuldigung, das andere
stand Papier-Maché II. Ich nahm den Kaugummi aus dem Telefon klingelt. Gutes Neues.”
Mund und verklebte damit den Spion. Die Lüftungsritzen
Ich ging zur Maschine und versuchte den Titel „das lein Küche und Bad verhängte ich mit den erstbesten Bildern. ben und insbesondere der tod angélique de sancés”
Das erinnerte mich daran, wie Letycja, als sie noch ganz zu schreiben. Meine Maschine schrieb nicht, die Buchstaklein war, beim Anblick ihrer beiden Omas auf einmal sag- ben erhoben sich, anstatt auf dem Papier zu bleiben, wie ein
te: „Scheußlich alte Ritzen”. Draußen hörte man schon die Schwarm befreiter, feministischer Fliegen in die Lüfte.
ersten Champagnerkorken und Feuerwerksraketen knallen.
Ich legte Marcel Ponseeles Platte auf, der Sonaten für Oboe
Ich löschte das Licht. Drehte alle Gashähne auf, legte mich und Bazooka herausschmettert, doch stattdessen hörte ich
auf den Küchentisch und einen Maulkorb um meine Hän- in einem fort Robert Wyatt „Yolanda” singen. Es gelang mir
de, einen Rosenkranz hatte ich nämlich nicht. Dafür hatte nicht, die Platte anzuhalten. Von diesem Augenblick an überich einen Hund, die räudigblinde Everie. Nie wieder blinde, schlugen sich die Ereignisse, wie man so sagt, lawinenartig.
räudige Hündinnen. Das Zischen der Brenner beruhigte und
Im Eisschrank wuchsen Schneeglöckchen. Die Dusche riss
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Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
Znak
Cracow 2008
124 × 195 • 320 pages
paperback
ISBN: 978-83-240-1016-5
Translation rights: Znak
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Das Leben und insbesondere der Tod
Angélique de Sancés
habe Probleme mit dem Einschlafen, und Rasieren will ich
mich nicht, ehrlich gesagt rasiere ich mich wider mich selbst.
Ich versuche die Zukunft aus den neuen Augen meiner alten
Hündin zu lesen, die so rund sind wie zwei Nullen.
65
Jacek Podsiadło
nicht ab von Anrufen von Bekannten, die fragten, wie ich
mich im neuen Jahr fühlte. Der Staubsauger spuckte den
ganzen Müll aus und beschloss mit dem Haarfön Kinder
zu haben. Nach Ingangsetzung des Spülkastens strömte das
Wasser aus der Schüssel empor und verschwand in Rohren,
die gen Himmel führten. Geschichtsbücher über das dritte
Jahrtausend werden mit den Worten enden: „Und es ward
zum Wasserreservoir.”
Meine blinde Hündin Everie, die ich nach mehreren Tagen
aus dem Tierheim abholte, erlangte ihr Augenlicht zurück.
Jetzt sah sie sogar die Zukunft. Sie las sich in Geschichtsbüchern über unsere wundersame Epoche fest. Die Skispringer
sprangen bei der Vierschanzentournee rückwärts. Ein geplagter Nachbar klagte mir auf der Treppe, dass seine Frau,
die bisher rechtschaffen und allem Abartigen abhold war,
wünschte, jetzt nur noch von hinten genommen zu werden.
„Das nennt sich: Umgekehrte Welt, habe ich in einem
gewissen Buch gelesen. Und bei mir will die Dusche nicht
abreißen.”
„Was ist schon die Dusche, wenn die eigene Ehefrau
wünscht, ausschließlich von hinten genommen zu werden.”
„Dann nimm sie”, zuckte ich die Achseln.
„Wenn er mir aber nicht steht.”
„Drück dich aus. Ich habe die Absicht, den Außergewöhnlichkeiten dieser Tage eine Dokumentarerzählung für künftige Generationen zu widmen, zur Warnung.”
„Also was ist, kann ich keine Erektion bekommen, ja?”
„Vielleicht bist du nach all den Feiertagen einfach zu volltrunken?”
„Nein. Ich komme gerade vom Sexuologen zurück, aus
Warschau. Das Problem, das ich habe, ist das Zweitausendjahrproblem, das hat er gesagt. Und ist bei dir in der Sache
alles in Ordnung?”
Alles durch die Nullen, mit denen plötzlich die Daten
endeten. Am Ende allen Denken und Tuns steht jetzt eine
unvermeidliche, aufgeblasene Null. Die Schuhe, auf deren
Sohlen der Schnee schmilzt, hinterlassen bei jedem Schritt
eine neue Null auf dem Fußboden. Die Null belegt das ganze
Bett, als ich schlafen gehen will, eine gelängte Null schaut
mir morgens beim Rasieren aus dem Spiegel entgegen. Ich
Der Taschenfrauenatlas
Sylwia Chutnik
66
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Mikołaj Długosz
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Marta Mizuro
Sylwia Chutnik
(geb. 1979) Absolventin
der Kulturwissenschaften und Gender Studies,
NGO-Aktivistin, Vorsitzende der Stiftung MaMa,
Stadtführerin in Warschau.
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Der Taschenfrauenatlas
eine Dokumentarbiologin erforderlich ist, verdeckt ihre enorme
Empfindsamkeit nicht. Sie ist es, die neben der durchdachten
Konzeption des Erzählbands und der Fähigkeit, sowohl Handlungsfäden zu spinnen wie auch glaubwürdige Porträts sozialer
Gruppen oder Individuen zu konstruieren, die junge Autorin
auszeichnet. Chutnik ist mit Sicherheit am interessantesten unter
den dieses Jahr debütierenden Zwanzigjährigen.
67
Sylwia Chutnik
Jedes Kapitel des Taschenfrauenatlas beginnt mit einer „Panoramafotografie”, in der namenlose weibliche Typen dargestellt
und deren Daseinsbedingungen ausgeführt werden. Danach
geht die Autorin zur „Nahaufnahme” über und konzentriert sich
auf eine einzige ausgewählte Repräsentantin der von ihr unterschiedenen „Gattungen”. Die vier Hauptfiguren stehen für
verschiedene HeldInnengenerationen – eine von ihnen ist ein
feminisierter Mann – und sie verbindet die Tatsache, dass sie
im selben Haus leben. Ihre Einzelwelten fügen sich also zu einer
Wirklichkeit. Wenn man diese als „Wirklichkeit der Opaczewska-Straße” in Warschau deutet, kann man – unter Verwendung
der biologischen Kriterien Sylwia Chutniks – von dem Haus als
einem Ökosystem sprechen und von seinen BewohnerInnen als
RepräsentantInnen einer autochthonen Gattung, die über die
Beziehungen zur Außenwelt entscheidet.
Wenn man die beiden Techniken, die die Schriftstellerin
anwendet, zusammenführt, drängt
sich der Vergleich zum Naturfilm auf.
Aber: Die ausgewählten Typen sind
nicht repräsentativ, sie spiegeln kein
charakteristisches
Lebensmodell
wieder, sondern sind eindrucksvoll
psychologisch. Die Autorin verfährt nicht wie eine Behavioristin,
sondern sie blickt in die Seelen der Porträtierten. Oder besser
sie erschafft ihnen eine Seele.
Zum Beispiel kann Maria sich immer noch nicht vom Kriegstrauma befreien. Sie war eine tapfere Meldegängerin des Warschauer Aufstands, durch ein Wunder entrann sie dem Tod, und
stirbt jetzt in völliger Vereinsamung. Kränklich und hilflos ringt
sie sich zu ihrer letzten Protesthandlung auf, sie ist sich jedoch
darüber im Klaren, dass ihre selbstmörderische Demonstration
unbemerkt bleiben wird. Der Fall Marias spiegelt das Schicksal
der alten Helden, die gegen Ende ihres Lebens zum Vergessen
und zum Dahinvegetieren unter furchtbaren Bedingungen verdammt sind.
Die anderen im Buch beschriebenen Schicksale sind ebenso
rührend, auch wenn Chutnik sie in einer tragikomischen Tonlage
beschreibt. Die Distanz, mit der sie ihnen begegnet und die für
Der Taschenfrauenatlas
Die
Sylwia Chutnik
68
Hausfrau vom Tage der Geburt bis zu ihrem
Tode. Teilnehmerin des RundumdieUhrHappenings „Für eine saubere Welt”.
Ihr Leben sind immer neue Fortsetzungen eines unendlichen Bandwurms. Tausende sinnloser, öder Arbeiten. Versunken in sich wiederholende Tätigkeiten, Gesten nimmt
sie das Leben so, wie es ist. Ohne irritierende Anfälle von
Aufbegehren, existenzielle Vorwürfe, geschmacklose Rebellionen. TagWaschenPutzenNachtTag...
Die Hausfrau sieht ein, dass das Hinnehmen sich wiederholender Tätigkeiten das Dasein regelt. Sie kann eine
pulsierende Spannung in einem Brosamen Wirklichkeit
finden und sie aufrechterhalten. Dank dessen rettet sie all
die undankbaren Leichtfüße, die morgens das Bett nicht
machen, kein anderes Messer für die Butter verwenden und
nie – aber wirklich nie – den Boden hinter dem Backofen
aufwischen.
Die Hausfrau verwaltet Aufgaben, führt sie zu ihrem
glücklichen Finale. Danach geht sie ohne Ruhepause, Urlaub
und Lorbeeren fließend zur nächsten Bühne über. Das Bühnenbild findet Raum auf ein paar Dutzend Quadratmetern.
Zu ihm gehören vor allem Waschmaschine, Kühlschrank,
Fenster, Möbel und Boden. Die Hausfrau ist auch die Familienmanagerin, die berühmte Gastromutter. Das häusliche
Matriarchat, das hauptsächlich ans Essen geknüpft ist, stopft
den Frauen den Mund. Was soll das heißen, zeigt es, ihr habt
keine Macht? Ihr seid doch die wahren Königinnen des Heimischen Herdes, don’t you see?
Wahre Macht ist die von unten, unter der Maske eines
Stapels Teller und den Resten einer gebrutzelten Ente. Die
Frau kann die Mahlzeit planen, die Zeit und Art ihrer Darreichung. Helfen lässt sie sich nicht, das Rezept verrät sie
nicht. Sie schuftet in der dunstverhangenen Küche, holt
sich noch ein paar Krampfadern beim ewigen Aufpassen
aufs Gas. Zur Belohnung isst sie die Reste vom Mittagessen,
leckt die Teller leer, knabbert die Knochen ab. Die Gastromutter stiehlt sich, wenn alle längst schlafen, in die aufgeräumte Küche und streichelt sanft die Haushaltsgeräte. Still,
schlaft, ihr Kinderchen, morgen erwartet euch die nächste
Arbeit. Die Welt ist nicht schlecht, die Hausfrau ist nicht
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traurig. Zuhause ist alles an seinem Platz, und jeder in der
Familie hat seine Rolle. Ohne überflüssige Castings nimmt
die Hausfrau mit einer schlichten Geste das Drehbuch vom
Tisch und beginnt es zu spielen. Na, irgendjemand muss das
tun. Stimmt schon, der Haushalt wurde in hohem Maße
technisiert, aber Chefin gibt es nur eine. Und die Kinder?
Sie eifern der Königin des Küchenreiches nach oder rebellieren und ziehen aus.
Und so nimmt unsere Mania neben den Haushaltstätigkeiten eine Erwerbstätigkeit auf.
“Die ist irgendwie verhext, schau die Augen”, und sofort
konnte man sehen, dass das Mädchen nicht für den Basar
taugte. Maria schaute ins Weite und träumte von schönen
königlichen Gemächern. Doch sie war wie das blöde Aschentrampel ein Mädchen für alles. Um ihren Kopf flatterten die
Fetzen von Basardialogen. Die Würze, die die Verkäufer beisteuerten:
„Scheißkerl, du hast mir das Leben verschissen.”
„Ich? Ach was, gib Ruh, du übertreibst.”
Daneben:
„Und ich war bei der Morgenmesse, ich sage Ihnen, liebe
Frau, und der Priester hat so schön über die Toten und diese,
na die Politiker gesprochen.”
Maria versuchte, das Stimmengewirr der in den Bart gebrummten, gezischten, herausgebrüllten und -gespuckten
Gespräche nicht zu hören. Sie sehnte sich nach Stille, nach
einem Schweigeorden, Vipassanna und einer Stromsperre
für den gesamten Basar. Ihre Mutter, die Matrioschka der
Haushaltswarenallee, sprach mit donnernder und endgültiger Stimme in einem fort auf ihr einziges Kind ein. Sie hatte
die Macht gepachtet, und sie konnte ausfallend werden. Wie
ein Gift und Galle spritzender Starkstrom. Dass Vater sie zu
selten übers Knie gelegt hatte, dass er sie verdorben hatte.
Dass sie bucklig und ein Faulpelz war. Das Haar so glattgeleckt, dünn bis dorthinaus, ohne einen Zopf. Dass sie am
Stand ein bisschen Fleisch zeigen soll, denn wenn die Jungs
kommen, laufen sie gleich nochmal so schnell wieder weg.
Es stimmt, Maria hatte mit dem anderen Geschlecht nicht
allzu viel zu schaffen. Keine gebrochenen Herzen, nur alte
Macker küssten ihr die Hand und starrten aufs Dekolleté.
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
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Der Taschenfrauenatlas
Korporacja Ha!art
Cracow 2008
110 × 180 • 232 pages
paperback
ISBN: 978-83-89911-99-5
Translation rights:
Sylwia Chutnik
Contact: Korporacja Ha!art
69
Sylwia Chutnik
Aber war das Liebe und gab es sie denn überhaupt? War sie
nicht dort, weit weg, draußen hinterm Glas des Fernsehers,
und gab es sie nicht nur in Amerika oder Brasilien?
Kommt ‘ne Oma an den Stand und sagt: „Fräuleinsche,
gem Sie mir mal den Teekessel da, weil mein Kerl unsren
schon wieder hat anbrennen lassen, Scheißkram. Er hat die
Spiele geglotzt wie ein Weltmeister, Wasser aufgesetzt und
es vergessen. Soll ihn doch, das Opfer. Ich halte ihn mir
nur noch zu Hause, damit er mir den Rücken kratzt, wenn’s
juckt. Vierzig Jahre Ehe und da hast du’s!”. Worauf sich Marias Mutter lachend zu Wort meldet: „Und woanders juckt
es sie nicht?”.
Und Maria senkt die Augen, weil sie auf dem Basar das Leben erlernt hat. Jetzt weiß sie, was eine Straßenstricherin ist
und was G-Punkt bedeutet. In den Kiosks liegen die Nummern von „BravoGirl”, und drin stehen Ratschläge. Ein seltsames Geheimwissen auf dem Terrain des elterlichen Betts.
“Liebe Bravo – ich bin dreizehn Jahre alt und seit zwei Jahren
mache ich es mit meinem Freund. Ich schreibe, weil ich nicht
weiß, ob wir, wenn wir lange Zungenküsse machen, dann
auch Kinder kriegen können? Eure treue Leserin”. Und die
Redaktion schreibt zurück, dass man über die Pubertätsprobleme mit der Mama, einem Pädagogen oder einem Priester
reden soll und dass Jungs außerdem gerne an Brustnippeln
rumbeißen. Daneben bunte Bilder, die ein Paar im Negligé
in liebender Umarmung zeigen.
Marias Phantasie arbeitet, aber sie ist nicht in der Lage,
sich für Liebesdinge zu erwärmen. Sogar wenn ihr für einen
Augenblick einmal ein paar Schmetterlinge durch den Bauch
flattern. Dann überkommt sie die Dumpfheit. Sie träumt
von Liebe, aber sie weiß nicht, was sie mit ihr anfangen sollte. Sich zurücklehnen wie eine Schauspielerin? Die Augen
schließen und den Mund öffnen?
Eins ist keins
Piotr Milewski
70
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Dariusz Szurlej
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originelle Buch ist ein Beweis dafür, dass „das Leben die bessere
Literatur ist“. Nicht jeder versteht es jedoch sich das Schicksal
zunutze zu machen, um Schriftsteller zu werden. Zum Schluss
muss nämlich ausdrücklich betont werden, dass Eins ist keins ein
Debüt ist. Und zwar ein außerordentlich reifes.
Piotr Milewski, gelernter Jurist, arbeitet als
Journalist, seit 1992 US-Korrespondent polnischer
Medien.
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Eins ist keins
Marta Mizuro
71
Piotr Milewski
„Das alles ist wirklich passiert. Ich habe nur die Namen geändert. Sie aber nur leicht variiert“, schickt Milewski als Motto seines Buches voraus. 2006 amüsiert sich ein polnischer Journalist
in einem New Yorker Club und nimmt dabei verbotene Substanzen ein. Er gerät in eine Rauschgiftrazzia, wird festgenommen
und kommt vor Gericht. Er verzichtet jedoch freiwillig auf einen
Prozess und meldet sich zu einer einjährigen Zwangstherapie. Er
unterzieht sich ihr zusammen mit Afroamerikanern und Latinos,
deren Sozialprognosen in der Mehrzahl der Fälle nicht gerade
rosig sind. Während des Jahres, das in dieser belletristischen
Reportage beschrieben wird, muss Milewski versuchen das
Vertrauen seiner Leidensgenossen zu gewinnen, gegen das Gefühl der Sinnlosigkeit kämpfen und brav seine Strafe absitzen.
Hält er nicht durch, landet er im Gefängnis.
Eins ist keins ist in erster Linie eine Erzählung über Entfremdung.
Die Geschichte eines Fremden, der, was seinen kulturellen und
sozialen Background betrifft, sich von den anderen Helden stark
unterscheidet und mit einer extremen
Situation zurechtkommen muss, die
sowohl komisch als auch erschreckend ist. Milewski gibt sie hervorragend in all ihren Aspekten wieder. Er zeigt, wie er die Sprache
und symbolische Gesten erlernt, die von den „Brüdern“ benutzt
werden, wie er Mühe hat zu verbergen, dass er nicht einer von
ihnen ist, und wie er sie allmählich an sich gewöhnt. Da Milewski
sieht, was die Therapeuten nicht sehen – dass ihre Patienten
vom amerikanischen System von vornherein zu Verlierern abgestempelt werden – weiß er, dass die Therapie illusorisch ist und
dass er nur deshalb als einer der wenigen sie erfolgreich beendet hat, weil er zufällig in dieses Programm hineingeraten ist.
Milewski versteht es mit dem nötigen inneren Abstand von den
Dingen zu erzählen, die er selbst erlebt hat, wobei er erklärt,
dass die von ihm beobachtete „Folklore“ derart irreal ist, dass
man sie sich nur schwerlich selbst hätte ausdenken können. Die
tragikomischen Episoden schildert er jedoch nicht nur im Bewusstsein, dass er in dieser Welt nur zu Gast ist, sondern mit
Anteilnahme, die manchmal in Entsetzen, manchmal in Erheiterung umschlägt. Die Wirklichkeit, der sich normalerweise diejenigen von außen nähern, die ihr entkommen konnten, sieht er
seinerseits von innen. Dieses nicht nur für polnische Verhältnisse
Eins ist keins
Der
Piotr Milewski
72
Beamte Santiago ist außerordentlich frustriert. Er markiert den Harten und das
derart aufdringlich, dass man nicht einmal
lesen kann. Aber zuhören kann man dem Beamten Santiago
schon gar nicht. Seit letzten Donnerstag dreht er am Rad.
Er faselt etwas davon, dass nach den zwölf Schrittchen es für
die Unverbesserlichen noch zwanzig spezielle Extraschrittchen gebe. Dazu kommt, dass ich sein Gelabere alleine
ertragen muss. Meine Nigger sind den Empfehlungen von
Little, Robinson & Co. nachgekommen, ich dagegen warte
auf die Ergebnisse der Urinanalyse. Schließlich verliere ich
die Beherrschung. Ich blaffe zurück, dass nach Meinung der
Richterin ich zu gut für die MRT sei, und man mir eine
Anstellung angeboten hätte. In der Tür steht Ricky. Er grinst
breit über beide Ohren.
„Peteee!“
„Ricky, bi, bi!“
Abklatschen mit An-die-Brust-Drücken, ein sogenannter
„halber Bär“. Gerade das gefällt mir bei den Afroamerikanern
so gut: die Herzlichkeit. Nicht die sabbernde und lallende
Herzlichkeit der Bleichgesichter, die nüchtern nicht in der
Lage sind, Gefühle zu zeigen, und besoffen nur noch peinlich sind, sondern die ungebremste, spontane, fröhliche und
kindliche Herzlichkeit. Wir halten zusammen, wir kämpfen
gemeinsam gegen das böse Schicksal, die Macht der feindlichen Welt, das System, und gemeinsam verlieren wir. Wir
sind ein Geheimbund von Saboteuren. Daher dieses ganze
Gegrüße, Abgeklatsche, Geschnipse, diese Fäuste – diese
magischen Gesten, dieses Gefluche. Natürlich werde ich nie
einer von ihnen. Wir tun auch nicht so, als hätte sich meine
Hautfarbe geändert, beziehungsweise – was viel wichtiger
ist als meine Pigmentierung – mein gesellschaftlicher Status, der wiederum von der Pigmentierung abhängt. Aber wir
sind Kumpels. Die Latinos halten Distanz, sie trauen einem
blanquito nicht, die Afroamerikaner behandeln mich wie einen Nigger, wie einen der ihren: ohne jegliche Hemmungen
und null Fake, wenn sie ihre Gefühle, ja selbst wenn sie ihre
Sympathien zeigen. Allerdings, wenn es ums Geschäft geht,
ist der afroamerikanische Fake eine Klasse für sich.
„Netten Urlaub gehabt?“
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Er zieht ein Grimasse, als würde ihm der Arsch wehtun. Er
hat in Rikers zwei Wochen abgesessen, und nicht eine, wie
man munkelte.
„Hauptsache vorbei, scheiße Mann, wenn ich nächstes Mal
höre, dass der Richter mich vor Gericht sehen will, besteige
ich einen Flieger und ab nach Westarizona. Im Nachtbus
über die Grenze – sollen die mich doch in Mexiko suchen.
„Wie geht’s Kanjee?“
Das Schwesterchen hatte für Rickys Rückkehr ein Transparent gemalt mit der Aufschrift „Woz up Ricky?“ , aber sie
begrüßte ihn mit einem blauen Auge. Sie hatte darauf bestanden, dass Mutter für das Brüderchen Bier kauft, da er
doch so gerne Bier mag. Sie gerieten sich in die Haare, die
Kleine fing an zu weinen, also klebte ihr Mutter ein paar
zur Beruhigung. Ricky warnte Mutter, dass wenn sie Kanjee
noch einmal anfasse, sie weder ihn noch sie jemals wieder
sehen würde, und ging mit der Kleinen ein Eis essen.
Im Viertel war alles wie immer. Alle wussten, dass Ricky
aus dem Knast zurück war. Sofort tauchten Mädchen, Wodka und Drogen auf. Im quarter weiß jeder über jeden alles.
Man weiß, wer ein hitman, dass heißt ein Auftragskiller ist,
wer sich auf Messerstiche unter die Rippen spezialisiert, wer
handelt und mit was, wer ins Büro geht von neun bis fünf.
„Pete, ich kann dir alles besorgen, was du willst. Kommst
du mal nach Bed-Stuy, bi? Bitte mir zu folgen: die Tür –
Mord/Feuerwaffe, die Tür – Messer/Rippe, die Tür – Crack
und Gras, die Tür – neun bis fünf, die Tür – H. Während ich
gesessen habe, hat ein Typ, der immer schon ein hustler sein
wollte, ein Vermögen verloren. Kind aus reichem Hause. Die
Alten sind vor einem Jahr nach Long Island gezogen: weiße Vorstadt, weißes Häuschen, weißer BMW sogar weißer
Hund, nur sie waren weiterhin schwarz. Aber statt was zu
lernen, einen Abschluss zu machen, lief der dumme Schwanz
lieber mit ein paar Kilo bling um den Hals rum. Was für ein
Idiot. Er kam ins quarter und dachte er würde alle kennen,
und irgendwie kannte er sie auch, aber an der Ecke handelten
gerade ein paar Typen, die lange im Norden Urlaub gemacht
hatten. Und die kannten ihn nicht. Vom Wagen blieb nur
das Fahrgestell übrig. Sie nahmen ihm alles ab, was er hatte,
keine Ahnung, wieso sie ihn nicht getötet haben. Er musste
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
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Eins ist keins
Niebieska studnia
Warsaw 2007
125 × 205 • 400 pages
paperback
ISBN: 978-83-60979-04-4
Translation rights:
Piotr Milewski
Contact: Niebieska studnia
73
Piotr Milewski
zurück zu seinen Alten, und die Alten erfuhren schnell von
den alten Nachbarn, was Sache war – im quarter weiß jeder
über jeden alles – also wollen sie nichts mehr mit ihm zu tun
haben. Er hat total verschissen. Ich habe nie davon geträumt,
zu dealen, Pete. Aber was sollte ich machen?
Aufs College konnte ich nicht gehen – ohne Kohle? Ich
bin von der High School geflogen, weil ich wusste, dass ich
sowieso nicht aufs College gehe. Mit High-School-Abschluss
kann ich bei McDonalds dieselben Frikadellen umdrehen
wie ohne.
Ich bin ins Spiel eingestiegen. Aber im Spiel gibt es kein
Pardon. Keine Loyalität. Hast du ein bisschen was verdient,
beginnen die Geier über dir zu kreisen. Und du musst abdrücken. Ein dummer Nigger zahlt die Hälfte. Je größer die
Hälfte ist, desto größer der Neid der Geier, denn sie denken:
wenn die Hälfte so riesig ist, wie groß ist dann erst das Ganze? Zweimal so groß! Dir geht der Arsch auf Grundeis. Du
sitzt daheim und schaust alle fünf Minuten durch die Jalousie, ob vor dem Haus nicht irgendeine Karre in der zweiten
Reihe parkt. Du trittst vom Fenster zurück, überprüfst die
Tür, ob alle fünf Riegel zu sind. Bum, bum – wer haut da
gegen die Tür? Du guckst: dein bester Kumpel. Und schon
weißt du, was gespielt wird. Während du ins Schlafzimmer
läufst, um die Knarre zu holen, treten sie die Tür ein. Ehe
du deine Kanone gezückt hast, sind sie schon drinnen. Bam,
bam, bam-bam-bam-bam: und du bist tot.“
Der Umkleideraum
Jerzy Franczak
74
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Piotr Kaliński
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gebende Welt ernst zu nehmen. Und selbst wenn jemand Der
Umkleideraum mit der Strömung des „Banalismus” in Verbindung
bringen sollte, so sind die Fragen, die dieses Buch aufwirft, nicht
dem Banalismus zugehörig, sondern nähern sich vielmehr einer
der ältesten und wichtigsten Fragen der Philosophie: „Wie soll
man leben?”.
Jerzy Franczak
(geb. 1978) Dichter,
Erzähler, Literaturwissenschaftler, Doktorand an
der Jagiellonen-Universität. Verfasser mehrerer
Gedicht-, Erzähl- und Essaybände.
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Der Umkleideraum
Jerzy Jarzębski
75
Jerzy Franczak
Jurek, der Held des Romans von Jerzy Franczak, ist (wie auch
der Autor) ein junger, talentierter Dichter und Schriftsteller, der
in Krakau lebt. Jedoch distanziert sich der Autor entschieden von
seiner literarischen Figur, setzt ihre Existenz quasi in ironische
Anführungszeichen. Das größte Problem Jureks ist das Fehlen
einer ausgeprägten Identität und eines konkreten Lebensentwurfs. Die Schriftstellerei erscheint in Der Umkleideraum nämlich als eine ausgesprochen seltsame Form des Broterwerbs. Sie
zwingt den Schriftsteller, sein eigenes Leben unablässig mithilfe
literarischer Mittel aufzuarbeiten, es zu erzählen, was gleichzeitig bedeutet, es aus dem Reich der Wirklichkeit in die Welt der
Fiktion zu übertragen – eine Welt, in der man für nichts wirklich
Verantwortung übernehmen muss und in der Dinge und Menschen jederzeit korrigiert, karikiert
oder sogar völlig ausgelöscht werden können.
Jurek und seine Freunde leiden an
der Unwirklichkeit der sie umgebenden Welt und an der Unnatürlichkeit
der von ihnen gespielten Rollen. Man könnte sagen, sie leben
in einem „Umkleideraum”, in dem sie vorgefertigte Persönlichkeitsmasken anprobieren, austauschen, immer auf der Suche
nach der einen, die zu ihnen passen könnte. Diese Situation
bedeutet einerseits ein existenzielles Problem und andererseits
einen großen literarischen Spaß, denn auch in der Welt der Literaten und Literaturliebhaber gibt es Masken in Form von fertigen
Stilen und Zitaten. So darf etwa Jurek, der vorübergehend in einem Verlag arbeitet, den von Witold Gombrowicz in seinen Polemiken gegen Dante „korrigierten” Text der Göttlichen Komödie
wieder in seine ursprüngliche Form „zurückkorrigieren”.
Doch nicht immer kommt den literarischen Spielereien und Maskeraden ausschließlich eine ludisch-komische Funktion zu: Jurek
und seine Freunde leiden an einem tief empfundenen Mangel
an verbindlichen Werten und an der Unmöglichkeit, die sie um-
Der Umkleideraum
Für
Jerzy Franczak
76
wen schreibe ich diese Worte? Es ist ein wenig, als würde ich mit mir selbst reden oder als
hätte ich mich auf wundersame Weise in zwei
Wesen geteilt, in mich und ihn – irgendein anderes Ich, das
mir seltsam bekannt ist, so wie der Nachrichtensprecher im
Fernsehen. Hinter jedem Wort verbirgt sich irgendein „Du”,
aber ich kann es nicht einfach ansprechen und um Feuer
bitten. Ich kann nur über mich selbst sprechen, mich zieren,
mich in mehr oder weniger bequeme Kostüme hüllen. Mich
mit denen verbünden, die an mich glauben. Immer wieder
aufs Neue mein Testament ändern.
„Ich vermache alle meine beweglichen und unbeweglichen
Güter der Handtuchfabrik Jutrzenka in Oświęcim und dem
Missionarskloster in Sobibor”. Ein paar ungelenk, blindlings
aufgezeichnete Worte, und schon hat mein Leben einen Sinn.
Ich bin befreit von der Unordnung, errettet vom Chaos – alles, was ich tue, geschieht als Opfer für die Menschheit.
Doch die Menschheit schläft, es gibt keine Menschheit.
Was von ihr übrig ist, sind Parks voller Rattengift, Telefonzellen, leere Straßen und Wohnungen, die mit zugeschlagenen Fensterläden vor dem Mondlicht geschützt sind.
Alles ist leer und still, als sei der Mensch noch nicht erdacht.
Es ist Zeit anzufangen.
Wie jeder weiß, muss man, um die Geschichte seines Lebens zu schreiben, zunächst einmal schreiben können. Muss
wissen, mit welchen Wörtern man den Leser davon überzeugen kann, existiert zu haben. – Nun gut – wirst du sagen – aber wenn du für einen Moment alles um dich herum
vergäßest und dich einfach deiner Erinnerung überließest?
– Das kann ich gerne tun – werde ich dir antworten – aber
dann sei so gut und sage mir, wie ich jene Ecken meines
Zimmers erzählen soll, in die ich meinen mit einem Käppchen bedeckten Kopf steckte? Oder mein Galoppieren durch
einen schattigen Gang zwischen Hufeisen aus Licht? Oder
meine Angst, als die Dunkelheit, die mir bis dahin zwischen
den Gittern meines Bettchens aufgelauert hatte, in schweren, schlangenartigen Strängen auf mich herabfiel? Wie ist
es möglich, dass ich mich nicht an jenen Moment erinnere,
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in dem ich meine größte Entdeckung machte: Dass ich ich
bin? Ich erinnere mich an die folgende Szene: Wir gehen, so
scheint es mir, am Meer entlang. Immer wieder schwinge ich
beide Beine in die Luft, und die riesigen Hände, an denen
ich mich festhalte, heben mich über Pfützen und Spalten
hinweg. Ich gebe zu: Ich weiß nicht, wann dies geschah, ich
weiß nicht wo und ob überhaupt, ich weiß auch nicht, ob es
irgendeine Bedeutung hat.
– Was meine früheste Erinnerung ist, wolltest du fragen?
Was war zuerst? Zuerst war der Abschied von meinem Vater.
Das ist die früheste Erinnerung, die ich wachrufen und in
Worte fassen kann. Schwer zu sagen, ob ich mich wirklich an
jenen Abend erinnere, oder ob ich es mir einredete, während
ich den Erzählungen meiner Mutter lauschte. Mit Sicherheit
ist es eines jener ersten, bereits vollends bewussten Erlebnisse, die ich zu einer einheitlichen Geschichte zusammensetzen
kann: Die nächtliche Taxifahrt, die gelben, schwankenden
Straßenlampen, die in der Scheibe, an die ich meine Stirn
drücke, verschwimmen, die Scharade aus Glastüren und
Zwischengeschossen, die Flughafenterrasse mit Sicht auf die
Startbahn – wir auf der Terrasse, den aufsteigenden Flugzeugen winkend. Ich bin müde – es ist kalt – Mama hält meine Hand fester als gewöhnlich, Papa hebt mich mit einem
lang gezogenen Schnaufen in die Höhe, küsst mich auf beide
Wangen und stellt mich wieder auf den Boden. Ich sitze auf
dem Geländer und schaue: das Flugzeug dreht sich zweimal
im Kreis und fliegt dann fort, wird kleiner, verschwindet,
blinkt noch eine Weile, bis es sich schließlich zwischen den
anderen Sternen verliert. An seiner Stelle leuchtet hell ein abgebissenes Stück Mond – meine Hand schmerzt vom Winken – Mama ringt mit ihrer Handtasche, auf der Suche nach
ihren Taschentüchern.
Du wirst sagen, das ist nicht viel, gerade mal eine Handvoll unklarer, verwaschener, durch häufiges Evozieren und
Korrigieren verkleinerter Bilder. Doch ich kann mich noch
gut erinnern: Ich war überzeugt, dass mein Papa zum Mond
flog. – Er wird dort arbeiten – sagte Mama. Damit wir etwas
zu essen haben. Seit dieser Zeit hieß der Mond für mich „Kanada”. Wenn ich nachts aus dem Fenster sah, fühlte ich mich
beobachtet – ich stellte mir vor, wie mein Papa dort in einer
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
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Der Umkleideraum
Korporacja Ha!art
Cracow 2008
110 × 180 • 232 pages
paperback
ISBN: 978-83-89911-71-1
Translation rights:
Jerzy Franczak
Contact: Korporacja Ha!art
77
Jerzy Franczak
Hängematte lag und von oben auf mich herabblickte. Doch
bald darauf vergaß ich, wie er aussah. Der Mond kullerte
jetzt wie ein großes Auge über den Himmel, blickte noch
immer auf mich herab, doch irgendwie anders, man könnte sagen: von sich aus, auch wenn hinter ihm eine fremde,
seltsam vertraute Macht stand. Ein anderes Mal schien es
mir, dass sich hinter der leuchtenden Scheibe des Mondes
irgendwelche trichterförmigen Untiefen und Gänge verbargen – fast meinte ich, das Grollen schwarzer Kegelbahnen
zu hören! Dann wieder war ich überzeugt, dass, wenn ich
das Fenster öffnete, mich auf die Zehenspitzen stellte, meine
Hand nach dem Mond ausstreckte und ihn umdrehte, ich
seine wirkliche, viereckige Gestalt erblicken würde.
Es wird dich nicht überraschen, dass ich, kaum dass ich die
ersten Buchstaben zusammensetzen konnte, bereits meine
Liebe zur Astronomie entdeckte. Es war eine Liebe auf den
ersten Blick. Sie begann an einem einsamen Nachmittag, als
ich mich auf der Suche nach einem verlorenen Spielzeugauto
in die häusliche Bibliothek verirrte und mir der Rücken eines wuchtigen Buches ins Auge sprang. Auf dem glitzernden,
mit Sternenstaub besprenkelten Einband prangte in dicken
Lettern der Titel: Der Himmel in deiner Hand. Ich nahm
das Buch auf den Schoss und blätterte ehrfürchtig darin.
Ich spürte, wie sich in mir zum ersten Mal ein tiefes Gefühl
regte. Ich war fasziniert vom Toben der Supernovä, von der
Wucht der mit Ringen umgürteten Gasriesen, vom Flug der
Kometen, die auf unbekannten Bahnen durch das All irrten,
von den bunten Fluten aus Sternennebeln, vielgestaltigen
Suspensionen, eingefasst in ewig schwarzen Passepartouts ...
Darin lag eine Magie, irgendeine Hexerei, die augenblicklich
den Mythos meines Papas verdrängte.
Das Foto
Leszek Szaruga
78
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Włodzimierz Wasyluk
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eintritt, also sei jegliches gemeinschaftliches Handeln eine Form
der Usurpation. Die Verallgemeinerung ist unmöglich geworden,
die Abrechung mit der Vergangenheit, das Sprechen von Recht,
das Urteilen über die Verräter sollte, wie Das Foto überzeugen
will, jeder bei sich selbst beginnen.
Leszek Szaruga
(geb. 1946) Lyriker,
Essayist, Erzähler, Übersetzer deutscher Poesie,
Hochschullehrer.
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Das Foto
Przemysław Czapliński
79
Leszek Szaruga
In einem Sanatorium begegnen sich vier Rekonvaleszenten – Männer verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen
Lebenserfahrungen. Sie haben viel Zeit, ein gutes Gedächtnis, sind gesprächshungrig. Schnell schließen sie eine lebhafte
Bekanntschaft und beginnen eine weitausgreifende Diskussion,
in der sie ein ganzes Jahrhundert einer kritischen Würdigung
unterziehen…
So könnte zur Not auch eine Ankündigung des Zauberbergs
lauten.
Szaruga siedelte die Romanhandlung am Anfang des 21. Jahrhunderts an, zum Gespräch bat er Menschen, die verschiedene
Generationen und verschiedene politische Grundpositionen
repräsentieren – einen Sozialdemokraten, einen gemäßigten
Nationalen, einen Anarchisten, einen Demokraten der 68er
Generation. Im Laufe wochenlanger Diskussionen besprechen
die Herren Schlüsselerlebnisse der
polnischen Gesellschaft vom Ende
des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Sie bemühen sich, das Erbe
auszumachen, das heute Gemeinschaft stiften könnte. Sie suchen zudem eine Antwort auf die Frage, ob nach all dem, was
sich im 20. Jahrhundert ereignet hat, eine Katharsis denkbar ist.
In diesen Gesprächen stoßen die Repräsentanten zweier Haltungen aufeinander. Die einen sagen, eine Reinigung sei unentbehrlich, auch wenn sie maximal individualisiert werden müsse.
Die anderen sagen – gemäß der Ansicht, die den ganzen Roman wie ein Leitmotiv durchzieht: „Jegliches Sein ist Schuld“.
Indem er diese beiden Einstellungen einander gegenüberstellt,
konfrontiert Szaruga nicht so sehr politische Standpunkte, als
vielmehr jedes politische Denken auf der einen Seite, eine gnostische Lösung auf der Gegenseite. Wenn wir den Roman zu
Ende gelesen haben, verstehen wir, dass der Autor für die Seite
des Lebens Partei ergreift, wider die Politik. Jetzt – so sollten wir
wohl die Aussage des Buches deuten – befinden wir uns in einem Moment, in dem die Nation in die Phase des Zerfalls, eines
Identitätswandels, des Verschwindens gemeinsamer Anliegen
Das Foto
Erst
Leszek Szaruga
80
jetzt, im Laufe der langen, nicht enden wollenden Gespräche mit Mutter, erfuhr er die
Wahrheit über Vater, auch jene furchtbarste, die ihn unvorbereitet traf, mit der er sich nicht abfinden
konnte. Die Anfänge dieser Sache reichten bis ins Offlag
zurück, wo Vater während der fünf Jahre Gefangenschaft
von Geheimdienstoffizieren angeworben worden war. Er war
ein um so köstlicherer Leckerbissen gewesen, als er sowohl
Deutsch als auch Russisch flüssig und akzentfrei sprach.
Russisch war die Sprache seines Vaterhauses gewesen. Seine
Mutter, eine Griechin aus Odessa, hatte nie Polnisch sprechen gelernt.
Großmutters Geschichte kannte er schon. Vaters Familie
war nach dem Januaraufstand nach Sibirien verbannt worden, nach Tobolsk, und in die Heimat kehrte sie nach dem
bolschewistischen Umsturz zurück. Der Weg führte über
Odessa, wo sich Großvater in die Tochter eines griechischen
Kaufmanns verliebte, eine romantische Geschichte, die mit
der Auswanderung nach Polen und der Ansiedlung in der
Freien Stadt Danzig endete. Er bedauerte, dass er – wie seine
Altersgenossen – keine Großeltern mehr hatte, die verstorben waren, ehe es ihm gelungen war, auf die Welt zu kommen. Besonders, dachte er, interessant wäre es gewesen, die
griechische Großmutter kennenzulernen. Es war furchtbar,
mit einem Mal wurde ihm das klar, bis an ihr Lebensende
hatte sie in dieser polnischen Familie nicht mehr ihre Muttersprache sprechen können. Obwohl es vielleicht nicht ganz
so arg war, schließlich mochten sich in Danzig manchmal
auch Griechen aufgehalten haben, griechische Unternehmer
oder Seeleute.
Aber eben dank dessen sprach Vater Russisch, was in seiner Generation recht selten war. Und genau seine Russischekenntnisse führten zum Drama seines Lebens. Im Lager
einsitzende Geheimdienstler von der Abteilung Zwei, die
den Lauf der Dinge verfolgten und über nur ihnen bekannte
Kanäle Kontakt zur Außenwelt hielten, bereiteten sich auf
den kommenden Kampf gegen die Sowjets vor. Für eben diese Ziele schien jemand mit solch ausgezeichneten Russischkenntnissen für den Geheimdienst als idealer Neuzugang.
Vater willigte natürlich ein, wozu wesentlich die patrioti-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
schen Regungen beitrugen, die die Gefangenen gegenseitig
in sich nährten. Dann kam die Befreiung, der Marsch auf
Berlin, die Rückkehr ins Vaterland. Die Lagergeschichten
hatte er im raschen Rhythmus des Nachkriegslebens beinahe
schon vergessen. Er war Redakteur in einem gerade entstehenden Musikverlag. Und so erschien bei ihm eines Tages
ein Bote des Geheimdienstes, der ihn an die übernommenen
Verpflichtungen erinnerte.
„Und reingefallen war er”, sagte Mutter. Reingefallen,
doch der steckte ihn nicht ins Gefängnis. Das war noch in
Krakau, und ein damals renommierter Journalist, der etwas
von einem Literaten aus der Vorkriegszeit hatte, ein überaus idealistischer Kommunist, boxte ihn heraus. Nur, dass
sie jetzt etwas gegen ihn in der Hinterhand hatten. Und in
Szczecin bekamen sie ihn dann zu fassen. Das hieß nicht
nur Beitritt zur Partei, ich glaube sogar, dass die Partei eine
Manöverfinte war, Maskerade, eine Art Tarnfarbe. Sie hätten ihn sicher lieber als Parteilosen gehabt. Aber sei’s drum.
Es reicht, dass sie ihn zu fassen bekamen und zur Mitarbeit
zwangen. Das geschah im übrigen sehr sanft, fast schon mit
Samthandschuhen. Es gab da einen Sicherheitsmajor, außergewöhnlich intelligent, geistreich, ein paar Mal kam er
sogar zu uns nach Hause. Er übte nicht einmal besonderen
Druck aus, es wollte sogar scheinen, dass er die ganze Situation bagatellisierte. Und mit einem Mal wurde er, wie soll
ich sagen? Nein, nicht brutal, das ist das falsche Wort. Entschieden – passt auch nicht. Vielleicht so – unnachgiebig. Es
ging um einen Menschen, wohl etwas älter als wir, der gerade
aus dem Gefängnis kam und der früher auch wie Vater im
Stadtamt gearbeitet hatte, aber in einer anderen Abteilung.
Der Fall muss für sie besonders wichtig gewesen sein. Es war
unmöglich sich zu drücken. Und weißt du, was er gemacht
hat? Natürlich führte er die ganze Szene mit dem scheinbar
zufälligen Treffen auf der Straße auf, lud ihn zu uns nach
Hause ein, aber er offenbarte ihm auch fast gleich von Anfang an seine Rolle. Welches Risiko das bedeutete, muss ich
dir wohl nicht erklären. Was später mit diesem Menschen
geschehen ist, weiß ich ganz einfach nicht. Er wohnte einige Tage bei uns, dann verschwand er. Und auch sie ließen
scheinbar locker, vielleicht zwei oder drei Mal schrieb Vater
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Das Foto
Wydawnictwo Forma
Szczecin 2008
180 × 180 • 152 pages
paperback
ISBN: 978-83-60881-18-7
Translation rights:
Leszek Szaruga and
Wydawnictwo Forma
Contact:
Wydawnictwo Forma
81
Leszek Szaruga
in der Sache Berichte, aber das hatte schon keine größere
Bedeutung mehr.
Er hörte all dem voller Entsetzen zu. Der Gedanke, dass
sein eigener Vater viele Jahre, ach was, Jahrzehnte Geheimdienstspitzel war, schockte ihn. Noch viele Male kehrte er zu
dem Fall zurück, aber Mutter wusste entweder nicht mehr
oder sie glaubte nicht mehr sagen zu sollen. Eines Tages
jedoch, als sie über die Nachkriegsjahre sprachen, kam sie
nochmal auf das Thema zu sprechen.
„Das waren furchtbare Zeiten. Auch heute nicht leicht
zu verstehen. Es kam auch vor, dass Menschen buchstäblich von einem Augenblick auf den anderen verschwanden
und niemand den Mut fand zu fragen, wo sie steckten. Bis
heute ist unbekannt, was mit ihnen geschah. Und gleichzeitig konntest du unter Kommunisten Menschen begegnen,
deren Bekanntschaft eine Ehre für dich war, ehrliche, moralisch makellose, im tiefsten Innern um die Hilfe für Andere, Schwächere, Bedrohte besorgte Menschen. Sie hatten
damals auch Angst, und das war insofern entsetzlich, als sie
vor den eigenen Leuten Angst hatten. Sie sprachen chiffriert,
verständigten sich mittels einer sonderbaren Sprache, deren
Bedeutungen heute niemand mehr entschlüsseln könnte.“
Die Fortsetzung der erzählten Geschichte kannte er schon,
aber er hatte nicht die Fortsetzung zur Fortsetzung. Er wusste längst, und eigentlich hatte er es schon einen Augenblick
vorher längst gewusst, dass von seinem Vater die Rede war,
von Vater, der informeller Mitarbeiter des Amtes für Sicherheit war. Es war unklar für ihn, ob Vater ein Dokument unterschrieben hatte, eine Verpflichtungserklärung oder etwas
in der Art, es war jedoch selbstverständlich, dass er dafür
kein Geld genommen hatte und fast schon sicher, dass er
sich eher mit Firlefanz herauswand als wirklich zu denunzieren. So war es auch in diesem Fall gewesen, was die Erzählung bewies, die er zu hören bekam.
Der Komponist
Sławomir Górzyński
82
Foto: Ola Sośnicka
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gefundenen Manuskripts“ mit List nähert und damit sein Können
im Spiel mit literarischen Konventionen unter Beweis stellt. Dies
ist nicht die einzige Flucht vor – seien wir ehrlich – dem allgemein
üblichen Schema. Doch diese Fluchten zeugen davon wie inspirierend die Korrespondenz unter den Künsten sein kann und
was für ein Potential Künstler mitbringen, die „vonsonstwoher“
kommen.
Der Komponist
Marta Mizuro
Sławomir Górzyński (geb. 1962) Geiger
und Altist, Erzähler, lebt seit vielen Jahren in
Finnland.
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83
Sławomir Górzyński
Ein durchschnittlicher Künstler entdeckt zufällig die Werke eines
unbekannten Genies, eignet sie sich an, nutzt die nicht verdienten, aber sich daraus ergebenden Vorteile, und tut gleichzeitig
alles, damit die Sache nicht auffliegt. Als Sławomir Górzyński
seiner Erzählung diese Idee zugrunde legte, musste er wissen,
dass das nicht besonders originell ist. Und natürlich weiß er das,
denn er versucht nicht, den Lauf der Intrige zu ändern, die nur
ein Ziel ansteuert: den Betrug aufzudecken. Das Wichtigste ist
jedoch, womit der Autor seinen Roman füllt und was er durch
ihn übermitteln möchte.
Es ist das Wichtigste und das Interessanteste, denn Górzyński
siedelt den Komponisten im 21. Jahrhundert an und möchte nicht
so sehr die Krise beleuchten, mit der jeder Schaffende zu kämpfen hat, sondern den Kollaps in der klassischen Musik überhaupt.
Er stellt die Frage, ob sich dieser Kollaps überwinden lässt und
will – wie es in dem Roman der Fall ist – ein neues musikalisches
Universum schaffen, das frei ist von
Anleihen bei Bach, Mozart oder
Chopin. Dabei schreibt Górzyński
sowohl über die Gegenwartsmusik
als auch über die Klassiker mit einer Sachkenntnis, die der Leser
nur von einem diplomierten, praktizierenden Instrumentalisten
erwarten würde. Dank der fachkundigen Vorbereitung macht es
dem Autor keine Mühe, Klang in Wort zu verwandeln, ohne nach
lyrischen Entsprechungen für die abstrakteste aller Kunstgattungen zu suchen. Er verleitet den Leser, sich in die Denkweise der
Musiker einzufühlen, wobei er an alles gedacht hat: angefangen
beim Prozess, der sich während des Komponierens vollzieht,
über die Vorbereitung zur Interpretation des Werkes, bis zur Rezeption, die er elegant auf „mediale“ Echos überträgt.
Die stilistischen Fertigkeiten des Autors spiegeln sich nicht nur
in fiktiven Rezensionen oder Interviews mit dem Protagonisten,
Gregor Zwaite. In dem Roman finden wir auch die Notizen des
echten Komponisten, Wilhelm Corrado Fuchs, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden sind – wobei nicht
unerwähnt bleiben sollte, dass Górzyński sich dem Motiv „des
Der Komponist
Zu
Sławomir Górzyński
84
der Audienz bei Simon del Manio fuhr ich mit
dem Zug. Im leeren Abteil überlegte ich mir
eine Ansprache über Fuchs: wie ich ihn entdeckt
habe, wie ich daran arbeite, seine Werke der Allgemeinheit
zugänglich zu machen.
Doch die Worte und Formulierungen, die ich zunächst im
Kopf hatte, wollten sich nicht verfestigen – ich sprach sie
ohne Überzeugung aus und konnte sie deshalb nicht akzeptieren.
Parallel dazu, auf einer anderen, unterschwelligen Schiene, die aber klarer und stärker war, dachte ich an Francesca
Lammona, an ihre Begeisterung für die Lieder von Fuchs.
Ich erinnerte mich daran, dass in ihren Kreisen gesagt wurde: „Wie nah beieinander liegen doch Bühne und Bett bei
dieser Diva“. Ich sah uns zusammen, nach der Audienz, im
Restaurant. Sie zog mich mit ihren Blicken aus, mit jedem
Satz ermunterte sie mich zu gewagten Worten und Taten, bis
wir uns nach oben begaben, ins Hotelzimmer, wo sie sich
langsam auszog und dabei eins der Lieder von Fuchs summte, während ich wartete, kühl und ruhig, obwohl von ihrem
Körper, ihrer Stimme und von dem, was wir gleich machen
sollten entzückt. Ich stellte mir vor, wie Beatrice von meiner
Romanze mit Francesca erfährt und von Eifersucht ergriffen
beschließt, den einst verlassenen Geliebten wieder für sich
zu gewinnen. Der Kampf zweier Frauen um meine Gunst
beschäftigte mich viel mehr als das Verfassen einer Ansprache über Fuchs.
Del Manio holte mich am Bahnhof ab. In seiner mit
schwarzem Leder ausgelegten Limousine, schaute er mich
aufmerksam an und schüttelte den Kopf.
„Das ist unglaublich! Ich schaue Sie an, erkenne Sie und
erkenne Sie nicht. Zambardi, übrigens ein sehr guter Freund
von mir, Sie haben doch von Zambardi gehört, hat für mich,
also auch für Sie, Gregor, Sie haben doch nichts dagegen,
dass ich Sie so anspreche, also wie ich sagte, hat Zambardi
eine computologische Prognostik erstellt. Dabei stützte er
sich auf Daten, die ich ihm zukommen ließ. Gregor, wissen
Sie was raus gekommen ist? Es ist unglaublich, wunderbar,
fantastisch, brillant. Ihre Zukunft, Gregor, stellt sich mit geradezu erschreckend vielen Erfolgen dar. Allerdings von An-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
fang an mit einer Voraussetzung! Welche, werden Sie sicher
fragen. Nun, eine ganz einfache; nämlich, dass wir unsere
Kräfte zusammen tun. Ich und Sie. Was sagen Sie dazu?“
„Ich denke, wir werden uns schon einigen, Herr Simon.“
Von Zambardi hatte ich gehört. So ein Guru der heutigen
Zeit, der aus Computern vorhergesagt hat, wie Astrologen
früher aus den Sternen. Viele Leute, auch aus meiner Umgebung, haben seine Weissagungen absolut ernst genommen.
Angeblich hat Ernest Skała, der vielseitigste und reichste Kollege meines Fachs, sich auf Zambardis Prognosen gestützt, als
er entschieden hat, ob sein nächstes Werk eine Komposition
der Unterhaltungsmusik oder noch eine Symphonie werden
sollte. Ich habe auch gehört, dass die Lammona einmal eine
Tournee durch Japan abgesagt hat, weil ihr Zambardi vorausgesagt hatte, sie würde während ihres Aufenthalts im Land
der blühenden Kirschbäume erkranken und die Stimme verlieren. Und ich war selbst Zeuge, als Wiktor Korplow nach
einem Klavierrecital zu einer kleinen Gruppe ihm Gratulierender sagte, er würde seine Konzertrouten gemäß Zambardis Ratschlägen festlegen. Schnell entstand der Zweig einer
Pseudowissenschaft, computologische Prognostik genannt,
die viele Nachahmer fand, Begeisterte und Schwindler.
Doch Zambardi war der wichtigste – schon allein sein Name
wurde fast wie ein Orakel behandelt.
„Das denke ich auch, Gregor. Ihre Lieder sind eine Goldgrube. Doch was kann der Entdecker allein machen? Wird
er wie ein Bergarbeiter schuften? Er muss doch Leute anwerben, die ihm helfen, Angestellte und schließlich... einen
Leiter des Bergwerks. Ich bin nicht bescheiden, Herr Gregor,
die Bescheidenen bringen es zu nichts. Ich kenne meinen
Wert, Sie kennen den Ihren. Sie und ich, zusammen werden
wir mit Ihren Liedern die Welt erobern. Und Francesca! Gott
allmächtiger! Wie sie singt! Wissen Sie dass... Doch später
davon. Wir sind da. Sagen Sie mir nur noch, ob Sie etwas in
petto haben... irgendeinen Knüller, etwas, das uns während
der Sendung in die Knie gehen lässt?“
„Ja, das hab’ ich“, sagte ich lachend. „Einen echten Knüller. Hier.“ Und ich zeigte auf den eigenen Kopf.
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
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Der Komponist
85
Sławomir Górzyński
Muza
Warsaw 2008
205 × 145 • 256 pages
paperback
ISBN: 978-83-7495-474-7
Translation rights:
Stanisław Górzyński
Contact: Muza
Das Buch der geretteten Träume
Krystyna Sakowicz
86
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Barbara Lindenberg
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Robert Ostaszewski
Krystyna Sakowicz
(geb. 1950) von
Hause aus Psychologieabsolventin, Verfasserin von
Romanen, Essays und Gedichten.
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Das Buch der geretteten Träume
dass hinter den Grenzen der materiellen Welt, in der sie eingesperrt sind, sich riesige Weiten voller geistiger und intellektueller
Reichtümer erstrecken. Doch nicht jeder hat den Mut, sich auf
den Weg dorthin zu machen.
Es ist ein starkes Buch – so stark wie zuweilen ein Traum
sein kann.
87
Krystyna Sakowicz
Manche Schriftsteller betrachten Träume schmunzelnd, wie lustige Spielereien des Unbewussten. Andere tun es mit ganzem
Ernst und sogar mit einer eigentümlichen Andacht und halten
sie für Zeichen und Signale, die ihnen helfen, die Welt und sich
selbst besser zu verstehen, oder für transzendentale Berührungen. Dies ist der Fall bei Krystyna Sakowicz, der Autorin des
Bands Das Buch der geretteten Träume.
Im Grunde ist es schwer, hier eine Literaturgattung festzulegen;
das Buch lässt sich irgendwo zwischen Essay, esoterischer Abhandlung und lyrischer Prosa ansiedeln. Anders kann es auch
nicht sein, da die Autorin sich das Ziel gesetzt hat, den Leser
über die Träume in eine andere Dimension der Wirklichkeit zu
führen. In so einem Fall ist es ausgeschlossen, sich Formen zu
bedienen, die zwar griffig und erprobt, jedoch genau deshalb
auch starr sind. Die Autorin sucht
sich Menschen aus, die sie über gewundene Wege durch das Land der
Träume führen, und die sich genauso
sehr voneinander unterscheiden wie
ihre Träume. Sie schreibt von Karen Blixen, die einen faszinierenden und gleichzeitig grausamen Traum über Afrika hatte, der
ihr erlaubte, ihre eigenen Wünsche besser zu verstehen und
– vielleicht war das das Wichtigste – eine weltberühmte Schriftstellerin zu werden. Sakowicz berichtet von Vaclav Nijinskij, dem
berühmten Tänzer an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert,
dessen ganzes Leben im Grunde ein ewiger Traum über Gefühl,
Kunst und Gott war – ein Traum der ihn bis in den Wahnsinn
trieb. Doch sie schreibt nicht nur über diese Künstler; unter anderem beschäftigt sie sich auch mit Maria Dąbrowska oder Jan
Lechoń. Sie stellt deren komplizierte Biographien vor, zitiert oft
aus ihren Texten, versieht diese mit ihren Kommentaren und fügt
dem Ganzen ein paar eigene Erfahrungen hinzu. An manchen
Stellen berührt das Buch nicht nur, sondern es erschüttert; als
ob Sakowicz die Leser aufrütteln wollte, indem sie ihnen zeigt,
Das Buch der geretteten Träume
Manche
Krystyna Sakowicz
88
Menschen sind die Träume dieser Welt. Sie durchdringen die Wirklichkeit
an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, sie
erscheinen und verschwinden, und hinterlassen Verwunderung oder Nebel. Ihr Leben erinnert an ein Drama, das nach
den Regeln eines Traums abläuft. Träume, in denen ähnliche
Gestalten auftauchen, überschatten unseren Tag. Dann sagen
wir: ein Alptraum. Wir sagen, das sei nur ein Traum gewesen.
Doch diese Beschwörungen ändern nichts an der Tatsache,
dass manche Menschen das Gleiche für uns sind wie Träume;
eine beunruhigende Lektion der Wahrheit. In den Träumen
der Welt finden wir das, was die Welt nicht will, was sie nicht
kennt, nicht weiß, nicht begreift, was sie ignoriert und nicht
beachtet, oder umgekehrt: was sie nicht tolerieren will. Als
Ganzes kann sich die Welt von nichts lossagen, nichts aus
ihrem Umkreis entfernen, da es außer ihr nichts gibt, und
alles, was in ihr erscheint sie selbst ist. Deshalb gibt es Träume. Osama bin Laden ist der Welt Traum von Rache, Mutter
Teresa – von Barmherzigkeit. Menschen mit Depressionen
träumen unsere Verzweiflung. Die Bewohner der Müllkippen sind die Alpträume von der Nutzlosigkeit. Wir alle träumen von uns gegenseitig und durchschauen einander. Jeder
träumt die Träume, die allen gehören, da im grenzenlosen
Raum der Welt Träume als etwas Privates unmöglich sind.
Träume schaffen den Raum für einen dem Wachzustand unbekannten Sinn, in dem das, was nah und fern, verständlich
und unbegreiflich ist, eng miteinander verbunden wird.
Das Träumen führt uns zu diesem unbekannten und erhabenen Teil des Schicksals, vor dem wir alle zittern. Vaclav
Nijinskij zitterte häufig wie Espenlaub. Er war ein großer
Tänzer. 1898 kam er zur Welt, 1919 wurde er zum Traum,
1950 starb er und hinterließ wenige Fotografien und drei
mit schwarzer Schrift und in Russisch voll geschriebene Hefte. Zwei enthalten das Buch mit dem Titel Leben, ein Heft
beschreibt den Tod. Es sollte noch ein Buch über Gefühle
geben, doch es gelang nicht, sie aus den Büchern Leben und
Tod zu isolieren, also sind die beiden Bände auch das Buch
über Gefühle, wobei das Leben Leben ist und der Tod unerwartet kommt. Nijinskij schreibt über das Kommen des
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Todes: „Man sagte mir, ich sei geisteskrank. Ich dachte, ich
sei lebendig. Man ließ mir keine Ruhe. Ich sagte mir, dass ich
nicht mehr leben wollte.“
Nijinskijs Bücher wurden erst 1995 ohne Abänderungen
und in voller Version veröffentlicht. Davor mussten die Texte
abgeändert, gekürzt, verdreht werden, da sie sonst niemand
richtig verstanden hätte. Die Menschen haben zu Tänzern
kein Vertrauen, besonders nicht zu denen, die geisteskrank
werden und behaupten, sie tanzten wie Gott. Nijinskij
schrieb seine Bücher mit der Hand: mit Bleistift und mit
einer Stahlfeder, die er in Tinte tauchte. Von Anfang an sagte
er sich, er würde eine bessere Feder erfinden: einen Füllfederhalter. Und er hat ihn tatsächlich erfunden, was dann viel
später in der realen Welt patentiert wurde. Die Füller, das
Gold der Federn, ihre scharfen, das Papier zerreißenden und
ausfransenden Spitzen werden in den Büchern häufig besprochen. Die Tinte Stephens’ Blue-Black Writing Fluid ist
keine besonders gute Tinte, doch gerade mit ihr und mit diesen Federn, mit den zu kurzen Bleistiften und mit zittriger
Hand – die sich an eine viel größere, an eine vollkommene
Bewegung erinnern konnte – wurde die Lebens- und Todesgeschichte menschlicher Gefühle geschrieben. Das Laub
der Espe hängt an langen, zarten, flachen Stielen; deshalb
zittert es bei jedem Windhauch. Das Zittern ist eine kleine
Bewegung, doch wenn wir versuchen immer stärker zu zittern wird ein großer Tanz daraus entstehen. Im Zittern ist
der Umriss der Bewegung enthalten, die aus verschiedenen
Gründen ihre ganze Kraft zunächst nicht entfaltet. Die Bewegung ist die Sprache des Körpers. So eine Sprache braucht
keine Stimmen oder Buchstaben. Sie braucht das Fühlen
und die Entfaltung. Sie ist das Gefühl im Körper und nicht
der Verstand in ihm. Doch die Schrift ist auch Bewegung. In
einer schönen Schrift ist auch viel Gefühl. Nijinskij ist ein
Künstler, der den Körper und die Schönheit liebt. Er sagt:
„Ich liebe das Gefühl und deshalb werde ich viel schreiben.“
Doch stellen wir uns vor, wir schreiben ein Buch über
Gefühle, über das Leben und den Tod, über Gott, über
Menschen und über ungemein wichtige Ereignisse, und es
wird als das Zeugnis geistiger Krankheit, als ein Auswuchs
des Irrsinns gewertet. In diesem Moment beginnt ein Alp-
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
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Das Buch der geretteten Träume
Wydawnictwo Forma
Szczecin 2008
180 × 180 • 174 pages
paperback
ISBN: 978-83-60881-12-5
Translation rights:
Krystyna Sakowicz and
Wydawnictwo Forma
Contact:
Wydawnictwo Forma
89
Krystyna Sakowicz
traum. In diesem Traum urteilt jemand. Jemand entscheidet
und behauptet wir hätten es mit Überlegungen zu tun, die
als Anzeichen für Gespaltenheit typisch sind. Er nennt es
Schizophrenie. Nijinskis Tagebuch ist laut diesen Urteilen
nur ein so genanntes Tagebuch, der Text eines Irren, voll von
Merkwürdigkeiten. Eine formale Gestörtheit des Denkens
vielfältiger Art raubt dem Geschriebenen den Sinn. In einem
Traum, in dem wir so etwas träumten, würden wir die ganze
Zeit weinen.
Wenn man Nijinskijs Bücher ohne Voreingenommenheit,
bezüglich dessen wie und von wem sie geschrieben wurden,
lesen könnte – und sie wurden mit schneller Schrift geschrieben, mal mit zittriger, dann wieder mit steifer Hand, mit
eher kleinen als großen Buchstaben – könnte sich herausstellen, dass ihre Worte einen Sinn haben, ihre Sätze einfach
sind, obwohl ihre Gedanken immer weitere Kreise ziehen
und Dinge betreffen, die jeden und die ganze Welt interessieren: „Ich schreibe über Dinge, die die ganze Welt interessieren“, sagt Nijinskij und bittet sehr darum, immer und in
allem verbessert zu werden. Er ist ein ungebildeter Mensch,
ein Mensch mit Fehlern. Er hat in zwei Schulen in Sankt
Petersburg schreiben gelernt und das sollte ausreichen fürs
einfache Schreiben über Dinge, die die ganze Welt interessieren. Doch wir alle machen Fehler, wir sind keine schlechten
Menschen, doch wir machen Fehler, die man immer korrigieren kann und auch sollte. „Wegen Fehlern, die nicht mehr
wieder gut zu machen sind bitterlich weinen; ich habe geweint, bitterlich geweint“, sagt Nijinskij, „ich habe den Tod
gespürt.“ Er schreibt keine Tagebücher, er schreibt über alles
was war und über alles was ist.
Honig und Wachs
Krzysztof Lipowski
90
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Privatarchiv
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schen, die von einem Tag auf den anderen – manchmal unfreiwillig durch Loyalitäten, die sich als falsch und tödlich erwiesen
– zu Feinden wurden und ihr Leben zerstörten. Die Erinnerung
an die Wunden und Traumata wird für die einen zur kaum zu
schulternden Last, für die anderen zur treibenden Kraft, die es
ihnen erlaubt, sich neue Identitäten zu schaffen.
Krzysztof Lipowski (geb. 1961) Doktorand
an der Universität Gdańsk, Lehrer. Honig und Wachs
ist sein literarisches Debüt.
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Honig und Wachs
Marek Zaleski
91
Krzysztof Lipowski
Honig und Wachs von Krzysztof Lipowski gehört zur – wie man
sie heute gerne nennt – Erinnerungsliteratur nach der Er­
innerungsliteratur: Die Generation der Kinder der Opfer von
Holocaust, Zweitem Weltkrieg, Konzentrations- und Internierungslagern, Deportation und Vertreibung kehrt zu den traumatischen Erlebnissen zurück, mit denen sie von der Generation ihrer Eltern und Großeltern gezeichnet wurde. Das Buch
Honig und Wachs enthält vier Erzählungen. Sie alle sind mit der
in der Danziger Bucht gelegenen Heimatstadt des Autors, Puck
(dt: Putzig) verbunden. Sie erzählen die dramatischen Schicksale der deutsch-polnischen Bürger dieses Hafenstädtchens,
über das die Dampfwalze der Geschichte hinwegrollte. Die Er­
zählung „Vaters weißes Hemd”, der der Titel des Erzählbandes
entlehnt ist, berichtet vom Ende der polnischen Welt in Puck mit
dem Ausbruch des Kriegs im September 1939. „Das Erlöschen” ist
die Geschichte Pauls, eines Putziger
Bürgers und Tübinger Theologiestudenten, der kurz vor Kriegsausbruch eingezogen wird und
an der Ostfront fällt. „Zu Bronze erstarrt” porträtiert Lisa, die
als junges Mädchen eine glühende Anhängerin des Nationalsozialismus in ihrer Vaterstadt Putzig war und nach dem Krieg in
Berlin ihr Leben in Verbitterung und Einsamkeit fristet. Die abschließende Geschichte „Der Aschesammler” erzählt von einer
für den Protagonisten selbst rätselhaften Rückkehr in die kleine
Stadt und in das Land seiner Kindheit nach vielen Jahren. Das
scheint auch für den Autor eine mutmaßliche Schicksalsvariante
gewesen zu sein, wenn seine Familiengeschichte anders verlaufen wäre, das Urteil der Geschichte anders gelautet und ihn zum
Deutschen erklärt hätte. Lipowskis bis ins kleinste historische
Detail ausgefeilte, literarisch brillante Prosa bleibt frei von Hass
und Vorurteilen, voreiligen Parteinahmen und Moralaposteltum.
Sie gewährt einen Blick auf das Ende einer Welt von Nachbarn,
bisweilen sogar deutsch-polnischer Familien, porträtiert Men-
Honig und Wachs
Lisa
Krzysztof Lipowski
92
lag im Bett, dachte an das Plakat, mit
dem alles angefangen hatte. Zum ersten
Mal hatte sie es im Wartesaal unseres
Bahnhofs gesehen. Die Wände des Bahnhofsgebäudes waren grau und schäbig, und auf ihrem Hintergrund erstrahlte das Plakat wie eine große Schachtel süßer Pralinen der
besten Firma auf dem Markt. Ein junges, schwarz gekleidetes Mädchen mit blauen Augen und blondem Haar schaute
sehr selbstsicher herab. In diesem Blick spiegelte sich Charakter, der mit starkem Willen einherging. Die Hand des
Mädchens auf dem Plakat war zum Siegeszeichen erhoben.
Lisa ging oft auf den Bahnhof, um das bunte Plakat in sich
aufzusaugen, das ein neues Leben verhieß und zur Teilnahme an den Versammlungen in der schönsten Villa an der
Bucht einlud.
Wie groß war ihre Verblüffung, als sie feststellte, dass sie
dasselbe Profil besaß wie das Mädchen auf dem Plakat. Wenn
sie ihr Haar zurückkämmte, war die zarte Zeichnung ihrer
Nase genauso markant. Wieder einmal sah sie im Kino einen
Schwarz-Weiß-Film mit Marika Rökk und wusste längst,
dass gerade sie die Frauengestalt auf dem Plakat darstellte.
Ja, das war Marika Rökk! Sie rief dazu auf, sich den Reihen
des Bundes deutscher Mädel anzuschließen!
Ewig stand ihr der Abend vor Augen, an dem sich alle
Mädchen am Ufer der Bucht versammelt hatten. In weißen
Blusen und knielangen, blauen Röcken knieten sie vor der
Fahne mit dem Hakenkreuz nieder. Sie hoben den rechten
Arm, mit den Fingerspitzen berührten sie das flatternde
Tuch. Über die Gesichter der Stehenden zuckte der Widerschein von Fackeln, die Flaggen, die an hohen Masten befestigt waren, schlugen laut im Wind. Auf das Zeichen der
Führerin sprachen sie die heilige Eidesformel, die in einem
donnernden Schrei endete, und sie sangen BDM-Lieder. Die
Führerin überreichte jeder in einer rituellen Geste einen Gegenstand, der von der Form her an eine Brosche erinnerte –
auf dunklem Grund erstrahlte ein helles Kreuz, das sich aus
vier gedrehten griechischen Buchstaben Tau zusammenfügte. An diesem Abend entdeckte Lisa eine Freude am Singen
neuer nationaler Lieder in sich und trug die Texte mehrerer
davon in ihr privates Tagebuch ein.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Jetzt konnte sie schon in ihrer weißblauen Uniform die
Hauptstraße unserer Stadt entlanggehen. Sie kaufte besseres
Brot und mehr Seidenstrümpfe. In den Kaffeehausgärten bestellte sie heißes Wasser, mit dem sie ihren eigenen, echten
Kaffee aufgoss. In ihn tunkte sie die von Zuhause stiebitzten
Plätzchen, die Cecylia jeden Donnerstag buk. Sie nahm sie
so behutsam fort, dass auf dem Tisch nicht ein einziges winziges Zuckerkriställchen zurückblieb.
Ungeduldig harrte sie der Fahrt ins Sommerlager nach Ostpreußen, inzwischen nahm sie an Kursen für sparsames Haushalten und Haushaltskunde teil. Die Treffen fanden jeden
Nachmittag statt, im ehemaligen jüdischen Gebetshaus. In
der Ecke ihres Zimmers hegte sie sorgsam eine Nische mit dem
Porträt des Führers, der eingerahmt von Blumen und Kerzen jeden Morgen und Abend auf sie herabblickte. Sie wusste
sich geborgen und vom Volk gebraucht und dass sie sich nicht
mehr den einstigen eitlen Neigungen hingeben durfte. Sogar
eine verringerte Schokoladenzuteilung für das wahrhaft germanische Weihnachtsfest verdross sie nicht sehr. Sie spürte,
dass ihrem Leben jetzt eine höhere Ordnung verliehen war.
Am Sonntagvormittag ging sie wie früher von ihrem Zuhause in die Kirche. Im Sonntagsstaat machte sie hinter der
Hausecke eine scharfe Kehrtwende nach rechts und verbarg
sich vor Mutters Blicken. Durch die Küchentür ging sie in
ihr Zimmer mit dem Führerporträt zurück.
Im Alltag kleidete sie sich so schlicht wie möglich in einer herben, schneidigen Manier. Sie benutzte die einst so
geliebten Parfums nicht mehr, nicht einmal die billigsten,
französischen, von denen es seit einiger Zeit viele in unseren
Läden gab. Die Schwarz-Weiß-Filme mit Marika Rökk, die
in dem kleinen Saal des Lichtspielhauses vorgeführt wurden,
mochte sie immer noch. Vor der Vorführung konnte man
im Foyer Schokoladenpralinés kaufen. Seitdem der Besitzers
des Kinos von Horst Wahrsieg einen Flügel erhalten hatte
(genau den, der einst im prächtigsten Saal des Kurhauses gestanden hatte), musste sie nicht mehr Schlange stehen, um
eine Eintrittskarte zu erhalten. Sie betrat den Saal mit den
Wehrmachtsoldaten, die seit kurzem oft auf Urlaub herkamen. Nach dem Ende der Filmvorführung ging sie an den
Grünen Steg spazieren.
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
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Honig und Wachs
słowo/obraz terytoria
Gdańsk 2008
143 × 205 • 144 pages
paperback
ISBN: 978-83-7453-750-6
Translation rights:
Krzysztof Lipowski
Contact:
słowo/obraz terytoria
93
Krzysztof Lipowski
An jedem Nachmittag legte Lisa voller Stolz die Uniform
der BDM-Mädchen an. Sie war eher kleingewachsen, doch
wenn sie zur Versammlung auf die Hauptstraße zur Villa an
der Bucht schritt, dann reckte sie sich und ihr Kopf glitt
majestätisch über den Köpfen der Passanten dahin. Dieser
Zustand bereitete ihr Freude und verringerte ihr Minderwertigkeitsgefühl immer stärker. Sie wollte den einschneidenden
Neid vergessen, den sie durchlitten hatte, als sie dem Leben
der gesellschaftlichen Eliten zusah. Sie erinnerte sich an den
Sommer 39, als sie diskret beobachtete, wie in den Villengärten unter einem Dach aus Kastanienbäumen die Ehefrauen polnischer Offiziere saßen. Sie hatte gesehen, wie man
Foxtrott zu den Klängen eines Grammophons tanzte, lange
Zigaretten rauchte und an bunten Likören nippte. Sie hatte
die jungen Damen betrachtet, die glänzende, luftige Kleider
trugen und Strohhüte mit Schildpattnadeln. Am besten hatte Lisa das Kleid einer Majorsgattin in strahlendstem Blau
mit Rüschen aus durchsichtigem Musselin gefallen.
Als in den letzten Augusttagen jenes Grammophon endlich verstummt war, hörte man in vielen Zimmern nervöses Telefonklingeln und hastige Frauenschritte. Über den
Häusern an der Bucht machte sich Stille breit. Bald jedoch
knirschte der verstreute Zucker unter Soldatenstiefeln. Die
Deutschen zogen lärmend und selbstsicher ein, sie sprachen
in einer Sprache, die nichts vom slawischen Rascheln, keine
Weichheit besaß. Sie flözten sich genüsslich auf die aus dem
Garten geholten Korbstühle und suchten Schatten vor der
verblüffend heißen Septembersonne. Ihre Gesichter waren
glattrasiert und dufteten nach „Echt Kölnisch Wasser”, dem
hochmütigen Erobererduft.
Zappzarapp
Artur Daniel Liskowacki
94
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Michał Niedzielski
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Prosaschriftsteller, Lyriker, Essayist, Autor von
Hörspielen und Büchern für Kinder, Publizist
und Theaterkritiker.
Dariusz Nowacki
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Zappzarapp
Artur Daniel Liskowacki (geb. 1956),
95
Artur Daniel Liskowacki
Zappzarapp ist ein Sammelband mit Erzählungen, die durch den
Erzähler-Protagonisten miteinander verbunden sind. Dieser
Protagonist – ein Schriftsteller und Journalist im mittleren Alter
– wird zum Beobachter von meistens banalen, einfachen Ereignissen. In nur wenigen Erzählungen nimmt er selbst an der
Handlung teil. Er beobachtet und belauscht die anderen heimlich, greift sich aus der Wirklichkeit das heraus, was ihm wichtig
erscheint und was eine gewisse symbolische oder parabolische
Bedeutung haben könnte. Diesen sonderbaren „Voyeur“ lässt
der Autor grundsätzlich in drei Erzählräumen erscheinen: in einem Sanatorium am Meer, im Krankenhaus und in den städtischen Bussen. Diese Orte bestimmen gewissermaßen die Thematik der Erzählungen. Der Zyklus aus dem Sanatorium und dem
Krankenhaus enthält hauptsächlich Erzählungen über menschliche Anschauungen und Verhaltensweisen. In den Bus-Erzählungen (so wurde der Zyklus genannt), hat der Autor den Ehrgeiz,
ein Porträt der heutigen Polen zu erstellen. Das, was die Passagiere der
Busse sagen, fügt sich zusammen zu
einem Katalog von Meinungen, Ängsten, Illusionen des so genannten
einfachen Bürgers. Es scheint kein
Zufall zu sein, dass Liskowacki seinem Buch einen Titel gab, der
auch eine der Geschichten aus dem Zyklus der Bus-Erzählungen überschreibt. Das heute etwas in Vergessenheit geratene
Wort „Zappzarapp“ wird zumeist mit einem schlauen Diebstahl
in Verbindung gebracht. Die Vorstellung, das heutige Polen sei
ein Land, das völlig ausgeraubt wurde, ist ein hartnäckiges Stereotyp, das beim „Volk“ allgemein verbreitet ist. Solche falschen
Mythen, mit denen sich die einfachen Bürger gegenseitig füttern,
gibt es viele. Doch das heißt nicht, dass Zappzarapp ein publizistisches Buch ist. Liskowacki interessieren eher die „Krümel
der Wirklichkeit“, Mikroereignisse, kleine Dialoge, gewöhnliche
Situationen, die normalerweise niemand bemerkt. Für niemanden sind diese Situationen des sozialen Lebens von Bedeutung.
Für niemanden – außer für den Wortkünstler, der aufmerksam
die ihn umgebende Welt beobachtet und ihr genauso aufmerksam zuhört.
Zappzarapp
Das
Artur Daniel Liskowacki
96
war nachdem man uns in die EU aufgenommen hat, vielleicht sogar am Tag darauf. Ich
fuhr mit dem Bus die Strasse runter, vorbei
an der Kirche, zur alten Ziegelei, von der nur noch ein paar
übereinander liegende Ziegel übrig geblieben sind, und weiter steil nach unten, die Warcisława Strasse entlang.
Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich schuldig, gleich
als ich einstieg. In der letzten Zeit schauten die Leute ein wenig zu aufmerksam auf die Titel der Zeitungen, die sie lasen,
als dass ich mich hätte unschuldig oder gar ungestraft fühlen
können. Glücklicherweise lesen die Leute immer weniger;
wenn sie ganz aufhören werden, vor allem öffentlich zu lesen,
wird allgemeiner Friede einkehren.
Ich stand neben einem älteren Mann; lichtes, graues Haar,
eine Weste mit neun Taschen (wofür brauchen Rentner so
viele Taschen? Für Patronen, eine zweite Brieftasche, die Fotos aller Enkel?); poch, poch mit dem Fingernagel gegen die
verstaubte Scheibe. Vor der ein Lastwagen vorbeirollte. Er
war lang und wirklich schwer. Zusammengebundene Kiefernstämme. Sie sahen aus, als ob man sie gerade gefällt hätte.
Ich spürte fast den Geruch des Holzes und der sonnendurchtränkten Rinde. Ich hörte fast wie sie knarrten in der Kurve,
die der Wagen, der sie transportierte, ziemlich langsam nahm.
Doch nicht langsam genug, um den Bus durchzulassen, von
dem aus ich alles beobachtete. Der ältere Mann hörte auf,
gegen die Scheibe zu pochen; als ob er verstummte.
„Es hat angefangen“, sagte er schließlich und nickte. „Es
hat angefangen.“
Eigentlich sprach er nicht mit mir, denn er hat nicht ein
einziges Mal rübergeschaut seitdem ich neben seinem Sitzplatz stand, und trotzdem fühlte ich mich zu einer Antwort
aufgerufen. Außerdem: Das war ja schon eine Antwort und
ich kannte nur die Frage nicht.
„Ja“, sagte ich unsicher. Zu unsicher, als dass er das hätte
ignorieren können.
Er schielte über die Schulter, aber nicht so, dass sich unsere
Blicke hätten treffen können. Mir war nicht gleich klar, dass
er genau das wollte. Dass er das nicht wollte. Sich treffen.
Er wollte nur, dass ich sehe, dass er zu mir geschielt hatte.
Genau das.
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„Zapp-zarapp“, sagte er während er auf die Kiefern schaute, deren Querschnitt jetzt zu sehen war. Weiße Felder, tote
Jahresringe. Er lachte trocken, hustete kurz. „Zapp-zarapp“,
wiederholte er, mit einer merkwürdigen, wie schmerzlichen
Erleichterung. Als ob es ein Abhusten, ein Ausspucken wäre.
Dessen, was im Inneren quer lag.
Ich ahnte schon was ich schuldig war. Eine Erklärung. Dass
er saß und ich stand, war jedoch eine heikle Konstellation. Er
tiefer und ich nicht höher, weil strammstehend. Ich sprach
zu ihm in seinen Nacken, er zu mir in die Scheibe. Er vor
sich hin, also wie zu niemandem, ich zu ihm, leicht nach
unten gebeugt und deshalb wie unterwürfig. Ich versuchte
es trotzdem.
„Und warum meinen Sie, dass“, ich zögerte. Vielleicht
hat er das gar nicht gedacht. Was? Nichts! Nichts woran ich
dachte.
„Zapp-zarapp“, wiederholte er mit Hartnäckigkeit, die
aber mir galt.
„...dass sie uns jemand wegnimmt und von hier abtransportiert?“, beendete ich. „Warum meinen Sie überhaupt, das
sei schlecht? Mit Holz wird ganz einfach gehandelt. Und zwar
mit einem ziemlich hohem Gewinn“, verstrickte ich mich
immer mehr und kam mir vor wie die Axt im Wald mit dieser
Vorlesung in Wirtschaft, die heute boshaft politisch schien.
Er lachte auf, diesmal fast freudig. Er schaute mich immer
noch nicht an. Deshalb konnte ich mich nicht vom Platz rühren, obwohl ich weitergehen konnte. Ihn zurücklassen, diesen
Zappzarapp mit seiner wahr gewordenen Prophezeiung, mit
seinem auf Erfahrung basierenden Beweis. Doch dann wäre
er umso mehr bei mir geblieben. Mit meinen verstotterten
Argumenten, mit meinem Augenglas (mal zwei) und Auge
(minus fünf ), mit meiner Schuld, an unseren Sünden.
Und wieder:
„Zapp-zarapp“, irgendwie leiser. Als ob er mich vergessen
hätte.
Wir ließen den Viadukt hinter uns, und ab nach unten;
karge, graue Mietshäuser des deutschen Proletariats, die General-Anders-Grünanlage, wo sie auf Bänken schlafen und in
die Büsche pissen (rote Nasen auf dem Monte Cassino ), und
gleich Manhatten.
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
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Zappzarapp
Wydawnictwo Forma
Szczecin 2008
180 × 180 • 124 pages
paperback
ISBN: 978-83-60881-07-1
Translation rights:
Artur Daniel Liskowacki und
Wydawnictwo Forma
Contact:
Wydawnictwo Forma
97
Artur Daniel Liskowacki
Der Markt; eine Bude neben der anderen und die Bullen
nur paarweise, eigentlich die Stadtwachen, oder eher die
Drachen, ohne Stadt allerdings, Kartoffeln, Rüben, Bananen,
Schuhe nach Gewicht, auf einem Drahtzaun aufgehängte Büstenhalter, Bouquinisten, die die Schullektüre des Sohns und
den verbleichten Winnetou aus der Wohnung tragen, um sie
auf den Bürgersteigen auszulegen und für einen Obstschnaps
zu sammeln.
Der mit Holz beladene Lastwagen holperte vor uns, wir
immer noch hinterher. Wären wir geradeaus gefahren, hätten
wir die Piotr Skarga Strasse hochfahren können, und dabei
die Tuwim Strasse passiert. Gib uns das Brot von polnischen
Feldern, die Särge aus polnischen Kiefern wieder. Ach, verschluckte ich mich an mir selbst, ach so ist das. Als ob ich es
sei, der Sehnsucht nach diesem Brot im Kiefernsarg hätte.
„Ich verstehe Sie sogar“, sagte ich feierlich aber versöhnlich, „doch die Welt hat sich ein wenig geändert. Es kommt
Ihnen so vor, dass...“
„Lass den alten Mann“, der hinter mir war näher als ich
dachte. Kleiner als ich, mit einem schmalen, verbissenen Gesicht von jemandem, der weiß, dass er in der Mehrheit ist.
Ich schielte zu beiden Seiten, niemand schaute zu uns. Wir
wurden langsamer, um in den Busbahnhof einzubiegen. Der
Lastwagen wählte deutlich das Zentrum, den langen Weg der
Wyzwolenia Allee.
„Wie? Lass ihn? Ich erkläre nur. Und wissen Sie warum?“
„Lass den alten Mann“, wiederholte der andere und drehte
sich zum Fenster. Doch vor allem von mir weg.
Ich stand da mit offenem Mund, obwohl meine Lippen
geschlossen waren.
„Alles nehmen sie uns weg“, sagte der ältere Mann. Er
schaute mich an. „Alles.“
Wir hielten an, Endstation, jeder in seine Richtung. Ich
stieg in die Straßenbahn um, und es ging weiter, in die Stadt.
Ich machte meine Dinge, ein paar fremde auch, bis zum
Abend. Und überlegte in freien Momenten des Überlegens ob
Zappzarapp, als er mich ansah, Tränen in den Augen hatte.
Kinderszenen
Jarosław Marek Rymkiewicz
98
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Elżbieta Lempp
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Marek Zaleski
Jarosław Marek Rymkiewicz (geb. 1935)
Literaturkritiker und –historiker, Essayist, Dichter,
Dramatiker, Übersetzer, Professor der Polnischen
Akademie der Wissenschaften.
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Kinderszenen
Irrsinn des Kampfes – allen politischen oder militärischen Überlegungen zum Trotz – gegenüber zu stellen. So findet die Idee
des Aufstands ihre Rechtfertigung erst in der langfristigen Betrachtung der Geschichte, wenn das Blutvergießen sich insofern
gelohnt, dass es durch die Kraft seiner Symbolik den polnischen
Widerstandswillen und die Sehnsucht nach Unabhängigkeit
aufrechterhalten hat. Rymkiewicz wählt aus Prinzip einen ausdrucksstarken Stil und weckt mit seinen Urteilen Widerspruch.
Daher wird das Buch Kinderszenen – so wie alle bisherigen Bücher dieses Autors – in Polen, und vielleicht auch im Ausland,
eine neue Diskussion auslösen.
99
Jarosław Marek Rymkiewicz
Der neue Essayband von Jarosław Marek Rymkiewicz hat die
charakteristischen Eigenschaften des Schreibstils dieses Autors:
einen „körnigen“ Aufbau; das Lenken der Aufmerksamkeit auf
scheinbar unwesentliche Details, deren tieferer Sinn jedoch
bald aufgedeckt wird; die enge Verbindung persönlicher Erfahrungen mit der historischen Perspektive, sowie die Klarheit und
Streitbarkeit der gestellten Thesen.
In Kinderszenen (der Titel ist Robert Schumanns gleichnamigen
Klavierminiaturen entnommen) wechseln sich zwei Motive ab;
Erlebnisse aus der Kindheit des Autors - und Szenen des Gemetzels während des Warschauer Aufstands. Rymkiewicz beschreibt vor allem eine, ungewöhnlich blutige Szene, verursacht
von einer „Panzer-Falle“, die die Deutschen den Aufständischen
untergeschoben hatten; der Panzer explodierte gleich nachdem
ihn die jubelnden Einwohner der Warschauer Altstadt umringt
hatten. Diese Geschichte erzählt er
langsam, eine Szene nach der anderen, über das ganze Buch hinweg,
wobei er widersprüchliche Zeugenberichte zitiert und von zahlreichen
anderen Grausamkeiten berichtet,
die die deutsche Wehrmacht bei der Niederschlagung der Erhebung den Aufständischen zugefügt hatte.
Das Kind, das Rymkiewicz in diesen Zeiten war, weiß nicht viel
über die historischen Ereignisse, die gerade stattfinden und man
könnte sagen sie prallen an ihm ab. Am wichtigsten sind damals
für den Jungen die Begegnungen mit Tieren – Katzen, Pferden,
Schildkröten, Krebsen und mit einem Hasen aus einer naturalistischen Erzählung von Dogasiński, die ihm seine Mutter vorliest.
Doch das Schicksal der Tiere ergibt letztendlich nur den Hintergrund für das menschliche Schicksal, und der Tod des Menschen sowie seine Sinnlosigkeit hat ihr Spiegelbild im Tod der
Tiere. Auf der einen Seite erkennt der Autor den biologischen,
unmenschlichen Aspekt des deutsch-polnischen Ringens, dem
jede rationale Grundlage fehlt. Andererseits sucht er nach einem
höheren Sinn dieses Massensterbens und der Zerstörung und
kommt schließlich zu der Einsicht, dass der Sinn des Aufstands
darin lag, dem deutschen Irrsinn des Mordens den polnischen
Kinderszenen
DER
Jarosław Marek Rymkiewicz
100
munitionswagen fährt in die kiliński Die Soldaten vom Bataillon „Gustaw“ scheint es irgendwie
strasse ein
nicht gestört zu haben (in der Nähe waren auch Offiziere des
Bataillons), dass es einen Befehl vielleicht gegeben oder auch
Es gibt mehrere Versionen über die Route, die der gepan- nicht gegeben hat, denn sie waren damit einverstanden, das
zerte Munitionswagen zurückgelegt haben soll, als er von Fahrzeug herauszugeben. Die Barrikade wurde niedergerisder Kreuzung zwischen der Senatorska- und der Podwale sen (wahrscheinlich nur ein kleines Stück von ihr), die zwei,
Strasse zu dem Punkt rollte, an dem von der Podwale Stras- die den Befehl hatten oder auch nicht hatten, stiegen in den
se, in Richtung Długa Strasse, die Kiliński Strasse abgeht. Munitionswagen, untersuchten ihn von innen und fuhren
Laut den von Ryszard Bielecki gesammelten Berichten der durch die Podwale Strasse in Richtung Kapitulna Strasse
Soldaten des Bataillons „Gustaw“ (in dem Buch „Gustaw“ – los. Bekannt sind – obwohl nicht ganz sicher – die Namen
„Harnaś“), die eine den Schlossplatz von der Podwale Strasse der zwei, sogar drei Soldaten (es konnten nämlich auch drei
abgrenzende Barrikade verteidigten, erschienen dort gegen sein), sowie das Pseudonym von einem. Hauptmann Lucjan
sechzehn Uhr zwei Soldaten mit dem Befehl, das Fahrzeug Fajer „Ognisty“1, stellvertretender Befehlshaber und Offiins Innere der Altstadt zu bringen. Als General Bór Komo- zier beim Bataillon „Gozdawa“, behauptete, es hätte mehrowski ans Fenster des Raczyński-Palais’ trat und den Mu- rere Soldaten gegeben und sie wären aus seinem Bataillon
nitionswagen erblickte, war es „genau zwölf Uhr mittags“. gewesen – „hauptsächlich aus der motorisierten Kompanie
Auch in der Erzählung von Hanna Malewska, einer Roma- ‚Orlęta’2“. Über die Strecke, die sie wählten, herrscht absolunautorin, die sehr gut weiß, was Geschichte bedeutet und te Unklarheit, da unter den Berichten darüber, solche zu finwie man mit ihr umgehen muss, also einer Person, die (gera- den sind, die sich entweder überhaupt nicht oder nur schwer
de in solchen Dingen) absolut glaubwürdig ist, heißt es, der miteinander vereinbaren lassen. Vielleicht könnte man sie irMunitionswagen – Malewska bezeichnet ihn als „tief gelege- gendwie miteinander vereinbaren, wenn man annähme, der
nen Schlepper“ – sei in der Altstadt mittags aufgetaucht. „Es Munitionswagen kreiste lange auf den Straßen der Altstadt,
war Mittag, die Deutschen gaben Ruhe, als es plötzlich in wechselte ständig den Standort und kehrte zu Stellungen
der Podwale Strasse von Schreien und Jubelrufen aufbrodelte zurück, an denen er zuvor gewesen war, weil er die Stelle
[...]. Kinder, Frauen umringen den Panzer, der wohl eher ein suchte, an der er letztendlich stehen bleiben sollte: an dem
tief gelegener Schlepper ist und wie man sieht, gerade erst er- Tor des Hauses in der Kiliński Strasse. Nach der Lektüre des
obert; auf ihm vier lachende Soldaten, die die Straße entlang Buchs von Lucjan Fajer könnte man annehmen („So sind
fahren“. Die Aussage über die zwei Soldaten, die angeblich sie in der Kiliński Strasse angekommen“), der Munitionsum sechzehn Uhr bei der Barrikade an der Podwale Strasse wagen sei die Podwale Strasse, Richtung Kapitulna Strasse
aufgetaucht seien, um mit dem Munitionswagen von dort entlang gefahren und hätte ziemlich schnell, ohne unterwegs
aus in die Kiliński Strasse zu fahren, scheint also – besonders anzuhalten oder vom Weg abzukommen, die Kiliński Straswas die Uhrzeit angeht - fragwürdig. Genauso, ja sogar noch se erreicht. Doch das erscheint mir sehr unwahrscheinlich.
fragwürdiger erscheint der Befehl selbst, auf den sich – laut Basierend auf verschiedenen Berichten über den Aufstand,
Bielecki – die zwei Soldaten beriefen; er wurde nicht schrift- stellte Ryszard Bielecki den Weg des Munitionswagens sehr
lich herausgegeben. Es ist auch unklar, wer, welcher Befehls- verworren – und als einen sehr verworrenen – dar. „Der
haber ihn gegeben haben soll. Mehr noch: Der Inhalt des kleine Panzerwagen fuhr über die Podwale- zur Kapitulna
Befehls ist unbekannt, also weiß man auch nicht wohin und Strasse und drehte nach rechts in die Piekarska Strasse ab.
mit welchem Ziel die zwei Soldaten mit dem Munitionswa- Über den Zapiecek fuhr er auf dem Marktplatz der Altstadt
gen von der Barrikade aus fahren wollten. Begründet scheint ein [...] Von diesem Moment an hatte die Fahrt des Pandagegen die Annahme, es hätte gar keinen Befehl gegeben. zerwagens den Charakter einer Siegesparade. [...] der kleine
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Aus dem Polnischen von Joanna Manc
1
2
dt. der Feurige
dt. junge Adler
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Kinderszenen
Wydawnictwo Sic!
Warsaw 2008
205 × 135 • 204 pages
hardcover
ISBN: 978-83-60457-60-3
Translation rights:
Wydawnictwo Sic!
101
Jarosław Marek Rymkiewicz
Panzerwagen fuhr vom Marktplatz über die Nowomiejska
Strasse. Er erreichte die Freta Strasse und drehte hier nach
links. Die Durchfahrt dauerte ziemlich lange, weil unterwegs
ein paar Barrikaden niedergerissen werden mussten“. Es liegt
nahe, dass der Munitionswagen dann, nachdem er von der
Freta Strasse links abgebogen war, die Długa Strasse entlang
zum Haupteingang des Raczyński Palais fuhr (das heißt
gefahren wäre, denn ob er gefahren ist, weiß man nicht).
Doch auch diese Version scheint mir recht unwahrscheinlich. Aber natürlich ist alles möglich. Fügen wir dem noch
eine Version der Durchfahrt hinzu, die ganz offen derjenigen
widerspricht, die wir in Marsch durch die Hölle finden, und
die in Antoni Przygońskis Buch Der Warschauer Aufstand im
August 1944 wiedergegeben wird. Dieser Autor behauptete nämlich (basierend auf irgendwelchen Berichten, deren
Urheber er nicht preisgegeben hat), der Munitionswagen sei
zwar durch die Wąski Dunaj Strasse gefahren, jedoch in eine
andere Richtung, als es aus Podlewskis Buch resultieren würde. Er fuhr nämlich die Wąski Dunaj Strasse entlang nicht
in Richtung „Alter Markt“ wie es Vater Tomasz Rostworoski
geraten hatte, sondern er bog „von der Wąski Dunaj- in die
Kiliński Strasse ein“ – und das bedeutet (zumindest kann
man das annehmen), dass er in die Wąski Dunaj Strasse vom
Markt der Altstadt oder von der Piwna Strasse eingebogen
war.
Witold Bereś, Krzysztof Burnetko
102
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Marek Edelman. Einfach das Leben
Marek Zaleski
Marek Edelman (geb. 1922) legendärer
Kommandeur des Warschauer Ghetto-Aufstandes,
Kardiologe, bis heute eine Autorität und ein führender
Kopf in Politik und Gesellschaft.
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Marek Edelman. Einfach das Leben
illustriert, ist nicht nur ein faszinierendes Porträt eines großen
Helden des 20. Jahrhunderts, eines Menschen mit großem Mut
und nicht einfachem Charakter, der dem Gedenken seiner gefallenen Freunde treu bleibt und der, wie Lech Wałęsa über ihn
sagte, „nicht in diese Welt der Bequemlichkeit, netten Gesten
und freundlichen Worte passt“. Es ist auch eine philosophische
Abhandlung über ein gutes Leben und eine breit gefasste Erzählung über das 20. Jahrhundert.
103
Witold Bereś, Krzysztof Burnetko
Viele Leser kennen Marek Edelman, den letzten noch lebenden
Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, der nach dem
Krieg ein angesehener Herzchirurg in Łódź war, bereits aus
seinem Gespräch mit Hanna Krall Dem Herrgott zuvorkommen
(1977), das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Das von zwei
prominenten Journalisten verfasste Buch Marek Edelman. Einfach
das Leben ist die neueste und bisher vollständigste Biographie,
die in enger Zusammenarbeit mit dem Protagonisten entstanden
ist. Václav Havel sagte über Marek Edelman dieser verkörpere
für ihn „das Beste an Polen“.
Das Buch von Bereś und Burnetko erzählt von Edelmans jüdischer
Kindheit in Warschau, seinen Jugendjahren als Mitglied des Jüdischen Arbeiterverbandes „Bund“ und vom Vorkriegswarschau,
vom Aufbau der Jüdischen Kampforganisation „ŻOB“ und dem
Leben im Ghetto, vom Ghettoaufstand im April 1943 und von
Edelmans Teilnahme am Warschauer Aufstand im August 1944, von den
Nachkriegsjahren und vom Schicksal jener polnischen Juden, die den
Holocaust überlebt haben. Seit 60
Jahren lebt Marek Edelman in Łódź
– trotz antisemitischer Attacken, die 1968 ihren Höhepunkt erreichten und seine Familie in die Emigration zwangen und ihm
selber eine wissenschaftliche Karriere unmöglich machten (seine Habilitation wurde aus politischen Gründen abgelehnt). Wir
lesen von seiner Arbeit als Herzchirurg, aber auch von seinem
Engagement in der demokratischen Oppositionsbewegung in
Polen und von dem Leben eines politisch Verfolgten und Schikanierten. Das Buch zeigt Edelman als Mitglied von „KOR“,
dem „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“, und der illegalen
„Solidarność“, sowie, nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von Polen im Jahre 1989, als Sejm-Abgeordneten, der
nicht nur in polnischen Angelegenheiten aktiv wurde, sondern
sich auch für die Hilfe den Opfern des Kriegs im ehemaligen
Jugoslawien einsetzte oder für den Dialog zwischen Israel
und Palästina.
Das Buch von Bereś und Burnetko, voll von Anekdoten und mit
Aussagen von Edelman sowie von seinen Freunden und Feinden
Marek Edelman. Einfach das Leben
Marek
Witold Bereś, Krzysztof Burnetko
104
Edelman: „Hört doch auf, aus
mir irgendeinen Helden zu machen! Wen interessiert es, wie
viele Karabiner es gab und wer wo geschossen hat! Ihr redet
so ernsthaft darüber, aber wir waren doch damals auch junge
Menschen, Rotznasen. Wisst ihr, welchen Blödsinn wir im
Kopf hatten?“
Einige Stunden nach der Vernichtung des Bunkers und
Anielewiczs Tod, bereits am Abend, geht Edelman zusammen mit einigen anderen, darunter auch mit „Celina”, um
nachzusehen, was in der Miła los ist. Sie gehen durch ein
Meer aus Ruinen. Plötzlich bricht unter „Celina“ eine Kellerdecke ein… Im letzten Moment rettet ihr Edelman das
Leben. Und damals findet er auch in einem Versteck unter
der Tür fünfzehn wie durch ein Wunder gerettete Menschen,
von denen er erfährt, was im Bunker passiert ist…
Es ist einer dieser Momente, in denen er jemandem das
Leben rettet. Denn auch wenn er nie gerne davon sprechen
wird, weiß man, dass er während des Warschauer Aufstands
allein „Celina“ noch zwei Mal das Leben gerettet hat.
Unerwartet – sogar für sich selbst – wird er zu dieser Zeit
zu einer Stütze für andere. Joanna Szczęsna wird er später
sagen, er wisse nicht, warum die Menschen auf ihn gehört
haben, er sei damals doch nicht sehr ernsthaft gewesen.
Heute fügt er hinzu: „Na gut. Wir waren tapfer. Mutig.
Aber in militärischer Hinsicht? Nimmt man die Deutschen
– dann gab es uns gar nicht. Es ist also vielleicht wichtiger,
dass wir irgendwelche gemeinsamen Werte befolgt haben.“
Auch Freundschaft war hier wichtig.
Pnina Grynszpan-Frymer erzählt Anka Grupińska (Stets
im Kreis) eine ähnliche Geschichte:
„Marek war der Kommandant eines Gebiets, der Kommandant der Kampfgruppe war Jurek Błones. In der Nacht
schlug Marek einige Male einen solchen Alarm, er testete
unsere Bereitschaft. Mit einer Uhr in der Hand schaute er,
wie schnell wir zu einem Angriff bereit sind. Er war sehr kühl
und sehr mutig. Er war ein verantwortungsvoller Mensch
und deshalb fühlte ich mich sicher bei ihm.
Schon während des Aufstands, nachdem das Gebiet der
Bürstenfabrik liquidiert worden war, gingen wir vom Zen-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
tralghetto in den Bunker in der Franciszkańska 32. Marek
organisierte unsere Überführung. Er brachte drei Gruppen
hinüber: meine, also die von Hersz Berliński, die Gruppe
von Droru Henoch Gutman und seine eigene, die der Bundisten.“
Als wir im Frühjahr 2008 mit Pnina in Tel Aviv sprechen,
ergänzt sie die Beschreibung dieser Situation:
„Marek war mein Kommandant. Wortwörtlich. Es war so:
Mein damaliger Kommandant sagte plötzlich, er wolle alleine, ohne uns, auf die arische Seite gehen. Ich war verzweifelt. Und als ich auf Marek zukam und ihm davon erzählte,
antwortete er ruhig: ‚Du brauchst keine Angst zu haben, ich
werde jetzt dein Kommandant sein. Dir wird nichts passieren, bleib ruhig…’.“
Edelman: „Im Aufstand hatte ich auch einige Kommunisten unter mir. Irgendwann Anfang Mai fingen sie an sich zu
beschweren, dass sie zu wenige Waffen hätten und kündigten
mir an, in einen Hungerstreik zu treten. Bitte schön, sagte
ich, es gibt sowieso nichts zum Essen, ihr könnt ruhig einen
Hungerstreik veranstalten. Allerdings tauchte gerade irgendwelcher Zucker auf, jemand löste ihn in Wasser auf und alle
konnten davon trinken. Und diese hier – Hungerstreik. Ich
vertrug keine Auflehnung. Ich sagte zu meinen Leuten: Entwaffnet sie, und bringt sie her! Und die sagten weiterhin,
dass sie dieses Zuckerwasser nicht trinken werden. Ich hatte
aber ein Gewehr… Und so haben sie es getrunken…“.
Was für ein Unterschied im Vergleich zu dem Edelman aus
den ersten Tagen des Ghettos! Adina Blady-Szwajgier, Inka,
schreibt über diese frühere Zeit: „Es war ein wunderschöner
Julitag, noch bevor das Ghetto abgesperrt wurde. Ich kam zur
Arbeit im Krankenhaus in einem sehr schönen Kostüm noch
aus der Vorkriegszeit, aus Krepp. Es ist wichtig, dass es aus
Krepp war, denn dieser Stoff darf nicht nass werden. Ich trat
ans Fenster und sah Marek, wie er vor dem Haus den Rasen
sprengte. Als er mich bemerkte, richtete er seelenruhig den
Schlauch auf mich. Ich sprang aus dem Fenster, es war das
Erdgeschoss, und wir fingen an, auf dem Rasen zu raufen.”
Als Paula Sawicka einige Jahrzehnte nach dem Krieg auf
Edelmans Bitte dessen damalige Verlobte Stasia in New York
besucht und sie fragt, wie er damals war, hört sie: „Rück-
Aus dem Polnischen von Aleksandra Kujawa-Eberharter
und Markus Eberharter
Marek Edelman. Einfach das Leben
Und ich war kein Engel… Alles deswegen, weil ihr Leben
plötzlich von mir abhing. Das von Inka und von Stasia und
von Tosia Goliborska… Deswegen die ganzen Seufzer… Es
ist übrigens egal. Wichtig ist, dass es den Aufstand gab, dass
der Widerstand lange anhielt, dass die deutsche Armee, die
tausende Soldaten hatte, drei Wochen lang mit zweihundert Jungs kämpfen musste. Das ist wichtig, und nicht, ob
jemand aus einem Fenster in der Niska oder in der Śliska
geschossen hat… Die meiste Zeit hat übrigens gar niemand
geschossen, weil es nichts zu verschießen gab.
Und außerdem – was hätte ich schon tun können? Es gab
doch so viele, denen vorkam, dass sie von mir abhingen. Sehr
viele. Nur dass wenige überlebten.”
105
Świat Książki
Warsaw 2008
200 × 145 • 510 pages
hardcover
ISBN: 978-83-247-0892-5
Translation rights:
Świat Książki
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Witold Bereś, Krzysztof Burnetko
sichtslos. Aber wir alle damals fühlten uns sicher bei ihm.“
Sawicka: „Stasia sagte zu mir: ‚Wir alle haben auf ihn vertraut. Wir saßen zuhause und warteten, bis er kommt und
eine Kanne Suppe bringt. Sonst hätten wir gehungert. Wir
brauchten uns um nichts zu sorgen, denn wir wussten, Marek wird alles richten.’ Es war ein unglaubliches Geständnis,
auch deshalb, da sie ja alle älter waren als Marek.“
Stasia, d. h. Ryfka Rozensztajn. Wie sich Edelman erinnern
wird, sang sie, hatte eine schöne Stimme, konnte hübsch
zeichnen, trug schwarze Zöpfe und war eine Stütze für ihn.
Edelman erzählte Sawicka einmal, dass Stasia im Ghetto
Geld verdiente, indem sie die Griffe von Regenschirmen mit
phantasievollen Mustern bemalte. Als Sawicka verwundert
fragte, wie es möglich war, dass sich so etwas verkaufte („Im
Ghetto?!“), hörte sie: „Was denn, glaubst du etwa, im Ghetto
hat es nicht geregnet?“.
Stasia war also die Freundin von Marek Edelman. Obwohl
es danach aussieht, dass sie zu Beginn des Krieges auch mit
Welweł Rozowski, dem „Włodek”, zusammen war … Alina Margolis kann sich jedenfalls erinnern, dass man über
Rozowski sagte: „Der Mann von Mareks Frau”. Und Paula
Sawicka: „Mir erzählte Inka, dass man von Marek als ‚dem
Mann von Włodeks Frau’ sprach.
In der kleinen Erzählsammlung von Alina Margolis Ala
aus der Fibel gibt es die Erzählung Schüsse, in der die damalige Zeit beschrieben wird, auch wenn die Namen der
Protagonisten geändert wurden. „Pnina, die nie außer Haus
ging, kochte jeden Tag eine Suppe aus Ersatzprodukten.
Manchmal schwammen darin Stückchen von Pferdefleisch.
Sie wohnte zusammen mit ihrem Mann und ihrem Freund.
Das wunderte mich nicht einmal… Mich wunderte dagegen, dass niemand protestierte, als sie für die beiden die besten Stückchen aus der dünnen Suppe aufhob.“
Edelman: „Stasia war meine Freundin! Und obwohl ich von
ihr das Leben überhaupt gelernt habe, hörte sie auf mich! Ich
kannte sie noch von früher, als große Aktivistin im Kinderverband „SKIF“, als ich noch eine kleine Rotznase war.“
- Wie kam es, dass Sie Chef wurden?
„Man stellte mich einfach vor so eine Situation, dass ich
befehlen musste und dann wurde alles andere unwichtig.
Piotr Kletowski, Piotr Marecki
106
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ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
(geb.1940), einer
der umstrittensten polnischen Filmregisseure;
Drehbuchautor, Filmkritiker, Feuilletonist,
Schauspieler und Schriftsteller.
Andrzej Kołodyński
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ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
Andrzej Żuławski
107
Piotr Kletowski, Piotr Marecki
Obwohl sich Andrzej Żuławski bereits seinem 70. Geburtstag
nähert, bleibt er als Künstler weiterhin sehr jugendlich – im Geiste und im Temperament. Eben: Als Künstler, denn er beschränkt
sich nicht nur auf eine Kunstform. Am bekanntesten ist er als
Filmregisseur und Drehbuchautor (14 Filme), selbst aber schätzt
er seine Bücher (24 an der Zahl) höher ein. Er war auch als Filmkritiker und Schauspieler tätig, führte im Warschauer Teatr Wielki
eine klassische Nationaloper auf, arbeitete beim Fernsehen und
publizierte Gedichte. Der Gestalt Żuławskis verleihen in Polen
seine Pariser Ausbildung, seine Herkunft aus einer intellektuellen
und künstlerischen Familie sowie seine schönen Frauen, die berühmten Schauspielerinnen Małgorzata Braunek und später Sophie Marceau, eine snobistische Note. Andrzej Żuławski ist für
seine scharfe Zunge und umstrittenen Ansichten bekannt. Das
Gespräch nimmt also die Form einer lebhaften Diskussion an,
die manchmal in eine Auseinandersetzung übergeht und deren,
von den beiden Interviewern – zwei
Kritiker und Kulturwissenschaftler
– auferlegte Ordnung oft von der
brillanten Unberechenbarkeit ihres
Gesprächspartners gesprengt wird.
Eine hinreißende Lektüre. Sie beginnt
mit einem Versuch, die für Żuławski wichtigsten Medien, Kino
und Literatur, zu definieren, bald aber kommt alles auf einmal:
von der Kindheit bis zu den künstlerischen Faszinationen (Fjodor Dostojewski neben Sam Peckinpah, aber nicht nur!), von
den dramatischen Erlebnissen in kommunistischen Zeiten (die
zweimalige Ausweisung aus Polen und der unaufhörliche Kampf
gegen die Zensur) bis hin zu den faszinierenden und nicht immer
wohlgesinnten Charakterisierungen berühmter Menschen, denen er in seinem Leben begegnete. Bei allem Anschein von Anarchie, die er übrigens mit dem Zynismus eines selbstbewussten
Künstlers auszunützen vermag – entsteht bei diesem Interview
das Porträt eines Künstlers mit eindeutig linker Weltanschauung,
der sich seiner privilegierten Position in der Gesellschaft durchaus bewusst ist und der auf seinem Recht besteht, über alles zu
reden, was er für wichtig und wesentlich hält.
ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
Über Kinski
Piotr Kletowski, Piotr Marecki
108
Kinski war eine Mischung aus Vollidiot, Schwachkopf und
einem Sensibelchen, fernab jeder Kultur. Kinskis Egomanie
überragte jede Vorstellung. Ich habe ihn engagiert, nicht weil
er in diesen Spaghetti-Western spielte, die ihn übrigens völlig aufgerieben haben, sondern wegen seiner Physiognomie,
deswegen, weil er der erste Hamlet in den Ruinen von Berlin
war, worüber ich oft spreche, denn dadurch habe ich erfahren, dass es einen solchen Schauspieler überhaupt gab. Zum
ersten Mal hat ein Deutscher den Hamlet gespielt, 1945, in
den Ruinen von Berlin, im Theater. Er war also ein Schauspieler mit Theatervergangenheit. Er war übrigens polnischer
Abstammung.
PK: Ja, aus Sopot.
Nakszyński hieß er. Er war ein auf Effekthascherei bedachter Komödiant, im buchstäblichen Sinne, er hat es aber so
weit getrieben, dass es an Genialität grenzte. Es gibt solche
genialen Idioten. Die Autisten können zum Beispiel rechnen
wie niemand auf der Welt, und er konnte spielen wie niemand auf der Welt, weil er eine Art Autist war. Außerdem
darf man einige wesentliche Dinge nicht vergessen, vor allem, dass er drogenabhängig war, das heißt also, dass er nie
nüchtern war, in dem Sinne, was wir für nüchtern halten. Er
war permanent absolut high, was seinen natürlichen Rausch
noch gesteigert hat. Ich persönlich kann von ihm nur Gutes
sagen. Ich habe mich darauf versteift, dass er in diesem Film
spielt. Dafür musste ich für die zwei Herren Koproduzenten
aus Deutschland eine Schauspielerin mit sooolchen Titten
engagieren. Sie kam in einem Rolls-Royce – ich habe es in
einem meiner Bücher beschrieben – hatte ein winziges Röcklein mit Tüpfchen an, das ihr kaum die Möse verdeckte, und
die Mama war mit dabei. Und sie war eine unschuldige, süße
Schlampe, eine Vollidiotin einfach, aber sehr nett, ein guter
Mensch. Ich habe zugestimmt, dass sie in diesem Film spielt,
denn sonst wollten sie Kinski nicht dabeihaben, weil er einem dieser Produzenten mal die Fresse poliert hatte, in ei-
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ner Bar in München, wegen seiner Nazivergangenheit. Dass
Kinski selber eine Wehrmachtvergangenheit hatte, darüber
hat man weniger gesprochen. Aber er hatte eine.
PK: Herzog behauptet, Kinski wäre sogar in Stalingrad gewesen.
Das ist gut möglich, bei ihm war absolut alles möglich,
was immer Sie mir von ihm erzählen, ich würde sagen, dass
es sehr wahrscheinlich ist. Aber zurück zum Thema. Wie
es mir also gelungen ist, Kinski für den Film zu gewinnen,
obwohl mir alle gesagt hatten, er sei der Antichrist? Ich
habe diese Schauspielerin, diese Produzententussi zum Set
gelassen. Als Frau – wirklich ein Traum: unglaubliche Titten, zwei Meter groß, den Namen sage ich nicht. Und jeden
Abend haben diese deutschen Produzenten die Szenen mit
ihr angeschaut, und alles hat gestimmt, also ließen sie Kinski
mitspielen. Dieser spielte großartig und war sehr glücklich
darüber, aber sie, diese Tussi natürlich, erscheint gar nicht
auf dem Bildschirm. Ich habe diesen Produzenten nur einen Brief geschrieben: „Erpresst nie einen Regisseur, denn er
wird euch immer austricksen“. Sie war da, sie war sogar in
den Szenen, kommt aber auf dem Bildschirm gar nicht vor!
Diese Figur gibt es gar nicht, es wurde so gedreht, dass man
es rausschneiden konnte! Als ich am Anfang der Produktion
sagte, ich will Kinski, hat man mir gesagt: „Bist du verrückt,
der kann höchstens umsonst spielen, weil ihn niemand will.
Er hat sich überall so furchtbar aufgeführt, dass er von allen gehasst wird, neuerdings spielt er sogar bei diesen Spaghetti-Western in Rom nicht mehr mit, niemand will mehr
etwas von ihm hören, er ist am Boden“. Und als wir seinen
Agenten in Rom anriefen, der vor Glück fast durchdrehte,
rief Kinski sofort zurück, dass er schon auf dem Weg sei,
und ich sagte zu ihm: „Komm noch nicht her, weil ich weiß
noch nicht, ob ich das durchbringe. – Nein, ich komme,
das ist wichtig. – Aber du hast das Drehbuch noch gar nicht
gelesen. – Nein, ich komme“. Kinski kam und wohnte in so
einem erbärmlichen kleinen Hotel. Er hatte eine ganz junge
Frau, eine kleine Vietnamesin, mit der er später ein Kind
hatte. Beide waren ständig auf Drogen und hatten deswegen
PK: Er schreibt dort auch, dass er den ganzen Film gesehen,
aber nichts davon verstanden habe.
Das weiß ich nicht mehr, aber ich weiß, dass ich von ihm
als ein scheinheiliger Pfaffe bezeichnet wurde, als kompletter
Idiot, und da er in diesem Buch wirklich über alle herzieht,
an niemandem ein gutes Haar lässt, ist er sehr einsam gestorben. Das war seine Einstellung überhaupt, zur Welt und zu
allem. Ich kann mich erinnern, dass seine Tochter Nastassja
mir erzählt hat, dass sie, als man sie gefragt hat, ob sie traurig
geworden sei, als sie erfahren hat, dass ihr Vater gestorben ist,
geantwortet habe: „Ja, für zwei Minuten“.
Aus dem Polnischen von Aleksandra Kujawa-Eberharter
und Markus Eberharter
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ŻUŁAWSKI. Reader der Zeitschrift
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
Wydawnictwo
Krytyki Politycznej
Warsaw 2008
118 × 165 • 528 pages
paperback
ISBN: 978-83-61006-38-1
Translation rights:
Andrzej Żuławski,
Piotr Kletowski, Piotr Marecki
and Wydawnictwo
Krytyki Politycznej
109
Piotr Kletowski, Piotr Marecki
kein Geld für ein ordentliches Hotel. Wir haben etwas für sie
organisiert, mit Wasser und Klo auf dem Gang, denn was anderes konnten sie sich nicht leisten, und die in der Produktion wussten nicht, ob er überhaupt spielen wird und ob sie
das Geld für ihn auslegen sollten. Deswegen war er noch vor
den Aufnahmen dankbar. Außerdem waren wir vom Temperament her recht ähnlich. Vielleicht sieht man das nicht
gleich auf den ersten Blick, aber wenn ich wütend werde,
kann ich einfach ziemlich gefährlich sein. Viele Regisseure,
die ich kenne, haben so etwas, dass sie, wenn man ihnen auf
den Senkel geht, einen töten könnten.
Da also Kinski spürte, dass wir beide ein leicht erregbares
Temperament haben, sah er das positiv und hat sich mehr als
professionell verhalten. Er war eine Stunde früher als alle anderen am Drehort, und nicht einmal für den Bruchteil einer
Sekunde hat er Troubles gemacht. Er hat sogar versucht, sich
mit Romy Schneider anzufreunden, die ihn aber nicht besonders mochte. Wir haben uns unter Tränen verabschiedet,
nachher aber habe ich in seinen Erinnerungen gelesen, er hat
gesagt, ich sei ein Volltrottel gewesen, und hat geschrieben,
nein – ich sei so eine Art Pfarrer gewesen, so ein heuchlerischer Moralist, so etwas hat er in seinen Erinnerungen geschrieben.
Turulgulasch
Krzysztof Varga
110
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Michał Mutor
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und Gebräuche vor... Manche Motive behandelt er nur kurz, zu
anderen kehrt er fast obsessiv immer wieder zurück. Auch seine
seit frühester Kindheit erlebten Abenteuer mit den Ungarn und
dem Ungarischsein behandelt er in diesem Buch, das mit Distanz, doch auch mit rauher Zärtlichkeit gschrieben ist.
Krzysztof Varga (geb. 1968) Schriftsteller,
Literaturkritiker, Journalist. Im letzten Jahr
erschien sein sechster Roman.
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Turulgulasch
Robert Ostaszewski
111
Krzysztof Varga
Turulgulasch ist eine in ausgezeichneter essayistischer Prosa
verfasste Sammlung von Reisebeschreibungen über Ungarn.
Die Wahl dieses Landes liegt auf der Hand, denn der Autor ist
halb ungarisch. Der Titel des Buches mit seiner Kombinaton von
ungarischem Mythos und ungarischer Küche gibt den Ton für
das Buch an, in dem alle Kapitel ähnlich benannt sind, wie z.B.
Horthy-Braten oder Sankt-Stefans-Salami. Seinen Besuchen in
Restaurants und Kneipen verschiedenster Art widmet Varga viel
Platz, ebenso wie den Bewertungen unterschiedlicher Gerichte,
angefangen von der einfachen Blutwurst mit Brot, Senf und eingelegtem Gemüse, wie sie in den Metzgereien serviert wird, bis
hin zu komplizierterem Gebratenem und Gesottenem. Wie sich
herausstellt, geht er auf die Merkmale der ungesunden, fetten
und schwer verdaulichen ungarischen Küche auch deshalb ein,
um Parallelen zur ungarischen Psyche zu ziehen, die in erstickender Atmosphäre und quälenden Marotten versumpft. Varga präsentiert
Ungarn als einen Ort unerbittlicher
Melancholie, Nostalgie, Traurigkeit,
ja sogar Verzweiflung, ein Ort der Depression und Unterlegenheitsgefühle, die mit masochistischem Genuss gehätschelt werden. Der Autor von Turulgulasch sieht den Grund für dieses spezielle kollektive Selbstwertgefühl der Ungarn in erster Linie in
der wechselvollen Geschichte, die von zahlreichen Niederlagen
und unerfüllten Träumen von Großungarn gekennzeichnet war,
jedoch auch in der kulturellen Andersartigkeit der ehemaligen
Nomaden, die werweißwoher nach Mitteleuropa kamen.
Turulgulasch ist tatsächlich ein wenig gulaschartig, es ist ein Gemisch von vielem verschiedenem. Diesen Texteintopf hat Varga
ganz bewußt so zusammen gebrutzelt. Er beschreibt keine Reise durch Ungarn, auch keine Epoche aus der Geschichte des
Landes, er flaniert durch Zeit und Raum, erinnert an Ereignisse
ferner Vergangenheit, aber schreibt auch über die Gegenwart
(unter anderem über die groteske Revolte gegen Premierminister Gyurcsany 2006), er rühmt die Schönheiten Budapests,
erzählt von Ausflügen in namenlose Dörfer, stellt Küche, Kultur
Turulgulasch
...Es
Krzysztof Varga
112
dauerte etwas, bis ich, aus der Welt der
pflichtschuldigen Wochenendbesuche bei
den Bekannten meines Vaters entlassen,
schließlich begriff, dass diese Welt nicht nur aus Letscho,
gefüllter Paprika und Kartoffelauflauf bestand, sondern auch
aus Frustrationen, Komplexen, einer unheilbaren, schmerzlichen, verzerrten Erinnerung. Und dem nostalgischen Trauern um die Zeiten unter Regent Mihaly Horthy und Genosse
János Kádár. Grund für die Nostalgie gab es nur insofern, als
sie ein elementarer Bestandteil des ungarischen Lebens ist.
Ich weiß noch, dass der Name von Genosse Kádár in den
Unterhaltungen damals sehr oft fiel, wahrscheinlich deshalb,
weil man sich über ihn beklagte – heute beklagt man, dass
er nicht mehr da ist. Die Kadarschen Zeiten sind deshalb so
nostalgieförderlich, weil es in Osteuropa die besten waren,
aber gleichzeitig auch die schlimmsten – Zeiten der gebrochenen Rückgrate und der geistigen Fesseln.
In Budapest trägt jede dritte Teestube den Namen „Nostalgia”, es gibt auch Nostalgie-Konditoreien, die Nostalgie zieht
ihre Flechten über die Mauern der Häuser und das Pflaster
der Straßen. Das ist das sehnsüchtige Schmachten nach alter Größe, obwohl die letzte wahrhaftige Größe zu König
Matyas Corvinus’ Zeiten vor mehr als fünfhundert Jahren
stattgefunden hat, wenn man die Ära der Größe des ungarischen Fußballs in den fünfziger und sechziger Jahren und die
internationalen Erfolge der Bands Omega und Lokomotiv
GT nicht rechnet.
Nostalgisch ist sogar die Wettervorhersage der Fernsehstation Duna TV für das gesamte sogenannte Karpatenbecken,
eine euphemistische Bezeichnung für den gesamten von ungarischen Minderheiten bewohnten Raum mit besonderer
Betonung von Siebenbürgen.
Zwischen unzähligen alten Pfeffermühlen, im Gewirr der
Lampen, Flaschen und Orangeade-Etiketten im Trödelladen
„Nostalgia” in der Klauzál utca steht eine disziplinierte Reihe
Leninbüsten. Das Innere des Ladens beherrscht sein großes
Porträt, und auch ein Stalin hat noch in der Auslage Platz
gefunden. Im hinteren Teil des Ladens, neben dem Kleiderständer voll sowjetischer Soldatenmützen mit pizzagroßen
Krempen stehen weitere Büsten, wahrscheinlich schon zeit-
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genössischer Machart, sie sehen verdächtig nach Fließband
aus. Dominierend sind die Leninköpfe, es gibt aber auch ein
paar Stalins und sogar einen Adolf Hitler für siebentausendachthundert Forint.
Im Stehlokal „Nostalgia” im Erdgeschoss der Markthalle
am Lehel-Platz schwanken die lokalen Alkoholiker nostalgisch über den Gläsern. Das Bier kostet hier zweihundert
Forint, ein Preis, der Erinnerungen an die guten alten Zeiten
weckt. Es gibt ja nur alte Zeiten, die besser gewesen sein
können, obwohl niemand überzeugend erklären kann, worin
sich dieses „besser” ausdrückte. Vom nahegelegenen Nyugati-Bahnhof (Westbahnhof ) fahren „Nostalgiezüge” nach
Esztergom und ins Donauknie, man kann siebzig Kilometer
in eine Richtung mit dem Bummelzug fahren und sich an
einstiger Herrlichkeit entzücken.
Das Nostalgischste überhaupt aber sind die Turuls, die
mythischen ungarischen Vögel, die man überall findet, wenn
man sich nur richtig umschaut. Auf Denkmälern, Mietshäusern, Tafeln, militärischen Emblemen, den Rucksäcken
der nationalistisch gesinnten Jugend und den flachen Brüsten der Mädchen, die in der Bäckerei „Brunch” an der Retek utca beim Moszkwa-Platz Brote verkaufen und Kaffee
kochen. Der Turul, eine merkwürdige Kreuzung zwischen
Adler und Gans ist die geballte Personifikation ungarischer
Träume und Komplexe.
In ganz Budapest hat er nur eine Straße und eine Gasse.
Straße und Gasse befinden sich am Rand des zweiten Bezirks, nah an der Stadtgrenze und weit vom Zentrum. Der
Bezirk IIA, wo die Turul utca liegt, ist eigentlich ein kleines Städtchen, das zwar zum Einzugsbereich der städtischen
Verkehrsbetriebe gehört, doch die Straßen und Häuser erinnern an ein ausuferndes Dorf mit Ambitionen. Im Garten
der Wirtschaft „Náncsi néni” an der Ördögárok utca kann
man sich wie in längst verflossenen Ferien fühlen, irgendwo weit von Budapest entfernt in einer zweifellos besseren
Vergangenheit, vielleicht sogar noch vor dem Krieg, und
beim Verzehr einer Gänsekeule der obligatorischen Nostalgie nachhängen.
Budapester und Ausländer kommen gerne zu „Tante Náncsi”, um das ausgezeichnete und natürlich auch durchaus teu-
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
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Turulgulasch
Czarne
Wołowiec 2008
125 × 195 • 196 pages
paperback
ISBN: 978-83-7536-040-0
Translation rights:
Krzysztof Varga
Contact: Czarne
113
Krzysztof Varga
re Essen zu genießen – doch wer sieht sich die nahegelegene
Turulstraße an, wo nur eine Autobushaltestelle und ein paar
Häuser stehen?
Budapest ist in dreiundzwanzig Verwaltungsbezirke
eingeteilt, und jeder Straßenname kann in jedem Bezirk
vorkommen. Theoretisch könnte es also dreiundzwanzig
Turul-Straßen geben, so wie es auch eine Fülle von Straßen
und Plätzen gibt, die nach Arány János, Attila, Batthyány,
Bem, Kossuth, Petöfi, Rákoczi oder Vörösmarty benannt
sind. Doch nur eine Straße ist nach dem Turul benannt. Und
trotzdem stolpere ich auf ungarischem Schritt und Tritt über
die Spuren dieses Vogels.
Mein Interesse am Turul erwachte erst, als ich in der hügelig gelegenen Stadt Tatabánya, etwa sechzig Kilometer
westlich von Budapest, auf einem Berg die stolze Replik des
Vogels entdeckte, der am Budaer Schloss steht. Den Vogel
von den Schlossmauern kennt jeder Budapester und jeder,
der in der ungarischen Stadt touristisch unterwegs war, denn
er breitet seine Riesenflügel an der von Touristen am meisten heimgesuchten Stelle aus. Ich kenne ihn seit ich denken
kann, und er hat mich nie besonders berührt, schließlich
erheben sich die Adler ja europaweit massenweise auf Denkmälern, Schlössern und Grabstätten in die Lüfte, und auch
in Südamerika und Afrika recken sie stolz die Schnäbel und
schärfen die Krallen. Ein Vogel mehr – daran ist ja wohl
nichts Sensationelles? Nun, am Turul schon, insofern er kein
gewöhnlicher sondern ein erfundener Adler ist. Es ist kein
wirkliches Tier, das in der Natur vorkommt und Gegenstand
eines Dokumentarfilms für den Sender Animal Planet sein
könnte, in dem der Turul über der Puszta kreist und Mäuse
jagt. Der Turul ist eine ganz besondere ungarische Version
des Raubvogels, die scheinbar einem Adler gleicht, aber doch
nicht so richtig.
Gugara
Andrzej Dybczak
114
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Tomasz Bielenia
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Dybczak beschreibt jenes vom Rest der Welt vergessene Volk
eindringlich, ohne zu verklären, doch auch mit einer gewissen
(wenngleich spröden) Zärtlichkeit. So wie er auch über die sibirische Natur schreibt, die aller Zerstörung durch den Menschen
zum Trotz noch immer durch ihre strenge Schönheit fasziniert.
Andrzej Dybczak (geb. 1978) Ethnologe.
Seinen Sibirienaufenthalt hielt er künstlerisch in
dem Buch und dem gleichnamigen Dokumentarfilm
„Gugara” fest.
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Gugara
Robert Ostaszewski
115
Andrzej Dybczak
Unter den polnischen Schriftstellern galt bis dato Mariusz Wilk,
der Autor von u. a. Auf den Spuren des Rens, als Experte für die
russischen Grenzgebiete – Regionen, in die sich kaum je ein
Tourist verirrt. Jetzt ist ihm mit dem jungen Andrzej Dybczak, der
vor kurzem sein Buch Gugara veröffentlichte, eine unerwartete
und – wie ich meine – ernsthafte Konkurrenz erwachsen. Der
studierte Ethnologe Dybczak reiste in einen entlegenen Winkel
Sibiriens, in ein Dorf, das ebenso schwer zu erreichen wie zu
verlassen ist (der Autor schildert das lange Warten auf den Hubschrauber), um dort mit der indigenen Bevölkerung dieser Region, den Ewenken zusammenzuleben. Im Gegensatz zu Wilk, der
sich vor allem für die Geschichte und die Kultur der von ihm besuchten Völker interessiert, konzentriert sich Dybczak vor allem
auf die Gegenwart und den Alltag der Menschen. Und dieser
Alltag ist nicht leicht, wie Dybczak am eigenen Leib erfahren
durfte. Der Autor lebte nicht nur in
der heruntergekommenen Siedlung,
sondern auch in den Tschumen, den
zeltartigen Behausungen, die die
Ewenken an den Weideplätzen der
Rentiere in der Taiga aufschlagen.
Das Leben der Ewenken scheint stecken geblieben – irgendwo
zwischen uralter Tradition und Moderne. Scheinbar leben sie
ausschließlich von der Rentierzucht, wohnen in Tschumen und
sprechen ihre eigene Sprache, doch auch sie können nicht mehr
auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation verzichten. Ihre Geschichte, die Veränderungen, die man ihnen zur Zeit der Sowjetunion aufzuzwingen versuchte, haben tiefe Spuren in ihrem Bewusstsein hinterlassen und ihre Identität zerstört. Es verwundert
somit kaum, dass sie auf ihren eigenen Untergang zusteuern:
Viele der Jungen sterben bei wahnwitzigen Mutproben oder versuchen ihr Glück (zumeist erfolglos) in den Städten, während die
Älteren sich zu Tode trinken. Sicher nicht zufällig hat der Autor
zwei bedeutsame Szenen an den Schluss seines Buches gestellt:
einen Trauerzug und ein Folklorefestival. Entweder die Ewenken
sterben aus oder sie werden in einem folkloristischen Freilichtmuseum eingesperrt – scheint der Autor zu suggerieren.
Gugara
Mit
Andrzej Dybczak
116
geschlossenen Augen, dem Mikrofon an den
Lippen und ekstatisch gespreizten Fingern
sang er ein sehnsuchtsvolles Lied. Für den
Refrain verwandelte es sich in eine feierliche Hymne, die
seine kleine Gestalt scheinbar über den vom Regen glänzenden Brettern der Bühne schweben ließ. In diesem Moment
schien es, als schritte er über die Oberfläche eines dunklen
Sees, einsam und winzig, assistiert lediglich von zwei schwarzen Mikrofonständern und einigen aufgereihten Bündeln
bunter Luftballons. Von den schwarzen Lackschuhen bis zu
den Schößen seines hellblauen Jacketts verliefen kreuz und
quer silberne Tressen, Bändchen und zu ethnischen Motiven angeordnete Korallen. Das Himmelblau seines Kostüms
hatte ein wenig an Intensität eingebüßt, durchnässt vom Regen, der aus dem fahlen Himmel auf ihn herabstürzte, und
von den Nebelschwaden, die sich wie ein feuchter Schleier
über das Stadion von Tura legten. Dafür wirkten sämtliche
Ornamente, mit denen er bedeckt war, nur umso bunter,
je mehr Regen in sie eindrang. Hell glänzten die Strassrauten an seiner großen Krawatte und die Korallenmuster an
seinen hellblauen Ohrenklappen. Der Künstler bewegte seine vollen Lippen und sah aus wie ein exotischer Vogel, der
vor dem Hintergrund der jenseits der Bühne ausgestreckten
Eternitschuppen eines seiner komplizierten Paarungsrituale
vollführte. Anscheinend hatte er nicht bemerkt, dass die
Lautsprecher ausgefallen waren, denn er drückte das Mikrofon mit unverminderter Inbrunst an seine Lippen. Doch
seine samtene Stimme drang nicht weiter als bis zur ersten
Reihe der Zuschauer, die unmittelbar gegen die hohe Bühne
zu seinen Füßen gelehnt stand. Er verbeugte sich tief, das
Stück war zu Ende. Die vereinzelten Zuschauer spendeten
einen ebenso vereinzelten, schwachen Applaus, der jedoch
ausreichte, um eine Gruppe Vögel für einen kurzen Moment
von ihrem Platz auf einer Hochspannungsleitung aufzuscheuchen. Dann erstarb der Applaus wieder und der Sänger
machte sich an die Ausführung des nächsten Stücks. Dieses
Mal gestikulierte er, zeichnete mit fließenden Bewegungen
Bögen und Kreise in den Himmel, möglicherweise um die
Schönheit der heimischen Landschaft zu illustrieren. Das
Publikum spitzte die Ohren. Der Mann auf der Bühne war
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der Star der jakutischen Musikszene, dessen Platten nicht
nur in ganz Russland gehört wurden, sondern sich angeblich
auch in Frankreich blendend verkauften. Dies musste keinem der Anwesenden zweimal gesagt werden. Alle verfolgten
aufmerksam die Lippenbewegungen des Sängers, um wenigstens auf diese Weise den tieferen Sinn der auf der Bühne
dargestellten Pantomime zu ergründen. Die Menschen standen in kleinen Gruppen, geschützt unter Regenschirmen,
Kapuzen oder in einem der vier vor der Bühne aufgestellten Tschumen, in denen Bratwürste, Bier und Schaschliks
verkauft wurden. Daneben waren mehrere mit Wachstuch
bezogene Tische aufgebaut, die mit Dosenbier und im Regen
dampfenden Fleischbergen vollgestellt waren. Um sie herum
drängten sich vor allem die männlichen Festbesucher, und
nachdem es vor wenigen Minuten zu einer Schlägerei gekommen war, hatten sich ihnen auch die beiden zum Schutz
der Veranstaltung abgestellten Milizionäre und der Reservemajor, der einen überdimensionalen Pfannkuchen auf dem
Kopf trug, dazugesellt. Alle drei sahen etwas angegriffen aus,
vor allem der dicke Major, der letzte Nacht mit mir betrunken Motorrad gefahren war, um noch irgendwo eine Flasche
Wodka aufzutreiben. Wir waren schließlich im Büro der Reservearmee fündig geworden, in der untersten Schublade des
Schreibtisches, aufmerksam beobachtet vom Porträt eines
lokalen Helden des Großen Vaterländischen Krieges namens
Uwatschan. Dieser hatte angeblich mit einem Telefonkabel
zwischen den Zähnen den Grund des Dnjepr durchschritten
und auf diese Weise einen unter schwerem Artilleriefeuer stehenden Brückenkopf gerettet. Jetzt sahen die drei selbst aus,
als hätten sie dringend eine größere Ration Trinkwasser nötig. Im Übrigen waren es vor allem Frauen und Kinder, die
sich aktiv an den Bühnendarbietungen beteiligten, indem
sie lebhaft auf jeden neuen Künstler reagierten, der mit ihnen zusammen den Internationalen Tag der Indigenen Völker (oder kurz Aborigine-Tag, wie mir der Major mitgeteilt
hatte) beging. Die Tadschiken hielten sich ein wenig abseits.
Vermutlich war es einer von ihnen gewesen, den man vor ein
paar Minuten verprügelt hatte, also hielten sie gebührenden
Abstand und blickten aus den Augenwinkeln in Richtung
ihrer blonden, Bier trinkenden Widersacher. Ständige Be-
Wer nie ein Wild erlegt,
hat sein Leben nie gelebt ...
Ihm blieb nur, den Blick auf die verhangenen Hügel der
Taiga zu heften und von einem ähnlichen Erfolg wie dem des
Jakuten zu träumen. Doch der Erfolg brachte auch gewisse
Gefahren mit sich. Das vom langen Zuhören erschöpfte Publikum hielt es schließlich nicht länger aus, und einer der
Zuhörer arbeitete sich durch die Ballonknäuel auf die Bühne
hinauf.
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
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Gugara
Zielona Sowa
Cracow 2008
140 × 200 • 180 pages
paperback
ISBN: 978-837435-796-8
Translation rights:
Zielona Sowa
117
Andrzej Dybczak
wegung herrschte auch am Spielfeldrand. Dort befand sich
eine Besucherlatrine, zu der ein stark frequentierter, schlammiger Trampelpfad führte. Auf den nassen Bänken ruhten
Betrunkene, mit den Köpfen zwischen den Knien, in Begleitung ihrer regengefüllten Plastikbecher und zerdrückten
Bierdosen. Doch all das diente lediglich als Kulisse für den
lautlosen Auftritt des jakutischen Gesangstars. Er hatte seine
Darbietung im Duett mit dem Vorsteher des Dorfes Jessej,
der einzigen jakutischen Siedlung in Ewenkien, begonnen.
Der etwas tollpatschige Beamte war ein wenig nervös gewesen, und genau in diesem Moment hatte der Lautsprecher,
wie aus Bosheit, einwandfrei funktioniert. Als Ergebnis war
anstelle des erforderlichen Opernpathos lediglich ein wenig
melodisches Miauen erklungen. Dann wurde es wesentlich
besser, bis die Lautsprecher schließlich ganz ausfielen. Zuvor waren bereits zahlreiche hiesige Künstler aufgetreten, die
sich unterschiedlicher Beliebtheit erfreuten. Wenig Erfolg
war zum Beispiel den heiseren Songs eines rotblonden Wyssozki-Doppelgängers beschieden, der in die Saiten drosch
und röchelte:
Nowa Huta – Eine Telenovela
Renata Radłowska
118
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Ryszard Kozik
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Robert Ostaszewski
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Nowa Huta – Eine Telenovela
Renata Radłowska
119
Renata Radłowska
Zu Zeiten der Volksrepublik Polen sang man Lieder über Nowa
Huta, brüstete sich mit der aus dem Nichts geplanten und in Rekordzeit erbauten (kein Wunder, wo doch die Stachanows und
Henneckes jener Zeit die Arbeitsnormen um ein Mehrfaches
übertrafen) Industrie- und Wohnstadt, die den Beginn einer neuen Zeit symbolisieren sollte. Mit dem Untergang des Kommunismus verfiel auch Nowa Huta und galt zunehmend als einer der
heruntergekommeneren, gefährlicheren Stadtteile Krakaus. Seit
einigen Jahren versucht man, Nowa Huta wieder in ein besseres
Licht zu rücken, den Stadtteil zu revitalisieren und für die nach
Krakau strömenden Touristen interessant zu machen. Und auch
etwas wieder aufzubauen, was im Grunde nie wirklich existiert
hat: eine Nowa-Huta-Identität. Einen Beitrag zu dieser Entwicklung leistet auch Renata Radłowskas Nowa Huta – Eine Telenovela, ein Buch an der Grenze zwischen Reportage und Prosa. Die
Autorin schildert die Lebensgeschichten von etwa einem Dutzend Männer und Frauen, die in den
(geb. 1973), Journalistin
Fünfzigerjahren zumeist aus Dörfern
in Kleinpolen nach Nowa Huta ka- und Reporterin. Sie wohnt im Zentrum von Nowa Huta
men, auf der Suche nach einem besseren – oder wenigstens anderen und schreibt über den Stadtteil und seine Einwohner.
– Leben. Der Begriff Telenovela erscheint nicht zufällig im Titel,
das Buch enthält einfache Geschichten über einfache Menschen,
über ihr Streben nach einer gewissen Lebensqualität, ihre Partnerschaften, ihre Familien, ihre alltäglichen Freuden und ebenso
alltäglichen Sorgen; über ihr Verschmelzen mit dem Panorama
einer neu entstehenden Stadt. Über Menschen, die sich ein Leben außerhalb von Nowa Huta nicht mehr vorstellen können,
wie zum Beispiel der Held des Kapitels „Zbyszek der Nichtfahrer”, und über andere, die nur aus Trägheit geblieben sind.
Radłowska erzählt sowohl von ungewöhnlichen Menschen, wie
zum im Kapitel „Talia die Vorhersagerin der Zukunft”, als auch
von unscheinbaren, alltäglichen Gestalten, wie in „Maria von
den Ziegeln”. Sie schreibt schlicht und schnörkellos, doch es
gelingt ihr, aus jedem ihrer Helden irgendeinen interessanten
Charakterzug herauszuarbeiten.
Nowa Huta – Eine Telenovela
Sie
Renata Radłowska
120
sagten ihm: „Nun fahr doch endlich mal
hin. Du kannst doch nicht ewig hinter dem
Mond leben”. Er antwortete: „Nie im Leben,
für kein Geld der Welt fahr ich dahin”. Und wahrscheinlich hätte es Zbyszek ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft, als derjenige, der 30 Jahre lang kein einziges Mal
nach Krakau fuhr. Weil er alles, was er brauchte, in Nowa
Huta hatte.
Er hätte es sogar ganz sicher geschafft, zumindest seine
Familie war fest davon überzeugt, hätte er sich nicht doch
noch eines Tages überwunden. Und da er sich nun einmal
überwand (wenn auch unter geradezu grotesken Anstrengungen), wird es mit dem Eintrag im Guinness-Buch nun
nichts mehr werden.
Zbyszek: siebzig Jahre alt, seit einem halben Jahrhundert
in Nowa Huta; Hüttenarbeiter (genauer gesagt Schweißer
im Kombinat). Drei Söhne, Witwer. Lebt in einem neueren
Teil von Nowa Huta, aber nicht seit jeher – unmittelbar
nach seiner Ankunft im Jahr 1955 erhielt er einen Platz im
Arbeiterhotel, später eine Wohnung in der Siedlung Hutni­
cze, und erst später, als seine Familie allmählich „evolvierte”
(soll heißen „größer wurde”, aber Zbyszek liebt schwierige
Wörter), begann er sich nach einer größeren Wohnung umzuschauen.
Warum sollte man etwas über Zbigniew, Zbyszek oder
einfach „Zbig” (wie er von seinen Bekannten genannt wird)
schreiben? Zbigniew ist – oder war – eine ausgestorbene
Gattung. So wie der Scharfzahntiger oder Schokoladenersatzprodukte.
In der Zeit, als Nowa Huta entstand, fuhren die jungen
Brigadearbeiter nicht ins Zentrum von Krakau; alles was sie
benötigten – d. h. Essen, Alkohol und körperliche Freuden
(auch ästhetische Genüsse) – gab es an Ort und Stelle. In
der Zeit, als Nowa Huta allmählich fertiggestellt wurde und
bereits seinen zehnten Geburtstag feierte, fuhren die jungen
Brigadearbeiter (und jene, die gekommen waren, um Arbeit
zu suchen) auch noch nicht nach Krakau. Jedenfalls nicht
massenhaft. Das, was sie brauchten, hatten sie in Nowa
Huta: Restaurants, Kinos, Cafés, ausgedehnte Grünflächen
(nach Art der Błonia), Kulturhäuser und das Volkstheater.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Genau wie in einer eigenen, unabhängigen und selbstständigen Stadt.
– Na sicher kannte ich auch welche, die, bevor sie nach
Nowa Huta rausfuhren, unbedingt erst einmal eine „Sport”
auf dem Krakauer Marktplatz rauchen mussten. Und sich
erst hinterher in Huta ein Zimmer suchten – erzählt Zby­
szek und zieht genüsslich an seiner „Klubowe Fine”. – Aber
die meisten von uns haben gedacht, dass sie in eine Stadt in
der Nähe von Krakau kommen, die irgendwann einmal größer als Krakau werden soll. Von Sehenswürdigkeiten, dem
Wawel oder den Tuchhallen, hatte vielleicht gerade mal jeder vierte etwas gehört. Na, die sind dann halt hingefahren
zu den Sehenswürdigkeiten. Und die anderen? Die konnten
nicht lesen, woher sollten sie etwas davon wissen? Oder sie
kamen aus Dörfern, in denen es gar keine Schulen gab.
Ja, die anderen. Aber Zbyszek fuhr aus völlig anderen
Gründen nicht ins Zentrum von Krakau. Besichtigte Jahrzehnte lang nie die Altstadt. Und es ergab sich auch nie die
Notwendigkeit.
Weil Nowa Huta ihm alles gab, was er brauchte.
Das ist ja nicht weit von Huta
Rekonstruktion der Ereignisse: Herbst 1955; Zbyszek ist
zwanzig Jahre alt und hat gerade seinen Eltern verkündet,
dass er nicht auf dem elterlichen Hof bleiben wird (was
war das auch für ein Hof, wo ihnen doch der Staat fast
alles weggenommen hatte, sogar das Stück Land mit dem
Klohäuschen, sodass sie das Klohäuschen näher zum Haus
versetzen mussten). Die Eltern lamentieren, vor allem die
Mutter. Doch der Vater sagt: „Mutter, lamentier nicht. Du
bist jetzt achtunddreißig, da bekommen wir halt noch ein
Kind. Und dieses Kind wird von klein auf dazu bestimmt
sein, das Land zu lieben und vom Land geliebt zu werden”
(und tatsächlich schlugen sie noch einmal über die Stränge
und brachten einen Nachkommen zur Welt: eine Tochter,
die auch nicht auf dem Hof blieb und nicht einmal in der
Heimat).
Rekonstruktion der Ereignisse: Zbyszek fährt von
Niepołomice nach Nowa Huta.
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
Czarne
Wołowiec 2008
125 × 195 • 160 pages
paperback
ISBN: 978-83-7536-053-0
Translation rights: Czarne
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Nowa Huta – Eine Telenovela
Zbyszek dorthin um. Alle waren begeistert: Die Stadt wurde größer, jeden Monat wurden weitere Siedlungen fertiggestellt. Und die Bäume waren so schnell gewachsen, dass
man in warmen Nächten seine Decke unter ihnen ausbreiten konnte.
Krakau brauchte hier keiner.
121
Renata Radłowska
Ein Mann nimmt ihn auf seinem Fuhrwerk mit, er hat
Säcke mit Mehl geladen, das in Nowa Huta zu Brot verarbeitet werden soll. Sie unterhalten sich:
Der Fuhrmann: – Kommt Ihr von weit her?
Zbyszek: – Na, schon ein Stückchen. Aus der Gegend um
Gorlice. Nach Nowa Huta, zum Arbeiten.
Der Fuhrmann: – Und als was?
Zbyszek: – Weiß ich noch nicht. Aber Arbeit gibt es ja
genug, da versuch ich es einfach irgendwo. Bei der Armee
wollten sie mich nicht, vielleicht wollen sie mich ja beim
Kombinat.
Der Fuhrmann: – Und wart ihr schon mal in einer so
großen Stadt?
Zbyszek: – Nur in Gorlice, einmal. Na, aber jetzt fahre
ich ja hin und baue die Stadt, nicht wahr?
Der Fuhrmann: – Dann wart ihr noch nie in Krakau?
Zbyszek: – Ach wo!
Der Fuhrmann: – Na, jetzt werdet ihr ja sicher mal hinfahren, das ist ja nicht weit von Huta.
Zbyszek: – Wozu soll ich denn nach Krakau? Als ob es
dort nicht schon genug Leute hätte. Und was soll es da
schon groß geben, was ich noch nicht gesehen habe? Diesen Wawel kenne ich vom Hörensagen, den kann ich mir
vorstellen. Außerdem zählt jetzt die Zukunft, nicht die Vergangenheit. Ich will lieber etwas Neues bauen, als mir etwas
Altes ansehen.
Der Fuhrmann: – Na, da habt Ihr auch wieder recht.
In Nowa Huta erwartete Zbyszek zunächst einmal eine
Enttäuschung: Man kam nicht einfach an und bekam gleich
Arbeit im Kombinat; man musste erst einen Kurs belegen.
Also belegte Zbyszek einen Kurs. Er wurde Schweißer und
erhielt einen Platz im Arbeiterhotel. Und er schloss Freundschaften.
– Michał, Romek, Ziutek, die beiden Staszeks, Mietek,
Jurek… Prima Jungs. Wir haben zusammen gearbeitet, zusammen gewohnt und zusammen unsere Freizeit verbracht.
Noch nicht gleich in den Restaurants. Erst einmal draußen vor dem Arbeiterhotel (im Frühling und im Sommer)
oder drinnen im Arbeiterhotel (im Herbst und im Winter).
Ein wenig später, als die ersten Gaststätten aufmachten, zog
Die Unsichtbaren
Mateusz Marczewski
122
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Anna Hatłas
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(geb. 1976), ist
Autor von Reportagen und Essays. Sein Buch Die
Unsichtbaren stand im Finale des Literaturwettbewerbs
der Polnischen Kulturstiftung (2008).
Dariusz Nowacki
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Die Unsichtbaren
Mateusz Marczewski
123
Mateusz Marczewski
Die Unsichtbaren ist ein Buch über die Aborigines, das stilistisch
zwischen Reportage und Essay angesiedelt ist. Marczewski
konzentriert sich auf die aktuelle soziokulturelle Situation der
australischen Ureinwohner, scheut jedoch auch vor geschichtlichen Exkursen nicht zurück. Um die Situation der Aborigines zu
verdeutlichen, nähert sich ihnen der Autor soweit wie möglich,
versucht an ihrer Lebenswelt und an ihrem Alltag teilzuhaben. Er
bereist die abgelegensten Gegenden des Kontinents (vor allem
des Northern Territory), besucht Dörfer, Farmen und Reservate der Aborigines, spürt ihren Pfaden und Wanderungen nach
und unterhält sich mit Sozialarbeitern, assimilierten Aborigines
und den weißen Nachbarn der „Unsichtbaren” – mit jedem, der
etwas über sie zu berichten hat. Der
Charakter dieser Berichte ist gewissermaßen im Vornhinein festgelegt:
Die australischen Ureinwohner sind
Opfer der europäischen Kolonisten,
ihr Schicksal – sowohl das frühere als auch das heutige – ist
der Makel der australischen Demokratie, eine Schande, auf die
die Weißen nur mit Wegsehen reagieren (daher der Titel Die
Unsichtbaren). Marczewskis Blick ist kritisch, doch nie tendenziös. Nach seiner Auffassung ist die hoffnungslose Situation der
heutigen Aborigines (Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Armut)
nicht nur ein soziales oder politisches Problem, sondern auch
ein gewisses Mysterium. Hieraus erklären sich auch die zahlreichen philosophischen und anthropologischen Reflexionen. Die
Unsichtbaren ist ein überaus ambitioniertes Buch, das weit über
die Grenzen der engagierten, Stellung beziehenden Reportage
hinausweist.
Die Unsichtbaren
Tokampini
Mateusz Marczewski
124
Man kann dieses Phänomen nicht benennen, aber man
kann versuchen, es zu dokumentieren. Bilder festzuhalten,
die möglicherweise etwas verdeutlichen, eine bestimmte
Wahrheit sichtbar machen. Diese Bilder sind noch immer
lebendig, können als Illustration dienen. Aber – andererseits
– warum soll man noch darüber schreiben? Wo doch alles so
offensichtlich ist: die Überlegenheit einer Rasse gegenüber
einer anderen, einer Hautfarbe gegenüber einer anderen.
Doch die Farbe ist ein zu banales Kriterium. Sie ist sichtbar,
auffällig, hervorstechend und wird in ihrer Verwendung als
Adjektiv augenblicklich zu einem diskriminierenden Epitheton. Man muss also von einer anderen Unterscheidung ausgehen: der Überlegenheit einer Mentalität gegenüber einer
anderen. Eben hier nimmt alles seinen Anfang. Da wären
also sie – die Aborigines – und da ist die Klinge der Zivilisation. Die Zivilisation ist zu ihnen gekommen und sie müssen
sich das Land mit ihr teilen. Die Städte der Weißen liegen an
Hügeln, in fruchtbaren und schattigen Tälern, überall dort,
wo es leichter fällt, in dem widrigen Klima zu überleben. Zu
überleben und die Nacht mit flackernden Lichtern zu erhellen, mit Schnellstraßen, auf denen sich die dahinjagenden
Autos entlang der dünnen, roten Linien ihrer Rücklichter
aufreihen. Linien wie Striemen, wie Narben. Wir haben unsere Städte, sie haben ihr Nichts – eine sonnenverbrannte
Ödnis. Und dann ist da noch etwas: der jahrzehntelange
Versuch einer Durchdringung dieser anderen Kultur, ihrer
Beherrschung. Und das ist bereits die ganze Geschichte.
Die Aborigines sind wie Kinder. Wie asoziale Straßenkinder, die in der Stadt mit Flaschen nach dir werfen, einfach
so – für den Klang zerspringenden Glases, für den Regen
aus Splittern – um gleich darauf wegzurennen und sich in
den Ruinen zu verschanzen, in die sie ihren Stadtteil verwandelt haben. Sie stinken und laufen in Gruppen herum, wie
eine dumpfe, aber starke Spezies, die gleichzeitig Angst und
Mitleid erregt. Lass dein Fahrrad im Garten stehen, und sobald es dunkel wird, klauen sie es dir. Geh in Sydney abends
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durch den Stadtteil Redfern. Geh die Hauswände entlang zur
Bahnstation, die Wände tragen die Farbe ihres Zorns und ihrer Revolution, die Flaggen der Aborigines: ein waagerechter
roter, darüber ein schwarzer Streifen, in der Mitte ein gelber
Kreis. Die Flaggen an den Wänden sind groß wie Häuser,
Flaggen mit Mauertextur, geh dort entlang, und sie tauchen
vor dir auf wie Raubtiere. Plötzlich und aus der Dunkelheit.
Misshandlung, Vergewaltigung, das ganze Register. Die Einwohner Sydneys fürchten sich vor dieser tierhaften, wilden
... wie soll man es nennen ... na, du weißt schon ... sie sind
einfach anders, irgendwie beängstigend ... du müsstest länger hier gelebt haben.
Sie sind wie Kinder. Verdorben und verdummt durch die
bunte Hülle der Welt, die in ihrem winzigem Dorf, ihrer von
der örtlichen Polizei kontrollierten community Einzug gehalten hat, per Dekret eingesetzt wurde. Manchmal wohnen
sie auch in ihnen zugewiesenen Stadtbezirken, so wie eben
Redfern in Sydney. Dort bilden sie ihre eigenen Elendsreviere und negieren auf diese Weise die sie umgebende Stadt,
die blitzenden Türme der City, das fröhliche Treiben der
Einwohner. Die Häuser der Aborigenes in Redfern sehen
aus wie nach Krawallen: eingeworfene Scheiben, schwarze
Nischen und Risse in den Wänden, die mit flatternden Zeitungsfetzen dekoriert sind, parkende Autos, die aussehen wie
Rosthaufen, wie ein auf dem Fußweg verstreutes Blechdomino. Dazu noch die Straßenfeuer und der Slalomlauf der betrunkenen Bewohner dieses Gettos. Jemand spielt Fußball,
jemand schreit, der Ruf hallt mit einem metallischen Echo
von den mit Zorn bemalten Wänden wider. Im Grunde existiert die Stadt hier gar nicht. Hier existiert etwas, das einmal
Stadt war, eine dem Erdboden gleich gemachte Gleichheit.
Und Redfern ist nur ein Bezirk von vielen. Als ich ihn
durchquerte, war ich angespannt, nervös, wie in einem Käfig
voller Raubtiere, denen ich schutzlos ausgeliefert war. Überall herrschte Stille, vielleicht hatten sie den umherirrenden
Weißen noch nicht bemerkt. Ich sah sie. Sie standen um einen qualmenden Kokskorb herum, saßen auf Sofas, die sie
aus ihren Wohnungen hervorgezerrt hatten, Hunde lagen im
Sand und sonnten sich. Die Frauen waren schwerfällig, die
Männer schlank, schmutzig, von Armut benebelt. Hinter ih-
Czarne
Wołowiec 2008
125 × 205 • 192 pages
paperback
ISBN: 978-83-7536-052-3
Translation rights: Czarne
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
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125
Mateusz Marczewski
Einmal saß ich in Alice Springs vor einem Supermarkt, einer Art australischem Aldi für die Ärmsten, ich saß auf dem
Boden, müde von der Morgenhitze, unter der der Raureif
der Nacht dahinschmolz. In diesem Moment kamen sie. Sie
gingen in einer Gruppe, sie gehen immer in einer Gruppe,
allein haben sie Angst. Zwei Männer und eine Frau. Ihre Gesichter waren aufgebläht wie Christbaumkugeln, als würde
im nächsten Moment der Alkohol aus ihnen hervorschießen,
ihre Augen waren wie Schlitze, sie suchten den Boden nach
weggeworfenen Zigarettenstummeln ab und scharrten mit
ihren nackten, gummiharten Füßen. Ihre Kleidung war voller Blumen und Löcher.
– Ich habe dich gesehen, wie du vor zwei Tagen auf dem
Hügel geschlafen hast, mitten in der Sonne. Dort, wo die
Bahn fährt.
– Ich habe nicht auf dem Hügel geschlafen. Vor zwei Tagen war ich im Norden.
– Mir machst du nichts vor. Ich habe dich auf dem Hügel
gesehen. Du hast in der Sonne gelegen und geschlafen. Besuch uns heute Nacht, wir feiern ein Fest. Frag nach Marg,
das ist mein Name.
Die Unsichtbaren
nen, jenseits des Parks, schossen die silbernen Raketen der
Citytürme in den Himmel, und es schien unmöglich, dass
das, was hier im Vordergrund geschah, sich im Zentrum einer modernen Großstadt abspielte. Ihr Aussehen und dieses
allgegenwärtige Durcheinander erinnerten eher an ein Dorf
in Zentralaustralien. Ich ging durch Redfern und sprach
vor mich hin: Dies ist kein Haus für euch, dies ist kein Ort
für euch, die Eingeweide der glitzernden Stadt verschlingen
euch, ihr müsst fliehen, fliehen, doch es gibt kein Wohin.
PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts
Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo
Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo
126
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PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts
Vor eigentlich nicht allzu langer Zeit zog man, hörte oder
las man Resümees über verschiedene Angelegenheiten der
letzten Dekade des gerade zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts. Und jetzt plötzlich, so schnell und unvermittelt – wenn
man es so sagen darf – neigt sich die erste Dekade des 21.
Jahrhunderts ihrem Ende zu. Und wieder: Analysen, Synthesen, Betrachtungen und Schlussfolgerungen sowie mehr
oder weniger eindeutige Prognosen für die kommenden Jahre. Eine davon habe ich bereits gelesen, angeschaut, durchgeblättert und zu den wichtigen und wertvollen Bildbänden
gestellt, die dazu da sind, häufig angesehen zu werden.
Krzysztof Dydo und seine Tochter Agnieszka präsentieren
in ihrer beinahe 400 Seiten umfassenden exklusiven Publikation mit dem schlichten Titel Polski plakat 21 wieku
/ Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts 600 Abbildungen
polnischer Plakate aus den Jahren 2001-2007. Diese stammen von 88 Künstlern, die unterschiedlichen Generationen, Stilrichtungen und Schulen angehören. Denjenigen,
die am Ende des 20. Jahrhunderts den unvermeidlichen
Untergang des Kunstplakats prophezeit haben, liefert dieser
Bildband den Beweis, dass sie falsche Propheten waren und
sich irrten, indem sie eine Agonie dieses Kunstzweiges voraussahen. Diejenigen, die auf die trübsinnigen Prognosen
nicht hörten, werden durch diese Publikation der Krakauer Autoren in ihrem Glauben bestärkt. Es gibt jedoch eine
traurige Ausnahme in diesem positiven Resümee des ersten
Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Agnieszka Dydo schreibt
darüber in ihrem Essay zur Geschichte der polnischen Plakatkunst folgendermaßen: „… Mit der Reform des politisch-gesellschaftlichen Systems gingen auch wesentliche
Veränderungen in der Herstellung und der Funktionsweise des Plakats einher. Das anspruchsvolle Filmplakat
wurde von kommerzieller Reklame im amerikanischen
Stil ersetzt…“. Und ihr Vater fügt in seiner Abhandlung,
in der er die heutige Situation behandelt, hinzu: „… Wir
sind kritischer, denn wir wissen, was uns verloren gegangen ist – ich denke hier vor allem an das Filmplakat. Die
127
Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo
Das erste Jahrzehnt
Vertreiber von Filmen gehen davon aus, dass das künstlerische Filmplakat seine Werberolle nicht mehr erfüllt und die
Entscheidungen des potentiellen Zuschauers nicht mehr zu
beeinflussen vermag, da seine künstlerischen Vorzüge, die
oft sehr viel Interpretationsfreiheit voraussetzen, nicht imstande sind, die Wirklichkeit und die Information zu ersetzen. Ich persönlich stimme mit dieser Argumentationsweise
nicht ganz überein, denn ich kann mich gut erinnern, wie
oft mich ein künstlerisch hervorragendes Plakat dazu verleitet hat, einen mittelmäßigen Film anzusehen. Und ich bin
mir gar nicht sicher, ob ein Fotoplakat mich nicht gleich
von einem Kinobesuch abgehalten hätte, wie es heute oft
der Fall ist…“.
Haben die düsteren Propheten in diesem Fall tatsächlich
Recht? Es scheint so. Das künstlerische Plakat erfordert vom
Autor nicht nur besondere intellektuelle und handwerkliche
Fähigkeiten, sondern meist auch sehr viel Arbeitsaufwand, so
dass es nicht in kurzer Zeit angefertigt werden kann. Hinzu
kommt noch, dass das Publikum nicht immer für verkürzte
Darstellungen oder kühne Metaphern, die hier unentbehrlich sind, empfänglich ist. Andererseits wissen aber diejenigen, die sich mit Kunstgeschichte beschäftigen, dass es in
diesem Bereich schon öfter verschiedene Wiederauferstehungen gab, ja man könnte sogar die Behauptung riskieren,
sie gehören dazu. Lassen wir uns also nicht entmutigen, wer
weiß, was das dritte oder sechste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bringen wird?
Das Buch von Agnieszka und Krzysztof Dydo erfreut in
erster Linie durch die vielfältigen Abbildungen polnischer
Plakate, häufig gerade auch dank den in ihrer künstlerischen Aussage raffinierten Reproduktionen. Es vermag sowohl einen erfahrenen und anspruchsvollen Leser als auch
einen, der zum ersten Mal mit dem Kunstplakat in dieser
Intensität zu tun hat, zufriedenzustellen. In diesem Bildband
finden wir einerseits historische Namen und Abbildungen
von Arbeiten jener Künstler, die die Tradition der polnischen
Plakatkunst begründeten, wie: Teodor Axentowicz, Józef
Czajkowski, Edmund Bartłomiejczyk, Witold Chomicz,
Tadeusz Gronowski, Tadeusz Trepkowski, Jan Lenica oder
Roman Cieśliewicz… Doch auch die lebenden Klassiker un-
PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts
Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo
128
serer Plakatkunst werden gebührend gewürdigt: Mieczysław
Górowski, Roman Kalarus, Piotr Kuce, Władysław Pluta
oder Lech Majewski u. a. Daneben stehen die polnischen
Plakatkünstler der mittleren bzw. der jüngeren Generation,
wie beispielsweise Sława Harasymowicz, die in London studiert hat und die die Tochter eines bekannten polnischen
Dichters ist, Max Skowider, Joanna Remus-Duda oder Justyna Czerniakowska…
Agnieszka Dydo, Absolventin der philosophischen Fakultät der Jagiellonen-Universität und derzeit Studentin an der
Kunsthochschule für Modedesign, konstruiert ihre bereits
erwähnten historischen Erläuterungen klar und präzise. Dies
trifft auch auf den Text ihres Vaters zu, der aus Betrachtungen und Reflexionen zum zeitgenössischen polnischen Plakat besteht. In beiden Fällen wird nochmals bestätigt: Je
mehr Wissen man zu einem Thema hat, desto leichter fällt
es einem, es anderen in klarer und einsichtiger Form zu vermitteln.
Die geschichtliche Einführung ist nicht gegliedert, jedoch
fügt die Autorin gekonnt gedankliche Pausen ein, sodass der
Text dem Leser in Abschnitte unterteilt zu sein scheint, von
denen ich neun gezählt habe. Die Einführung beginnt mit
Betrachtungen über die Frühform von Plakaten, d. h. über
die Affichen, und kommt anschließend auf die Geburtsstunde des Kunstplakats in Krakau und Lemberg im 19.
Jahrhundert zu sprechen. Ausführlicher behandelt wird die
Zäsur, die die 1898 vom Direktor des Krakauer Museums
für Technik und Industrie Jan Wdowiszewski organisierte Internationale Plakatausstellung darstellte, in der u. a. Arbeiten
von Henri Toulouse-Lautrec, Georges Meunier oder Alfons
Maria Mucha zu sehen waren… Der Katalog zur Ausstellung mit einer Einleitung des Kurators wie auch der dort
abgedruckte theoretische Text über das Kunstplakat sind
ein Beweis für das vollends ausgebildete Bewusstsein, dass
man es schon damals mit einer weiteren Erscheinungsform
der wahren Kunst zu tun hatte, die gerade entstanden war.
Getrennt bespricht die Autorin die Anfänge der polnischen
Plakatkunst nach dem Ersten Weltkrieg und deren rasante
Entwicklung in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20.
Jahrhunderts.
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Ein zweiter, genauso umfangreicher Teil dieser Abhandlung
betrifft das polnische Plakat in der Nachkriegszeit – nach
dem Zweiten Weltkrieg, als es internationale Anerkennung
gewann und vielleicht sogar führend war. In den Jahren
1953-65 gab es doch solche weltweit bekannten Künstler
wie Wojciech Zamecznik, Józef Morszczak, Henryk Tomaszewski, Jan Lenica, Roman Cieśliewicz, Jan Młodożeniec,
Waldemar Świerzy und Franciszek Starowieyski, die von der
internationalen Kunstkritik als „Polnische Plakatschule“ bezeichnet wurden. Es handelte sich hier v. a. um das an die
Malerei angelehnte Plakat, das Krzysztof Dydo, dem Kenner,
Sammler und weltweiten Botschafter dieser Kunst, besonders ans Herz gewachsen ist.
Über die sechziger und siebziger Jahre, in denen ebenfalls
herausragende Persönlichkeiten wirkten, kommt Agnieszka
Dydo in ihrem Essay bis zur Zeit der „Solidarność“ und anschließend bis zum demokratischen und völlig unabhängigen Polen. Anfangs schien es, dass der Systemwechsel das
Kunstplakat aus unseren polnischen Straßen gänzlich verdrängen wird. In den neunziger Jahren war der Rückgang
zwar nicht zu übersehen, inzwischen hat sich aber die Situation stabilisiert. Die großen Meister des polnischen Plakats
kehren langsam von den über die ganze Welt verstreuten
Lehrstühlen für Plakatkunst zurück. Und so erreichen wir
die Gegenwart – das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
Und eben dieser Zeit ist der von der Krakauer Plakatgalerie
herausgebrachte Bildband vorrangig gewidmet. Der Besitzer
der Galerie ist Krzysztof Dydo, der Verfasser des zweiten
kritischen Textes dieses Bandes, eines Textes, der nicht nur
mit Leichtigkeit und Witz geschrieben ist, sondern den auch
eine deutlich spürbare Sensibilität gegenüber dem Betrachtungsobjekt charakterisiert. Und dies ist bei einer kritischen
Abhandlung eine Seltenheit. Hier allerdings verwundert sie
nicht, denn Krzysztof Dydo besitzt eine der größten Sammlungen polnischer Plakate, die er selbst zusammentrug, verfasste über die Plakatkunst bereits zahlreiche kritische Texte,
brachte eine Vielzahl von Bildbänden heraus und ist, kurz
gesagt, ein wahrer Liebhaber dieser Kunstart.
Der Krakauer Bildband beweist, dass es um die Plakatkunst in Polen zurzeit sehr gut bestellt ist. Die polnischen
Andrzej Warzecha
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PL21 Das polnische Plakat des 21. Jahrhunderts
Galeria Plakatu Kraków
Cracow 2008
244 × 300 • 400 pages
paperback
ISBN: 978-83-905899-5-4
Translation rights:
Krzysztof Dydo
Contact:
Galeria Plakatu Kraków
129
Krzysztof Dydo und Agnieszka Dydo
Künstler gehören auf diesem Gebiet weiterhin zur weltweiten Spitze. Die Vielfalt an künstlerischen Konzeptionen und
Auffassungen, auch im handwerklichen Bereich, erweiterte
in den letzten Jahren die Palette der angebotenen Plakate.
Denn die polnischen Künstler können auf eine reichhaltige Tradition zurückgreifen, die die künstlerischen Maßstäbe
sehr hoch gesetzt hat.
Das Buch von Agnieszka und Krzysztof Dydo, versehen
mit Kurzbiographien aller 88 besprochenen Künstler, einem
alphabetischen Index und einem Verzeichnis aller ausländischen Präsentationen polnischer Plakate aus der Sammlung
Krzysztof Dydos in den Jahren 2001-2007, ist sehr ausführlich, gleichzeitig aber auch in logischer Hinsicht sehr
kompakt, klar und übersichtlich, mit einer Vielfalt von Informationen, sowohl für Plakatkenner als auch für zufällige,
aber interessierte Leser. Die zahlreichen ausländischen Plakatliebhaber, die jährlich die von Krzysztof Dydo seit 1985
geleitete Krakauer Plakatgalerie in der Stolarska 8-10 besuchen, werden Krakau diesmal bestimmt mit einer neuen Trophäe verlassen – der neuesten Publikation der Galerie, diesem
Bildband, dessen Text auch auf Englisch abgedruckt ist.
Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus
Ewa Toniak
130
Janusz Anderman
DAS IST ALLES
Foto: Ewa Karpf
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Marek Zaleski
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Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus
Ewa Toniak
131
Ewa Toniak
Die Riesinnen, eine reich bebilderte, extrem interessante und
sehr gut geschriebene Essaysammlung der Kunsthistorikerin
und kritikerin Ewa Toniak, kreist um das Bild der Frau in der
Kunst des „sozialistischen Realismus“, also der polnischen Variante der totalitären Kunst aus den Jahren 1948-54. Die Autorin,
die sich des Instrumentariums der feministischen Kritik bedient,
untersucht sowohl Frauenbilder in der von Männern geschaffenen Kunst als auch in der der Frauen; sie analysiert die damalige
Malerei, die Presseillustrationen (darunter die aus Frauenzeitschriften), Filme, Wochenschauen, die Mode sowie die kunsttheoretischen und politischen Diskussionen. Sie interessiert
sich sowohl für den ideologischen und politischen Aspekt der
Darstellung des weiblichen Körpers in der stalinistischen Kunst
als auch für die kulturellen Geschlechterkonstruktionen in einer
dem sozialistischen Mythos verpflichteten Kunst. Toniak zeigt
die Hypokrisie der damaligen Darstellungen des Körpers oder
der „Weiblichkeit“: Der sozialistische
Realismus verkündete Emanzipation
– Kunstkritikerin und -historikerin.
und Revolution, deklarierte Gleichberechtigung, in Wahrheit aber blieb Ihr Schwerpunkt liegt auf der Gegenwartskunst aus
er einem patriarchalen Kulturbild feministischer Perspektive und der Präsenz der Frauen in
verpflichtet, aktivierte geschlechtsder Kunstgeschichte.
bezogene Klischees und begünstigte das „Unsichtbarwerden“
der Frauenproblematik bzw. gestand den Frauen bestenfalls das
Recht zu, so zu sein wie die Männer. Die Autorin erörtert nicht
nur die Kodifizierungen des weiblichen und des männlichen
Körpers in der Propaganda (z. B. die Darstellungen der Bestarbeiter), sondern auch die Varianten der symbolischen Präsenz
der Frauen im öffentlichen Raum sowie die Manifestationen der
weiblichen Sexualität oder des Begehrens (bzw. im Prinzip deren Fehlen) in der visuellen Kultur jener Zeit. Einen Kontext bildet
hier einerseits die sowjetische Kunst, andererseits aber auch die
Kunst aus der Zeit der Französischen Revolution und die Kunst
der postromantischen Moderne, bis hin zu postmodernen Realisationen, in denen die Autorin nach Residuen der von ihr untersuchten Ästhetik sucht bzw. nach Pasticci oder Versuchen ihrer
wesentlichen Umarbeitung oder Revision.
Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus
Ewa Toniak
132
Im
Jahre 1948 existieren in der Zeitschrift Mode und
Praktisches Leben noch zwei Ordnungen: eine,
in der die Aktivität der Frau auf das Häusliche
beschränkt und sie selbst das Objekt der männlichen Begierde bleibt, und eine Ordnung der Arbeiterin, der Anderen.
Jedoch werden sich, wie auf Fangors Bild, diese Ordnungen, zumindest in der Übergangszeit, bis der sozialistische
Realismus endgültig verordnet wird, gegenseitig dekonstruieren. Ähnlich dringt die Welt der Politik nicht geradlinig
zu den Leserinnen durch – was wahrscheinlich dem „Ausschließungsdiskurs“ zu verdanken ist –, sondern buchstäblich, zwischen den Zeilen, am Rande der Ratgeberrubrik, in
der erklärt wird, wie man einen Schleier bügelt oder eine
Schirmmütze macht. Im Januar 1948 bringt der historische
Kalender noch die Hierarchie und die Ordnungen durcheinander: Auf der gleichen Seite stehen nebeneinander das Todesdatum von Lenin und das Geburtsdatum des berühmten
polnischen Schauspielers Ludwik Solski.
Mir scheint, das neue, asexuelle und jenseits des Geschlechtlichen situierte Weiblichkeitsideal, die Arbeiterin,
begann ihren blutlosen Siegeszug durch die Frauenmagazine
auch von den Rändern aus. Zwei Jahre später ist sie dort
bereits vollständig etabliert. Die „manierierten Models“,
wie es beispielsweise in einem Artikel über die Vorzüge der
Serienprodukte der Warschauer Bekleidungsbetriebe heißt
(„Serienprodukte können hübsch und effektvoll sein“), verschwinden nicht nur von den Titelseiten, sondern ganz aus
der Zeitschrift. Es gibt dort auch keinen Platz mehr für die
als „Kanon der Weiblichkeit“ verstandene Mode. Der Artikel, eigentlich eine Werbung für die neueste Produktion
der genannten Bekleidungsbetriebe, ist ein weiterer Austragungsort des ideologischen Kampfes: „Die Modeschöpfer“,
lesen wir dort, „interessierten sich nicht dafür, wie eine Arbeiterin, eine einfache Beamtin oder eine Dorfbewohnerin
aussieht und wie sie sich kleidet. Mode war ausschließlich
für die Reichen“.
In einer um die Jahreswende 1948/49 durchgeführten Umfrage unter dem Titel Was wünschen wir uns im Neuen Jahr
kommen sowohl bekannte (die Professorin Eleonora Reicher
oder die hervorragende Künstlerin Mieczysława Ćwiklińska)
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als auch völlig anonyme Frauen (eine Studentin der Technischen Hochschule in Warschau und eine Friseurin) zu Wort,
unter ihnen auch die Bauarbeiterin Józefa Bąkowa. Unter
den wie auf Vorkriegsfotos posierenden Frauen zeichnet
sich das Gesicht der Arbeiterin dadurch aus, dass sie keine
Pose einnimmt, nicht zum Bild wird. Es ist ein Gesicht,
das in seiner anonymen Unbewegtheit jenseits des Kanons
der Weiblichkeit und der Schönheit steht, jenseits des Geschlechtlichen. Der größte Traum von Józefa Bąkowa ist, ihr
jüngerer Sohn möge in das Kinderheim des Arbeitervereins
Kinderfreunde aufgenommen werden, wo sich der ältere bereits befand („so wüsste ich, dass er eine richtige Erziehung
kriegt“). Als einzige unter den befragten Frauen arbeitet sie
auf dem Bau „mit den Männern zusammen“ und macht „die
gleiche Arbeit wie sie“. Die Zeitschrift glättet nicht einmal
ihre grobe Sprache. Bąkowa „schuftet“ einfach „auf dem
Bau“. „Und schaffen Sie das?“, fragt die Zeitschrift, man
weiß nicht ob aus Sorge oder Unglauben. „Ja, ich schaffe
das“, antwortet die Frau erwartungsgemäß, obwohl aus dem
weiteren Teil der Antwort hervorgeht, dass ihr eine leichtere
Arbeit lieber wäre. Das Foto von Józefa Bąkowa in einem
schwer zu bestimmenden Alter (so wird die Bedingung des
Typischen erfüllt), in nichtssagender Bekleidung (Arbeiteroverall) und mit traurigem Gesichtsausdruck eröffnet die Reihe der neuen Heldinnen des Frauenmagazins. Heldinnen,
deren Körper immer mehr verhüllt werden, deren Gesichter
schwer zu merken sind. Ihre Fotos erscheinen auf den Seiten
der Zeitschrift monoton, wie am Fließband. Rüschen und
Spitzen, die in Schneiderkunst investierte Körperlichkeit,
verschwinden. Der Zweck dieser „Bildbearbeitung“ ist im
Totalitarismus „das Aufheben der Spannung, die der Andere
ins ideologisch einheitliche Bild einbringt“. Nur scheinbar
führen die Titelblätter nach dem Vereinigungskongress der
polnischen Arbeiterpartei die Frauen aus dem Fotostudio
hinaus. Die meist als Büste porträtierten Bäuerinnen, Arbeiterinnen mit Schraubenschlüssel über der Schulter oder
Studentinnen, werden immer von unten aufgenommenen,
mit nach oben gerichtetem reglementiert vertrauensvollem
Blick, beleuchtet von einem scharfen Licht, das tiefe Kontraste ergibt (pralle Sonne). Sie verharren in einem zeitlosen
Korporacja Ha!art
Cracow 2008
155 × 225 • 168 pages
paperback
ISBN: 978-83-89911-97-1
Translation rights:
Ewa Toniak
Contact: Korporacja Ha!art
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Die Riesinnen. Die Frauen und der Sozrealismus
Aus dem Polnischen von Markus Eberharter
und Aleksandra Kujawa-Eberharter
133
Ewa Toniak
nirgendwo, verlieren ihre schlanke Taille und die schmalen
Schultern (Mai 1949), um schließlich (September 1949), die
wiederaufgebaute Altstadt Warschaus und die neuen Wohngebiete im Hintergrund, mit einer Spitzhacke als Allegorie
der Arbeit dazustehehen: der Körper dicht verhüllt im Overall, die Haare glatt nach hinten gekämmt. Die Enterotisierung und Taylorisierung des weiblichen Körpers erreichen
ihren Höhepunkt in dem Bild der sowjetischen Pilotin L.
Witkowskaja. Von den Fallschirmgurten umschlungen, mit
Helm und Overall, wird sie zur visuellen Entsprechung des
hinter ihren Rücken hervorragenden Propellers: Pilotin und
Maschine sind eins. Dieses um zwanzig Jahre verspätete Postulat des Proletkults illustriert die Titelseite der Juliausgabe: „Wenn die Arbeit der Bauern von der Maschine ersetzt
wird…“. Die Maschine, also das zähmende Symbol der Kollektivisierung, ist eine junge Traktoristin.
Krzysztof Tomasik
134
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Stimmen aus dem Schrank.
Nicht zu Ende erzählte Biografien. Skizzen
Przemysław Czapliński
Krzysztof Tomasik (geb. 1978) Literatur-
wissenschaftler, Publizist, Redaktionsmitglied von
Krytyka Polityczna.
1
A
uf Polnisch wird „ein Coming-out haben” auch als „aus dem Schrank kommen” umschrieben (Anm. d. Ü.)
Krzysztof Tomasik
Homobiografie
Wydawnictwo Krytyki Politycznej
Warszawa 2008
145 × 205 • 164 pages
paperback
ISBN: 978-83-61006-20-6
Translation rights: Krzysztof Tomasik and
Wydawnictwo Krytyki Politycznej
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Stimmen aus dem Schrank.
Nicht zu Ende erzählte Biografien. Skizzen
sondern darin, in ihnen Akzentverschiebungen vorzunehmen.
Tomasik behandelt die Leben anderer nicht als fertige Werke,
die sich aus Fakten zusammensetzen, sondern als bewegliche
Texte, die von den Diskursen bestimmt werden, die über den
Schrank wachen.
Das zweite Thema des Buches sind die Lebensstrategien der
Schrankbewohner: Wie verhielten sie sich, wie bauten sie sich
eine Existenz auf, wie gestalteten sie ihre Beziehungen zu anderen, was für Liebesverhältnisse gingen sie ein, und wie erzählten
sie von sich selbst. Aus dieser Sicht sind die Homobiografien
keine Biografien von Homosexuellen, sondern von Menschen.
Homo Biografie.
135
Krzysztof Tomasik
Krzysztof Tomasik erzählt von sechzehn Künstlern – fast alle
nationale Berühmtheiten: Maria Konopnicka, Maria Rodziewiczówna, Karol Szymanowski, Jan Lechoń, Maria Dąbrowska,
Anna und Jarosław Iwaszkiewicz, Witold Gombrowicz, Zygmunt Mycielski, Jerzy Andrzejewski ... Wir lesen eine kurzweilige, vorzüglich erzählte „Mehrfachbiografie”: die immer ein
allgemeiner Abriss ist, gleichzeitig aber voller konkreter Details,
die das Kolorit der Zeit wiedergibt, Häuser und Cafés beschreibt
und Begegnungen und Gespräche registriert. Gerüchte (aus Büchern und Briefen), Ereignisse, Erfolge, Tragödien, Skandale.
Kurz gesagt: Gesellschafts- und Gefühlsleben. Lohnt sich die
Lektüre?
Auf jeden Fall. Die wichtigste Botschaft, die Tomasik am
„Schrank”1 lauschend vernommen hat, ist schlicht folgende: Sie
alle waren sexuell anders Orientierte, die nicht in die „normale”
Erzählung hineinpassten. Allein die Bekanntgabe ihrer sexuellen
Identität ist jedoch noch kein Wert an sich. Es geht in diesem
Buch vielmehr um zwei vollkommen
elementare Fragen, die von Tomasik
diskutiert und interpretiert werden
und dessen Buch derart lesenswert
machen. Erstens, es ist eine Erzählung darüber, wie andere
von den „bekannten polnischen Kulturschaffenden” erzählten.
Tomasik analysiert folglich die Strategien – Verschweigen, Euphemismen, Anpassung, Disziplinierung, Erpressung, Ausschließung –, die gegenüber sexuell anders Orientierten angewandt
wurden. Dadurch sehen wir, wie zum Beispiel Dąbrowska, die
sich verdienterweise ungeheurer Anerkennung erfreute, wegen
ihres „unordentlichen Geschlechtslebens“ mal als aggressiv, ein
andermal euphemistisch, nie jedoch normal beschrieben wurde.
Wir sehen zum Beispiel auch wie Lechońs Selbstmord von den
einen als radikale Verneinung des Kommunismus interpretiert
wurde, von anderen dagegen als Akt der Verzweiflung aufgrund
seines versiegenden Talents. Tomasik fügt den beiden Versionen, wobei er weder die eine noch die andere in Frage stellt,
eine dritte hinzu – Liebeskummer eines Menschen, der darunter litt, dass seine Liebe nicht gesellschaftsfähig war. Tomasiks
Strategie besteht also nicht darin, die bisherigen Arbeiten über
berühmte polnische Schriftsteller für überflüssig zu erklären,
Blitze 3
Julia Hartwig
136
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(geb. 1921) exzellente
Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin französischer
Literatur, Verfasserin zahlreicher Gedichtbände.
Marek Zaleski
Julia Hartwig
Trzecie błyski
Wydawnictwo Sic!
Warsaw 2008
205 × 135 • 132 pages
hardcover
ISBN: 978-83-60457-59-7
Translation rights: Julia Hartwig
Contact: Wydawnictwo Sic!
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Blitze 3
Julia Hartwig
137
Julia Hartwig
Blitze 3 heißt das neue Buch der brillanten Lyrikerin, die wiederum zur Form lyrischer Notizen zurückgekehrt ist, die sie bereits mehrfach verwandt hat. „Beim Schreiben der Blitze hatte
ich sofort das Gefühl, dass das eine völlig autonome Form ist.
Das sind weder Schnittreste noch Gedichtideen, sondern etwas anderes”, sagte sie in einem Interview. Was sind die Blitze? Epiphane Erleuchtungen, Lektüreausschnitte, festgehalten in
der Form einer kurzen Notiz, nach der die Dichter heute gerne
greifen. „Nein, die Wahrheit über unsere Epoche vermittelt kein
Epos, kein Krieg und Frieden, keine tiefschürfende soziologische
Analyse. Blitze, stockende Wörter, kurze Sentenzen – allerhöchstens das”, schrieb einst Czesław Miłosz, ein Autor, auf den sich
Hartwig oft beruft. Die Notizen in diesem Buch sind Übungen
im Erstaunen und bisweilen im Begeistern, Betrachtungen zur
Poesie, zur Alchemie der Literatur, Erinnerungsbilder, Bonmots,
Tagebuch der Lektüren und Auszüge
aus den Lieblingsautoren, Fragmente
eines intimen Tagebuchs, aber bisweilen auch Zeitungssätze, die die
Autorin pointiert notiert und mit einem lyrischen Kommentar versieht.
Bisweilen gnomische Sätze, die an japanische Haikus erinnern
oder Aphorismen antiker griechischer Philosophen, aber auch
manchmal völlig prosaische Niederschriften aus dem Alltag, der
jedoch den Stoff künftiger Gedichte bildet. Manchmal ein Gedichtfragment, jedoch bewusst festgehalten in seiner unvollendeten und nichtausziselierten Form. „Meisterwerke begeisterten
mich, Skizzen aber ließen meine Phantasie auflodern”, lesen wir
in einer Notiz. „Wer mich besser kennen lernen möchte, komponiert sich aus den Blitzen ein Bild des Teils meiner Persönlichkeit,
der in den Gedichten nicht zu Tage tritt”, sagte Julia Hartwig.
Und gleich fügte sie hinzu: „Blitze sind Spuren des alltäglichen
Verstandesdickichts, von dem die Lyrik auf den steilen Pfad eines Gedichtes oder rhythmischer Prosa aufbrechen will.”
Bożena Keff
138
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Ein Werk über Mutter und Vaterland
Przemysław Czapliński
Bożena Keff
Lyrikerin, Schriftstellerin,
Essayistin und Publizistin, von Hause aus Philosophin und Polonistin. Sie lebt in Warschau.
Bożena Keff
Utwór o matce i ojczyźnie
Korporacja Ha!art
Cracow 2008
200 × 200 • 100 pages
paperback
ISBN: 978-83-89911-92-6
Translation rights: Bożena Keff
Contact: Korporacja Ha!art
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Ein Werk über Mutter und Vaterland
tisemitischen, patriotischen Geschwafels beweist, dass Fremdenfeindlichkeit die polnische vaterländische Gemeinschaft
zusammenschweißt. Um das Vaterland anders zu konstruieren, sind Erzählungen notwendig, die jene düstere, aber starke
Verbindung des Patriotismus zum Fremdenhass formulieren.
Bożena Keffs Buch ist ein Beispiel für ein außergewöhnliches
Zur-Sprache-Bringen des Hasses auf das Mutter-Vaterland. Eine
Äußerung, nach der niemand – die Holocaustopfer, die Opfer
der Holocaustopfer, die Antisemitismusinfizierten – für sich das
Recht auf Hass in Anspruch nehmen darf und niemand annehmen kann, dass er in seinem Hass keine Schuld auf sich lädt.
139
Bożena Keff
Ein Werk über Mutter und Vaterland ist eine Kreuzung aus Oper,
Tragödie und Oratorium. Die einander durchwirkenden Stimmen der Erzählerin, der Meter und des Chors erzählen das
Leben einer Mutter, die der Shoa entronnen ist, und das Leben ihrer Tochter, die im Leiden der Mutter gefangengehalten
wird. Aus diesem Grund kann man das Buch Bożena Keffs als
– herausragende und in ihrer Form völlig unerwartete – polnische Variante von Art Spiegelmans Mouse betrachten. Bei dem
Vergleich geht es weder um eine Nachahmung noch um formale Nähe, sondern den für beide Autoren zentralen Kampf des
Kindes und Künstlers mit der gewaltigen historischen Erfahrung,
die die Eltern repräsentieren. Den Kampf um eine eigene Identität, um das Recht auf ein eigenes Leben, um den Exodus aus
dem Holocaust-Mausoleum, in dem die Eltern ihrem Kind eine
winzige Wohnung mit behaglicher Pritsche eingerichtet haben.
Die Mutter aus Keffs Buch gehört zu
den Holocaustüberlebenden. Sie hat
überlebt, also steht ihr Leiden außer
Frage, ihre Beheimatung in der Vergangenheit ist fraglos, ihre Daseinsberechtigung – nicht abzusprechen.
Sie gebar eine Tochter wider das Nichts und den Holocaust, also
hat das Kind, anders als die Mutter, kein Recht auf Leiden und
kein eigenständiges Recht auf ein eigenständiges Sein. Die Tochter sucht vor allem in der Kunst Befreiung. Sie wird zur Dichterin,
für die es „keine unsagbaren Dinge gibt!”. Und da die Wirklichkeit, die sie auszudrücken hat, ein Knäuel von Widersprüchen
ist, greift sie nach widersprüchlichen Ausdrucksmitteln, erhabenen und vulgären Wörtern, hoher und populärer Kunst, sucht
Rückhalt in emanzipatorischen Diskursen. Alles erscheint jedoch noch nur als Halbheit, weil das Band zwischen Mutter und
Tochter aus so vielen historischen und soziologischen Strängen
geknüpft ist, dass jeder allgemeinen Konzeption ein Teil des Gewirrs entgleitet.
Das Auffinden durchlässiger Grenzen der eigenen Autonomie ist
für den Epilog wesentlich. Die dort erscheinende Mischung an-
To and Fro
Piotr Kletowski, Piotr Marecki:
Piotr Kletowski, Piotr Marecki:
tr Marecki:
ŻUŁAWSKI.
ŻUŁAWSKI.
Reader der Zeitschrift Reader der Zeitschrift
ift Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
[Ein Gespräch]
Poesie
140
Marcin Czerkasow
Fałszywe zaproszeBroda
nia Marzena
Das Recht des
Pfirsichbäumchens
auf Blitzschlag
Instytut Mikołowski
Mikołów 2008
148 × 210 • 96 pages
paperback
ISBN: 978-83-60949-36-8
Translation rights:
Marzena Broda
and Instytut Mikołowski
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Tadeusz Pióro
Asortyment
Marcin Czerkasow
Falsche Einladungen
Tadeusz Pióro
Sortiment
Wydawnictwo WBPiCAK
Poznań 2008
125 × 195 • 46 pages
paperback
ISBN 978-83-60746-04-2
Translation rights:
Wydawnictwo WBPiCAK
Wydawnictwo WBPiCAK
Poznań 2008
125 × 195 • 158 pages
paperback
ISBN 978-83-60746-21-9
Translation rights:
Wydawnictwo WBPiCAK
To and Fro
Piotr Marecki:
Piotr Kletowski, Piotr Marecki:
Piotr Kletowski, Piotr Marecki:
schrift ŻUŁAWSKI.
ŻUŁAWSKI.
na. [Ein Gespräch]
Reader der Zeitschrift Reader der Zeitschrift
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
Marcin Sendecki
Trap
Roman Honet
Amüsier dich
Biuro Literackie
Wrocław 2008
160 × 215 • 80 pages
paperback
ISBN 978-83-60602-65-2
Translation rights:
Biuro Literackie
Poesie
141
Bartosz Konstrat
Traktaty Konstrata
KONSTRAT'S
Marcin Sendecki
TREATISES
Fallreep
Biuro Literackie
Wrocław 2008
162 × 215 • 36 pages
paperback
ISBN 97883-60602-50-8
Translation rights:
Biuro Literackie
Bartosz Konstrat
Konstrats Traktate
Stowarzyszenie
Inicjatyw Wydawniczych:
Górnośląskie Centrum Kultury
Katowice 2008
148 × 210 • 48 pages
paperback
ISBN: 978-83-92185-13-0
Translation rights:
Bartosz Konstrat
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To and Fro
To and Fro
Von den vielen Gedichtbänden, die im letzten halben Jahr
erschienen sind, verdienen besondere Beachtung die neuen
Bücher von Marcin Sendecki, Roman Honet, Tadeusz Pióro,
Marzena Broda, Marcin Czerkasow und Bartosz Konstrata.
Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf sie zu werfen. Bei
der Gelegenheit stellt man fest, wie unterschiedlich deren
Spannweite, Möglichkeiten und Strategien sind. Es fällt
schwer zu glauben, dass diese Publikationen alle im gleichen
Sprachraum entstanden sind.
Poesie
142
In Das Recht des Pfirsichbäumchens auf Blitzschlag zeigt
Marzena Broda, die zu Beginn der Neunzigerjahre debütierte, ihren Hang zu einer formal und gedanklich disziplinierten Poesie. Im Gedichtband dominieren Eintragungen,
die an eine Art Wettertagebuch erinnern: Naturlandschaften
gehen ungehindert in Körperlandschaften über. Infolgedessen sind die wichtigsten Probleme mit der Sehkraft und
dem Tastsinn verbunden. Und deshalb spielt sich alles, zumindest aber viele der Stimmungsbilder, Narrationen und
Landschaften, zwischen dem Blick und dem Kuss ab, also im
Raum der Unanständigkeit, der Sünde und des Vergehens.
Stilistische Akrobatik sowie die häufig verwendeten Figuren
des Spiegels, der Wolken, des Eises, des Schnees und des Auges umgeben die Welt der menschlichen Leidenschaften mit
einer geheimnisvollen Aura. Broda fühlt sich auf dem Feld
der Ausweichmanöver, Tarnungen und Metamorphosen zu
Hause. Sie testet die Möglichkeiten des harmonischen, fließenden Satzes und der eleganten Metapher. Das Ergebnis
sind Gedichte, die, obwohl sie in scheinbar ausgeglichenen,
stabilen und abgekühlten Phrasen daherkommen, in heftigen Sprachentladungen gipfeln. Broda, so sieht es aus, setzt
auf bewährte Techniken, um größere Aufmerksamkeit zu erregen: Jeder Vorhang weckt und belebt das Begehren statt es
zu löschen.
lageartigen Momentaufnahmen, abgerissenen Dialogen und
seltsamen „Geheimratsecken“ der Sprache, da er dadurch die
Möglichkeit hat, eine comicähnliche Verkürzung zu erreichen, andererseits schreckt er aber auch nicht davor zurück,
weite Räume zu entwerfen, in denen sich in einer Bilderflut
verschiedene Zeiten und Personen kreuzen. Man darf weder
den absurden Humor dieser Gedichte noch deren poetische
Formgebung unterschätzen, am meisten überrascht jedoch
die improvisierte Phantasie. So steht die sentimentale Phrase
vom „gebrechlichen, zinnernen Sommer“, gleich neben den
Minigeschichten von der Frau, deren Mann eine Affäre mit
einer Fledermaus hat, und von dem Mann, dessen Hand in
einer Wand seines Hauses eingemauert ist, usw. Die Welt,
von der Czerkasow erzählt, erinnert an eine Glaskugel, aus
deren Inneren nur verzerrte Geräusche nach außen dringen.
Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Czerkasow häufig
den menschlichen Kontakt mittels Brief oder Telefon thematisiert und aus der Telefonzelle einen strategischen Ort
des schreibenden Subjekts macht. Das gibt ihm das Gefühl,
unsichtbar zu sein, während die Szenen in seinen Gedichten so gezeigt werden, als würde man durch ein Teleobjektiv
blicken.
Tadeusz Pióros Sortiment ist eine umfangreiche Anthologie, in der Gedichte aus seinem Gesamtwerk – von seinem
ersten Lyrikband 1993 bis hin zu seinem letzten, der 2004
erschien, plus einigen neuen Texten – versammelt sind. In der
Retrospektive erkennen wir die für Pióro charakteristischen
rhetorischen Bilder, die nicht so sehr ins Auge springen würden, hätten wir es mit einer einzelnen Gedichtsammlung zu
tun. Recht überraschend ist aber auch die Entdeckung, dass
dieser außerordentlich moderne, avantgardistische Dichter,
den englischsprachige Autoren inspirieren, dieser Weltmann
und Kosmopolit, Volkstümliches, Urslawisches, auf die Welt
der Technik treffen lässt. Kurz gesagt, Industrieszenen, ausgedehnte städtische Territorien, anonyme Kontakte, Anrufbeantworter und Computer werden parallel zu Freiluftmuseen,
Das Debüt von Marcin Czerkasow Falsche Einladungen ist der Legende von Wanda, die keinen Deutschen wollte, Bisdagegen ein Lyrikband, der viel freier mit Dialogen, Szenen kupin, dem Morgenstern, rituell entzündeten Feuern, usw.
und Motiven operiert. Einerseits spielt Czerkasow mit col- gezeigt. Diese Vision, in der ein Wortschatz aus grauer Vor-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Um Fallreep von Marcin Sendecki zu beschreiben, nimmt
man am besten die Kunst als Bezugspunkt. Seine Gedichte
erinnern nämlich an Kompositionen, die, obwohl sie vollkommen geschlossene Strukturen aufweisen, sich durch
die Verschiebung ihrer Umrisse auszeichnen. Mit anderen
Worten, Sendecki interessieren Translokationen und verschiedene Transfers: Wenn das, was sich als starre und stabile
Verbindung erweist (wie die scheinbar simple Phrase: „Sehr
gute Milch“ aus dem Gedicht Distrikt Oulu), in eine Form
übergeht, die für andere Kompositionen charakteristisch
Bartosz Konstrat setzt in seinem zweiten Buch, Konstrats Traktate, insofern die Tradition des Traktats fort, als
er versucht bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens abzugrenzen und sie auf etwas exzentrische Weise zu
kommentieren, wobei er gewöhnlich über ein Detail, ein
scheinbar unbedeutendes und leicht verständliches Element
nachdenkt. Er erzählt also z. B. „von einer bestimmten Art
von Blindheit“, „von Ersatzhandlungen“, „von Treue“, „von
einfachen Liedern“, dabei behält er stets einen übersteigerten dandyhaften Manierismus, einen leicht exaltierten Ton
und eine zarte Liedhaftigkeit bei. In den Beschreibungen
enttäuschter Liebe und körperlichen Verlangens verzichtet
er nie auf die artifizielle, theatralische Geste: Er stattet das
schreibende Ich mit allen Attributen eines weinerlichen und
begehrenden Epheben aus. Er wechselt jedoch die Sprache
und das lyrische Konzept, wenn er – was zugegebenermaßen
recht selten geschieht – zu einem witzigeren und salopperen
Slang übergeht. Dann gewinnt die Exzentrizität seines Kommentars an Lockerheit, wie in dem Text, in dem es heißt,
dass über Identität etwas derart Unbestimmtes wie die Straße
der Möwen entscheiden kann, die in dem Gedicht gleichsam
einem Lacan’schen „gründenden Wort“ funktioniert.
Anna Kałuża
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To and Fro
Beim vierten und neuesten Lyrikband von Roman Honet,
Amüsier dich, haben wir es mit einer grundverschiedenen
Vision zu tun: Wir befinden uns in der Provinz, weit weg
vom zivilisatorischen Schutzwall, der uns von der Biologie
und unseren Bindungen zur Natur trennt. Honet zeigt ein
fast wildes, ungezähmtes, von den Geistern der Verstorbenen
heimgesuchtes Terrain. Diese füllen die Welt der Lebenden
aus, und ihre Erinnerungen, ihre Schicksale bestimmen das
individuelle Gedächtnis: ein traumatisches, von Todesahnungen besessenes Gedächtnis. Deshalb macht Honet auf seiner
lyrischen Reise, die mit Särgen, Krematorien und Friedhöfen
ausgefüllt ist, gewöhnlich an zwei symbolischen Stationen
halt. Die eine ist die Welt der kindlichen Vorstellung, in der
die Gewalt des Todes nicht so deutlich wird, beziehungsweise sogar in ein perverses Gefühl körperlichen Überflusses
übergeht, denn der Körper gibt noch mehr Anlass zur Freude als Grund zum Erschrecken. Die zweite Station ist die
Welt des Beobachters, der außerhalb der menschlichen Zeit
steht. Er hält sich am Rande der Welten auf und spürt am
stärksten die Schwerkraft dessen, was immateriell geworden
ist. Ein seltsamer Bewusstseinszustand, der für den Verfall
und das Zubruchgehen des Lebens empfindlich ist, bildet
eine Grunderfahrung des schreibenden Subjekts, was sich
seit Hornets Debüt beobachten lässt.
ist (im selben Gedicht, zum Schluss: „Sei lecker, nutze den
Tag“). Am meisten profitiert seine Poesie vom Bezugnehmen
auf Prozesse des wirtschaftlichen Austauschs und den Strom
der Bedeutungen, aber es ist der Klang, der Rhythmus, die
Stofflichkeit des Wortes, die er in den Vordergrund rückt.
Fallreep ist folglich ein Buch über die Schwerelosigkeit der
Materie und das Schwingen der Klänge, wenn die Wörter
die kritische Funktion gesellschaftlicher Wirklichkeit übernehmen (die Welt der billigen Anreize und der beliebigen
Austauschbarkeit denunzieren) und ihre ausgezeichnete
Dysfunktionalität zur Schau stellen. Ein raffiniertes, nicht
für jedermann bestimmtes Lesevergnügen.
143
Poesie
zeit mit der Expresssprache des Post-Neo-Industriemenschen
verbunden wird, die also Ausflüge ins Archaische mit Zeitsprüngen in die Zukunft assoziiert, dominiert hier, obwohl
man in Sortiment natürlich vieles mehr finden kann.
wski, Piotr Marecki: Piotr Kletowski, Piotr Marecki:
.
ŻUŁAWSKI.
Zeitschrift
Reader der Zeitschrift
ityczna. [Ein Gespräch]Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
144
Chopin
Fryderyk Chopin
BARKAROLA
FIS-DUR
OP. 60
Fryderyk Chopin
Barcarolle Fis-dur Op. 60
Fryderyk Chopin
Etiuden Op. 10
The Fryderyk Chopin Institute
Warsaw 2007
216 × 280 • 8 pages
hardback
ISBN: 978-83-923583-6-7
Translation rights:
The Fryderyk Chopin Institute
The Fryderyk Chopin Institute
Warsaw 2007
348 × 250 • 26 pages
hardback
ISBN 978-83-923583-3-6
Translation rights:
The Fryderyk Chopin Institute
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Fryderyk C
ETIUDY O
Piotr Kletowski, Piotr Marecki:
Piotr Kletowski, Piotr Marecki:
Piotr Marecki:
ŻUŁAWSKI.
ŻUŁAWSKI.
schrift Reader der Zeitschrift Reader der Zeitschrift
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
Krytyka Polityczna. [Ein Gespräch]
na. [Ein Gespräch]
145
Marita Albán Juárez,
Ewa Sławińska-Dahlig
Chopin’s Poland
The Fryderyk Chopin Institute
Warsaw 2008
154 × 227 • 234 pages
paperback
ISBN 978-83-61142-03-4
Translation rights:
The Fryderyk Chopin Institute
Translation: John Comber
Fryderyk Chopin
ETIUDY OP. 10
Chopin
Fryderyk Chopin
ETIUDY OP. 10
Marita Albán Juárez,
Ewa Sławińska-Dahlig
Chopins Polen
Hrsg. Artur Szklener
Chopin in Performance:
History, Theory,
Practice
The Fryderyk Chopin Institute
Warsaw 2007
154 × 227 • 234 pages
paperback
ISBN 978-83-917410-8-5
Translation rights:
The Fryderyk Chopin Institute
The Fryderyk Chopin Institute
Warsaw 2004
174 × 228 • 242 pages
paperback
ISBN 83-917410-6-0
Translation rights:
The Fryderyk Chopin Institute
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Chopin
146
Am 1. März 2010 jährt sich der Geburtstag von Frédéric
Chopin zum 200. Male. Aus diesem Anlass wurde das Jahr
2010 zum Chopin-Jahr erklärt. Die Vorbereitungen für die
Feierlichkeiten des Jubiläumsjahrs koordiniert das Nationale
Frédéric-Chopin-Institut (NIFC), eine Institution, die 2001
vom polnischen Parlament ins Leben gerufen wurde. Zu den
wichtigsten Aufgaben des NIFC gehört die Popularisierung
des Chopinschen Œuvres, daher kommt der Publikationstätigkeit im Rahmen der Institutssaufgaben zentrale Bedeutung zu. Veröffentlicht werden vor allem die Werke des
berühmten Komponisten selbst und Bücher über ihn. Die
Monographien, die das Nationale Frédéric-Chopin-Institut
herausgibt, stammen von renommierten polnischen und internationalen Wissenschaftlern und Schriftstellern, sie bilden
eine wertvolle Informationsquelle für die Wissenschaft wie
auch den interessierten Laien und Musikliebhaber. Wichtig
ist hierbei, dass die Verfasser dieser Bücher in erster Linie
mit den Originalmanuskripten des Komponisten arbeiten,
die ihnen u.a. in den Sammlungen des Instituts zur Verfügung stehen.
Die Sorge um den Erhalt und einen breiteren Zugang zu
den Werkmanuskripten des Künstlers, die heute über die
ganze Welt verstreut, aber unermesslich wichtig und wertvoll für weitergehende Forschungen zum geistigen Erbe des
Komponisten sind, war ein Hauptgrund für die Initiierung
des internationalen Wissenschafts- und Publikationsprojekts „Die Werke Chopins. Faksimile-Ausgabe”. An dieser
Edition beteiligen sich Repräsentanten Polens, Frankreichs,
Großbritanniens, der Schweiz, Deutschlands und der USA,
koordiniert wird das Gesamtprojekt von seinem Initiator,
dem Nationalen Frédéric-Chopin-Institut in Kooperation
mit dem Verlag „Bernardinum”. Ziel des Editionsvorhabens
ist die Veröffentlichung aller heute bekannten Handschriften
der Werke des Komponisten als Faksimiles, begleitet von einem sechssprachigen Kommentar. Das ist das erste derartige
Editionsprojekt in der Geschichte; die vollständige Publikation wird die einzigartige Möglichkeit schaffen, originalgetreue Kopien aller Chopin-Autographen zu besitzen. Bis zum
heutigen Tage sind bereits 11 Bände erschienen, darunter das
Faksimile der h-moll-Sonate op. 58, des f-moll-Konzerts op.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
21, der Barcarolle fis-Dur op. 60, mehrerer Mazurken und
Etüden. Zur Zeit wird an zwölf weiteren Bänden gearbeitet,
darunter auch die Faksimile-Ausgabe der Polonaise as-Dur
op. 53.
Eine andere Publikationsreihe des Instituts sind die Konferenzbände, die auf der Basis von Vorträgen entstehen, die
während der alljährlichen Internationalen Konferenzen für
Chopinologie gehalten werden, die das Nationale Frédéric-Chopin-Institut veranstaltet. Diese Publikationen, die
auch Übersetzungen ins Englische bieten, ermöglichen die
schriftliche Präsentation der allerneuesten Arbeiten der polnischen Chopin-Forschung. Bisher erschienen Bände über
Forschungsgegenstände wie die Sprache Chopins – Überlegungen zu Universalität und Regionalität der Werke des
Komponisten, die Sprache der heutigen Musikerziehung
und die Rezeption Chopins in der Gegenwart, Einflüsse auf
Chopin und seinen Schaffensprozess im Lichte der Quellen,
unvollendete Werke, Rekonstruktionsversuche des Urtextes,
verschiedene Methoden zur Analyse Chopinscher Texte, den
Wandel der Werkinterpretation und die Rolle der Interpreten für die Ausformung eines musikalischen Werkes. Heute
liegen bereits vier Bände der Reihe vor: Chopin - In Search
of a Common Language, Chopin’s Work. His Inspirations and
Creative Process in the Light of the Sources, Analytical Perspectives on the Music of Chopin und Chopin in Performance: History, Theory, Practice.
Zu den allerneuesten eigenständigen wissenschaftlichen
Publikationen, die das NIFC in Sachen Chopin veröffentlichte, gehört das Buch Polska Chopina – Przewodnik po
miejscach związanych z pobytem kompozytora [Chopins Polen
– Führer zu den Wirkungsstätten und Aufenthaltsorten des
Komponisten] von Marita Albán Juárez (historische Darstellung) und Ewa Sławińska-Dahlig (zeitgenössische Elemente
und fotografische Dokumentation), das auch in englischer
Sprache vorliegt (Chopin’s Poland. A guidebook to places associated with the composer, übers. von. John Comber). Es
handelt sich dabei um die erste Publikation dieser Art auf
dem polnischen Buchmarkt wie auch weltweit. In dem Buch
werden Orte in Masowien, Großpolen und Kleinpolen beschrieben, an denen Chopin für längere Zeit oder auch nur
den Sommer über lebte, und Orte, denen er nur auf der
Durchreise einen Besuch abstattete. In jedem Kapitel findet
der Leser auch en détail die äußerten Umstände des Aufenthalts des Komponisten am konkreten Ort wie auch dessen
Geschichte und den heutigen Zustand des Ortes oder Objektes. Die größte Aufmerksamkeit gilt den Chopin-Orten
in Warschau, es werden auch Spaziergänge durch Warschau
auf den Spuren Chopins vorgeschlagen. Der Führer enthält
Reproduktionen von nahezu 50 historischen Illustrationen,
die aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen, 3
Karten und rund 100 Fotografien, die speziell für diese Publikation entstanden.
Unter den Verlagsankündigungen des NIFC findet man
außerdem den Essayband von Irena Poniatowska. W kręgu
recepcji i rezonansu muzyki – szkice chopinowskie [Im Umfeld
musikalischer Rezeption und Resonanz – Essays zu Chopin],
ein Buch u.a. über die Rezeption der Werke Frédéric Chopins als ästhetisches und theoretisches Problem. Die Autorin
schreibt zudem über die Transkription der Mazurken Chopins und die zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten seiner
Préludes.
Eine völlig andersartige Publikation des Instituts wird dagegen der Text Die Tagebücher Fryderyk Graf Skarbeks sein,
die erstmals vollständige Ausgabe der Erinnerungen des Grafen Fryderyk Skarbek (1792-1866), eines Schülers Mikołaj
Chopins und des Taufpaten Frédéric Chopins. Der Verfasser
war ein exponierter Vertreter des intellektuellen Lebens im
Polen des 19. Jahrhunderts. Die Gesamtausgabe der Erinnerungen, die anhand von Handschriften vervollständigt
wurden, ist reichhaltig illustriert. Sie sind außerdem mit ausführlichen Anmerkungen und biographischen Angaben zu
den einzelnen Personen versehen. Herausgegeben wird diese
Ausgabe von Piotr Mysłakowski.
Chopin
147
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Adressen der Verlage und Agenten
148
Biuro Literackie
Muza
ul. Tęczowa 50a/9
PL 53-602 Wrocław
Tel.: +48 71 346 08 23
[email protected]
www.biuroliterackie.pl
ul. Marszałkowska 8
PL 00-590 Warszawa
Tel.: +48 22 621 17 75
Fax: +48 22 629 23 49
[email protected], www.muza.com.pl
Czarne
Niebieska Studnia
Wołowiec 11
PL 38-307 Sękowa
Tel.: +48 18 351 00 70, +48 502 318 711
Fax: + 48 18 351 58 93
[email protected], www.czarne.com.pl
ul. Ponikowskiego 12a
PL 00-707 Warszawa
Tel.: +48 22 651 07 03
[email protected]
www.niebieskastudnia.pl
Galeria Plakatu Kraków
Nisza
ul. Stolarska 8-10
PL 31-043 Kraków
Tel./Fax: +48 12 421 26 40
[email protected]
www.cracowpostergallery.com/
ul. Styki 23a
PL 03-928 Warszawa
Tel.: +48 12 617 89 61
[email protected], www.nisza-wydawnictwo.pl
Górnośląskie Centrum Kultury
ul. Grunwaldzka 74/3
PL 80-244 Gdańsk
Tel.: +48 58 345 47 07
Fax: +48 58 520 80 63
[email protected], www.terytoria.com.pl
pl. Sejmu Śląskiego 2
PL 40-032 Katowice
Tel.: +48 32 255 38 06
Fax: +48 32 609 03 15
[email protected], www.gck.org.pl
Instytut Mikołowski
Słowo/obraz terytoria
Świat Książki
ul. 1 Maja 8/5
PL 43-190 Mikołów
Tel.: +48 32 738 07 55
[email protected]
ul. Rosoła 10
PL 02-786 Warszawa
Tel.: +48 22 654 82 00
[email protected]
www.swiatksiazki.pl
Korporacja Ha!art
The Fryderyk Chopin Institute
Pl. Szczepański 3a
PL 31-011 Kraków
Tel./Fax: +48 12 422 81 98
[email protected]
www.ha.art.pl
Plac Piłsudskiego 9
PL 00-078 Warszawa
Tel.: +48 22 827 54 71
Fax: +48 22 827 95 99
[email protected], www.nifc.pl
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W.A.B.
Wydawnictwo Sic!
ul. Łowicka 31
PL 02-502 Warszawa
Tel./Fax: +48 22 646 05 10, +48 22 646 05 11
[email protected], www.wab.com.pl
ul. Chełmska 27/23
PL 00-724 Warszawa
Tel./Fax: +48 22 840 07 53
[email protected]
www.wydawnictwo-sic.com.pl
ul. Bolesława Prusa 3
PL 60-819 Poznań
Tel.: +48 61 66 40 850
Fax: +48 61 66 27 366
[email protected], www.wbp.poznan.pl
Wydawnictwo Forma
ul. Nowowiejska 63
PL 71-219 Szczecin-Bezrzecze
Tel./Fax: +48 91 488 62 40
[email protected], www.ppiw-forma.pl
Wydawnictwo Krytyki Politycznej
ul. Chmielna 26 lok. 19
PL 00-020 Warszawa
Tel.: +48 22 828 11 66
[email protected]
www.krytykapolityczna.pl
Zielona Sowa
ul. Cegielniana 4A
PL 30-404 Kraków
Tel./Fax: +48 12 266 62 92, +48 12 266 62 94
[email protected]
www.zielonasowa.pl
Znak
ul. Kościuszki 37
PL 30-105 Kraków
Tel.: +48 12 619 95 01
Fax: +48 12 619 95 02
[email protected]
www.znak.com.pl
149
Adressen der Verlage und Agenten
WBPiCAK
Wydawnictwo Książkowe Twój Styl
ul. Dzika 19/23
PL 00-172 Warszawa
Tel.: +48 22 576 82 72
Fax: +48 22 576 82 62
[email protected], www.wkts.com.pl
Wydawnictwo Literackie
ul. Długa 1
PL 31-147 Kraków
Tel.: +48 12 619 27 40
Fax: +48 12 422 54 23
[email protected]
www.wydawnictwoliterackie.pl
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Ziel des Programms ist es, Übersetzungen der polnischen Literatur zu fördern sowie deren Präsenz auf den ausländischen
Buchmärkten zu stärken.
Das Programm umfasst insbesondere:
»» Belletristik und Essayistik
»» Kinder- und Jugendliteratur
»» Sachbücher
Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die
ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde
Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen.
Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert werden:
»» bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs
»» bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus
dem Polnischen
Das Übersetzungsprogramm ©POLAND
150
Das Buchinstitut
ul. Szczepańska 1
PL 31-011 Kraków
e-mail: [email protected]
tel.: (+48-12) 433 70 40
fax.: (+48-12) 429 38 29
Dem Angebot müssen folgende Unterlagen beigefügt werden:
»» das ausgefüllte Angebotsformular
»» Kopie des Lizenzvertrags (oder Kopie des Vorvertrags)
»» Kopie des Übersetzervertrags (oder Kopie des Vorvertrags)
»» aktuelles Verlagsprogramm und allgemeine Informationen
zum Verlag
»» Bibliographie des Übersetzers
»» kurze Begründung für die Wahl des jeweiligen Werks
»» detaillierter Kosten- und Finanzierungsplan der Publikation
unter Angabe der Vertriebsform
Anträge auf die Förderung von Übersetzungen polnischer
Literatur können von Verlegern bei dem Buchinstitut in Krakau
gestellt werden (spätestens 4 Monate vor der geplanten Publikation).
Das Angebotsformular des Programms kann bei dem
Buchinstitut angefordert werden, oder von der Website
www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden.
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Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer
polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur
zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher
ausländischen Verlegern zu präsentieren.
Die Programm-Voraussetzungen sind folgende:
»» Es werden 20 Seiten einer Übersetzung bezahlt
(1800 Zeichen pro Seite)
»» Der/die Übersetzer/-in reicht eine Bewerbung ein,
die folgendes beinhaltet:
a)die Motivation, warum er/sie dieses zu übersetzende
Buch ausgesucht hat
b)ein Handlungsplan
c)seine/ihre Bibliographie
d)Informationen hinsichtlich
der Übersetzungskosten (Brutto)
e)das ausgefüllte Angebotsformular
»» Der/die Übersetzer/-in muss mindestens eine Buch-Übersetzung gemacht haben bevor er/sie sich bewirbt.
»» Es muss die erste Übersetzung des Buches in die jeweilige Sprache sein und der Beispieltext darf nirgendwo zuvor
veröffentlicht worden sein.
Das Angebotsformular des Programms kann bei dem
Buchinstitut angefordert werden, oder von der Website
www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden.
Das Buchinstitut
ul. Szczepańska 1
PL 31-011 Kraków
e-mail: [email protected]
tel.: (+48-12) 433 70 40
fax.: (+48-12) 429 38 29
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Sample Translations ©POLAND
151
Das Buchinstitut
ul. Szczepańska 1
31-110 Kraków
Tel: +48-12 433 70 40
Fax: +48-12 429 38 29
[email protected]
www.bookinstitute.pl
Warschauer Filiale des Buchinstitutes
P. Defilad 1, IX p., pok. 911
00-901 Warszawa
Tel: +48-22 656 63 86
Fax: +48-22 656 63 89
[email protected]
Warszawa 134, P.O. Box 395
152
© Das Buchinstitut, Krakau 2008
Redaktion:
Izabella Kaluta, Joanna Czudec, Elżbieta Kalinowska
Übersetzung:
Ursula Kiermeier, Esther Kinsky, Albrecht Lempp, Olaf Kühl, Aleksandra Kujawa-Eberharter und Markus Eberharter,
Martin Pollack, Heinz Rosenau, Paulina Schulz, Renate Schmigdall, Andreas Volk
Weitere Informationen über die polnische Literatur auf: www.bookinstitute.pl.
Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel 48 New Books from Poland. Fall 2008 kann über
das Buchinstitut bezogen werden.
Graphik und Satz: Studio Otwarte
st udi otwar te
www.otwarte.com.pl
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Das Buchinstitut stellt die Literaturprogramme bei polnischen
Auftritten auf in- und ausländischen Buchmessen, bereitet Lesungen polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals oder im
Rahmen seiner PR-Maßnahmen für die internationale Verbreitung polnischer Kultur vor, gibt regelmäßig den Katalog „NEUE
BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in dem literarische Neuerscheinungen präsentiert werden, organisiert Studien- und Fortbildungsmaßnahmen sowie Treffen und Seminare für Übersetzer
polnischer Literatur, zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und
verleiht auch den PREIS TRANSATLANTYK für den besten Vermittler polnischer Literatur im Ausland.
DAS PROGRAMM TU CZYTAMY! besteht aus einer Reihe
von Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und NGOs
richten. Dazu gehören u.a.: Bildungsprogramme, Vermittlung der
zeitgenössischen polnischen Literatur für Jugendliche, Vorbereitung und Publikation eines polnischen Literaturatlas, Organisation von Buchdiskussionsklubs. Ein Teil des Programms ist auch
der jährliche Literaturfestival-Zyklus 4 Pory Książki.
FESTIVAL 4 PORY KSIĄŻKI ist das größte Literaturfestival in
Polen. Es findet parallel in mehreren Städten statt. Das Festival
besteht aus vier Events: POPLIT (April), Pora poezji / Lyrikzeit
(Juni), Pora prozy / Prosazeit (Oktober), Festiwal kryminału
/ Krimifestival (November).
www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland,
präsentiert Neuerscheinungen und Verlagsprogramme, betreibt
auch ein regelmäßiges Rezensions-Service. Man findet dort außerdem über 100 Biogramme zeitgenössischer polnischer Autoren, die Vorstellung von über 500 Publikationen, Fragmente,
Essays, Anschriften der Verleger. Alles über polnische Bücher
– auf Polnisch, Englisch und Deutsch.