Untitled - Instytut Książki

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Untitled - Instytut Książki
NEUE
BÜCHER
AUS
POLEN
DAS POLNISCHE
BUCHINSTITUT
Das Polnische Buchinstitut ist eine staatliche Kultureinrichtung, deren Hauptziele darin liegen, die Lesebereitschaft zu fördern, das Buch als Medium und die Leselust in Polen zu verbreiten sowie weltweit für die polnische Literatur zu werben. Diese
Ziele werden umgesetzt durch:
»Vorstellung der besten polnischen Bücher und Werbung für
ihre Autoren
»Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten
Umgang mit dem Buch verdeutlichen
»Programme zur Leseförderung
»Präsentation der polnischen Literatur im Ausland
Ȇbersetzerkolleg
»Seminare für Verleger
»Übersetzungsprogramm © POLAND
»Sample Translations © POLAND
»Informationszentrum für Kinderbücher
»Informationsportal zur polnischen Literatur
www.bookinstitute.pl
Das Buchinstitut organisiert Literaturprogramme bei polnischen
Auftritten auf ausländischen Buchmessen, bereitet Lesungen
polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals vor, gibt regelmäßig den Katalog „NEUE BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in dem
literarische Neuerscheinungen präsentiert werden, organisiert
Studienreisen und Seminare für Übersetzer polnischer Literatur,
zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und verleiht den Preis
„TRANSATLANTYK“ für den besten Vermittler polnischer Literatur im Ausland.
Das Programm der Leseförderung besteht aus einer Reihe von
Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und NGOs richten. Dazu gehört u.a.: das Projekt Buchdiskussionsklubs.
www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland, präsentiert Neuerscheinungen und Verlagsprogramme und betreibt
einen regelmäßigen Rezensions-Service. Man findet dort außerdem über 100 Kurzporträts zeitgenössischer polnischer Autoren,
die Vorstellung von über 500 Publikationen, Fragmente, Essays,
Anschriften der Verleger und Literaturagenten. Alles über polnische Bücher – auf Polnisch, Englisch, Deutsch und Hebräisch.
AUSGEWÄHLTE PROGRAMME
DES BUCHINSTITUTS
DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND
Ziel des Programms ist es, Übersetzungen polnischer Literatur zu
fördern und ihre Präsenz auf den ausländischen Buchmärkten zu
stärken. Das Programm umfasst insbesondere Belletristik und Essayistik, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbücher.
Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die ein
in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde Sprache
übersetzen lassen und herausgeben wollen.
Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert
werden:
• bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs
• bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus dem
Polnischen.
SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND
Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen Verlegern zu präsentieren.
Bezahlt werden 20 Seiten einer Probeübersetzung.
Die Bewerbungsformulare beider Programme können postalisch
beim Buchinstitut in Krakau angefordert, oder von der Website
www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden.
ÜBERSETZERKOLLEGIUM
Das Programm wird vom Buchinstitut in Zusammenarbeit mit dem
Verein Villa Decius und der Jagiellonen-Universität durchgeführt.
Es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur, die Belletristik,
Essayistik, Dokumentarliteratur oder geisteswissenschaftliche Literatur im weitesten Sinne übertragen und bietet ein- bis dreimonatige Stipendienaufenthalte in Krakau.
TRANSATLANTIK
Transatlantik ist der alljährig von dem Buchinstitut vergebene
Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Verbreitung der polnischen Literatur im Ausland einsetzen. Der Preis, dotiert mit 10.000
Euro, kann u. A. an Übersetzer, Verleger, Literaturkritiker, Polonisten verliehen werden.
KONTAKT:
Das Polnische Buchinstitut
ul. Szczepańska 1
PL 31-011 Kraków
E-mail: [email protected]
Phone: +48 12 433 70 40
Fax: +48 12 429 38 29
www.bookinstitute.pl
Direktor des Polnischen Buchinstituts:
Grzegorz Gauden
INHALT
SEITE AUTOR
TITEL
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Liebling, ich habe die Katzen getötet
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44
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DOROTA MASŁOWSKA
JOANNA BATOR
TOMASZ RÓŻYCKI
ZYTA ORYSZYN
KRZYSZTOF VARGA
SYLWIA CHUTNIK
IGOR OSTACHOWICZ
ZOŚKA PAPUŻANKA
MARIUSZ SIENIEWICZ
ADAM WIEDEMANN
ŁUKASZ ORBITOWSKI
MAŁGORZATA SZEJNERT
WOJCIECH JAGIELSKI
JACEK HUGO-BADER
KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA
PAWEŁ SMOLEŃSKI
MARIUSZ WILK
OLGA TOKARCZUK
FILIP SPRINGER
MARTA GUZOWSKA
ADRESSEN DER VERLAGE UND AGENTEN
Dunkel, beinah Nacht
Bestiarium
Die Rettung von Atlantis
Späne
Die Schlawinerinnen
Die Nacht der lebenden Juden
Das Affenhaus
Dornröschens Beichte
Entsprechungen
Gespenster
Das Heim der Schildkröte. Sansibar
Brennendes Gras
Kolyma-Tagebücher
Sumpflein
Der Araber schießt, den Juden freut‘s
Der Zug der Gänse
Der Moment des Bären
Von schlechter Geburt
Die Opferung der Polyxena
6
DOROTA MASŁOWSKA
DOROTA MASŁOWSKA (GEB. 1983),
SCHRIFTSTELLERIN, DRAMATIKERIN.
DEBÜTIERTE 2002 MIT IHREM
ROMAN „SCHNEEWEISS UND
RUSSENROT“. DER ZWEI JAHRE
SPÄTER ERSCHIENENE ROMAN
„DIE REIHERKÖNIGIN“ BRACHTE
IHR DEN NIKE-PREIS EIN. IHR
DRAMA „ZWEI ARME POLNISCH
SPRECHENDE RUMÄNEN“ WURDE
U. A. IN AUSTRALIEN, IN DEN USA
UND AUF DER INSEL SACHALIN
AUFGEFÜHRT.
Photo: Marcin Nowak
Liebling, ich habe die Katzen getötet
Dieser Roman ist eine Offenbarung! Wer hätte geglaubt, dass das sensationelle „Schneeweiß und Russenrot” noch zu übertreffen wäre? Aber Dorota
Masłowska, die begabteste Autorin der jungen Generation, ausgezeichnet
u.a. mit dem Paszport Polityki und dem Nike-Preis, hat ihr vermutlich bisher
bestes Buch veröffentlicht.
Eine Überraschung folgt hier auf die andere: Nicht, wie bisher, in Polen
spielt der Roman, sondern in New York. Die Erzählform, bisher meist ein gigantisches Experiment, ist hier zurecht gestutzt, geglättet – hurtig geht es
voran, ohne auch nur ein bisschen an Ausdruckskraft, ja magnetisierender
Anziehungskraft einzubüßen. Die Sätze kommen so unangestrengt daher,
als hätten sie sich von allein geschrieben. Gleichwohl muss hinter ihrer Eleganz, Präzision, hinter treffenden Vergleichen und Metaphern und dem Witz
eine konzentrierte schriftstellerische Arbeit gestanden haben. Die Erzählung rankt sich um die weibliche Hauptperson. Was unverändert geblieben
ist, sind die treffenden Beobachtungen und Ausbrüche von Humor, an die
wir bei dieser Autorin gewohnt sind (deren Gestalt auch diesmal im Buch
auftaucht!).
Die Hauptperson ist Farah („der Farrer“, wie ihre Bekannten schnippisch sagen) – ein auf die Dreißig zugehender Single – auch wenn ihr Geisteszustand
eher den Begriff der alten Jungfer rechtfertigen würde. Farah verbringt ihre
Zeit mit der Lektüre von Ratgebern für geistige Entwicklung, grübelt über
ihr verpatztes Leben nach und übt sich überhaupt im Totschlagen der Zeit.
Außerdem achtet sie fanatisch auf eine gesunde Lebensweise und geht so
zurück zum Inhaltsverzeichnis
weit, dass sie vor der versuchten Selbstverstümmelung die Rasierklinge
desinfiziert. Zu einer persönlichen Tragödie wird es für sie, als ihre Herzensfreundin Jo einen Freund findet. Wir lernen eine ganze Heerschar ihrer
(eher entfernten als nahen) Bekannten kennen, die Mittel gegen Depressionen nehmen und versuchen, in der Welt der Avantgardekunst Karriere zu
machen...
„Liebling, ich habe die Katzen getötet“ ist eine Persiflage auf die westliche,
großstädtische Lebensweise und alle dazugehörigen, zeitgenössischen Modeerscheinungen: den wohlfeilen, vom Osten abgekupferten geistigen Tiefgang, den Zwang zum Gutaussehen, zur gesunden Ernährung, vor allem aber
dazu, ostentativ glücklich zu sein. Masłowska bringt uns wie üblich nur deshalb zum Lachen, damit uns dieses nach einer Weile im Hals stecken bleibt
und wir unserer eigenen Dummheit, Flachheit und Unvernunft ins Auge
schauen. Und schließlich die Einsamkeit – eines der Hauptthemen in diesem reifsten Buch der „Reiherkönigin“-Autorin ist der unaufhörliche, verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuch, den anderen Menschen zu
erreichen. All das beschrieben in einer explosiven Sprachmixtur, die amerikanische Fernsehserien, den Straßenslang der Großstadt, Google Translator und poetische, nur dieser Autorin zugängliche Register miteinander
vereint. Ein tolles Buch.
Patrycja Pustkowiak
Ja,
hier trifft man Jedermann: Bettler wie Fürsten. Den nackten König auch, sobald nur einer dieser bekloppten Modeschöpfer verkünden würde, dass in dieser Saison aus Luft genähte Klamotten
der Renner sind...
Luftig, durchscheinend, ultrasexy, und am allerwichtigsten: man braucht
sie nicht zu waschen... Nachteile: die Mängel der Figur kann man schlecht
darunter verbergen. Ja, und andere Leute atmen deine Kleidung. An einer
Ecke drängt dir jemand Hip-Hop auf, frisch aufgenommen bei MacDonalds
auf dem Klo, oder eine Tasche Original chenel, obgleich die Tüte, in der sie
verpackt ist, eher die vier Dollar wert zu sein scheint. An der anderen Ecke will
dich ein beinloser Säufer dazu überreden, dein Leben Jesus zu schenken und
dein Geld ihm, Prophet sein kostet schließlich auch... Und gleich an der dritten im Boutique-Hotel auf dem goldenen Sofa, unter Bildern von Kjowebiyr
Anogiw, der jetzt schwindelerregende Preise erzielt, sitzen wie die Unschuld
vom Lande die Töchter von Senatoren und diversen Prominenten, saufen sich
die Hucke voll und blättern dabei in „Die widerlich reiche Muschi heute“...
„Womit wirft man am besten nach dem Plasma-Bildschirm? Wir testen
Champagner-Gläser.“
„Nach der Ausschabung in fünf Minuten wieder topfit? Kein Problem. Express-Schminke für den Notfall.“
„Sexy auf Entzug. Zehn Tricks, um nach einer Million Dollar auszusehen,
wenn du dich in Wirklichkeit wie fünfzehn alte Deutschmark fühlst.“
„Papa, ich habe deinen Hubschrauber zu Schrott geflogen! Wie münze ich
einen amüsanten Fehltritt in Erfolg um.“
„Was tun gegen den Schnauzengeruch des Pekinesen.“
„Weißt du, dass Hunde Säugetiere sind?! Neues aus der Wissenschaft.“
Diese jungen Dinger sind vielleicht nicht gut in der Schule, aber eins muss
man ihnen lassen, in der Mode kennen sie sich bestens aus. Die neueste Kollektion von Zach de Boom, die sie anhaben, bekam den Namen „Holy“, und
ratet mal, warum. Es ist das „Pilgerermädchen“, das in der letzten Saison die
Phantasie der Modeschöpfer befruchtet hat. Louboutine hat eine Pumps-Serie
herausgebracht, inspiriert von Orthopädie-Sandalen gegen Hühneraugen, und
Vivienne Westwood bietet dazu weiße dicke Herrenstrümpfe mit dem Bild
gekreuzter Tennisschläger in Knöchelhöhe, oder ganz einfach nackte Füße,
aussätzig, mit einem karierten Taschentuch verbunden. Die Haare haben in
dieser Saison unfrisch zu sein, „unattraktiv“, und ganz wichtig: „fettendes“
Make-up, trockene Lippen, am besten aufgeplatzt beim Küssen des Kruzifixes, leichte Selbstverstümmlungen. Von weitem könnte man denken, das seien
irgendwelche durchgeknallten Dämchen, die auf den Knien von Lourdes hierher gerutscht sind, um das Wort Christi zu verkünden, aber schaut man genauer hin, sieht man zwischen den Polyesterlippen perlweiße Zähne blinken,
die teurer sind als deine Seele, als dein ganzes beschissenes Dasein.
Schon will dir scheinen, ihre einzige Beschäftigung sei das Schreien: O mein
Gott! O mein Gott! und der prüfend schweifende Blick, ob der große Eindruck, den sie machen, sich gleichmäßig über dieses Tal der Tränen verteilt.
Doch versuch nur einmal, dich wie ein Sack unnützen Mülls an sie heranzuwanzen, Erbarmen kannst du von ihnen nicht erwarten, sie nehmen dich in
die Mangel. Wenn du kein Brot hast, sagen sie erst, dann iss Kuchen; und
wenn du keinen Kuchen hast, dann iss Sahnetorte mit organischen Himbeeren. „Ich habe keine solche Torte“, flüsterst du und schluckst schmerzhaft.
„Dann lass dir eine mit dem Flugzeug aus der Schweiz schicken.“ Da gibt es
nichts, sie hassen einstudierte Hilflosigkeit, auch für sie war das Leben kein
Zuckerlecken. Auch sie waren einmal obdachlos und haben nicht lange gejammert, sondern sich einen Palast in Florenz gekauft. Auch sie hatten einmal
keinen Porsche, da haben sie sich einen Ferrari gekauft. Also wenn du schon
so ein verrenktes Stück Ich-Scheiße bist, dann hab wenigstens Mitleid und
verpiss dich von hier, sonst rufen sie die Wachleute. Sie kennen keinen Gnade,
kein Schönheitschirurg, der etwas auf sich hält in dieser Stadt, trägt diesen
Namen!
So ist das in der Bohemian Street, da braucht man nicht lange drum herumzureden; demokratisch ist hier allein das Donnerleuchten der Stadt aus
der Ferne und dieser Gestank, den man letzten Endes auch lieb gewinnen
kann: eine Mischung aus Müll, frisch gebackenen Muffins, teuersten Parfüms,
Menschen-Aa und Blechzeug aus den Eingeweiden der Metro. Das obsessive
Leben dieses Distrikts endet nie, und des Nachts wird es erleuchtet vom petrochemischen Schimmer der nahegelegenen Maklergebäude.
Genau hier arbeitete Joanne Jordan, zwischen der Chase und dem Laden
mit Ajurveda-Kosmetika.
7
Viele assoziieren den Salon mit seinem auffällig an den Haaren herbeigezogenen Namen: „Hairdonism“. Was soll’s... Ausgedacht hat ihn sich der Besitzer, ein Kunstliebhaber mit dem Vornamen Jed, der sich bei Künstlern gern
lieb Kind macht, aber im Grunde verzehrt wird von einem nie erlöschenden
Groll auf das Karma, weil er selbst nicht als einer von ihnen geboren wurde.
Und aus noch ein paar anderen Gründen. Wie so viele versucht er, diese Unzufriedenheit mit Hilfe von Äthylalkohol abzutöten; darin ist er konsequent, geduldig und imprägniert gegen die unausbleiblichen Niederlagen. Denn dieser
Groll scheint nie zur vergehen, sondern im Gegenteil, wie das so ist, literweise
begossen mit Wein, unverdünntem Whisky und „Stolitschnaja“, aufzuquellen
und, Knospen gleich, immer neue Handlungsstränge zu treiben, sich neue
Objekte zu suchen und weitere Schichten seiner ziemlich einsamen Lebensweise zu durchdringen.
Jed ist ein großer, dicker Kerl mit recht sympathischem Gesicht, das dazu
neigt, in sämtlichen Rottönen zu schillern, was ziemlich genaue Schlüsse auf
den Grad seines Wirklichkeitsverlustes zulässt: von leichtem Wangenrouge bis
hin zum melancholisch blinkenden Scharlachrot des nicht durchgebratenen
Beefsteaks. In ganz passablen Jacketts und italienischen Schuhen versucht er,
seinem Betrieb künstlerischen Schick zu verleihen, indem er jede Spalte mit
Büchern voll stopft, wie es gerade kommt und stapelweise für einen Dollar
zu kaufen war (Moby Dick, Mit der Osteoporose auf du und du, Leben und Tod
Stalins, Decoupage an einem Wochenende, Sein wie Elton John). Er behauptet,
einmal vergleichende Literaturwissenschaft studiert zu haben, dann aber drogenabhängig geworden zu sein, zum Glück hat er da heil wieder heraus gefunden, was nicht gerade oft vorkommt... Wenn er das wieder einmal erzählte,
sturzbetrunken, Hand aufs Herz, dann musste man ihm einfach abnehmen,
dass aus ihm ein ganz guter Essayist geworden wäre. Wenn sie gerade keinen Kunden hat, wirft Joanne manchmal einen Blick in diese bizarre Büchersammlung, liest aufs Geratewohl herausgepickte Sätze vor und wahrsagt
sich selbst daraus oder setzt sie auf ziemlich sinnlose Weise mit ihrer eigenen
Meinung zum betreffenden Thema in Bezug, zum Beispiel:
„Er ließ sich nicht ablenken: Hör mal, der alte Köter quält sich nur!“ las sie
und fügte von sich aus hinzu:
„Der arme Hund. Ich hasse es, Tiere leiden zu sehen“, bevor sie den Steinbeck ins Regal zurück stellte. Oder so wie jetzt:
„Zum Glück habe ich Reste von Karriere und phantastische Kinder.“ He,
soll ich das als Prophezeiung nehmen? Meine Periode ist längst überfällig!
„Schon wieder? seufzte Mallery, die gerade ins Magazin ging, um Bleichmittel zu holen.“
„Schon wieder“, sagt Joanne, streckt ihr die Zunge heraus und greift sich ein
anderes Buch: „Soweit mir bekannt ist, enden Gebiete nicht plötzlich, sondern
gehen unmerklich in die benachbarten über.“
Das war dann doch zuviel für sie.
„Was für ein Unsinn“, sagte sie und drehte das Radio lauter (Beyoncé lief,
die fand sie toll). „Ist dieser Beckett nicht ein Tennisspieler? Eins ist sicher: der
Typ ist ganz schön durchgeknallt.“
Und genau als sie das sagte, kam ein Mädchen in den Salon.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
© Dorota Masłowska 2012 in Absprache mit Author’s Syndicate Literary Agency
Für die polnische Ausgabe © 2012, Editions Noir sur Blanc, Warszawa
NOIR SUR BLANC, WARSZAWA 2012
145 × 235, 160 PAGES
ISBN: 978-83-7392-393-5
TRANSLATION RIGHTS: AUTHORS’ SYNDICATE LITERARY AGENCY
RIGHTS SOLD TO: FRANCE / NOIR SUR BLANC
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8
JOANNA BATOR
JOANNA BATOR (GEB. 1968) IST PROSAISTIN,
PUBLIZISTIN UND EHEMALIGE LEHRBEAUFTRAGTE
AN DER UNIVERSITÄT WARSCHAU. SIE BEFASST
SICH U.A. MIT FEMINISMUS, POSTMODERNE
UND PSYCHOANALYSE. BISHER SIND DIE
BEIDEN ROMANE SANDBERG UND WOLKENFERN
ERSCHIENEN, DEREN HANDLUNG IN BATORS
HEIMATSTADT WAŁBRZYCH SPIELT, SOWIE
DER JAPANISCHE FÄCHER, EIN EXZELLENTES
BUCH, DAS JEDER JAPANLIEBHABER GELESEN
HABEN SOLLTE.
Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Dunkel, beinah Nacht
Mit ihrem neuen Buch beweist Joanna Bator wieder einmal, dass sie eine der
interessantesten polnischen Schriftstellerinnen der mittleren Generation
ist. Dunkel, beinah Nacht entführt den Leser – ähnlich wie die hervorragend
aufgenommenen Vorgängerromane Sandberg und Wolkenfern – auf eine Reise nach Wałbrzych in Schlesien. Diesmal ist es allerdings eine etwas düsterere Erkundungsfahrt. Zusammen mit der Protagonistin des Buches, der
Zeitungsreporterin Alicja Tabor, erfährt der Leser die schmerzliche, bis in
den Zweiten Weltkrieg zurückreichende Geschichte ihrer Familie und nahestehender Personen.
Alicja fährt von Warschau in ihre Heimatstadt Wałbrzych, um einen Artikel
über das geheimnisvolle Verschwinden dreier Kinder – Andżelika, Patryk
und Kalinka – zu schreiben. Doch der Fall verbindet sich mit anderen, bislang unaufgeklärten Ereignissen: In der Stadt ist es zu einer Reihe von Fällen grausamer Tierquälerei gekommen, und selbsternannte Propheten sind
am Werk. Alicja quartiert sich in dem alten, von den Deutschen erbauten
Wohnhaus ihrer Kindheit ein und tritt mit den sich äußerst seltsam benehmenden Einwohnern der Stadt in Kontakt, um Material für die Reportage zu
sammeln. Den verworrenen Geschichten entnimmt sie nach und nach die
Wahrheit über sich selbst und ihre tragische Kindheit, auf die der Wahnsinn
der Mutter und der Tod der Schwester, die von der Legende um Schloss Fürstenstein und seine schöne, von einem Bann belegte Bewohnerin Prinzessin
Daisy fasziniert war, ihren Schatten warfen...
Ähnlich wie in ihren bisherigen Büchern nutzt Bator auch hier die verschiedensten literarischen Gattungen, um daraus eine einzigartige Geschichte zu
zurück zum Inhaltsverzeichnis
weben. Beherzt bedient sie sich der Konvention der Gothic Novel, aber auch
des psychologischen und des Kriminalromans. Das Ergebnis dient jedoch
nicht, wie man glauben könnte, der scherzhaften Parodierung literarischer
Gattungen. Interessant ist nämlich, dass sich – auch wenn der Roman an die
heute sehr zur humoristischen Lesart verleitende Schauerliteratur anknüpft
– aus Dunkel, beinah Nacht eine ernsthafte Reflexion der Welt herauskristallisiert, einer Welt, durchdrungen vom Bösen (das hier den Phantasienamen
der „Katzenfresser“ trägt), von historischem Leid, vom Wahnsinn und von
der Tragödie derer, die diese Last ihrer Empfindsamkeit wegen nicht zu tragen imstande sind.
Die Vergangenheit erweist sich als schwere, wenn nicht gar untragbare
Bürde; die Geschichte wiederholt sich gern, schlafende Dämonen können
jederzeit geweckt werden. Und irgendwo außerhalb dieser allgemeinen
Reflexionen spielt sich schließlich auch noch die einsame Geschichte der
Hauptfigur ab, die an der Unfähigkeit leidet, tiefere, zufriedenstellende Beziehungen mit anderen Menschen einzugehen. Bator beschreibt dies alles
in einer Sprache, in der die stilistische Einfachheit dicht neben der Poesie
liegt, die Legende sich mit der rauen Gegenwart verflicht. Ein interessantes,
originelles Buch.
Patrycja Pustkowiak
Als
ich die Tür hinter ihm zuknallte, fiel das Hufeisen herunter,
das an ihrer Innenseite aufgehängt worden war, um Glück zu
bringen – wobei das Glück diesen Wink jedoch übersehen haben
musste. Und das Hufeisen war nicht die letzte Sache, die an diesem Tag abfiel,
auseinanderfiel oder sich als hoffnungslos kaputt erwies. Das Haus starb vor
meinen Augen, als wollte es sich dafür rächen, dass ich es so lange alleingelassen hatte. Im Tageslicht wurden Flecken abblätternder Farbe an der Decke
und von Feuchtigkeit ausgebeulte Blasen unter den Tapeten sichtbar, verzogene
Böden und Sofas, die von Motten so zerfressen waren, dass man an einigen
Stellen nur noch den weißen Kettfaden sah. Das Abziehbild mit den Veilchen
an der Badezimmertür hatte die Farbe verloren und die einst helllila Blüten
und grünen Blätter sahen nun wie die Flügel toter Insekten aus. Ich stand in
der rostgesprenkelten Wanne und wartete darauf, dass die betagte Gastherme
ansprang und ich duschen konnte, doch als das warme Wasser endlich zu fließen begann, gab der Duschschlauch auf und platzte entzwei. „Wir machen Keramik- und Terrakottafliesen“, hatte mein Vater versprochen, „oder vielleicht
statt einfacher Terrakotta lieber einen Zedernholzboden? Dazu ein Whirlpool,
ihr könnt im Whirlpool herumplantschen wie die kleinen Seehunde im Zoo
von Wrocław, was haltet ihr davon? Oder wir lassen uns aus Frankreich eine
Messingwanne auf Löwenfüßen kommen?“, hatte er weiter überlegt und in
großer Geste mit dem imaginären Geld um sich geworfen. Laufende Reparaturen schienen ihm bei solch hochfliegenden Plänen nicht der Rede wert gewesen
zu sein. Ich ließ Wasser in diese schreckliche Wanne einlaufen und tauchte
ganz unter, auch mit dem Kopf, wie als Kind, wenn meine Schwester daneben
gesessen und aufgepasst hatte, dass ich nicht ertrank. Damals hatten mich die
Geräusche unter Wasser fasziniert: das Klopfen, das Knirschen von Metall auf
Stein, Rufe in verschiedenen Sprachen, hohle Klänge, Ächzer. Das war die
Welt, in die unser Vater hinabstieg und für die er schlussendlich mit dem Leben
bezahlt hatte. Es war vorgekommen, dass er an einem beliebigen Ort mit dem
Finger nach unten zeigte, vor unsere Füße, und im Brustton der Überzeugung
sagte: Irgendwo hier ist er. Irgendwo. Hier. Ist Hitlers Schatz. Wenn ich ihn
finde, und ich habe jetzt eine Karte von wunderbarem Wert und zuverlässiger
Zielsicherheit, ändert sich unser Leben bis zur Unkenntlichkeit. Er würde uns
so glücklich machen, dass wir einander von Neuem kennenlernen müssten.
Irgendwo unter dieser alten Wanne, in der die Geräusche der unterirdischen
Stadt widerhallten, war der Schatz, den unser Vater gesucht hatte, wenn er sich
in seinen ausgetretenen tschechoslowakischen Schuhen auf den Weg machte,
eine Bergarbeiterleuchte vor der Stirn. Ich hatte versucht zu verstehen, warum
er lieber dort war als hier, bei Ewa und mir. „Bitte sehr, meine Damen und
Herren“, hatte meine Schwester gewitzelt, wenn ich tauchte, „hier sehen Sie
Alicja Tabor, die Wasserkameldame, Forscherin der Meere und Ozeane, in
die sie sich begibt, wenn sie von der Wüste genug hat! Die einzige Kameldame
mit Flossen und Kiemen. Eine seltene Gattung. Unter strengem Artenschutz.
Heute erzähle ich Ihnen, was sie im Unterwasserreich unserer Badewanne alles
gesehen und gehört hat.“ Der Spaß hatte darin bestanden, dass ich wahrheitsgemäß erzählte, was ich gehört hatte – ein Klopfen, wie jemand auf Deutsch
oder einer ähnlichen Sprache zählte, in der es ein statt eins hieß, wie ein Glas
auf Steinboden fiel –, und Ewa dann den Rest dazudichtete. Sie hatte sich
Geschichten ausgedacht, das konnte sie am besten. Und ich konnte zuhören.
Vielleicht irrte ich mich ja, wenn ich glaubte, schon so stark zu sein, dass
dieses Haus voller Tod und Geister mir nichts anhaben könnte. Ich wusste,
dass ich der Angst nicht nachgeben durfte, und war deshalb hier abgestiegen
und nicht in dem von der Redaktion reservierten Hotel, in der niemand eine
Ahnung hatte, dass mir ein altes Haus in Wałbrzych gehörte. Ich redete nicht
gern über die Vergangenheit und knüpfte selten so enge Kontakte mit anderen
Menschen, dass Vertraulichkeiten von mir erwartet wurden. „Ich habe keine
Familie“, sagte ich, wenn die Frage nach meinen Eltern und Geschwistern
kam, die Frage, die meine Bekannten so liebten, denn sie konnten sich Ewigkeiten über das ihnen widerfahrene Unrecht auslassen, die Traumata und die
Arten, mit ihnen fertigzuwerden, oder eher: nicht fertigzuwerden, indem man
sich jahrelangen Therapien unterzog. Ich dagegen hatte mein ganzes erwachsenes Leben hindurch meine Kräfte gesammelt, wie man Vorräte für einen
langen Winter zusammenträgt, und ich hatte das Gefühl gehabt, ganz gut
auf diese Reise vorbereitet zu sein. Als in Wałbrzych Kinder zu verschwinden
begannen, wusste ich, dass der Moment gekommen war und dass ich, die von
den Kollegen aus der Redaktion „Alicja Panzernashorn“ genannt wurde, über
sie schreiben musste. Nun war ich hier und das Haus, dessen Schlüssel ich
immer bei mir trug, bleckte sein schadhaftes nachdeutsches Gebiss.
9
Nach Bad und unterirdischem Konzert beschloss ich, durch alle Räume zu
gehen und nachzusehen, wozu diese Bruchbude imstande war und wozu ich,
Alicja Panzernashorn, imstande war. Im ersten Stock waren zwei Schlafzimmer, eins davon hatte früher Ewa und mir gehört, und hier, auf dem alten
Doppelbett mit dem Eichenrahmen und der durchgelegenen Matratze, wollte
ich auch jetzt schlafen. Der Tisch, an dem wir früher unsere Hausaufgaben
gemacht hatten, zwei Stühle, ein leerer Schrank, ein Flickenteppich, weiter
nichts. Das zweite Schlafzimmer war seit Jahren leer, dort stand nur ein matratzenloses Metallbett, traurig wie ein verlassenes Schiffswrack auf einer
Sandbank. Früher einmal, in Zeiten, an die ich mich nicht erinnerte, war es
das Ehebett meiner Eltern gewesen, aber später zog mein Vater nach unten
um, und von da an war das Arbeitszimmer für ihn Schlafzimmer, Esszimmer
und Zufluchtsort in einem. Dorthin ging ich als nächstes, über die Treppe,
die so knarrte, dass ich fürchtete, sie könnte unter meinem geringen Gewicht
zusammenbrechen. Die Banalität des Verfalls ärgerte mich, vielleicht weil ich
im tiefsten Innern erwartet hatte, dieses Haus würde auf irgendeine spektakulärere und weniger absehbare Weise sterben. Als ich die Tür zu Vaters Zimmer
öffnete, schlug die verdichtete Zeit mir wie eine Woge entgegen. Vor dem
Fenster wuchs das Schloss Fürstenstein aus einem Buchenwald empor, und
wenn unser Vater am Schreibtisch arbeitete, der immer von Stapeln verstaubter Papiere und Bücher überhäuft war, hatte er, sobald er den Blick von seinen
historischen Abhandlungen, Karten und Plänen hob, dieses Gebäude gesehen.
Nun blickte ich, seine jüngere Tochter, auf Schloss Fürstenstein und die Nebelschwaden am Fuße seiner Mauern, und es gehörte zu den wenigen Dingen,
die mir immer noch so groß und schön erschienen wie in meiner Kindheit.
Ich zog die alte Wanduhr auf, und als ihr Pendel zu schwingen begann, spürte
ich, wie die hier gefangene Zeit in Bewegung geriet. Etwas machte Klick,
als hätten die Zeit dieses Hauses und meine Zeit sich erst jetzt miteinander
verflochten. Das mit gelblichem Leder bezogene Sofa, auf dem ich als Kind
in den seltenen Momenten gesessen hatte, in denen unser Vater nicht mit der
Schatzsuche beschäftigt war und sich gewachsen fühlte, dem Vatersein die
Stirn zu bieten, gab unter meinem Gewicht einen seufzerähnlichen Ton von
sich. Eine Zeitlang saß ich regungslos da und bemühte mich sogar, nicht zu atmen, aber ich spürte nichts als Trauer. Das Leder des Sofas war rau und rissig
wie die Ferse eines alten Menschen, ich streichelte es zur Begrüßung. Ich warf
einen Blick in die Küche, die in einem grauen Lichtschein schwamm, als wäre
sie voller Wasser, und Wasser war es tatsächlich, das ununterbrochen in die
Spüle tropfte, von einem kleinen Stalaktiten herab, der sich im Lauf der Jahre
gebildet hatte. Von der Tür, die in den Garten führte, zog es kalt herüber,
Nebel drängte gegen die Fensterscheiben. Der Tisch und die vier Stühle sahen
aus wie die Skelette längst ausgestorbener Tiere, die niemand je zu benennen
oder ins Herz zu schließen vermocht hatte.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
W.A.B., WARSZAWA 2012
123 × 195, 528 PAGES
ISBN: 978-83-7747-628-4
TRANSLATION RIGHTS: W.A.B.
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10
TOMASZ RÓŻYCKI
TOMASZ RÓŻYCKI (GEB. 1970), LYRIKER, ESSAYIST,
ÜBERSETZER AUS DEM FRANZÖSISCHEN, VERFASSER
VON SIEBEN GEDICHTBÄNDEN, DARUNTER DAS
WEITHIN BESPROCHENE POEM ZWÖLF STATIONEN
(2004). GEBOREN UND UNUNTERBROCHEN
WOHNHAFT IN OPPELN.
Photo: Krzysztof Dubiel
Bestiarium
Bestiarium ist das späte Romandebüt dieses anerkannten Lyrikers, eines
der interessantesten Autoren der mittleren Generation. Ein ungewöhnlich
origineller Prosatext – eine sehr dichte, metapherngesättigte literarische
Vision, die sich schwer in diskursive Sprache „übersetzen“ lässt. In einer
Julinacht erwacht der namenlose Held in einer fremden Wohnung. Er verhehlt nicht, dass er dem Alkohol übermäßig zugesprochen hat. Desorientiert und gleichsam bewusstlos will er nach Hause zurückkehren, wo Frau
und Kinder auf ihn warten, doch dieses banale Vorhaben gerät ihm zu einer geheimnisvollen, phantasmagorischen Reise – gar nicht einmal so sehr
durch die Stadt, in der sich die Züge von Oppeln erkennen lassen, sondern
durch die mäandernde Düsternis der Erinnerung. Es ist weniger die individuelle Erinnerung des Helden, als vielmehr eine Familienerinnerung von unbestimmtem zeitlichen Zuschnitt, und auch die Erinnerung des Ortes, einer
Stadt also, die selbst aus vielen historischen Schichten (den Ebenen von
Geschichte und Kultur) besteht und an ein Palimpsest erinnert.
Von einer Handlung kann man schwerlich sprechen. Wollte man sie aber in
ganz allgemeinen Zügen rekonstruieren, sähe sie folgendermaßen aus: zuerst kommt der Held – über der Stadt schwebend – in eine Wohnung, in der
er seine Urgroßmutter Apolonia findet; diese händigt ihm einen Schlüssel
aus, den er ihren Schwestern zukommen lassen soll (sowohl diesem Schlüssel wie praktisch allen Motiven im Bestiarium verleiht der Autor metazurück zum Inhaltsverzeichnis
phorische Bedeutung). Dann taucht Onkel Jan auf, mit dem der Held eine
seltsame Reise durch die unterirdische Stadt unternimmt. Der Onkel sagt
eine Sintflut voraus, die gleich darauf zu einem Motiv wird, das die phantastischen Ereignisse miteinander verknüpft. Den Sinn der großen Sintflut
wiederum versucht ein anderer Verwandter zu deuten – der Bruder des Vaters. Es geht um eine tiefe Reinigung – vielleicht der Geschichte, vielleicht
der Gegenwart. Klar wird das nicht. Auch andere Ereignisse des Romans (die
endlosen Wanderungen durch das Labyrinth der Keller, die unterirdischen
Kanäle, Begegnungen mit Verwandten oder ihren Geistern) entziehen sich
einer stabilen Deutung. Wie dem auch sei, die Sintflut kommt, und die vom
Onkel gebaute Arche, die die Familie retten sollte, geht unter, auch wenn
das Finale selbst keineswegs grauenerweckend ist. Dem Helden gelingt es
am Ende, seinem Traum, oder waren es nur Übungen der Einbildungskraft,
zu entsteigen. Nichts ist endgültig entschieden. Sicher ist dagegen, dass
Różycki seinen früheren Themen und Obsessionen treu bleibt und uns Angelegenheiten serviert, die wir – zu einem gewissen Grad – aus seinen vorzüglichen Gedichten kennen, was keineswegs heißt, dass Bestiarium hinter die
lyrische Erfahrung des Autors zurückfiele, es ergänzt sie vielmehr auf ganz
erlesene Weise.
Dariusz Nowacki
Mein
Onkel, den funkelnden und wenig gegenwärtigen Blick
nach vorn gerichtet, nahm mitten im Zimmer Aufstellung,
hob den Finger und gebot mir ihm zu folgen. Er schaltete
das Licht im Nachbarzimmerchen an, und meinen Augen bot sich ein ungewöhnliches Bild: In der Ecke am Fenster stand ein zerwühltes Bett, die
Wäsche zerzaust, zerknüllt und wieder aufgebauscht zu skurriler Blüte. Der
Rest des Zimmers war bis zur Decke mit Regalen vollgestellt, in denen Stapel
von dunklen und durchsichtigen Flaschen lagerten, dicht aneinander wie edle
Weine, die in irgendeinem Kellerchen besserer Zeiten harren. Erstaunlich war
die Anzahl der Flaschen, von denen viele bemoost und verstaubt, andere glänzend und sauber waren. Die Regale, hergestellt von einem Fachmann für die
Weinlagerung, belegten drei Wände und reichten so hoch, dass die zuoberst
liegenden Flaschen, gar nicht mehr sichtbar, irgendwo verschwanden. Eine an
die Regale gelehnte Leiter erleichterte dem Hausherrn den Zugang zu diesen
entferntesten Regionen der Trunkenheit. Doch als ich genauer hinsah, stellte
ich fest, dass die Flaschen, auch wenn jede von ihnen ihre eigene Form und
Farbe besaß – und darunter waren Wodka-, Milch- und Limonadeflaschen,
Bierflaschen, Öl- und Essigflaschen, Wein- und Cognacflaschen, Whisky-,
Grappa-, Likör-, Champagner- und Bourbon-Flaschen, Porto- und MalagaFlaschen, Portwein- und Eiercognac-Flaschen, Becherovka-, Żubrówka- und
Ebereschenbranntwein-Flaschen, Krupnikflaschen, Mineralwasser-, Pfirsichwasser-, Met-, Calvados- und Raki-Flaschen, Flaschen von Selbstgebranntem,
von Pfeffer- und Zuckerbranntwein, Bimber und Magenbitter, Saft-, Cider-,
Brot-, Kwaß- und Sahneflaschen, Slivovitz- und Rumflaschen, Palinka- und
Spiritusflaschen, Limoncello- und Amaretto-, Armaniak- und Bergerac-Flaschen, Wermut- und Absinth-Flaschen und Coca-Cola-Flaschen, Sake- und
Reisweinflaschen, Arak-, Puntsch-, Grog- und Goldwasserflaschen, Ginflaschen, Kümmellikör-, Anis-, Himbeer- und Kirschwasserflaschen, Pastis- und
Ouzoflaschen, Kornelkirschenlikör-, Brandy- und Malibuflaschen, Mondwasser-, Nusslikör-, Ratafia- und Tequila-Flaschen, Weinbrand-, Fusel- und
Schnapsflaschen, Cherry-, Sangria-, Ciociosan- und Martiniflaschen, Campari-, Kumiss-, Dünnbier-, Porter- und Ale-Flaschen, Muskat-, Riesling-,
Bordeaux-, Burgunder- und Tokajer-Flaschen, Flaschen von Rhein, Mosel,
Cabernet, Sauternes, Retsina, Madera, Lager, Budweiser, Okowice, Gorzałka,
Dom Perignon, Köllnisch Wasser, Birkenwasser, Gurkenwasser, Sirup, Rizinusöl, Formalin, Jodin und Atropin, Borsäure, Ameisenwasser, Glyzerin und
Äthanol, Herbavit, Kefir, geweihtem Wasser aus Lourdes, Öl, Klemastin und
Aldehyd – dass all diese Flaschen leider leer waren. Alle waren leer, doch steckte in jeder ein Korken oder sie war zugedreht, mit einem Lappen, zugestopft
mit einem Papier oder mit rotem Lack versiegelt, abgesehen von denen auf den
untersten Regalen – die ruhten geöffnet an ihrem Ort.
11
die von Zeit zu Zeit irgendwo im Geäst zwitscherten und pfiffen, langsame
Schritte auf einem Kiesweg. Dann gleich noch etwas, etwas dazwischen, herauszuhören unter diesen Stimmen, ein dumpfes, unterdrücktes Schluchzen.
Weiter hatte ich den Eindruck, Geräusche eines Bahnhofs zu hören, die Menschenmenge, Männer- und Frauenrufe, Kinderweinen, Gelächter, die Pfiffe
der Lokomotiven, das Keuchen der Dampfloks, das Klopfen der Wagenräder,
man hörte Tiere, Hühnergegacker und Pferdewiehern, das Stimmengewirr einer Unterhaltung und das Geschrei von Streitenden, Flüche und das Geräusch
vieler Schritte. Schließlich mächtiges Knallen, Rufe der Verabschiedung und
Stille, und in ihr das anfangs gemächliche, dann immer schnellere Dröhnen
der Zugräder.
Die nächste Flasche enthielt den Klang einer Straßenbahnbimmel und eines
von jemandem gesummten Liedes, dann Stimmen vom Markt, Zurufe und
fröhliches Necken. Eine andere barg ein Gebet, wieder eine andere Kinderquietschen, Geräusche aus einer Wäscherei, einer Druckerei, einem Geschäft,
einer Kirche, einer Schusterwerkstatt, die Stimme von jemandem, der seine
eigene Kindheit in einer offenbar fremden und doch sehr gut verständlichen
Sprache erzählte, irgendwelche Abenteuer, Schule, Ferien, Arbeit, Krieg, lächerliche und furchtbare Ereignisse, eine Stimme, die von den Kindern erzählte, von ihren Eltern, Freunden, Onkeln und Tanten, von Feiertagen und
Sitten, eine Stimme, die von Zeit zu Zeit ein Lied sang, aber niemals das ganze, nur das ihr in Erinnerung gebliebene Fragment, oder ein Stück von einem
Gedicht aus der Schule rezitierte, die Stimmen vermischten und überlagerten
sich, nach kurzer Zeit schon schrie die Luft ringsum mit Tausenden von Stimmen und Lauten, doch all das in einem einzigen Seufzer, in etwas, das gleich
darauf zuging, wie der schwere Deckel einer Kiste.
„Hörst du?“ rief der Onkel, „ich habe sie hier alle, ein ganzes Archiv, in
Flaschen abgefüllt, verstehst du? Ein ganzes Leben habe ich daran gesammelt,
ein ganzes Leben. Zwanzig Jahre mit Flaschen herumgezogen. Ha!“ Und sein
Blick war fürchterlich.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Der Onkel holte eine verstaubte grüne Weinflasche hervor, die mit einem zusammengerollten bunten Lappen verstopft war, und hielt sie gegen das Licht.
Ich sah, wie ein Glühbirnenfunke durch das matt gewordene, märchenhafte
Glas im Farbton von Seegras fuhr. Darinnen war nichts. Jetzt gebot er mir mit
einer Fingerbewegung Schweigen, entkorkte die Flasche langsam und hielt
mir ihren schlanken Hals ans Ohr. Ich hörte zuerst ein Rauschen, so etwas wie
ein schwaches, doch aufbrandendes Seufzen, das ferne, gedämpfte Summen
eines Bienenschwarms. Das Rauschen wurde lauter, und bald darauf konnte
ich ihm schon einzelne Laute entnehmen, Geräusche, ein Rascheln und Reiben. Aus diesem Abgrund, wie aus einem Meer, waren bald darauf einzelne
Laute herauszuhören, Stimmen wie aus einer Ferne, Schritte auf Treppen, das
Öffnen einer quietschenden Tür, ein Krachen, Schläge von einem Hammer,
das Geschrei der Kinder, die aufgeregt im Kreise laufen, eine scharfe, ermahnende Frauenstimme. Dann Geschirrklappern, Besteckgeklingel, irgendwelche Geräusche und Laute, eine brummend böse Männerstimme, und dann
wieder der Hammer, der etwas zerschlug. Ich hörte auch so etwas wie das
Knurren eines Motors, das Rauschen von einer nahegelegenen Straße und ein
Radio, das eine fünfzig Jahre alte Melodie spielte. „Pisma twoji polutschaja,
slyschu ja golos rodnoj“ und weiter auf Russisch, das ich wegen des Knackens
und Klopfens nicht verstand. Das alles verschloss sich langsam in Stille, das
Stöhnen ließ nach, der Gesang der Teilchen verstummte.
Mein Onkel öffnete eine zweite, kleine und bauchige Flasche. Feiner, schwer
definierbarer Geruch, süßlich, eine Blume, ein Kraut? Eine Wiese? Eine Blüte,
doch verwelkt. Das Rauschen, das ihr entstieg, verwandelte sich bald in Vogelgesang und so etwas wie das Rauschen des Windes in den Zweigen. Vögel,
ZNAK, KRAKÓW 2012
124 × 190, 198 PAGES
ISBN: 978-83-240-1891-8
TRANSLATION RIGHTS: ZNAK
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12
ZYTA ORYSZYN
ZYTA ORYSZYN (GEB. 1940),
SCHRIFTSTELLERIN UND PUBLIZISTIN,
IN DEN ACHTZIGER JAHREN WAR SIE
AKTIVISTIN DER OPPOSITION UND ALS
REDAKTEURIN VON ZEITSCHRIFTEN TÄTIG,
DIE INOFFIZIELL UND AUSSERHALB DER
ZENSUR ERSCHIENEN. SIE DEBÜTIERTE
1970 MIT DEM ROMAN NAJADE, SPÄTER
PUBLIZIERTE SIE U. A. DIE ERZÄHLBÄNDE
SCHWARZE ERLEUCHTUNG (1981) UND
MADAME FRANKENSTEIN (1984). BIS
ZUM ERSCHEINEN DER RETTUNG VON
ATLANTIS (2012) GALT DER ROMAN
GESCHICHTE EINER KRANKHEIT,
GESCHICHTE EINER TRAUER (1990) ALS
IHR AUFSEHENERREGENDSTES WERK.
Photo: private
Die Rettung von Atlantis
Die Rettung von Atlantis ist kein klassischer Roman, es ist eher eine Sammlung von Erzählungen, die – durch Figuren, Ereignisse und die Erzählsituation – eng miteinander verbunden sind. In gewisser Hinsicht ist dieses Werk
eine Zusammenfassung des bisherigen Schaffens der Autorin, es ergänzt
Handlungsstränge aus ihrer früheren Prosa und führt sie zu Ende. Die Erzählungen in Die Rettung von Atlantis kreisen im Prinzip um ein Thema: die Auswirkung der großen Geschichte im Leben einfacher, durchschnittlicher Menschen. Die Autorin interessiert sich unverändert für die destruktive Kraft
der Geschichte – vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis zu den Jahren des
Kriegsrechts in Polen. Zunächst führt uns Oryszyn in die östlichen Vorkarpaten, wo sich in einem Bunker, bzw. eher einem unterirdischen Versteck, eine
polnische Familie zusammen mit Kriegsflüchtlingen aus dem Zentrum des
Landes verbirgt. Draußen ziehen die Armeen, wüten die Partisanen. Oryszyn konzentriert sich auf die Emotionen der einfachen und unschuldigen
Protagonisten. Hier regiert die Angst, und die Situation wird verglichen mit
einer niemals endenden Jagd. Später befinden wir uns in der Realität der
unmittelbaren Nachkriegsjahre. Die Familie verlässt den Osten, geht nach
Niederschlesien und bezieht eine Wohnung in einem ehemals deutschen
Haus. Die Traumata der jüngsten Geschichte überschneiden sich scheinbar
mit aktuellen Traumata – Polen tritt in die Epoche des Stalinismus ein, das
Misstrauen nimmt zu, es mehren sich die Denunziationen, es verschwinden
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Menschen, die vom Repressionsapparat verhaftet werden. Der Ort selbst
(Leśny Brzeg, kurz zuvor noch das deutsche Waldburg) ist vom Drama der
Vertreibungen gezeichnet, dem Leid der ehemaligen Bewohner, die einst für
Hitler waren und an denen nach 1945 Rache geübt wurde. Von all diesen
Dingen erzählt Oryszyn aus einer naiven und scheinbar verengten Perspektive. Die Protagonisten rechnen nicht mit der Geschichte ab, sie analysieren
die Welt nicht nach moralischen oder soziopolitischen Kriterien – sie sagen,
was ihnen oder jemandem aus ihrem engsten Umfeld widerfahren ist. Das
ist ein Blick von unten, der auf konkreten Erfahrungen beruht, weitab von
jeder Erhabenheit, und deshalb authentisch und berührend ist. Im letzten
Kapitel des Buches findet sich ein Bezug auf den paradoxen Titel – das Leben
wurde gerettet, aber es trägt schwer an der Gewalt, und unter so widrigen
Bedingungen sollte es verschwinden wie Atlantis.
Dariusz Nowacki
Die Gleise
verschwanden im Wald hinter der
Kurve.
Hinter der Kurve begann die Welt.
Durch die Welt fuhr man mit dem Zug bis nach Wrocław. Hinter Wrocław
begann das Universum.
Das Universum war von einem eisernen Vorhang in zwei ungleiche Teile
geteilt.
Die Hauptstadt des Universums von Olek Walewski war Moskau. Was die
Hauptstadt des zweiten Universums war, war nicht so ganz klar. Die Amerikaner meinten, es sei Washington, aber die standen ja auf dem Kopf. Die
Franzosen erklärten, es sei Paris, aber die aßen jeden Tag Frösche und Schnecken. Die Engländer beharrten darauf, es sei London. Was für ein lustiger
Einfall. Olek Walewski konnte ihre Inselchen unter einem kleinen Tintenfass
verschwinden lassen.
Die Welt wurde von Buchen, Hainbuchen und Eichen, auch von Fichten
und Tannen verdeckt. Einmal kletterte Olek Walewski auf die höchste Eiche.
Das Wetter war kristallklar, wie die Oma bemerkte. Die Kokereien qualmten
nicht, weil es einen Unfall gegeben hatte. Olek dachte sich, dass er unter so
glücklichen Umständen nicht nur die Hügel Gedymina und Sobótka würde
sehen können, sondern auch die Schneekoppe, auf der die Grenze verlief. Und
wenn er schon die Schneekoppe sehen würde, dann auch den eisernen Vorhang, denn schließlich musste dieser Vorhang bis zum Himmel hinaufreichen.
Es war überhaupt nicht klar, ob der eiserne Vorhang bis zum Himmel hinaufreichte, oder nur bis zu den erstbesten Wolken. Mietek Szczęsny meinte,
dass er nur bis zu den ersten Wolken gehe. Denn wenn er bis zum Himmel
hinaufreichen würde, dann müsste es in ihm irgendwelche Schleusen oder so
geben, damit die Flugzeuge hindurchfliegen konnten.
Es war auch nicht klar, wie weit dieser Vorhang nach unten ging. Ob er nur
die Erde berührte. Oder ob er sich auch tief in sie eingegraben hatte. Denn
wenn er sich eingegraben hatte, dann brauchte man unbedingt eine Pionierschaufel, um einen Gang darunter hindurchzugraben.
Die Oma von Olek Walewski war der Meinung, dass der Vorhang nicht
besonders hoch sei und dass man ihn wie einen Eisberg bezwingen könne, und
sie überredete die anderen, sich mit Seilen und Haken einzudecken.
Ihre Flitterwochen hatte sie vor dem Ersten Weltkrieg in Chamonix verbracht, und dort hatte sie gesehen, wie angeseilte Alpinisten den Gletscher
Bosson bezwangen. Sie hatten Spezialschuhe. Solche mit hervorstehenden
Nägeln. Die Oma bestand darauf, dass sich alle vor der Expedition hinter
den Vorhang die Schuhe mit Nägeln beschlügen. Und dass diese Nägel extra
hervorstünden.
Mietek Szczęsny und Franka Salatycka stimmten für die Pionierschaufel.
Gegen die Seile und extra beschlagenen Schuhe.
Erstens: Sie hatten keine Schuhe, nur Latschen mit Gummisohle.
Zweitens: Interessant, wie Frau Walewska Senior am Eisen hinaufklettern
wollte, selbst wenn es ein wenig rau war. Denn vermutlich war es rau, wo es
doch die Sonnenstrahlen nicht so stark reflektierte, dass der Widerschein in
Leśny Brzeg zu sehen war. Dieser Widerschein hätte einen geblendet und geleuchtet wie Schnee, und Olek Walewski blendete nichts, auch leuchtete ihm
nichts entgegen, als er auf jener allerhöchsten Eiche saß.
Der eiserne Vorhang hatte sich einige Monate vor dem Referendum gesenkt.
Genau am fünften März 1946.
Olek Walewski hockte gerade auf der Baustelle und beobachtete den Vorfrühling. Der Vorfrühling sah aus wie Frau Pitkowa im Morgenmantel, wenn
sie morgens die Asche auf den Müll brachte. Unter dem Morgenmantel waren ihre gebräunten, rissigen Fersen und ein zerschlissenes, schmutzig graues
Nachthemd zu sehen. Die von der ständigen Dauerwelle versengten Haare
ragten im Wind empor wie ausgebleichtes, trockenes, knacksendes Unkraut.
Frau Pitkowa atmete durch den Mund. Ihr halb geöffneter Mund zeigte
schwarze Zähne. Der Mund und die Zähne sahen aus wie eine Baugrube.
Die Baustelle, das waren Erdhaufen und eine Grube neben dem Mietshaus.
Das waren mitsamt den Wurzeln ausgerissene und auf einen Haufen geworfene Bäume. Backsteine und Säcke mit versteinertem Zement. Zigarettenstummel, verdorrtes Gras und ein rostiger Bagger mit hoch erhobener Schaufel. Die
Schaufel ähnelte einem Galgen.
Unter dem Galgen standen zwei Hütten. Eine für Hunde und eine für
Menschen. In der Hundehütte kläffte, ohne dass sie herauskam, tagelang eine
schwarze Hündin. Nachts heulte sie, angeblich knabberte sie an ihren eigenen
Pfoten. Das sagte der Wächter, und er gab ihr den Namen Fiśka.
13
Der Wächter wohnte in der Hütte für Menschen. Er hatte einen Karabiner
und ein Radio. Die Hütte hatte keine Fenster. Nur Ritzen in der Verschalung.
In der Hütte stand eine Liege. Es gab darin elektrisches Licht.
Der Wächter saß oft vor der Hütte für Menschen und hörte zu, wie Fiśka
bellte. Manchmal schnappte er sich den Karabiner und schwor: „Es wird der
Tag kommen, an dem ich dich umlege, du Dreckstöle.“
Er hörte auch Radio. Er war der Meinung, dass alle Bewohner des Mietshauses Radio hören sollten. Weil man im Radio erfahren kann, wer fremd ist,
und wer dazugehört. Und Fremden ist das Betreten der Baustelle verboten.
Spionen zum Beispiel. Und jeder Spion ist ein Fremder. Auf einen Fremden
muss man den Karabiner anlegen wie auf Fiśka und laut ausrufen: Halt, wer
da, du Spion!
Niemand wusste, wie der Wächter hieß. Es war komisch, eine Amtsperson
nach dem Vornamen, Nachnamen und Geburtsort zu fragen wie beim Verhör.
Als Olek Walewski genau am fünften März 1946 neben der Hütte für
Menschen hockte und den Vorfrühling beobachtete, schaltete der namenlose
Wächter das Radio ein. Fiśka begann zu bellen, und das Radio bummerte
plötzlich los – bumm, bumm, bumm, bumm – und stellte sich um: „Hier
spricht Radio London. Olek wunderte sich, dass der Wächter ein englisches
und kein Radio von den Deutschen hatte, und als er sich genug gewundert
hatte, hörte er in diesem englischen Radio, dass sich ein eiserner Vorhang auf
die Erde gesenkt hatte. Einmal quer über den europäischen Kontinent.
Daraus ging hervor, dass sich solche Hauptstädte wie Warschau, Berlin, Sofia, Prag oder Budapest und Bukarest vor diesem eisernen Vorhang befanden –
auf der Seite Moskaus. Und der Rest des Universums hinter dem Vorhang war.
Olek Walewski sprang auf, denn das war eine Hiobsbotschaft. Hals über
Kopf lief er zur Oma, um ihr die Hiobsbotschaft zu überbringen. Unterwegs
wiederholte er für sich, wer und wo entdeckt hatte, dass dieser Vorhang niedergegangen war: und zwar ein gewisser Churchill in der Ortschaft Fulton.
Die Oma versteckte sich leider schon wieder. Er suchte sie an den üblichen
Stellen – hinter der verzinkten Wanne im Flur, in der Wohnung unter dem
Bett, hinter dem Schrank, aber er fand sie nicht.
Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012
135 × 215, 272 PAGES
ISBN: 978-83-273-0040-9
TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI
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14
KRZYSZTOF VARGA
KRZYSZTOF VARGA (GEB. 1968),
SCHRIFTSTELLER UND JOURNALIST,
AUTOR VON 11 PROSABÄNDEN,
VERÖFFENTLICHTE ZULETZT
DIE ROMANE EIN GRABSTEIN
AUS TERRAZZO (2007) UND
UNABHÄNGIGKEITSALLEE (2010).
Photo: Krzysztof Dubiel
Späne
Protagonist und gleichzeitig Erzähler von Späne ist der fünfzigjährige Piotr Augustyn, der als Handelsvertreter eines Warschauer Unternehmens
unentwegt durch Polen reist. Der Roman enthält den Monolog dieser Figur,
gestaltet als eine Art umfassende Beichte, als Generalabrechnung mit dem
Leben, als Gewinn- und Verlustrechnung, obwohl von Gewinn eigentlich gar
keine Rede sein kann. Schließlich bleibt diese Biografie in jeglicher Hinsicht
unerfüllt, sie ist verdammt zu unzähligen Niederlagen, Enttäuschungen und
Demütigungen; der unglückliche und im Grunde groteske Vertreter legt einen Widerwillen gegen alles und jeden an den Tag. Er verflucht seine Eltern,
die ihm keine anständige Kindheit ermöglicht haben, seine gierige Frau, die
sich, enttäuscht von ihrem Angetrauten, vor Jahren von ihm getrennt hat,
seine Mitreisenden im Zug (er ist unterwegs von Warschau nach Wrocław),
er verachtet die Mitarbeiter des Mutterkonzerns und die Angestellten anderer Firmen, mit denen er sich ständig trifft, er hasst Erfolgsmenschen
und Verlierertypen, versnobte Jugendliche und modische Künstler. Diese
Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen, Augustyn ist zutiefst frustriert,
permanent läuft ihm die Galle über. Das einzige positive Merkmal des (gelinde gesagt) unsympathischen Vertreters ist seine große Liebe zur alten
Musik, in der er sich bestens auskennt. Doch auch dieses Attribut wendet
sich gegen ihn – Augustyn fühlt sich von der Gegenwart abgeschnitten und
kann sie weder verstehen noch akzeptieren, das heutige Polen (der Protazurück zum Inhaltsverzeichnis
gonist monologisiert im Jahr 2011) gilt ihm als in jeder Hinsicht schlecht
eingerichtet, seine Einwohner sind Versager wie er, nur unvergleichlich
verlogener. Hier liegt der vielleicht größte Reiz von Späne. Vargas Roman
lässt sich als radikales Pamphlet über die Gegenwart lesen. Die titelgebenden Späne sind der kümmerliche Stoff, aus dem die Seele des Protagonisten gemacht ist, sie kennzeichnen sein Bewusstsein, repräsentieren aber
gleichzeitig, oder vielleicht sogar in erster Linie – so der Autor – das Wesen
der Gesellschaft. Die Späne stehen für die allgemeine Verlogenheit, die allgegenwärtige Heuchelei und den billigen Schund, Verblödung, Neid und den
Triumph des Zynismus, für intellektuellen und mentalen Murks. Natürlich
entsteht so ein bewusst überzeichnetes, karikaturistisches Bild, das aber
dennoch bezwingt. Das Finale, in dem ein letztlich unmotiviertes Verbrechen geschieht, darf als eigenwilliges Memento interpretiert werden. Der
Autor legt nahe, dass Soziopathie und gewohnheitsmäßiger Hass auf die
Mitmenschen nicht nur einer Geisteshaltung entspringen, sondern auch einer kriminellen Veranlagung.
Dariusz Nowacki
Ich
bin Vertreter für Verzichtbares, mein Job ist es, durch Polen
zu fahren, mich mit fremden Menschen zu treffen, die ich gar
nicht treffen möchte, mit ihnen Zeit zu verbringen, die ihren
festen Preis hat, obwohl sie keinerlei Mehrwert erzeugt, dann nach Warschau
zurückzukommen oder den nächsten Ort anzufahren, mal mehr, mal weniger
weit entfernt. Ich bin ein professioneller Pilger, der für seine Akkordpilgerei
bezahlt wird, der Geld bekommt für die vielen hundert Wallfahrtskilometer,
die er fast täglich zurücklegt. Ich pilgere durch Polen, und das ist die schwerste
Bußübung, die überhaupt verhängt werden kann, sie wird aber verständlich,
wenn man bedenkt, dass derjenige, der sie verhängt hat, mir zuvor die Beichte
abgenommen hat. (…)
Ich werde wohl im Laufe meiner (nennen wir es hochtrabend) Berufslaufbahn in vielleicht hundert Städten gewesen sein, natürlich hauptsächlich in
solchen der mittleren Kategorie, dieses Jahr waren es sechsunddreißig Städte,
also rein statistisch drei Städte pro Monat, aber die Statistik verschleiert ja
üblicherweise mehr als sie aufklärt, schließlich war ich in mehreren Städten
mehr als einmal, und es ist gewiss keine Überraschung, dass dies vor allem die
größten Städte betrifft, die Metropolen, jedenfalls für polnische Verhältnisse.
Ich weiß genau, wo ich wie oft war, weil das alles in einem eigens angelegten Notizbuch mit festem Einband verzeichnet ist, das ich pedantisch führe:
An- und Abreisedatum, Stadt, Hotel. Natürlich mache ich diese Buchführung
nicht aus Sentimentalität, sondern aus Abrechnungsgründen, ich stelle meine
Reisekosten in Rechnung, das heißt, ich bekomme die Fahrtkosten erstattet,
leider nur 2. Klasse, immerhin Intercity, was aber auch nicht viel heißt, weil
die sowieso immer Verspätung haben, und die Hotelkosten, natürlich maximal drei Sterne. Dieses Buch mit seinen Daten und Zahlenkolonnen ist meine
Lebensgeschichte. (…)
Meine Auslagen für Essen führe ich nicht auf, für die Verpflegung zahle ich
nämlich selbst, deshalb kaufe ich mir Durchschnittsessen zu Durchschnittspreisen, nichts Repräsentatives, meistens Kaffee, meistens in einer Kette, Coffee Heaven, Starbucks oder so etwas, meine Vertragspartner haben ein Faible
für Caféketten, sie denken, das steigere ihr Prestige, außerdem wissen sie, dass
ich zahle, und es ist ja auf jeden Fall besser, im Starbucks seinen Kaffee zu
bekommen als in irgendeinem Marysieńka’s oder so.
Sie haben bei den Ketten dieses Profi-Gefühl; es geht nicht einmal darum,
dass die Kaffeemenge größer ist und der Becher, oder dass statt der müden
Frau mit nachgedunkeltem Haaransatz, die gelangweilt die Tassen bringt,
eine forsche, junge Bedienung sie an den Tresen ruft, es geht allein darum,
dass der Kunde dort dieses Profi-Gefühl hat. Jeder Versager mit seinem Pappbecher Café latte in der Hand, der so tut, als hätte er es eilig, vermittelt dieses
Profi-Gefühl. Alle Vertragspartner verabreden sich mit mir an solchen Orten,
der Pappbecher Café latte befördert sie von einem Niemand zu einem Niemand Plus, außerdem hoffen sie, von einem Bekannten gesehen zu werden,
der sich zur selben Zeit mit einem meiner Vertreterkollegen trifft. Unmengen dieser mürrischen Burschen und genervten Frauen mit Pappbechern in
der Hand habe ich auf meinen Wanderungen an mir vorbeiziehen sehen, in
furchtbarer Eile zu einem Meeting von geradezu unsagbarer Wichtigkeit unterwegs, auf allen Kanälen funkend: Ich bin hier der Profi, ich habe keine Zeit
für irgendetwas außer meinem Job, ich treffe mich nur mit Leuten meiner
Kragenweite, ich interessiere mich nicht für Leute, die es nicht eilig haben
und die nicht den Kaffee mit aufgeschäumter Milch von der Kette trinken,
bei der ich ihn immer kaufe (obwohl ich jedes Mal heulen könnte, wenn es
ans Bezahlen geht). Der einzige Trost für die Frauen ist, dass sie nur Geld
für Kaffee und Wasser ausgeben, wenn es um – übertrieben gesprochen –
Ernährung geht, manche auch noch für Mentholzigaretten, aber das immer
seltener, ausnahmslos alle sind schlank und balancieren ihre bleichen Leiber
auf dem schmalen Grat zum Untergewicht, diesen ewigen Kampf mit dem
eigenen Körper können sie nur mit ihrem unsympathischen Auftreten kompensieren; bei meinen zahllosen Meetings hatte ich nicht ein einziges Mal mit
einer sympathischen Vertragspartnerin zu tun, alle sind sie unterkühlt und
zeigen unverhohlen, wie es sie ekelt, sich, und sei es nur beruflich, mit einem
übergewichtigen Fünfzigjährigen mit zunehmend raumgreifender Platte treffen zu müssen.
Die Caféketten haben w-lan, meine Partner kommen grundsätzlich mit
Laptop, den sie während des Meetings hastig und ohne den geringsten Anlass
hochfahren, aber ihre Laptops sind immer im Standby, ein Klick und über
ihre Gesichter flackert ein zufriedenes Lächeln, das gleich wieder gespielter
Konzentration weichen muss.
15
Ich gebe ihnen meine Unterlagen, sie geben mir ihre Unterlagen, ich schaue
mir ihre an, sie sich meine, unter Umständen ist eine Unterschrift gefragt, aber
nicht zwangsläufig, es besteht keinerlei Notwendigkeit, den Laptop mitzunehmen, alle Details sind vorab geklärt worden, per E-Mail, bei Meetings brauche
ich keinen Laptop, ich habe ihn nur, um abends in meiner Hoteleinsamkeit,
untermalt von Straßenlärm und Aufzuggeräuschen, meinen Posteingang zu
überprüfen und der Zentrale die jüngsten überwältigenden Firmenerfolge zu
melden.
So sitzen wir mit unseren Café latte-Bechern herum, sehen wortlos die Papiere durch und unterschreiben sie anschließend, aber auch das nicht immer,
manchmal unterbreiten wir einander auch lediglich Angebote, ich lege ihnen eine Offerte vor, sie nehmen sie entgegen, wie ein Einschreiben bei der
Post, und tragen sie zu ihren Vorgesetzten, zu denjenigen, die tatsächlich entscheidungsbefugt sind, ich bin ja im Grunde eine gemeine Brieftaube, keine
weiße, sondern ein grauer Straßentäuberich. Die Leute, mit denen ich mich
treffe, haben meist keinerlei Befugnisse, sie sind Dienstboten, Piccolos, Laufburschen auf dem Caféketten-Parcours, die sich im Auftrag ihrer Arbeitgeber
mit meinesgleichen treffen, obwohl sie natürlich ungeheuer wichtig tun, sich
aufplustern, in die Brust werfen und ihr kümmerliches Pfauenrad zu schlagen
versuchen, das ihnen die Vorgesetzten schon ordentlich gerupft haben. Sie
sind belanglos, genau wie ich, alles nur Spiegelfechtereien, und dabei sind sie
immer jünger als ich, Mitte zwanzig, höchstens dreißig, sie könnten meine
Kinder sein, den mühseligen Aufstieg haben sie noch vor sich und sie glauben, sie könnten den Gipfel erreichen, ich weiß aber, dass sie jahrelang auf
ihrem schmalen Felsvorsprung sitzen und sich daran festklammern werden,
um durchzukommen.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
CZARNE, WOŁOWIEC 2012
125 × 205, 368 PAGES
ISBN: 978-83-7536-366-1
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM
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16
SYLWIA CHUTNIK
SYLWIA CHUTNIK (GEB. 1979), SCHRIFTSTELLERIN UND STADTFÜHRERIN DURCH WARSCHAU,
HAT KULTURWISSENSCHAFTEN UND GENDER STUDIES STUDIERT, IST SOZIAL ENGAGIERT UND
VORSITZENDE DER STIFTUNG MAMA, DIE SICH IN POLEN FÜR DIE RECHTE VON MÜTTERN EINSETZT.
CWANIARY (DT. DIE SCHLAWINERINNEN) IST IHR DRITTER ROMAN.
Photo: Mikołaj Długosz
Die Schlawinerinnen
„Es gibt keinen größeren Schlawiner als den Warschauer“, sang einst
Stanisław Grzesiuk, polnischer Liedermacher im Warschau der Vorkriegszeit
und unbestrittener Patron des neuesten Romans von Sylwia Chutnik. Der
Rhythmus seiner Balladen, die hier so manches Mal zitiert werden, und er
selbst, der namentlich genannt wird, machen den Ton, den Schick und den
Charme des ganzen Romans aus. Chutnik zeigt, dass Grzesiuks Welt – oder
eher Unterwelt – die nur selten mit der sogenannten großen Welt zusammentrifft, die Macht hat, die zeitgenössische, entzauberte, getünchte und
modernisierte Wirklichkeit Warschaus zu überdecken. Man muss lediglich die
Literatur und die Geschichte gut kennen, und den Rhythmus der Geschichten über Stasiek Messerstecher, Antek, den Sohn der Straße, über Geliebte, Säufer und Dirnen, und am Ende über den Henker, der schon am Galgen
wartet, aufnehmen können. Sylwia Chutnik hat ein besonderes Gespür für
diese Rhythmen. Und sie ist außergewöhnlich einfallsreich. Sie lässt sich
inspirieren von Grzesiuks Balladen über Warschau, von Pola Gojawiczyńskas
„Die Mädchen aus Nowolipki“ (dem Kultroman über das Leben junger Frauen
im Warschau der Zwischenkriegszeit) und vom Anarcho-Punk-Feminismus.
Sie hat einen eigenständigen, originellen Stil entwickelt, einen sowohl witzigen als auch bewegenden, melodramatischen, grausamen und politischen
Roman. Denn es gibt durchaus einen größeren Schlawiner als den Warschauer – das ist die Schlawinerin, das unbesiegbare Banditen-Mädchen, das
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immer für eine gerechte Sache kämpft. Jedenfalls fast immer. Manchmal
kämpft sie aus purem Vergnügen. Vor allem agiert eine Schlawinerin nicht
allein. Chutniks Roman besingt die Erfolge einer ganzen Bande weiblicher
Rächerinnen. Einer Bande, die soziale Schichten, Stadtbezirke und Generationen vereint, so wie einst in den Schulklassen. Celina, Halina, Stefa und
Bronka spielen hier die erste Geige. Sie sprechen selbst Recht. Die Haupthandlung ist ein Rachefeldzug gegen einen brutalen Bauunternehmer, der
eine Aktivistin der Mieterbewegung angezündet hat. Sie beruht auf einer
wahren Geschichte, die in Warschau passiert ist. Die Täter wurden nie gefunden – die Schuld des Bauunternehmers ist lediglich eine symbolische. Im
Roman nehmen sich die jungen Frauen der Sache an, und nur dank ihrer siegt
die Gerechtigkeit. Die Geschichte beginnt auf dem Friedhof in Bródno und
endet gewissermaßen auch auf einem Friedhof, denn das ist das Schicksal
der Kriegerinnen, das grausame und traurige Ende der Ballade.
Kazimiera Szczuka
Halina,
die Klinge, begann gedankenversunken ihre Hände zu bewegen. Erst als die Gabel herunterfiel,
schreckte sie hoch. Sie sah sich um. Dann begann
sie zu sprechen, als stünde sie neben sich. Erst leise, dann immer lauter und
schneller.
In der Schule wurde ich jedes Jahr für vorbildliche Leistungen ausgezeichnet. Das hat mich gewurmt, verstehst du. Habe mich gefragt, was das soll.
Vorbildlich? Für wen denn? Für die anderen Mädchen, die genauso sind wie
ich? Mit Schürze, mit Pferdeschwänzen oder geflochtenen Zöpfen und in
Strumpfhosen. Wir alle sind aufgewachsen mit Ala aus der Fibel, die sich mit
ihrer Mutter wie eine Maschine in der Küche abrackert, deren Bruder Kosmonaut ist oder Feuerwehrmann, oder weiß Gott wer. Was war ich schon für ein
Vorbild für die anderen Kinder? Weil ich fleißig war und artig? Gott, wie ich
es gehasst habe, artig zu sein. Ich habe absichtlich Unfug getrieben, gespuckt,
geflucht, meine Schönschreibhefte zerfleddert. Aber das hat nichts geholfen.
Einmal hat mir einer im Hausflur aufgelauert. Ich war sechzehn, mein Kopf
leer, ich bin ständig auf Konzerte gerannt, in Springerstiefeln, und hab direkt
vor der Bühne Pogo getanzt. Der Typ hält mir ein Messer an die Kehle und
schreit: „Ausziehen!“, „Hose runter!“. Ich rufe nach Hilfe, darauf der, dass
ich das Maul halten soll, sonst bringt er mich um. Ich weiter, Hilfe, und er,
dass mich hier keiner hört, und tatsächlich – keiner wollte mich hören, im
Wohngebiet zweitausend Menschen, Sommer, die Fenster stehen offen, aber in
diesem Moment, Scheiße, sind die auf einmal alle taub. Ich schreie, aber viel
zu leise. So in mir drin, innen ein einziger Schrei, außen Stille. Der fummelt
an seinem Hosenstall, keucht, völlig im Wahn. Es war schwül, um meinen
Kopf sirrte eine Fliege, und ich war mit den Gedanken schon ganz woanders,
ich tat, als hätte ich mit dieser unangenehmen Szene nichts zu tun, und dachte
mir nur, ach, ich ruhe mich dann zu Hause aus, ziehe mir die Decke über den
Kopf und niemand kann mir was Böses. Da kommt plötzlich ein Nachbar mit
seinem Mülleimer und schaut in unsere Richtung, und der Typ rennt weg,
schafft es aber noch, mich hinzuschubsen. Bin mit voller Wucht auf meine
Hand gefallen, das hat ziemlich weh getan.
Da lag ich nun mit halb heruntergezogenem Schlüpfer und schwerem
Schock. Der Nachbar machte einen großen Schritt über mich hinweg, weil
ich im Weg lag. Dann knallte der Mülltonnendeckel, bumm, und weg war er.
Ich konnte nicht aufstehen, hatte gehofft, er würde mir helfen, aber er wollte
mich nicht hören, nicht bemerken, hatte verdammt noch Mal seine eigenen
Sorgen: Frau, Kinder und so weiter.
Also wirklich, die Hormonbomben liegen jetzt überall herum, sonnen sich
und drücken ihre Pickel aus, dass es erschöpften Menschen geradezu ins Gesicht spritzt. Warum schert sich denn keiner darum, warum berichtet keiner
im Fernsehen darüber? Wo sind die Eltern und die Erziehungskommission?
Wo?
17
meine Hand losgelassen und war vom Hocker aufgestanden. Sie war plötzlich
Xena, Hothead Paisan und Göttin Kali in einem. Sie sprach, eigentlich zischte
sie ganze Wortströme in mein Ohr, hämmerte sie mir ein, so wie man jemandem mathematische Formeln und heilige Gebote einschärft.
Sie war mein Mahomet, der erschien, um die Wahrheit zu verkünden:
Rache bringt dir Erlösung. Nur Rache bringt dir Erlösung, Mädchen. So
eine Lebensweisheit findest du nicht in der Zeitung. So eine Lebensweisheit
wird nur unter Eingeweihten weitergegeben.
Noch einen Wodka bitte. Für die Dame auf dem Hocker hier natürlich.
Halina setzte sich aufrecht hin und hörte auf, nervös an ihren Fingernägeln
zu knabbern, ihre Zöpfe zu öffnen, vor sich hin zu murmeln, zu transpirieren.
Jetzt ist alles wieder gut, die böse Geschichte ist abgeheftet unter „erledigt“.
Jetzt ist alles gut, jetzt kann ich Karate und spüre die scharfen Waffen, die ich
unterm Kleid trage.
Es bringt nichts, über die Vergangenheit nachzusinnen. Schließen wir die
verzierte Schatulle für Traumata und atmen tief durch. Hey, willkommen
Abenteuer, morgen ist ein neuer Tag!
Mädchengeschichten mögen plötzliche Wendungen in der Handlung. Da
glaubst du, einfach ein bisschen zu plaudern, und plötzlich vertraut dir jemand so was an. Und schon nimmt das Gespräch eine andere Wendung, auf
der Achterbahn geht es ganz nach oben, und dann saust der Wagen runter.
Wenn du nicht hinterherkommst, halt den Mund.
Halina wechselte das Thema, sprach über die neuesten Ausstellungen und
das kaputte Fahrrad, das ihr Marek repariert hatte. Schnatter, schnatter, was
für ein Tempo, was für eine Melodie! Die Geschichtenschatulle ist mit einer
speziellen Mädchenchiffre verschlossen. Sie wird sich lange nicht öffnen lassen, weil sich kaum jemand diese Chiffre merken kann.
„Ist das nicht ein bisschen viel Wodka?“, fragte Celina, als sie mit dem Essen
fertig war.
„Alkohol ist doch gesund, gut für die Verdauung, schwangere Frauen sollen
Wodka trinken, weil das dem Babyblues und Blähungen vorbeugt. Das haben
amerikanische Wissenschaftler bei Rattenexperimenten festgestellt. Da hatten
die Weibchen die Wahl zwischen Wasser und Alkohol. Und sie entschieden
sich für Letzteres. Na, die Ratten werden es wohl wissen. Dadurch wurde bewiesen, dass schwangere Frauen auf der ganzen Welt Alkohol trinken sollten.
Sogar im Kreissaal fließt Spiritus statt Oxytocin aus dem Tropf, so hat das
Neugeborene gleich zehn Punkte auf dem, na, wie heißt das gleich, auf dem
Alko-Score.“
Celina schaute ihre Freundin verwirrt an und wollte ihr schon widersprechen, es sei wohl ein symbolisches Glas Rotwein gemeint, aber sie war nicht
mehr sicher und fürchterlich müde.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska
Der Nachbar ging. Ich nicht.
Die Clique tanzte. Ich nicht.
Nach einer Weile erhob ich mich, stöhnte vor Schmerz und ging nach Hause. Und da drehte ich das kalte Wasser auf und hielt den Kopf drunter.
Ist ja gar nichts passiert, dachte ich. Schließlich hatte er mich nicht vergewaltigt. Ich zitterte am ganzen Leibe und ging ins Treppenhaus, um eine zu
rauchen.
Da traf ich eine Bekannte, und die sagte: „Wie geht’s dir? Siehst so blass aus.“
Die Hand, auf die ich geknallt war, war dick angeschwollen, kugelrund, als
würde sie gleich platzen. Keine Ahnung, wieso ich genau in dieser Pfote die
Kippe hielt und nichts sagte. Mir liefen die Tränen, aber ich schwieg, und die
Bekannte zu mir: „Eh, hat dich dein Alter geschlagen?“ Ich schwieg weiter,
und sie hat bestimmt gedacht, dass ich mich schäme, das zuzugeben, und
wahrscheinlich tat ich ihr leid.
Abends hatte ich den Eindruck, dass es mir besser geht. Dass diese dumpfe
Wut nur ein vorübergehender Rausch ist. Eine Woche später habe ich mir zum
ersten Mal die Pulsadern aufgeschnitten.
Im Krankenhaus war eine tolle Schwester. Ich erzählte ihr, was passiert war,
und dass ich mich lieber selbst umbringen würde, als den, der mir das angetan
hatte.
Sie wandte sich ab und schwieg lange. Als sie mich wieder ansah, war sie
nicht mehr die freundliche Krankenschwester mit Käppi und Kittel. Sie hatte
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012
135 × 215, 240 PAGES
ISBN: 978-83-273-0187-1
TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI
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18
IGOR OSTACHOWICZ
IGOR OSTACHOWICZ (GEB. 1968), STUDIERTE INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN, ARBEITETE ALS PFLEGER
AN EINEM PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHEN INSTITUT UND IM MANAGEMENT ZAHLREICHER FIRMEN,
SEIT EINIGEN JAHREN IM STAATSDIENST. GEGENWÄRTIG IST ER ALS STAATSSEKRETÄR IN DER KANZLEI
DES POLNISCHEN MINISTERPRÄSIDENTEN DESSEN PR-BERATER UND REDENSCHREIBER.
Photo: Maciej Śmiarowski
Die Nacht der lebenden Juden
„Die Nacht der lebenden Juden“ ist aus mehreren Gründen bemerkenswert.
Vor allem aber, weil es dem Autor gelungen ist, ein gewichtiges Thema des
polnischen kollektiven Bewusstseins literarisch zu bearbeiten und eine Geschichte zu erzählen, die schon seit Jahren erzählt sein will: Das im Zweiten
Weltkrieg dem Erdboden gleichgemachte Warschau als verwilderter Friedhof im Dämmerzustand, mit den damals Ermordeten als unvermittelt Fleisch
gewordenen Geistern. Lebende und Tote – Aug in Auge. Wer ist nun wirklich
zu Hause in Warschau, in Polen, an diesem vom Genozid gezeichneten Ort?
Der wunderbar geschriebene Roman sucht nach Antworten und bedient sich
dabei verblüffender, irritierend unkonventioneller Mittel. Die krasse, humoristische Poetik des popkulturellen Horrorgenres scheint im Grunde unvereinbar mit dem Shoah-Stoff. Schon der Titel, der in Anspielung auf einen
Horrorfilm-Klassiker die „Toten“ durch „Juden“ ersetzt, wirkt verstörend.
Ins Rollen gebracht wird die ganze Geschichte durch ein den Juden gestohlenes Amulett in Form eines silbernen Herzens, das seinem Besitzer Glück
und Erfolg verheißt. Der Protagonist, der im Handlungsverlauf zunehmend
an einen Comic-Superhelden im Kampf gegen die Judenvernichtung erinnert, lebt mit seiner Freundin in Muranów, einem auf den Trümmern des
Ghettos errichteten Stadtteil von Warschau. Eines Tages entsteigen der Kellerluke (…) tote Juden in zerschlissenen Mänteln. Nach und nach wird deutlich, dass sie sich am liebsten im Arkadia aufhalten, einem nahe gelegenen
Einkaufszentrum.
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Bei allen Pop-Elementen ist „Die Nacht der lebenden Juden“ ein stark reflektiertes, ein reifes Werk. Der Autor legt die Prinzipien der aus sich selbst
geschaffenen Stadt nachvollziehbar offen. Das Einkaufszentrum Arkadia als
Hort ewiger Glückseligkeit, geheiligt durch Handel und Umsatz, wird mit der
gespenstisch anmutenden Aura von Muranów konfrontiert. Das hinlänglich
bekannte Gefühl des Grauens und der Fremdheit, das über dem modernisierten, verwestlichten Stadtraum liegt, bricht sich in der Realität Bahn. Aus
dem Horrorgenre entlehnt, ist das Romankonzept gleichzeitig poetisch und
erstaunlich pointiert, vorgegeben durch historische Realien. Die jüdische
Geschichte des Nicht-Seins muss ergänzt werden um das Grauen, die Materialisierung dessen, was verdrängt werden will. Die Bewusstwerdung des Protagonisten über diesen Prozess (und über die symbolische Macht des Amuletts) gibt die überzeugende, frappierende Dramaturgie des Romans vor.
Kazimiera Szczuka
Ich
will nicht behaupten, sie wären überhaupt nicht angestarrt
worden, aber man nimmt die anderen doch nur sehr flüchtig
wahr, meist nur die Kleidung, wenn nicht erotische Attraktionen vorliegen, vielleicht ist es aber auch ein Zauber, der sie unsichtbar macht,
geriet ich ins Grübeln. Mir war der Unterschied gleich aufgefallen, noch bei
mir im Treppenhaus – nicht das übliche, akustisch verstärkte Gelächter und
Geschrei, stattdessen merkliche Konzentration, das Knistern neuer Kleider
und das Knirschen verdorrter Gelenke. Ich hatte ein ganzes Heftchen mit
Fahrscheinen gekauft, jeder wollte seinen selbst entwerten, neugierige Blicke
aus dem Fenster, nichts Besonderes, ein Betreuer fährt mit einer Gruppe Teenie-Leichen spazieren.
Das Arkadia hatte sie schwer beeindruckt, Rachel und David spielten
Stammkundschaft und trugen die Nase höher als alle anderen. Rachel begrüßte Chirico übertrieben herzlich, um aller Welt zu zeigen, dass sie eine
lebendige Freundin hat, noch dazu aus Fernost. Selbstverständlich packte sie
alle der Kaufrausch, und ich musste eine Pro-Kopf-Deckelung einführen, ich
konnte ja nicht jedem in Warschau ermordeten Bengel Klamotten und Technik finanzieren. „Ich geh noch in die Insolvenz wegen euch.“ Und ständig
aufpassen, dass sie zusammen bleiben, dass keiner verloren geht, ich war völlig
fertig.
„Die machen Fotos von ihnen.“
Bei meinen mühsamen Versuchen, die Ordnung in der Gruppe aufrecht zu
erhalten, drang diese Information nicht gleich zu mir durch. Meine Kids hielten im Empik-Store alle CD-Hörstationen besetzt, manche wälzten Bücher,
Alben, Papierkram, dauernd fiel etwas herunter oder kippte um und ich fühlte
mich zuständig, außerdem vergoss der kleine Aron, der nur noch ein Auge hat,
mit diesem einen Auge bittere Tränen und schluchzte herzzerreißend, weil er
nebenan im Musikgeschäft eine Geige entdeckt hatte, die er jetzt unbedingt
haben musste, ich durfte ihm nun auseinandersetzen, dass solche Sonderwünsche über mein Budget gingen. Erst im dritten oder vierten Anlauf erreichte
Chirico, die an meinem Ärmel zerrte, mit ihrer Meldung mein Gehirn:
„Die machen Fotos von ihnen.“
Tatsächlich, grinsende Skinheads fotografierten meine Schützlinge. Da ruft
mich Chuda an. Sie schlürft ihren Kaffee und lässt mich wissen, dass gerade
die Ambulanz da war und den alten Kerl und die dicke Omi mitgenommen
hat, jetzt ist es endlich schön still in der Wohnung.
„Wer heult denn da so?“, fragt sie.
„Aron will eine Geige“, antworte ich.
„Dann sei doch nicht so, kauf sie ihm“, kriege ich zu hören. „Der arme Junge, das ist doch der ohne Auge, sei so gut, schenk ihm ein bisschen Wärme.“
Jetzt platzt mir doch der Kragen:
„Ich bin hier mit fünfzehn Leichen im Einkaufszentrum unterwegs!“, brülle
ich, aber Chuda kommt nicht mehr dazu, sich davon beeindrucken zu lassen.
„Es hat geklingelt“, sagt sie. „Ich ruf nachher nochmal durch.“
19
die ganze Truppe, instinktiv, wie die Hunde der Katze. Chirico bekommt von
mir das Fahrscheinheft und den Auftrag, die Gruppe geschlossen nach Hause
zu bringen, in den Keller. Ich nehme die Verfolgung von Szymek und den
anderen auf. Zehn Skins und zwei Wachleute, es sieht aus, als liefen sie alle vor
mir davon, jetzt müsste ich mich nur noch kurz umziehen, das blaue Trikot
mit dem rot-gelben „S“ auf der Brust und das knappe rote Mäntelchen um die
Schultern, ich verstoße gegen meine heilige Nichteinmischungsdoktrin, bin
gleich als Held mit blankem Hintern vor Ort, kassiere meine Tracht Prügel
und gut ist es, klassisches romantisches Verhaltensmuster, ich sollte besser in
ein leeres Haus rennen, zu Chuda, einen schönen Grüntee trinken, solange ich
noch alle Zähne habe. Was macht schon ein totes Jüdlein mehr oder weniger
– ich denke ganz nüchtern, laufe aber weiter, in Schweiß gebadet.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
ZZ kontrollierte die Herztätigkeit, indem er einer Frau, die gerade jemanden zum Krankenwagen brachte, ungestraft in den Busen zwickte. Er glaubte
sie zu kennen, wusste aber nicht mehr genau, woher. Aus Norwegen? Aber war
ich denn in Norwegen gewesen? Bevor sie wegfuhr, ließ er sich Telefon und
Adresse diktieren, sie diktierte anstandslos.
Sie stiegen die Treppe hinauf. In der Wohnung war nur das Yoga-Mädchen.
„Wo ist er?“, fragte ZZ und versuchte ihr unter den Rock zu fassen. Sie
schüttelte ihn erschrocken ab. Unfähig etwas zu sagen, kreischte sie nur:
„Hilfe!“
Also wirkt das Artefakt bei ihr genauso wenig, wie bei ihrem Freund, dachte
ZZ. Sie zogen die Tür hinter sich zu.
„Das sind meine Kumpels, Bolo und Bandzioch, die werden dich liebend
gerne durchpimpern.“
Mist, ich will sie zusammentrommeln, kriege sie aber kaum los von ihren
Kopfhörern, CDs, Comics und dem ganzen Kram, sie weinen, „ich hab noch
fast nichts gehört, ich musste ja die ganze Zeit warten“ usw., ich bin schon
ganz verschwitzt, jeder zweite heult laut, die Leute gucken schon, die Rechten
knipsen mit ihren Fotohandys, zum Glück hilft Chirico mir ein bisschen.
„Wir gehen jetzt, nichts wird gekauft, legt alles zurück in die Regale.“
Die Skins lachen über die Tränen und über meine Panik, sie zeigen mir mit
ihren Fäusten, was mich gleich erwartet. Als wir gehen, springt der Alarm an.
Szymek rennt los, die Wachleute hinterher, dann folgen die Skins, zum Glück
W.A.B., WARSZAWA 2012
123 × 195, 256 PAGES
ISBN: 978-83-7747-700-7
TRANSLATION RIGHTS: W.A.B.
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20
ZOŚKA PAPUŻANKA
ZOŚKA PAPUŻANKA (GEB. 1978),
THEATERWISSENSCHAFTLERIN,
ARBEITET ALS POLNISCHLEHRERIN.
PROMOVIERT IN LITERATURWISSENSCHAFT. „DAS AFFENHAUS“ IST IHR
LITERARISCHES DEBÜT.
Photo: Dawid Kozłowski
Das Affenhaus
Dieser Roman ist gewunden wie eine Sprungfeder. Komponiert aus kurzen
Szenen erzählt er von mehreren Jahrzehnten einer Krakauer Familie, von einem Leben voller Spannungen, Konflikte und so tiefem Unverständnis, dass
sich dem Leser die ganze Lektüre hindurch geradezu die Frage aufdrängt:
Wieso hält das, warum bricht das nicht auseinander? Natürlich gibt es Hinweise, aus denen man die eine oder andere Antwort entnehmen kann, aber
sie überzeugen nicht ganz: weil sie das heilige Sakrament der Ehe verbindet,
weil Vorfälle aus der Vergangenheit auf ihr lasten, weil sie – zumindest für
den Mann – eine Art Buße ist, und weil sich Gegensätze anziehen usw. Hier
wird nichts endgültig geklärt – wir haben es nicht mit einem zweitklassigen
Roman über die Hölle des Familienlebens zu tun. Das ist wirklich Literatur.
Und zwar ernste Literatur. Mit Verve geschrieben, mit Ergriffenheit und literarischem Können. Papużanka operiert mutig mit der Literatursprache,
ergeht sich in leichtfüßigen Wortspielen, beweist Feingefühl für die individuellen Sprachstile, die die Figuren besser charakterisieren als das eine
potenzielle, von einem Erzähler gelenkte Beschreibung tun würde. All das
ist großartig, die schriftstellerische Gerissenheit eingeschlossen, mit der
die Autorin den Roman erdacht hat, , wobei sie sich gewiss von etwas hat
lenken lassen, das man „schriftstellerische Bescheidenheit“ nennen mag
– sie konstruiert keine ausschweifende Erzählung, was sich bei dem Thema eigentlich anbieten würde, sie entwickelt keine Familiensaga, sondern
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beschreibt lediglich in einer Art Telegrammstil Szenen aus verschiedenen
Zeitabschnitten des Familienlebens, wobei sie die Erzählperspektive wechselt, so wie es im Übrigen im ersten Absatz des Romans angekündigt wird.
Dieser Roman ist eine Art Konzentrat, zu dem man – um ein konventionelles
Werk zu erhalten – „Wasser zum Verdünnen hinzufügen“ müsste. Allerdings
bin ich nicht sicher, ob das dem Roman in der Gesamtbewertung gut tun würde, denn womöglich würde das die Kraft seiner Wirkung mindern, die sich
mit einem Faustschlag vergleichen lässt.
Leszek Bugajski
Es
ist immer das Gleiche. Kinder verlaufen sich im Wald – die alte
Leier. Da lässt sich nichts machen. Selbst wenn wir dem Instinkt
ein Schnippchen schlagen wollten, nehmen wir die ausgetretenen
Pfade. Verlorene Zeit, die man nie wieder bekommt. Selbst wenn wir nur einen Augenblick in Erinnerung behalten wollten, zeigt sich immer wieder, dass
es anders war, dass keiner mehr weiß, wer was getan hat, wer was gesagt hat,
dass uns nur Fetzen bleiben, Reste auf den Tellern, die zu niemandem gehören. Nie wird man wissen, wer Erzähler ist, wer Protagonist, wer Figur im
Hintergrund, wessen Worte niedergeschrieben werden. Nur wer verliert und
wer gewinnt, steht immer schon am Anfang fest.
Es gab keinen Grund für diese Ehe. Keinen einzigen. Weder einen rationalen noch einen irrationalen. Keinerlei Gefühle, ganz sicher. Keine Situation,
keinen Zufall, nicht einmal Geld. Weder mochten sie sich, noch passten sie
zueinander. Sie war schon einmal verheiratet gewesen. Der Mann war zwar
längst begraben, aber sie hätte es ja auch dabei belassen können. Man wusste
nicht viel über ihn, sie selbst erzählte gern, dass er wunderschön gesungen
hatte, weniger gern, dass er geplündert, Verbotenes getan und sie auf diese
Weise unterhalten hatte.
Als dieser Mann, der als Jánošík galt, Dreck in eine Wunde am Bein bekommen hatte und gestorben war, kehrte sie ins Elternhaus zurück, mit einem
Koffer und einer dreijährigen Göre mit aufgeschürften Knien, die sie halb zog,
halb trug. Ihre Mutter öffnete die Tür, seufzte, und ohne die heimkehrende
verlorene Tochter eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich ihren eigenen
Dingen zu. Na bitteschön, eben erst waren wir diesen Lärm los, da ist er gleich
doppelt wieder zurück. Die verlorene Tochter beachtete die Mutter gar nicht,
setzte das Kind in eine Ecke, drückte ihm eine Scheibe Brot in die Hand,
krempelte die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit.
Sie nahm von niemandem etwas an, half aber allen hier und da. An sich
selbst dachte sie fast gar nicht. Es wurde Herbst, es wurde Winter, es wurde Frühling, die alten Kleider begannen, über ihrem Bauch zu spannen,
ihre Hände waren abgearbeitet vom Wäschewaschen und der Feldarbeit. Sie
stemmte die Arme in die Hüften, stellte die Beine weit auseinander, um so viel
Welt wie möglich hinter sich zu verdecken. Sie neigte den Kopf leicht, wie ein
Huhn, das so tut, als verstünde es etwas. Sie sagte allen immer die Wahrheit,
und zwar auf der Stelle, selbst Wahrheiten, die man nicht hören wollte. Dass
der eine zu dünn sei, der andere verpickelt, und eine dritte nie einen Kerl
finden würde, und schon gar nicht bei Tageslicht. Alle schätzten sie. Keiner
mochte sie. Und genau das war ihr Ziel. Wenn sie die Kartoffelsetzlinge aus
dem Korb genommen hatte, beugte sie sich über das schnurgerade Beet und
platzierte ihren großen festen Hintern auf dem stabilen Gestell ihrer Beine, so
dass alle wussten, wo sie sie mal konnten.
Warum er sie geheiratet hat? Eine Witwe mit Kind? Gemein und ewig unzufrieden? Wahrscheinlich tat sie ihm leid.
*
„Lieber Bruder“, schrieb Bronek, „ich sende dir herzliche Grüße. Krakau ist
riesig, es gibt hier viele Sehenswürdigkeiten. Wenn ich Zeit habe, gehe ich spazieren und besichtige sie, ich war bereits auf dem Wawel und in der Drachenhöhle. Hier ist alles anders. Ich habe eine gute Stelle in einem Geschäft. Im
Moment wohne ich bei einem Bekannten, lege aber Geld zurück, um endlich
etwas Eigenes zu kaufen. Ich habe nämlich ein Mädchen kennengelernt, als
ich in einem Café war. Sie arbeitet dort als Kellnerin, kommt aber vom Lande.
Wir wollen heiraten. Ja, es gibt viel Neues bei mir. Überleg nicht lange, pack
deine Sachen und komm her, ich helfe dir, Arbeit zu finden, und auf meiner
Hochzeit lernst du sicher jemanden kennen. Wie lange kann man denn allein
leben? Dein dich liebender Bruder Bronisław.“
„Lieber Bruder“, flitzte die fertige Antwort erst durch den Kopf und dann
aufs Papier, „ich denke schon lange darüber nach. Mutter läuft im Zimmer
auf und ab, die Kuh musste sie verkaufen, weil es zuhause immer schlechter
geht. Stasia und ihr Mann wohnen noch immer bei uns, weil sie nirgends unterkommen, im Frühling kommt das dritte Kind. Valentin wird auch heiraten,
und wo sollen sie wohnen, wenn nicht in unserem Haus? Jan als vollwertiger
Landwirt sitzt hingegen auf seinen Hektars, die die Frau mit in die Ehe gebracht hat, und lässt niemanden über die Schwelle. Keiner braucht mich hier,
ein hungriges Maul weniger, ich habe meine Sachen schon gepackt. Jan borgt
mir Geld für die Fahrkarte, wenn ich verspreche, nie zurückzukehren.“
Kaum war er aus dem Zug gestiegen, wurde er wie ein Schaf unter die Wölfe
geschoben, auf halbem Wege zwischen Wodka und Häppchen, auf halber Zeit
zwischen Bronek im neuen Anzug und seiner Braut mit den dicken Zöpfen
21
und dem symbolischen Jungfrauenkranz – den echten hatte ihr Bronek eine
Woche zuvor bereits in der Scheune entwendet, er hatte darauf bestanden,
obwohl ihm dabei das Heu ordentlich in den Hintern gepiekt hatte. Man
setzte ihn zwischen den Edelmann, den Schulzen und den Pfarrer auf einer
unpoetischen Hochzeit bei Krakau, ohne Rachel, ohne goldene Hufe, dafür
unter lauter Strohpuppen. Bronek schenkte dem Bruder immerfort Wodka
nach, wie einer exotischen Pflanze, die Tanten der Braut kümmerten sich um
ihn, wobei sie ihre Wurst- und Gurkenargumente anwendeten.
Ein Opa – niemand wusste wessen, dafür war er mit Sicherheit hundert Jahre alt –, dessen gewaltiges Schnarchen die Tischdecke flattern ließ, erwachte
plötzlich, und rief „Wer sagt denn, dass ich ein Hirsch bin?“, woraufhin er
erneut in Glücksseeligkeit verfiel, wobei er mit seinen Händen sein gewaltiges
Geweih bedeckte. Eine lustige Cousine, die eben noch traurig gewesen war
vom Trinken, fasste plötzlich Mut und beschloss, laut die ganze Wahrheit
über ihren Mann zu sagen, woraufhin dieser ihr öffentlich den Hintern versohlte, wobei sich herausstellte, dass dieser Hintern keine Unterwäsche kannte. Alle Mädchen schauten sich aufmerksam den Bruder des Bräutigams an,
der von weit her gekommen war und lautstark vorgestellt wurde, was ihn sehr
beschämte. Alle Mädchen beobachteten die Bewegungen seiner schlanken
Hände, die mit Käsekuchen und Bigos beschäftigt waren, alle Mädchen, auch
die, die mit anderen tanzen, die aus den Massen an Röcken und Unterröcken
freudig ihre dicken prallen Knie hervorholten, alle Mädchen, selbst die, neben
der Bronek dem Bruder den Platz angewiesen hatte, die, die am lautesten lachte, die am meisten tanzte und am meisten trank, die, die sich gerade dazusetzte und sich an der Wand abstützte, als wolle sie das ganze Haus umstürzen,
und jetzt ihr Haar zu einem Knoten band, wobei sie die runden Schweißflecken auf ihrer weißen gestickten Bluse offenbarte, die, neben die Bronek ihn
absichtlich gesetzt hatte, denn wie lange kann man denn allein leben. „Das
ist mein Bruder, aus Pommern ist er angereist, er wird in Krakau mit mir
zusammen arbeiten, ist ein guter Junge, aber mutterseelenallein auf der Welt,
der soll mal einen Wodka trinken, dann findet er bestimmt alles nett hier, ich
finde es schon nett. Liebes Fräulein, mit mir trinken sie keinen?“ „Von wegen
Fräulein“, sagten zwei kräftige Zahnreihen, und kauten auf dem rosafarbenen
saftigen Zungenfleisch, „von wegen Fräulein, Frau bitte, ich bin Witwe, ja, ja,
so jung und schon Witwe.“ Das klang stolz, nicht traurig. „Mein Mann ist vor
zwei Jahren gestorben, aber was soll ich mir das groß zu Herzen nehmen, das
Leben ist beschissen genug, hat mir noch gefehlt, mir was zu Herzen zu nehmen, wir alle sterben doch, sind Sie für länger in Krakau?“ „Wahrscheinlich
für immer, meine Liebe, wahrscheinlich für immer.“
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012
135 × 215, 208 PAGES
ISBN: 978-83-7799-824-3
TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI
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22
MARIUSZ SIENIEWICZ
MARIUSZ SIENIEWICZ (GEB. 1972),
PROSASCHRIFTSTELLER UND FEUILLETONIST,
GILT ALS EINER DER VIELVERSPRECHENDEN
AUTOREN DER JÜNGEREN GENERATION,
ZULETZT ERSCHIENEN DIE REBELLION (2007)
UND DIE STADT DER GLASELEFANTEN (2010).
Photo: private
Dornröschens Beichte
Mariusz Sieniewicz, einer der wichtigsten Prosaautoren seiner Generation,
bleibt auch in seinem jüngsten Roman den Themenkreisen verhaftet, die
ihn besonders interessieren. Die Dekonstruktion der nationalen wie lokalen
kulturellen Identität, die schon seine früheren Arbeiten „Der vierte Himmel“ und „Jüdinnen werden nicht bedient“ geprägt hatte, spielt auch in
„Dornröschens Beichte“ eine gewichtige Rolle.
Protagonistin des in drei Teile gegliederten Romans und gleichzeitig dessen
Erzählerin ist die dreißigjährige Emila, die als Single ständig neue toxische
Verbindungen mit Männern eingeht. Außerdem ist Emila Narkoleptikerin,
sie erleidet täglich mehrere Schlafattacken. Dabei träumt sie die unglaublichsten Geschichten mit einem beharrlich wiederkehrenden Motiv – Selbstmord. Allerdings wird sie an der Ausführung immer wieder gehindert. Eines
Tages tritt Swietka in ihr Leben, eine geheimnisvolle Belarussin, die erklärt,
sie sei Emilas Schwester. Und weiter geht die Jagd nach dem nächsten Mann,
dem nächsten „Bärchen“. Das Bärchen ist eine besondere Gattung Mann, die
jedoch zahlreiche Untergruppen kennt: Selbstverliebte, Depressive, fanatische Patrioten …
Die Welt in „Dornröschens Beichte“ balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Wachzustand, für zusätzliche Effekte sorgt der spöttischgroteske Erzählstil. Unter dem Deckmantel einer leicht absurden Märchengeschichte, wirft der Autor einen kritischen Blick auf die Lebenswirklichkeit
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im heutigen Polen (im Hintergrund spielen auch die 1980er Jahre eine
Rolle) mit ihren kulturell verankerten Erwartungen an Rollenbilder (für die
unter anderem das titelgebende Dornröschen steht) und den Möglichkeiten
der virtuellen Kommunikation im Netz. Sieniewicz bedient sich sprachlicher
Floskeln, die er mit seiner einzigartigen Erzählweise als lächerlich bloßstellt, und zeigt so die ganze Absurdität der beherrschenden Kultur. Hier
erklingt die ausdrucksstarke, groteske, polen- und gegenwartskritische
Stimme eines Vierzigjährigen.
Marcin Wilk
Emilas
aktuellen Geliebten kann man nicht gerade als
ausgemachten Single bezeichnen, der die ganze
Welt als seine Geburtstagstorte begreift und beim
bloßen Klang des Wortes „Ich“ nicht nur mentale Erektionen bekommt. So
eine Emila könnte dem Single höchstens eine von vielen Kerzen sein, die er
auspusten darf, nachdem er sich etwas gewünscht hat. Als Emila damals die
Gombrowicz-Tagebücher gelesen hatte, war ihr sofort aufgefallen, dass der
Autor auf der ersten Seite die Verfassung des Singles niedergeschrieben hatte.
Die in einen Single verschossene Frau hat ihren Wochenrhythmus nach dem
folgenden Muster zu organisieren: Montag – er, Dienstag – er, Mittwoch und
Donnerstag – er und er, Wochenende – er, mit ihm, ihn, ihm, über ihn. Die
sieben Single-Fälle.
Das hat Emila zu einem apokalyptischen Schluss kommen lassen: Der
Menschheit steht eine Katastrophe bevor, die alles bisher Dagewesene in den
Schatten stellt, schlimmer als der Dschihad. Die Ichitis. Denn der Tag wird
kommen, da nur noch Singles diese Welt bevölkern. Und es wird ekstatisch
schallen von überall her: ich, für mich und über mich vor allen Dingen! Die
Singles werden sich gegeneinander wenden, wenn ihr Verlangen nach Verehrung auf taube Ohren stößt. Und ein Single wird die Hand erheben wider
seinen Single-Bruder. Und mit dem Hohelied des „Ich“ auf den Lippen werden sie übereinander herfallen. Sie werden einander hinterrücks erschießen,
sich sehenden Auges mit Stöcken erschlagen. Und die Erde wird in SingleBlut ertrinken. Und ein Krieg wird ausbrechen, wie ihn die Welt noch nicht
gesehen hat. Ein Krieg der Ein-Mann-Heere. Und diese Heere werden in die
Millionen gehen. Emila hofft nur, dass sie diese blutigen Konsequenzen der
Ichitis nicht mehr miterleben muss.
Mit ihrem Verlobten verhält es sich anders. Er ist jederzeit verfügbar. Nachts
genauso wie am helllichten Tag, selbst während der sonntäglichen Messe, ihr
Geliebter kann das geheime Spiel der Lust eröffnen, dem Emila sich nicht
entziehen kann und will: streichelnde Finger, heißer Atem, behutsame Berührungen an Brüsten und Hüfte. Will Emila lieber alleine sein, wartet er geduldig in der Küche oder im Esszimmer. Auch er hat seine Ruhephasen. Alle
drei bis vier Tage liegt er einmal rücklings vor ihrem dem Bett, das schwarze
Köfferchen im Arm.
Emilas Liebhaber ist nicht der Gesprächigste, das schätzt sie an ihm ganz
besonders. Er langweilt sie nicht mit diesen im Fernsehsessel geschauten typischen Bärchen-Weisheiten über diese unsere Welt, schon gar nicht mit denen
aus Discovery Science. Sie brechen sich in aller Regel nach dem Mittagessen
Bahn. Emila nennt diese Philosophie nur den „Nachmittagismus“. Der Nachmittagismus ist eine Kombination aus „Scheißegalismus“ und „Neopenetrantismus“. Und wie Cato immer gepredigt hat, dass Karthago zerstört werden
müsse, so beschließen diese Philosophen ihre Weisheitsausbrüche mit dem
Ausruf:
– Alles Verbrecher! Alle wegsperren! Steht noch ein Bier kalt?
Papi und Mami stehen ihrer Beziehung nicht im Weg. Sie protestieren nicht
einmal, wenn Emila ihn beim Essen begehrlich berührt und unter ihren Fingerkuppen die Lust aufleben lässt. Nie würde ihnen einfallen, ihre Tochter mit
Fragen nach Verlobung oder Hochzeit zu bedrängen.
Einmal nur hatte ihre Mutter gefragt, ob er nicht etwa Finne oder Schwede
sei, sein Name wäre so komisch, so gar nicht polnisch. Und warum er denn
so ein Hänfling wäre, ein richtiger Däumling. Sicher, eine Basketballkarriere
stand ihm nicht bevor, aber so hatte sie ihn wenigstens fest im Griff. Mäkeleien wären in ihrem Alter ohnehin ein unzulässiger Luxus. „Kugelrund, spindeldürr, riesengroß, miniklein – alle, alle, alle können Ehemänner sein“ – das
Lied war ihnen auf den Leib geschrieben.
Und der Name? Weil er allzu fremd klang, nannte sie ihn irgendwann einfach Eryk. Ihre Eltern behandeln Eryk wie Luft. Nur ganz ab und zu bitten
sie ihn reichlich kühl, etwas für sie zu erledigen: Schlangestehen vor dem Ärztehaus, die Gasrechnung überprüfen oder rausfinden, was es bei Tante Krystyna in Deutschland neues gibt. Eryk erfüllt jeden Wunsch im Handumdrehen. Er ist ausgesprochen hilfsbereit und würde sich – im Gegensatz zu ihren
verflossenen Bärchen – nie ein abfälliges Wort erlauben, keine aufgetakelten
Perückenschnepfen oder verklemmten Betbrüder.
Eryk hat noch einen weiteren, viel wichtigeren Vorzug: Er hat vollstes Verständnis für Emilas krankhafte Neigungen, die für ihre meisten Bärchen ein
unüberwindliches Hindernis darstellten. Schon nach zwei oder drei Anfällen
suchten ihre potenziellen Zukünftigen panisch das Weite. Sie gaben Emila
und ihren Zweitzahnbürsten den Laufpass. Der lachende Dritte war ihr Vater.
23
Der Zahnbürstenvorrat, den er für seine wenigen noch verbliebenen Zähne
angesammelt hatte, würde bis ans Ende seiner Tage reichen. Oder ihrer.
Eryk fürchtete Emilas Krankheit nicht. Allerdings muss man Frauen ohne
Anomalien heutzutage auch mit der Lupe suchen. Jede hat ihre Wehwehchen
und einen bunten Strauß psychischer Devianzen.
So auch Emila. Aber der Reihe nach: Wenn es Schnapsdrosseln und
Kräuterhexen gibt, wenn man auf Schritt und Tritt über Ökofaschistinnen,
Gralshüterinnen von Männerkonten, über Fitness- und Vollkornpäpstinnen
stolpert, wenn man die Mitglieder der als Club der Cappuccino-Freunde getarnten Geheimen Silikon- und Botox-Schwesternschaft identifizieren kann,
wenn man auf den ersten Blick erkennt, wer der Hedone zu Diensten ist, wer
aus der heilen Pfarrei-Idylle ins kalte Lebenswasser gestürzt ist und wer den
Hammerhai im Rock spielt, dann ist Emila …
Emila ist narkoleptikerin.
Da hilft keine Spezialdiät und auch kein Nordic Walking. Also gibt Emila
ihrer Krankheit nach, statt gegen sie zu kämpfen. Sie räumt der Narkolepsie
ein, nicht ihre zweite, sondern ihre erste Natur zu werden. So kommt Emila
zu einer zusätzlichen Biografie. Die eine ist korrekt und glatt wie der Lebenslauf aus einer Bewerbung als Bürokraft. Die andere ist verschlafen, verborgen,
unterirdisch, eine Art venezianischer Spiegel.
Wenn Emila kollabiert und ihre Flashbacks hat – die zynischen WachseinsApostel sprechen vom „Nageleinschlagen“ – kann nur Eryk sie wieder zu Bewusstsein bringen. Die narkoleptischen Schübe dauern mal eine Minute, mal
eine halbe Stunde, aber wenn es vorbei ist, fragt Eryk nicht blöde, was sie
geträumt hat, oder ob er den Krankenwagen rufen soll.
Gerade summt Eryk, der auf dem Rand des Kissens liegt, Never Ending
Story. Emila spielt die Verschlafene. Sie streckt die Hand nach ihm aus, um
sich sogleich auf die andere Seite zu drehen. Eryk verstummt und gönnt seiner
Liebsten ein paar Minuten Schlaf.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
ZNAK, KRAKÓW 2012
140 × 205, 260 PAGES
ISBN: 978-83-240-1896-3
TRANSLATION RIGHTS: ZNAK
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24
ADAM WIEDEMANN
ADAM WIEDEMANN (GEB. 1967), LYRIKER,
PROSASCHRIFTSTELLER, LITERATUR- UND
MUSIKKRITIKER, ZEICHNER, ÜBERSETZER
AUS DEM UKRAINISCHEN, SLOWENISCHEN
UND ENGLISCHEN (U.A. HARRY MATHEWS
UND GERTRUDE STEIN)
Photo: Instytut Książki
Entsprechungen
Adam Wiedemann, der in letzter Zeit eher als Lyriker in Erscheinung getreten ist, hat ein neues Prosawerk vorgelegt. Seit seinem letzten Erzählband
(„Gewaltige Verschlechterung des Gehörs“, Hainholz Verlag 2001) ist mehr
als ein Jahrzehnt vergangen, die Neuerscheinung ist also bezeichnend, bemerkenswert und obendrein gelungen. Bei den „Entsprechungen“ handelt
es sich wiederum um eine Sammlung von (insgesamt 20) mal längeren, mal
kürzeren Geschichten. Diese in Polen heute nicht sonderlich beliebte Form
liegt Wiedemann immer noch am besten, glücklicherweise verfällt er nicht
in die verbreitete Unsitte, Erzählungen zu Romanen aufzublasen.
Abgesehen von wenigen pasticheartigen Texten erzählt Wiedemann über
das, was er am besten kennt – über sein Leben. In diesem Erzählen über sich,
einen Künstler mittleren Alters, der in reichlich mittelmäßigen Zeiten sein
Leben lebt, legt er allerdings eine Verve und einen Humor an den Tag, die
von jeglichem Mittelmaß weit entfernt sind; er stellt sich mit unverhohlener
Sympathie in die Traditionslinie eines Modus des Erzählens über das eigene
Leben, den in der polnischen Literatur Miron Białoszewski geprägt hat. Nur
überwiegt in den „Entsprechungen“ nicht die Beschreibung des häuslichen
Treibens, sondern das Auswärtsspiel in reportageartigen Erzählungen über
die Abenteuer („Geschehnisse“ wäre der treffendere Ausdruck) bei den zahlreichen Festivals, Messen und Stipendienaufenthalten im Ausland, die sich
über die Jahre angesammelt haben.
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Wir haben es also mit sehr persönlichen Berichten über ein „normales“
Einzelleben mit (zumal für Leser jenseits des Literaturbetriebs) durchaus
exotischen Zügen zu tun, die sich stets der sprachlichen Fallstricke bewusst
sind, die alles Erzählen durchkreuzen. „Du denkst, du erlebst etwas, du erlebst es sogar wirklich, und dann weißt du plötzlich, du hast nichts erlebt,
und das ist auch kein Schaden.“ Wir haben sogar alle einen ästhetischen,
ja einen existenziellen Nutzen davon. „Es ist kein Schaden, dass du nichts
mehr davon weißt, was du nicht erlebt und was du erlebt hast, obwohl du
dachtest, du würdest es vielleicht nicht mehr erleben. Du hast es noch erlebt, und es hat dir sogar etwas gebracht“, schreibt Wiedemann in seinem
kurzen Text über eine Stipendiatenepisode in Iowa City.
Freuen wir uns, dass es Wiedemann (und den Lesern) so viel gebracht hat.
Marcin Sendecki
Du
denkst, du erlebst etwas, du erlebst es sogar wirklich, und dann
weißt du plötzlich, du hast nichts erlebt, und das ist auch kein
Schaden. Es ist kein Schaden, dass du nichts mehr davon weißt,
was du nicht erlebt und was du erlebt hast, obwohl du dachtest, du würdest
es vielleicht nicht mehr erleben. Du hast es noch erlebt, und es hat dir sogar
etwas gebracht.
Ich erinnere mich dunkel an Zimmer, Häuser. An Menschen. Diese Menschen gibt es nicht und ich weiß nicht mehr, wovor sie Angst hatten.
Mary hatte mich geweckt, sie hatte einen Umschlag mit meiner EC-Karte
dabei. Ich hatte auf etwas Netteres gehofft, möglichst ohne Mary-Dreingabe,
dabei war Mary höchst wahrscheinlich. Mary ist wie eine Mutter für uns, sie
liebt uns, weil sie uns geboren hat, was verständlicherweise für Unmut sorgt,
denn wer will schon das Kind von einer wie Mary sein.
Jetzt frage ich mich nur noch, ob dieser ganze düstere Alptraum durch
das Poltern an der Tür ausgelöst wurde, oder ob das Poltern mich vor dem
Schlimmsten bewahrt hat.
Die Karte war sehr hübsch und es stand drauf, man sollte etwas mit ihr tun.
Das verschob ich auf später, so schnell geht das nicht, vor dem Aufstehen, vor
dem ersten Drink. Ich ließ sie auf der Schlafcouch zurück und machte mich
an Gertrude Stein, die auf dem Tisch lag. Man stelle sich nur einmal vor,
Gertrude Stein hat das alles im nüchternen Zustand geschrieben. Sie hat das
alles im nüchternen Zustand geschrieben, heißt es. Ein nüchterner Mensch.
Ordentlich. Solche Menschen muss man lieben. Ich muss Schwester Teresa
schreiben, dachte ich.
Aber ich schrieb nicht. Ich übersetzte ein paar Seiten „Useful Knowledge“,
bis sie for, four und fortunately stapelte, das war zu viel. Es war schon halb fünf.
Auf der Schlafcouch sah ich die Karte liegen.
Die Karte ließ mir drei Optionen: hingehen, mailen oder anrufen. Ich rief
an. Es meldete sich ein Automat, ließ mich verschiedene Dinge tun, ich tat
sie, solange ich konnte. Als ich nicht mehr konnte, meldete sich eine andere
Stimme. Bist du ein echter Mensch?, fragte ich.
Jawohl, das bin ich, antwortete die Stimme. Sie ließ mich dasselbe tun wie
der Automat. Das war ganz einfach. Wir verabschiedeten uns in beiderseitigem Einvernehmen auf das herzlichste. Diese Stimme gibt es noch. Ich mag
sie. Ich könnte sie noch einmal anrufen.
Ich könnte sie in der Realität treffen. Ich könnte mich mit ihr verabreden.
Ich könnte, könnte, aber nüchtern betrachtet, was soll die Quälerei.
Ich zog mich an und verließ die Wohnung. In einem Antiquariat gab es das
Buch „Wars I Have Seen“ für 6 $, ich nahm es und ging zur Kasse. Könnte ich
das kaufen?, fragte ich.
Ich denke, du könntest, sagte die Kassiererin. Sie war dick. Ich lachte laut.
Ich bezahlte 6.80 inklusive tax. Und ich ging in die Bar nebenan, eine Hamburger-Bar. John hatte nämlich gesagt, dort gibt es die authentischsten Hamburger, die muss man probiert haben.
Ich setzte mich und nahm mir die Karte, es gab alle Arten von Hamburgern.
Ich wollte einen ganz normalen, bestellte aber einen mit Speck, das klang irgendwie besser. Und eine Limo, hier haben sie überall Limo und man kann sie
einfach so bestellen, ohne zu erklären, was man will und wie das geht. Willst
du was zum Hamburger dazu?, fragte die Bedienung. Pommes? Für Hamburger mit Pommes ist es noch zu früh, antwortete ich und meinte damit,
vielleicht beim nächsten Mal. Die Bedienung ging den Hamburger holen. Ich
zog „Wars I Have Seen“ heraus und begann zu lesen. Gertrude kann man in
der Bar lesen. Man kann sie überall lesen, sie gebraucht keine überqualifizierten Verben. Die Bedienung brachte die Limo, sie war riesig. Mir gegenüber
setzte sich ein älterer Mann ohne Arm, er war sehr unglücklich oder verrückt.
Er bestellte etwas und beklagte dann lauthals sein Schicksal. Adam, beruhige
dich, rief eine Bedienung von hinten.
Der Mann ohne Arm beruhigte sich. Wir bekamen unsere Hamburger. Der
Speck in meinem war gut gewürzt, das Brötchen gut gebacken, man konnte
das gut essen. Willst du noch was?, fragte die Bedienung und setzte sich zu den
Leuten am Nebentisch.
Oh, Adam, sagten die, wie geht’s, schön dich hier zu sehen. Lesend leerte ich
die Limo, Gertrude wurde immer besser, die Limo wurde wässrig.
Ich stand auf und ging zur Kasse, ich hatte 6 $ klein. Die Rechnung belief
sich auf 6,41 inklusive tax, ich hielt einen Hunderter hin. Ich muss dir in Fünfern rausgeben, sagte die Kassiererin. Und wenn ich mit Karte zahle?, sagte ich
und zahlte mit Karte, obwohl ich die Karte das erste Mal vielleicht lieber unter
erhebenderen Umständen gebraucht hätte. Hier ist Platz für den tip, sagte die
25
Kassiererin, schreib soviel du willst. Aber der tip war doch schon mit drin?,
sagte ich und verwechselte tip mit tax. Tax ist immer schon mit drin, sagte
die Kassiererin, hier kannst du den tip für mich hinschreiben. Ich schrieb 29
Cent, damit es aufging, trat vor die Tür und machte mir klar, dass ich 69 hätte
schreiben sollen. Nein, 59, was habe ich nur mit den Zahlen?
Ich ging die Straße hinab und dachte an die tips oder taxes. Dass man nie
wusste, wie viel man zahlt. Was schert mich die Kassiererin, was schert mich
die Bedienung, ich gehe da nie mehr hin, das waren meine Gedanken. Zwei
Jungs joggten vorbei, einer oben ohne, sehr attraktiv. Ich ging um ihn herum, er hatte nämlich an einer Ampel gestoppt, Schweißtropfen auf der Haut,
schwer atmend, umsonst. In einem Geschäft suchte ich Kuchen, ich fand BioKekse für 3 $. Der Kassierer war komplett tätowiert, er bekam tax. Tax bekommen die, die es nicht verdienen, dachte ich, obwohl dieser tax tip für den
Kassierer war. Alle sind hier total tattooed, machen aus sich einen Text.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
RITA BAUM, WROCŁAW 2012
130 × 178, 228 PAGES
ISBN: 978–83–924251–8–2
TRANSLATION RIGHTS: ADAM WIEDEMANN
CONTACT: RITA BAUM
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ŁUKASZ ORBITOWSKI
ŁUKASZ ORBITOWSKI (GEB. 1977), PROSAIST UND
POPULÄRER PUBLIZIST, AUTOR REALISTISCHER
HORROR- UND SCIENCE-FICTION-LITERATUR, VON
SEINEN LESERN WIRD ER AUCH FÜR DIE SAMMLUNG
MÄRCHENHAFTER ERZÄHLUNGEN DER VORSITZENDE
UND DER STRICH. WIE KATZEN SICH DIE WELT
ERKLÄREN GESCHÄTZT.
Photo: Bartłomiej Kwasek
Gespenster
Łukasz Orbitowski beweist in Gespenster, dass er zu jenen Autoren gehört,
die die ungezügelte narrative Imagination der phantastischen Literatur
geschickt mit der Aufmerksamkeit eines scharfsinnigen Psychologen und
Beobachters der Wirklichkeit zu verbinden wissen.
Die breit angelegte Handlung des Romans beginnt mit einer beunruhigenden Szene, an der ein kleines Mädchen und ein Soldat beteiligt sind. Die geheimnisvolle Schachtel, die hier auftaucht, ist das Leitmotiv, das sich durch
die gesamte Erzählung zieht. Die eigentliche Verbindung wird jedoch nach
einem guten Dutzend Seiten hergestellt, vor dem für den 1. August 1944
geplanten Warschauer Aufstand. Krzyś (er ist dem jungen und berühmten
Dichter Krzysztof Kamil Baczyński nachempfunden, der im Aufstand ums
Leben kam) wird daran teilnehmen, er ist auf dem Weg zum Sammelpunkt.
Seine Verlobte, Basia, soll eine Schachtel verstecken, ohne dass ihr zukünftiger Mann etwas davon mitbekommt. Aber es kommt nicht zum Aufstand.
Die Waffe funktioniert nicht. Die Geschichte Polens nimmt einen anderen –
alternativen – Lauf, auch für Krzyś, der in Orbitowskis Buch nicht bei Kampfhandlungen ums Leben kommt. Jener Krzysztof lebt im sozialistischen Polen und versucht einen Roman zu schreiben, der den aktuellen politischen
Bedürfnissen gerecht wird. Das bereitet ihm riesige Schwierigkeiten. Außerdem kämpft er mit gewöhnlichen Alltagsproblemen im Kontakt mit anderen Menschen und sich selbst. Im Hintergrund der Abenteuer von Krzysztof
zurück zum Inhaltsverzeichnis
kommt es zur gleichen Zeit zu schicksalshaften Ereignissen zwischen dem
Milizionär Wiktor und dem politischen Gefangenen Janek.
Der Roman Orbitowskis schillert in vielen Farben. Die phantastische Narration vermischt sich mit realistischen Schilderungen, von einer historischen
Aura umgebene Motive entpuppen sich plötzlich als identisch mit der Gegenwart, und der Elan bei der Darstellung der Figuren hat direkt zu tun mit
der psychologischen Beobachtung zwischenmenschlicher Beziehungen. Auf
diese Weise jongliert Orbitowski ausgezeichnet mit Stilen, Perspektiven und
Atmosphären. Seine solide, mitunter filmische Prosa hat ohne Zweifel ihren
Platz im Kreis der wichtigsten Autoren der phantastischen polnischen Gegenwartsliteratur.
Marcin Wilk
Krzyś
zog die Papiere aus dem Versteck, es waren dort ein
paar Untergrundzeitungen, zerknitterte Exemplare des Neuen Spatzen, militärische Lehrbücher aus
der Vorkriegszeit und das schon unter deutscher Besatzung im Untergrund
herausgegebene Buch Emotionale Psychologie von Petrażycki. Darunter lagen
Karten und Schulungsmaterialien, die die wahren Schätze verdeckten: eine
Thompson mit langem Kolben, zwei Sten Guns, eine Schmeisser, außerdem
ein paar Granaten und ein wenig Munition. General Monter hatte gesagt,
falls jemand keine Waffe habe, solle er einen Stein nehmen und eine erbeuten.
Krzyś hatte eine Waffe.
Er krümmte sich einen Moment über dem kleinen Kasten zusammen, aber
nicht wegen des Asthmaanfalls, wer hätte sich an so einem Tag um Asthma
geschert? Krzyś überlegte, was er nehmen sollte, schließlich gehörten ihm die
Waffen nicht, aber mit leeren Händen in die Focha-Straße zu gehen hatte nun
auch keinen Sinn. Und was ist, wenn ihn eine Patrouille anhält?
Es war ein warmer Tag, eine Sten würde er unter dem Mantel verstecken
können, nur dass ein Mantel am 1. August verdächtig aussah. Doch sollten
an jenem Tag auf Warschaus Straßen jede Menge Menschen im Mantel zu
sehen sein. Krzyś wusste, dass Soldaten außer Mänteln und Stens auch Schuhe
brauchten, und er musste sich welche organisieren. Es war nicht genug Zeit.
Er verspürte einen komischen Unwillen, es war, als ob ihm mit diesem Auftrag zu verstehen gegeben worden wäre, dass er sich im Hintergrund halten
und den Kämpfenden behilflich sein sollte, als ob man den Gedanken von
seinen Augen hätte ablesen können, dass Kämpfen bedeutete zu töten; Krzyś
hingegen schien ein Mensch zu sein, der stirbt, ohne zu murren, aber mit dem
Töten ein Problem hat. Er verscheuchte diese Gedanken und tröstete sich damit, dass jetzt alle in Warschau von Zweifeln geplagt wurden und ein jeder
anderswo sein wollte, in einem anderen Kommando, in einem anderen Haus
oder einer anderen Einfahrt als der, in der er gerade saß, und ganz sicher gab
es Menschen, die in diesem Moment gerne vor einem Versteck voller Waffen
gekniet hätten.
Er legte zwei Granaten aufs Bett, räumte das Papier zurück und setzte die
Parkettstäbe wieder ein. Er schob die Couch zur Seite und setzte sich darauf, er
war außer Atem. Basia fehlte ihm, ihre Worte und ihr Mund am allermeisten,
aber auch dieser einfache Handgriff: immer, wenn er das Versteck geschlossen
hatte, war Basia mit Besen und Wischlappen gekommen, sie war erstaunlich
vorsichtig, dafür, dass sie so ein schönes Mädchen war. Er konnte sich nicht
erklären, warum Basia das tat, schließlich war es überflüssig; wenn jemand
sie denunziert hätte oder irgendein Deutscher zufällig hereingekommen wäre,
hätte er sofort die Couch bemerkt und an die Dielen darunter gedacht, da
hätte kein Fegen geholfen. Aber Basia fegte, sie fegte immer wieder.
Er dachte jetzt daran, wo sie wohl sein mochte, ob sie schon in der PańskaStraße war, und falls nicht, ob sie dorthin gelangen wird, bevor es losgeht,
schließlich muss man kein General sein, um zu wissen, was sich zusammenbraut. Die Mobilmachung dauerte schon einige Tage an, von Praga, von
Radzymin und Otwock feuerte die sowjetische Artillerie ihre Salven ab, und
Fischers Befehl, Gräben auszuheben, war anstelle der ganzen Stadt nur eine
Handvoll Idioten nachgekommen. Basia – die nie etwas hatte wissen wollen
– weiß Bescheid, es lohnt sich zu fragen, was sie mit diesem Wissen macht,
verkriecht sie sich irgendwo oder folgt sie Krzyś? Diese Frage setzte ihm zu,
und ein Schmerz breitete sich in seinem Körper aus, arm und dürr wie er war.
Krzyś wusch sich das Gesicht, steckte die Granaten in die Hose und verdeckte sie mit seinem sandfarbenen Mantel, der für seine schmalen Schultern zu groß war, aus den überlangen Ärmeln ragten dünne Handgelenke, aus
dem gestärkten Kragen der Kopf eines Jungen mit ängstlichen Augen hervor.
Er warf einen Blick durch das Fenster, auf die Uhr und wieder durch das
Fenster, dort eilten Menschen über gepflasterte Gehwege, strebten in chaotischen Grüppchen den ihnen bekannten Zielen zu; wenn irgendein Gesicht
im Fenster erschien, dann nur, um gleich wieder zu verschwinden, aus einer
dunklen Einfahrt sprang barfuß ein stinkender Hosenmatz hervor, auch ihn
verschluckte umgehend eine andere dunkle Einfahrt. Die Phantasie des Poeten ergänzte den Rest: die Mauern des Wohnhauses in der Hołówka-Straße
reißen auf wie frisch vernarbte Wunden, unter dem Putz scheinen feuchte rote
27
Backsteine hervor, die Tore sind hoch, schmal, haben die Form uralter Steine,
das leere Abbild heidnischer Kreise, aus denen diejenigen herausfallen, die
von Warschau gefressen wurden, die auf die Teller der Moskowiter, Sowjets
und Deutschen geworfen wurden, sie werden verputzt mit Besteck aus den
Knochen der Volksdeutschen, zerbissen, zerkaut – nun sind sie wieder heil,
sie stürmen in die Freiheit – die beim Massaker von Praga abgeschlachteten
Jungs, die vom sibirischen Frost Dahingerafften, die auf der Szuch-Allee Erschossenen, die Verhungerten, das Lebendige in der Asche des vor kurzem
noch existierenden Ghettos, alle sausen im Wind aus den Eingeweiden der
Stadt. Über dieses Bild schob sich ein anderes, das sogar Krzyś überraschte: Es herrscht Frieden, die Deutschen sind vernichtet, die befreiten Geister
verbrüdern sich, Freunde und Liebende finden zueinander, endlose Kolonnen
schwarzer Autos jagen zum Spaß dahin und feiern den Sieg, wo furchterregende Kapellen lebhaft spielen, suchen sich Verliebte einen Platz in den oberen
Rängen oder paaren sich direkt vor aller Augen, überzeugt davon, dass sie,
da sie doch tot sind, für ihre Ausschweifungen nicht werden büßen müssen.
Erschlagene Legionäre dreschen einen Skat oder Poker, abgestochene Huren
flirten mit ihnen, von den Toten auferstandene Kinder werfen fröhlich die
Scheiben in den Häusern ein, schließlich sind sie schon im September, vor
fünf Jahren, zu Bruch gegangen.
Und dann schweben die Gespenster, was noch schöner ist, in Richtung Altstadt, auf die Marszałkowska-Straße, wo sie sich in einen Leichenreigen ergießen, der erstrahlt im Glanze des Sieges. Jeder trägt eine lustige Mütze oder
farbige Kleidung, rotes Konfetti schießt in den Himmel, es ertönt Gelächter, es erklingt ein Lied von Akkordeons, Gitarren und Leierkästen, und jene
Fröhlichen, Siegreichen, Verstorbenen reißen die Lebenden mit sich in ihren
freudigen Taumel, heben die Krüppel aus ihren Rollstühlen, stoßen den Greisen ihre Stöcke weg und ziehen sie mit sich, sie drücken Soldaten, deren Frauen, Mütter an sich, feuern Salutschüsse ab, schneller und schneller, Lebende
und Tote, Könige und Unteroffiziere, vereint in einem Reigen auf den Straßen
Warschaus. Wo auch immer man hinblickt, kein einziges trauriges Gesicht,
es sei denn die Fresse eines Schmalzowniks oder Volksdeutschen – oder eines
an der Laterne aufgeknüpften Blauen Polizisten, der eine wütende Grimasse
schneidet. Warschau lacht, Warschau tanzt, zusammen mit den Menschen
tanzen Tiere und Häuser, die Stadt fährt auf in den Himmel in diesen heiligen
Tagen des August. So sah es zumindest Krzyś, eindeutig erschrocken über sich
selbst überlegte er, ob er das nicht aufschreiben und irgendwie Basia geben
sollte, als gutes Omen – wenn man dem Dichter den Kopf aufschneiden und
daraus die Zukunft lesen könnte, wäre das Leben einfacher. Er lächelte bei
diesem Gedanken – dem Anblick der Priester über dem gespaltenen Schädel
des einen oder anderen Dichterpropheten – und entschied, dass er es nicht
aufschreiben würde, weil er sich beeilen musste. Wo auch immer Basia war,
sie würde sicher warten.
Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel
WYDAWNICTWO LITERACKIE, KRAKÓW 2012
145 × 205, 544 PAGES
ISBN: 978-83-08-04774-3
TRANSLATION RIGHTS: WYDAWNICTWO LITERACKIE
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28
MAŁGORZATA SZEJNERT
MAŁGORZATA SZEJNERT (GEB. 1936),
JOURNALISTIN, REPORTERIN,
SCHRIFTSTELLERIN. MITBEGRÜNDERIN
DER ZEITUNG „GAZETA WYBORCZA”,
BEI DER SIE 15 JAHRE LANG DAS
REPORTAGERESSORT LEITETE UND
ZAHLREICHE JUNGE REPORTER
AUSBILDETE UND SCHULTE.
Photo: Andrzej Bernat
Das Heim der Schildkröte. Sansibar
Małgorzata Szejnerts neues Reportageabenteuer nahm seinen Anfang bei
der Begegnung mit einer … Schildkröte.
Szejnert fuhr nach Sansibar, um tauchen zu lernen. Kaum unter Wasser, begegnete sie einer Grünen Meeresschildkröte, der heute äußerst seltenen Königin der sansibarischen Gewässer. – „Die Sonnenstrahlen beleuchteten sie;
sie sah aus wie eine goldene Honigwabe“, sagte Szejnert später.
Als sie aufgetaucht war und das Tauchgerät abgenommen hatte, setzte
Małgorzata Szejnert sich an den Computer, um mehr über die Grüne Meeresschildkröte zu erfahren. Und erfuhr, dass diese Tiere 170 Jahre alt werden – könnten, gäbe es da nicht den Schädling namens Homo sapiens. Dass
das Schildkrötenweibchen seine Eier an dem Strand ablegt, an dem es selbst
geboren wurde. Und dass es an diesem Strand immer häufiger ein vom Homo
sapiens errichtetes Hotel vorfindet. Und Beton, durch den die Schildkrötenflossen sich keinen Weg bahnen können.
„Diese Heimatlosigkeit der Schildkröte, die schließlich auf dem Rücken ihr
eigenes Heim mit sich herumträgt, hat mich sehr berührt“, sagt Małgorzata
Szejnert. Und so wurde die Schildkröte zum Leitmotiv ihres Buches, das die
Geschichte der Insel im Zeitraum von ebendiesen 170 Jahren schildert.
Dabei zeigt sich, dass die Menschen im Laufe des Lebens einer einzigen
Schildkröte imstande sind, sich ein wahres Kaleidoskop von Geschehnissen,
Haltungen, Ideologien, Kriegen, Revolutionen, Wortbrüchen und Fanatiszurück zum Inhaltsverzeichnis
men zu bereiten. Małgorzata Szejnerts Sansibar sprudelt über von außergewöhnlichen Ereignissen und Gestalten – kaum zu glauben, dass das alles auf
einer einzigen kleinen Insel geschehen sein soll. Ein fieser Sklavenhändler
rettet einen eingefleischten Gegner der Sklaverei vor dem Tod; ein polnischer Aufständischer ertränkt (als französischer Konsul) seinen Kummer in
der Dichtkunst; ein britischer Reisender bricht zum Herzen Afrikas auf und
verfällt dem Wahnsinn, woraufhin Träger ihn neun Monate lang weitertransportieren, damit er in Westminster beerdigt werden kann.
Das Sansibar Małgorzata Szejnerts ist die Welt im Miniaturformat; hier
finden alle großen Übel der vergangenen zwei Jahrhunderte ihren Widerhall. Zuerst der Kampf um die Rechte der schwarzen Sklaven, später dann
der Schatten des im fernen Deutschland aufkeimenden Imperialismus, der
sich mit der Zeit zum Faschismus auswuchs. Der Kommunismus, der sich in
eine blutige Revolution verwandelte. Schlussendlich dann die heutigen
Zeiten: das wachsende Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich. Und die
Zubetonierung der Strände, an denen reiche Touristen sich wie zu Hause
fühlen und Schildkrötenweibchen keinen Platz zur Eiablage finden. Dafür
allerdings scheint sich, außer der polnischen Reporterin, kaum jemand zu
interessieren.
Witold Szabłowski
Gewürznelken. Unguja und Pemba, Sansibar
Die Zeugnisse der Sklavenarbeit sind verschwunden – die Rikschas von den
Straßen in Stone Town, die Nelkenknospen von Sansibars Flagge.
Pflückt man die Knospen nicht rechtzeitig, sind sie, wie man weiß, nichts
mehr wert. Doch wer sollte sie pflücken? Vor der Revolution sammelten Saisonarbeiter vom afrikanischen Festland sie ein. Jetzt halten Engpässe bei der
Nahrungsversorgung auf den Inseln die Arbeiter von der Herfahrt ab. Die
Ernten werden zusätzlich dadurch beeinträchtigt, dass die Vereinigung der
Nelkenanbauer der staatlichen Kontrolle unterstellt wurde und ihre Erfahrungen kaum noch weitergeben kann. Die Organisation der Arbeit verkommt. Es
ist bequemer, nur die Knospen von den unteren Zweigen zu pflücken und die
oberen am Baum zu lassen. Auf einigen Plantagen bleiben angeblich vierzig
Prozent der Knospenstände an den Bäumen. Die von der Regierung festgelegten Nelkenpreise sind um vieles niedriger als die auf dem Weltmarkt, und
so wird bereits ein Teil der Ernten nach Festlandafrika geschmuggelt. Die
Behörden drohen mit Todesstrafe für dieses Verbrechen, aber Unguja und
Pemba verfügen über historische Erfahrung im Schmuggeln: So wie einst
Sklaven unter einer Abdeckung in den kleinen dhows befördert wurden, fahren die flinken und leisen Segelboote heute mit Gewürznelken beladen gen
Westen, hauptsächlich nach Kenia, und bringen wertvolle Gebrauchsartikel
mit zurück, Zucker, Mehl, Öl, Kleidung, Zahnpasta, Seife, Streichhölzer und
so weiter. Der Nelkenschmuggel nimmt solch mächtige Ausmaße an, dass
sein jährlicher Wert in die Millionen Dollar geht. Die Regierung schätzt, dass
1975 ein Drittel der Ernte aus Sansibar herausgezogen wurde.
An Daten zu kommen, ob und wie viele Personen mit dem Tod bezahlen
mussten, ist nicht möglich. Vielleicht bekam sogar niemand je die Höchststrafe, weil die Schmuggler so viel verdienten, dass sie Aufseher und Gerichte
bestechen konnten.
Ajit Singh. Ng’ambo, Sansibar
Ajit Singh Hoogan verlässt Sansibar nicht, obwohl er diese Möglichkeit sicher
in Betracht zieht. Doch er muss sein Haus bewachen. Pretty One ist prächtig
genug, um sich auf der Verstaatlichungsliste wiederzufinden, die von Ali Sultan Issa, Vater von Raissa, Fidel, Maotushi und Stalin, aktuell gehalten wird.
Der Verlust dieses Hauses, bei dessen Bau er Gottes Liebe gespürt hatte,
wäre sehr schmerzlich für Singh. Aber nicht nur deshalb bleibt er auf der Insel.
Die neue Regierung will die Stadt Sansibar völlig umgestalten. Bislang wurde
das arabische Stone Town mit der Hauptstadt gleichgesetzt, und daran änderten auch Duttons und Singhs frühere Projekte auf der anderen Seite nichts.
Obwohl Sansibars revolutionäre Regierung selbst die vornehmen, von der
Vorgängerregierung übernommenen Gebäude nutzt, entthront sie das arabische Stone Town und lenkt den gesamten Investitionsstrom nach Ng’ambo.
Auf Ajit Singh, den Gestalter des Raha Leo Civic Centers, das bei der Revolution eine so wichtige Rolle spielte, warten große Aufgaben.
In der Hoffnung auf Arbeit und Aufstieg strömt Sansibars Bevölkerung in
die Stadt. Die Populationskurve der Hauptstadt, in weit gefassten Grenzen,
steigt ab 1964 steil nach oben. Im Jahrzehnt nach der Revolution verdoppelt
sich die Stadtbevölkerung und übersteigt gegen Ende die Hundertfünfundzwanzigtausend. Transparente werben für die Idee einer sozialistischen Stadt,
und der beliebteste Slogan der damaligen Zeiten lautet: Unsere Mutter ist die
Revolution, unser Vater die Afro-Shirazi-Partei.
Das Vorzeigeprojekt trägt den Namen Michenzani.
Abdul Sheriff, Historiker und Professor an der Universität von Daressalam
und Autor zahlreicher Bücher über Sansibar, nannte dieses Projekt Die Kreuzigung.
Heute, im Jahr 2010, braucht man nur eine Satellitenaufnahme der Hauptstadt auf dem Computer aufzurufen, um die Richtigkeit dieser Behauptung zu
überprüfen. Von oben sieht die Stadt aus wie eine kunstvolle Patchworkarbeit
aus lauter winzigen Rechtecken und Quadraten. Die linke Seite – Stone Town
– ist dicht gearbeitet, keine Spur von Rissen oder platzenden Nähten. Die
rechte Seite – Ng’ambo – durchschneiden von Ost nach West, Nord nach Süd
die Arme eines riesigen Kreuzes. Sogar auf einem Foto aus großer Höhe weckt
sein Anblick Besorgnis und Neugier. Das Kreuz erinnert nicht an Gebäude,
sondern an Ingenieurskonstruktionen – Festungen, Kanäle, Startbahnen?
Es sind aber Häuser, oder eher Blocks. Der undeutliche Kreis an der Stelle,
wo die Arme des Kreuzes sich überschneiden, ist das Becken eines Springbrunnens. Auf der Luftaufnahme sieht man, dass kein Wasser darin ist,
sondern Müll, und dass verrostete Rohre herausragen. Im Übrigen kommt
29
niemand an das mit Beton ausgekleidete Becken heran; es liegt in der Mitte
eines Kreisverkehrs. Die Wohnblocks sind je dreihundert Meter lang und haben fast alle sechs Stockwerke. Sie sind aus grauem Beton gebaut und werden
von Außengalerien im Zickzack gekreuzt. Alle Module sind gleich schmutzig,
abgeblättert, rissig, Aufgänge und Wohnungen sind nicht gekennzeichnet;
unverständlich, wie Tausende von Bewohnern hier ihre Wohneinheiten wiederfinden. Wohneinheiten sind es nämlich, und die haben mit der afrikanischen Art des Haushalts und familiären Zusammenlebens nichts gemein; zwei
Zimmer und Küche in Beton. Die Blocks bilden endlose, wie ausgestorbene
Perspektiven, die auch heute – im Jahr 2010 – kein Straßenverkehr beleben
kann, keine an die Mauern gesprayten Schriftzüge, kein Handel mit Sofas,
Sesseln, Puffs, die an den Wänden im Erdgeschoss entlang aufgestellt werden
wie Reihen von alternativen, niedrigen, aber – der Abwechslung halber – weichen und bunten Gebäuden.
Nicht Ajit Singh ist jedoch verantwortlich für dieses Kreuz. Abeid Karume
ist es, der sich mit der Bitte um Hilfe beim Umbau der Hauptstadt an Architekten aus der Deutschen Demokratischen Republik wendet. Der leitende
Architekt heißt Hubert Scholz. Das Architektenteam sieht den Bau von zweihundertneunundzwanzig Gebäuden mit insgesamt fast sechstausend Wohnungen für dreißigtausend Menschen vor. Das erfordert den Abriss von über
fünftausend alten Häusern in Ng’ambo.
Doch die Eltern Partei und Revolution sind nicht in der Lage, Scholz’ Projekt in Gänze zu verwirklichen. Das Land ist zu arm, und Ng’ambo wird nicht
vollständig in eine sozialistische Stadt umgestaltet. Bi Kidude wohnt noch immer in ihrem kleinen Haus in der Nähe von Raha Leo, sitzt auf dem steinernen Treppchen davor und raucht Zigarette um Zigarette. Manchmal nimmt
sie sich ein Stück Schokolade, manchmal einen Schluck aus der Flasche. Ihrer
Stimme schadet das nicht; sie ist bei guter Gesundheit. In Berlin, wie sie die
Wohnblocks nennt, hätte sie nicht lange überlebt, meint sie.
Garth Andrew Myers, ein amerikanischer Professor mit dem Fachgebiet der
afrikanischen Urbanistik, meint, die enormen Investitionen in Ng’ambo, die
größten in der Geschichte der Stadt Sansibar, hätten das Problem der Überbevölkerung in der Stadt nicht gelöst. Sie hätten so gut wie gar nichts genützt.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
ZNAK, KRAKÓW 2011
165 × 235, 400 PAGES
ISBN: 978-83-240-1819-2
TRANSLATION RIGHTS: ZNAK
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30
WOJCIECH JAGIELSKI
WOJCIECH JAGIELSKI (GEB. 1960),
JOURNALIST, REPORTAGENSCHREIBER.
THEMEN SEINER BERICHTE SIND
DIE WELTWEIT WICHTIGSTEN
POLITISCHEN EREIGNISSE RUND UM
DIE JAHRTAUSENDWENDE, WOBEI ER
SICH AUF DIE LÄNDER AFRIKAS, DES
MITTLEREN OSTEN UND DES KAUKASUS
SPEZIALISIERT. JAGIELSKIS BÜCHER
WURDEN BEREITS INS ENGLISCHE,
SPANISCHE, NIEDERLÄNDISCHE,
ITALIENISCHE UND DEUTSCHE
ÜBERSETZT, UND ER SELBST WIRD
HÄUFIG MIT RYSZARD KAPUŚCIŃSKI
VERGLICHEN.
Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Brennendes Gras
Wojciech Jagielskis aktuelles Buch handelt von einem Land, das es in dieser Form – glücklicherweise – nicht mehr gibt. Doch die Idee, die hinter der
Organisation dieses Landes steckte, war so voller Gift, und das Leben seiner
Einwohner so bis ins Detail strukturiert, dass die neuen Regelungen eine
Sache sind, der Alltag aber eine ganz andere; eigentlich hat sich alles geändert, aber so, dass sich fast nichts änderte. Da wirkliche Veränderungen
gewöhnlich viel länger brauchen, als es jedermann scheinen mag, lassen
sie sich nicht verordnen, und ihr willkürlich festgelegter Beginn bezeichnet
nicht den Zeitpunkt, an dem sie tatsächlich Wurzeln schlagen.
Die Republik Südafrika, eine Kleinstadt in der Provinz Transvaal mit dem Namen Ventersdorp: Hier herrschte Eugène Terre’Blanche, Bure und Nachfahre
holländischer calvinistischer Siedler, Populist und Poser, mit Sicherheit leidenschaftlicher Redner und Mythomane, vor allem aber eifriger Anhänger
der Apartheid, die Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen,
gemeinsame Schulen, Krankenhäuser, Strände, Sportplätze, Parkbänke
und Bushaltestellen verbot, ganz zu schweigen von den Bussen selbst. Die
Regeln für die Menschen sollen ebenfalls auf die Tiere übertragen worden
sein – Friesenpferde wurden nicht mit Arabern gekreuzt, schreibt Jagielski
in Brennendes Gras.
Obwohl Terre’Blanche in der Kleinstadt offiziell keinerlei Funktion ausübte,
galt er als ihr König. Darüber hinaus hatte er zahlreiche Anhänger in der
zurück zum Inhaltsverzeichnis
ganzen Republik Südafrika. Sein Traum war eine unabhängige Burenrepublik, in der die rassistischen Regelungen für weitere Jahrhunderte beibehalten werden sollten. Er starb, zu Tode geprügelt von schwarzen Arbeitern seiner eigenen Plantage; der Grund war ein Streit um die Lohnauszahlung. Mit
dem Tag des Mordes an diesem weißen Volksführer beginnt Jagielskis Buch.
Es ist jedoch weder eine Kriminalgeschichte mit gesellschaftspolitischem
Aufhänger noch eine Reportage von der Art, für die sein Autor berühmt ist:
Jagielski setzte sich hier anspruchsvollere Ziele. Seine bis ins kleinste Detail gehende Analyse der Apartheid zeigt die finsteren Seiten der menschlichen Natur, die uns einerseits andere verachten und andererseits niemals
den Wunsch nach Rache vergessen lassen. Eher als die klassische Reportage
ist das Buch daher ein Studium eines durch ein vorsehungshaftes Verständnis der Glaubenswahrheiten gestützten ideologischen Wahnsinns. Für ein
solches Studium eignet sich die Sprache der Reportage ganz ausgezeichnet.
Paweł Smoleński
Bereits
31
den ganzen Nachmittag versuchte Martha
Terre‘Blanche, ihren Mann am Telefon zu erreichen.
Eugène führte schon immer sein eigenes Leben, zu dem sie keinen Zugang
hatte. Er konnte für ganze Tage verschwinden oder sich in seine Gedankenwelt zurückziehen. Sie wohnten sogar getrennt: Er auf der Farm, sie in der
Stadt. An Einsamkeit und Schweigen hatte sie sich gewöhnt. Die Unruhe, die
die Abwesenheit ihres Mannes gerade an diesem Tag in ihr weckte, überraschte sie selbst. Sie wuchs mit jedem vergeblichen Anruf, schnürte ihr den Hals
zu, lähmte.
Durch das Fenster sah sie einige Schwarze beim Zaun warten. Sie erkannte Chris, den Eugène ein halbes Jahr zuvor zum Rinderhüten auf der Farm
und für Gartenarbeiten beim Haus in der Stadt angestellt hatte. Er stand mit
einem Jungen, den sie auch schon auf der Farm gesehen hatte, vor dem Tor.
Später fuhr Eugène in einem weißen Lieferwagen vor. Er wies die Schwarzen an, sich auf die Ladefläche hinter dem Fahrerhäuschen zu setzen, und
machte sich dann zurück auf den Weg zur Farm nach Ratzegaai, etwa fünfzehn Kilometer hinter der Stadt. Von da an ging er nicht mehr ans Telefon.
Ernsthaft besorgt beschloss sie gegen Abend, die van Zyls anzurufen, deren
Landbesitz der Farm der Terre‘Blanches gegenüberlag, nur durch einen Weg
getrennt. Am Telefon meldete sich Dora, Eugènes Schwester, die er sehr liebte.
„Nein, ich habe ihn heute noch nicht gesehen“, sagte sie. „Aber am Abend
wollte er bei uns vorbeikommen.“
An diesem Samstagabend vor dem Ostersonntag, dem Fest der Auferstehung und Erlösung, wollten sie den Geburtstag ihres ältesten Sohnes feiern.
„Er ist sicher ausgeritten und hat das Telefon zu Hause gelassen“, sagte Dora.
„Ich sage Dan, dass er nachsehen soll, was drüben los ist.“
Auf der Veranda warf Dan van Zyl einen Blick auf die Uhr. Es war fast fünf.
Die Schatten im Tal wurden länger und dichter. Dan van Zyl setzte sich, um
dem Schauspiel zuzusehen.
Normalerweise verbrachte er seine Abende nicht so, für solche Dinge hatte
er keine Zeit. Aber an diesem Tag setzte er sich auf die Veranda seines Hauses
und schaute zu, ganz so, als folge er einer inneren Eingebung.
Von seinem Haus auf dem Hügel hatte er einen guten Blick auf den Feldweg im grünen Tal und die dichten Haine, die das Gelände der Farm am gegenüberliegenden Abhang bewuchsen. Sie gehörte seinem Schwager, Eugène
Terre‘Blanche. In den letzten Jahren war Eugènes Hof stark verfallen. Van
Zyl saß auf der Veranda und sann darüber nach, wie das mit der Erde so war.
Wenn jemand nicht das Herz oder den Kopf für sie hatte, war auch sie ihm
nicht geneigt und hörte auf, Früchte hervorzubringen.
Eugène lebte für die große Politik. Seine Welt, das waren endlose Debatten
darüber, wie schlecht die Dinge im Land vorangingen und wie schlimm es
noch werden würde, wenn die Schwarzen am Ende die Macht übernähmen.
Er trommelte seine Anhänger zu Beratungen und Demonstrationen zusammen, zerbrach sich den Kopf, wie eine Regierung der Schwarzen verhindert
werden konnte. Und die Erde verkam.
ab gelegenen Landgut fühlte sie sich nicht sicher. In den letzten Jahren war es
auf den rund um die Kleinstadt gelegenen Farmen immer häufiger zu Überfällen und Morden gekommen, und viele Farmer hatten für ihre Familien
Häuser in Ventersdorp gekauft. Auf ihre Farmen fuhren sie wie ins Büro und
kehrten für die Nacht in die Stadt zurück.
Die Sonne ging langsam unter, und Dan wollte schon ins Haus gehen, als
sich von Terre‘Blanches Hof den Hügel herab ein schwarzes Pferd näherte. Es
durchquerte die Wiese am Abhang, wobei es eine Spur in dem hohen gelblichen Gras hinterließ, und galoppierte bis zum Zaun am Feldweg, dann machte es kehrt und jagte im selben Tempo in Richtung des Hauses zurück.
Van Zyl kannte dieses Pferd gut und wusste sofort, dass etwas Schlimmes
geschehen war.
Eugènes Welt, das waren nächtliche Kundgebungen im Fackelschein. Er
pflegte zu Pferd einzureiten, hielt festlich herausgeputzt in einer Paradeuniform und inmitten flatternder Fahnen flammende Reden und drohte mit
Krieg. Konnten Menschen wie er sich mit der Erde befassen?
Eugène schmeichelte es, dass die Zeitungen ihn einen Burenkommandanten, General, den letzten Verteidiger der weißen Rasse nannten. Obwohl er
im heimischen Ventersdorp kein besonderes Amt ausübte, galt er als der wichtigste Bürger der Stadt, als unantastbar und keinen Rechten unterlegen außer
denen, die er selbst festgesetzt hatte. Bei den Schwarzen rief er echte Furcht
hervor, aber auch die Weißen wagten nicht, sich ihm zu widersetzen.
„Was für eine Verschwendung“, seufzte Dan van Zyl mit einem Blick auf die
Familienfarm der Terre‘Blanches, die Eugène vom Vater übernommen hatte.
Das Unkraut breitete sich mit jedem Jahr mehr im hohen, ungemähten Gras
aus, auf dem Terre‘Blanche das Vieh weiden ließ, und auf dem Weideland
waren hier und da Gruppen junger Bäume und Büsche aufgeschossen.
Abwesend und in Gedanken versunken betrachtete Dan van Zyl die wandernden Schatten im Tal. Er rührte sich nicht einmal, als im Wohnzimmer
das Telefon klingelte. Das Klingeln hörte auf, setzte aber nach einer Weile
noch lauter und drängender wieder ein.
Er hörte die Stimme seiner Frau. Am Apparat war Terre‘Blanches Ehefrau
Martha. Sie wohnte nicht auf der Farm, sondern im Städtchen. Auf dem weit-
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
Chris Mahlangu und Patrick stiegen durch das nicht ganz geschlossene
Fenster ins Schlafzimmer ein. Drinnen herrschte Halbdunkel. Der Farmer
lag auf dem Rücken auf einem ausladenden Bett, die Arme weit ausgebreitet,
vollständig angekleidet, nur die Hose war aufgeknöpft. Er schlief.
Eine Weile standen sie da und betrachteten den schlafenden Mann. Schon
der erste Schlag, den Mahlangu ihm mit einer Metallstange versetzte, raubte
Terre‘Blanche das Bewusstsein.
Chris Mahlangu schlug weiter zu, wieder und wieder, legte in jeden Schlag
all seine Kraft, seinen Hass, seine Wut und Angst. Die Schläge trafen den
liegenden Farmer am Kopf, den Schultern, der Brust. Mahlangu hörte das
Krachen berstender Knochen, roch Blut in der Luft.
Als die Kräfte ihn verließen, reichte er die Eisenstange an Patrick weiter, der
danebenstand und ihm unverwandt beim Morden zusah. Nun jedoch ergriff
er wortlos die Stange und ließ sie drei Mal auf Kopf und Brust des Weißen
niedersausen. Jeder der Schläge riß Terre‘Blanches Körper hoch, als gebe er
ihm das Leben zurück.
Im Schlafzimmer war es nun fast ganz dunkel und sehr stickig. Schwer atmend betrachteten sie den blutüberstömten Leichnam, der in nichts mehr an
den furchteinflößenden weißen Farmer erinnerte. Sein Gesicht war bis zur
Unkenntlichkeit entstellt, einer der Schläge hatte den Kiefer zertrümmert,
Wange und Zunge zerfetzt. Das Blut schien überall zu sein, auf dem Bett,
dem Kopfkissen und dem Körper des Opfers, an Wänden und Decke, den
Kleidern und Händen der Mörder, auf ihren Gesichtern und in ihren Haaren.
Chris Mahlangu zog ein Messer hinter seinem Gürtel hervor. Gerade beugte
er sich über den geschundenen Körper des Toten, als Terre‘Blanches Handy
und Autoschlüssel aus der Tasche seiner verrutschten Hose auf den Boden
fielen. Das metallische Klirren tönte unangenehm laut in der Stille. Mahlangu
zuckte zusammen. Er warf noch einen Blick auf den übel zugerichteten Leichnam, verstaute jedoch wortlos das Messer in seiner Hosentasche und bückte
sich nach Handy und Schlüsseln. Das Handy läutete, kaum dass er es berührte. Er steckte es tief in seine Tasche und gab Patrick ein Zeichen.
„Gehen wir.“
Beim Hinausgehen warfen sie die Küchentür hinter sich zu.
ZNAK, KRAKÓW 2012
140 × 205, 256 PAGES
ISBN: 978-83-240-2255-7
TRANSLATION RIGHTS: ZNAK
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32
JACEK HUGO-BADER
JACEK HUGO-BADER (GEB. 1957), POLNISCHER
JOURNALIST UND REPORTER, ARBEITET SEIT 1990 FÜR
DIE „GAZETA WYBORCZA”. SEIN ZUVOR ERSCHIENENES
BUCH „WEISSES FIEBER“ ERHIELT SEHR POSITIVE
REZENSIONEN IN AUSLÄNDISCHEN MEDIEN.
Photo: Julia Pychałowa
Kolyma-Tagebücher
Das neueste Buch von Jacek Hugo-Bader, Journalist der Gazeta Wyborcza
und Autor von „Weißes Fieber“ sowie „W rajskiej dolinie wśród zielska“ (Im
paradiesischen Tal inmitten von Unkraut), ist eine Wegerzählung. Denn die
„Kolyma-Tagebücher“ sind Reiseaufzeichnungen, die der Reporter während
seiner Fahrt entlang der Kolyma-Trasse gemacht hat. Er hat 2025 Kilometer
zurückgelegt - das sind über zwei Millionen Meter, wie er selbst ausrechnet.
Millionen Meter von Erfahrungen, Begegnungen, Emotionen.
Die Kolyma ist wegen des Klimas und ihres düsteren Erbes aus den Zeiten
der Sowjetunion ein besonders attraktiver Ort. Hugo-Bader bezieht sich
mehrmals auf den „Archipel Gulag“ von Solschenizyn und noch öfter auf
die „Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalamow. Doch auch wenn in
Hugo-Baders Buch das kommunistische Regime hier und da auftaucht, so
sind seine wichtigsten Protagonisten die Menschen. Aber vielleicht sollte
man eher schreiben: die Wesen dort, die fähig sind, in den schweren sozialen, kulturellen und klimatischen Bedingungen zu überleben.
Da ist der Tschekist Dima, der „am lautesten spricht, am unflätigsten
flucht, am häufigsten rülpst. Alles was er macht, macht er widerwärtiger,
abscheulicher, ekelhafter als andere. Groß, dick, verkatert“. Die neunundsiebzigjährige Natascha, Tochter von Nikolai Iwanowitsch Jeschow, der die
„eiserne Faust Stalins genannt wurde, Chef der sowjetischen Geheimpolizei
war und Hunderttausende auf dem Gewissen hat... Ach wo - Millionen von
zurück zum Inhaltsverzeichnis
menschlichen Existenzen“. Aleksandr Basanski, der goldene Oligarch, der
unter anderem an „sechsundzwanzig Arten von Süßwasser für eine Million
Dollar im Jahr“ verdient. Bobik, der Hund, „ein hohes Tier, außerdem ein
Genie, aristokratisch, und obwohl ein Mischling, so doch wahrscheinlich
entfeeeernt verwandt mit einem Laika“.
Hugo-Baders Reise dauert ein paar Wochen, und die einzelnen Etappen der
Trasse verleihen der Erzählung einen gleichmäßigen literarischen Rhythmus. Die kurzen Reportagen, die eigentlich Porträts sind, wechseln sich ab
mit Tagebuchnotizen. Der Autor versteckt sich nicht hinter seinen Protagonisten, ganz im Gegenteil: man spürt seine Anwesenheit. Auf diese Weise
markieren die „Kolyma-Tagbücher“ - als Erzählung über die journalistische
Arbeit eines Menschen, der in Russland zu überleben versucht – eine neue
Qualität der polnischen Schule zeitgenössischer Reportage, deren Meister
auf der einen Seite Ryszard Kapuścinski und auf der anderen Mariusz Wilk
sind.
Marcin Wilk
Die
Hauptschlagader, der Hauptnerv der Kolyma war und ist der
Kolyma-Trakt, also die Trasse. Ich werde – so wie viele ältere
Bewohner der Kolyma – trakt und trasse groß schreiben.
Denn es handelt sich um eine über zwei Tausend Kilometer lange Straße, die
mit Menschenleben gepflastert ist. Sie liegt auf Knochen. Und das ist keine
Metapher. Denn wieso gibt es entlang der ganzen Trasse nicht einen einzigen
alten Friedhof?
Deshalb, weil die Toten einige Zentimeter unter der Straßenoberfläche
liegen. Tausende Menschen. Die Arbeit am Bau des Trakts war neben dem
Goldabbau die schwerste in Kolyma. Wer dabei umgefallen war, dem wurden
die Lager-Lumpen heruntergerissen (sie würden noch von Nutzen sein), er
wurde mit dem Gesicht nach oben hingelegt und mit der Erde der Kolyma
zugedeckt, mit der die Trasse aufgeschüttet ist.
Worüber denken die Leute in den ersten Tagen der Reise am intensivsten
nach? Wie kann man hier pissen? Ich steige aus dem Wagen und in meinem
Schädel bohrt ständig der Gedanke, dass ich irgendeinem armen Teufel auf
den Kopf pinkle.
Vielleicht ist es einer von uns, ein neunzehnjähriger, kleiner Soldat, der nach
dem Überfall auf Polen 1939 unter dem Befehl meines Großvaters stand, ein
armer Junge aus meinem Warschau, der noch nie ein Mädchen hatte, und als
er vor Hunger starb, flüsterte er... Eben, was hat er wohl gesagt? Und ich alter
Zyniker schäme mich jetzt, dass ich so einen Schwachsinn, wie für eine Telenovela, schreibe. Doch wenn du am Ende der Welt, in einem schäbigen Hotel
alleine da sitzt und dir zum Heulen ist, weil dich die MS überfällt, schreibst
du, um Hände und Hirn zu beschäftigen, ein Tagebuch, und dann entstehen
solche Stilblüten. (MS steht nicht für Multiple Sklerose sondern für Melancholie des Schreibenden).
Der Bau der Trasse beginnt 1932, als Trust Dalstroj gegründet wird. Am
Ende des Jahrzehnts zieht sich die Straße bis zur Siedlung Ust-Nera beim Kilometer 1007. In den vierziger Jahren wird sie bis Chandyga verlängert, das am
Angara-Fluss, Kilometer 1065, liegt. Das ist die westliche Grenze des Trusts.
Der Bau am letzten Abschnitt bis Jakutsk, Kilometer 2025, wurde Anfang der
fünfziger Jahre beendet, doch das ist ein so genannter zimowik – eine Straße,
die man nur im Winter benutzen kann, wenn der Matsch gefriert. Erst seit
den neunziger Jahren ist auch im Sommer der ganze Kolyma-Trakt passierbar.
Ich folge ihm auf den Spuren von Warlam Tichonowitsch Schalamow, mit
seinem dicken Sammelband Erzählungen aus Kolyma, der über tausend Seiten
zählt. Das ist große, russische Literatur – das erschütterndste, ungewöhnlichste Bild einer Lagerzivilisation, die Schalamow in drei Gebote zu verdichten
weiß: glaube nicht, hab keine Angst, bitte nie um etwas. Und noch eine ’Tugend’, ohne die du im Lager nicht überlebst: du musst stehlen können, angefangen mit dem Brot deiner Mitgefangenen. Im Lager kann der Mensch nur
schlechter werden. Schalamow entdeckt, dass dort auch Gott stirbt, während
für Aleksander Solschenizyn der Gulag den Charakter auf die Probe stellt –
eine Situation, aus der der Gefangene als Sieger hervorgehen kann.
Schalamow sitzt achtzehn Jahre in den Lagern, plus zwei als ‚Freier’, doch
ohne das Recht, wegzufahren (davon verbringt er siebzehn Jahre in Kolyma).
Er wird nach Stalins Tod 1953 entlassen. Bis zum Ende seines Lebens bleibt er
dem Lager-Thema besessen treu.
Er ist also mein erster, ständiger Paputschik. Paputschik, das ist eins meiner
russischen Lieblingswörter. Es bedeutet Reisebegleiter, ein Mensch, der denselben Weg einschlägt (auf Russisch: po puti). Wörtlich und im übertragenen
Sinne. Jemand, mit dem du dieselbe Route fährst, in demselben Zugabteil und
mit dem du dich zum Beispiel in politischen Dingen gut verstehst. Ihr habt ein
Ziel, das ihr verfolgt. Dieses Buch ist im Grunde über solche Menschen, doch
nicht nur über diejenigen, mit denen ich gefahren bin, sondern auch über
solche, die ich auf der Strecke getroffen habe.
In diesem Teil werden viele Fahrer vorkommen. Die Lastwagenfahrer werden in Russland meistens Dalnobojeschtschiks genannt. Das sind Menschen
des weiten Kampfes (auf Russisch: dalno – weit; boj – Kampf), der langen
Trasse, bei uns heißen sie Fern- oder Brummifahrer. Manchmal werden sie
auch Kamazisten genannt, auch wenn ihre Lastwagen keine Kamaz sind, oder
Ugolschtschiks, wenn sie Kohle transportieren, weil ‚ugol’ Kohle bedeutet.
Doch in der Kolyma wurde schon zu Zeiten des Gulags ein eigenes Wort für
sie erdacht: Die einheimischen Fahrer heißen die Trassowiks (von Trasse).
Die Kolyma-Trasse ist ein sehr gefährlicher Weg. Sie besteht aus aufgeschüttetem, gelblichem Kolymer Boden, in dem mehr Steine sind als Erde.
Die Straße hat keinen festen Straßenbelag, also wird sie von jedem stärkeren
33
Regenschauer unterspült, der Dauerfrostboden bricht und zerbröckelt sie. Im
Winter macht der Schnee das Leben schwer, und wenn nicht viel von ihm da
ist, wandelt er sich zum rutschigen, weißen Asphalt. Im Sommer setzt einem
der furchtbare, gelbe Staub zu, der lange in der Luft wirbelt; dann gibt es Auffahrunfälle wie im Nebel. Am Weg sind viele ’Grabmale’: statt eines Kreuzes
hängt an einem kleinen Pfahl ein zerbrochenes Lenkrad, statt eines Grabsteins
– eine Komposition aus Reifen oder ein löchriger Kühler.
An vielen Stellen am Rand stehen Zaunreste gegen Schneeverwehungen.
Die Gulag-Gefangenen haben sie aus Lärchenzweigen geflochten. Der Trakt
ist für die Fahrt gefährlich, doch das Leben auf ihm ist sicher. Das allgemeine
Banditentum ist selten. Hier gab es sogar in den schrecklichen neunziger Jahren keinen, damals ganz Russland quälenden, Straßenraub, als Schutzgelder
für die Durchfahrt erpresst wurden.
Die schlimmste Zeit, was die Kriminalität angeht, macht Kolyma 1953
durch, als sich nach Stalins Tod die Lager leeren und Tausende von Menschen
in die Freiheit entlassen werden. Darunter sind viele Kriminelle, denen jedoch
nicht erlaubt wird, auf den Kontinent zurückzukehren. Um sich in den Städten sicherer zu fühlen, laufen dort die Menschen in Gruppen herum. Männer
bringen ihre Frauen zur Arbeit, weil viele der entlassenen Gauner seit Jahren
keine Frau gesehen haben.
In diesem Moment macht sich ein ehemaliger Politischer mit dem Nachnamen Riabokoń – ein Soldat der anarchistischen, revolutionär-aufständischen
Ukrainischen Armee des Atamans Nestor Iwanowitsch Machno – entlang der
Trasse auf den Weg. Schalamow widmet ihm eine Erzählung.
Der Anarcho-Veteran bildet eine vierköpfige Bande, die mit leichter Hand
über ein Jahr lang jeden, der ihren Weg kreuzt, ausraubt und mordet. Die
Männer streiten sich jedoch bei der Aufteilung der Beute und verraten sich
gegenseitig. Alle bekommen fünfundzwanzig Jahre Gulag.
Diese Zeiten sind längst vorbei. Jede Begegnung mit einem Menschen auf
der Trasse ist heute pures Vergnügen, und die Bars an der Kolyma-Straße
liebe ich einfach. Es gibt vielleicht etwas mehr als zehn von ihnen zwischen
Magadan und Jakutsk. Ich kann stundenlang drin sitzen und mir die einfachen, ehrlichen Gesichter, die Menschen aus der Taiga in Tarnanzügen, die
Fernfahrer mit ölverschmierten Händen (Technikschmutz sei kein Schmutz
– sagen sie) und die vom Rheuma gezeichneten Goldsucher anschauen. Ich
fühle Erleichterung, dass ich nicht in die roten, überfressenen Gesichter der
Oligarchen schauen muss, in die hervorstehenden Augen der versoffenen Offiziere. Endlich höre ich „danke“, „bitte“ und das Mütterchen, das in der Bar in
Larjukowa, bei Kilometer 386, mit einem dreckigen Lappen über den Boden
schmiert, sagt sogar „Entschuldigung“ zu mir. Das hört man von den Städtern
aus Magadan nur selten.
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
CZARNE, WOŁOWIEC 2011
133 × 215, 320 PAGES
ISBN: 978-83-7536-292-3
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM
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34
KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA
KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA (GEB. 1967), POLNISCHE JOURNALISTIN. SIE PUBLIZIERT
HAUPTSÄCHLICH REPORTAGEN UND INTERVIEWS ZU AKTUELLEN GESELLSCHAFTLICHEN THEMEN.
Photo: Julia Domańska
Sumpflein
Die bekannte Reporterin der Gazeta Wyborcza, Katarzyna
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Surmiak-Domańska, hat – wie es scheint – ihr bestes Buch geschrieben. „Sumpflein“ ist ein
realistisches, der Wirklichkeit entnommenes Porträt der tiefen polnischen
Provinz. Doch es ähnelt nicht den stereotypen Bildern einer Marienfrömmigkeit, oder, zur Abwechslung, der anhaltenden Pathologie und Armut
nach dem Ende des Kommunismus und dem Schock des Systemwechsels.
Nichts dergleichen werden wir hier finden. Sumpflein ist aber auch kein typisches Dorf, schreibt die Autorin im Vorwort. Es ist eher die Vorstadtsiedlung einer mittelgroßen Stadt, eine Gegend, in der das patriarchale Muster der Familienbeziehungen in einer, seit Jahrhunderten unveränderten,
Form fortzubestehen scheint, und wo die sichtlichen Anzeichen einer Idylle
mit dem düstersten, unter der Oberfläche fließenden Strom des Gemeinschaftslebens verflochten sind. Sumpflein, das ist so etwas wie Dogville
im Film des Regisseurs Lars von Trier; ein uralter Ort mit üppig blühenden
Vorgärten, Schweigen, Lügen und Gewalt. Die Protagonisten der von Kata�����
rzyna Surmiak-Domańska festgehaltenen Welt sind eine Ansammlung von
Archetypen wie Opfer, Henker, Richter und Kommentator: Mutter, Vater,
Ehemann, Geliebter, Schwiegermutter, Freundin, Schwägerin. Ihre Stimmen
bilden eine mehrdimensionale Studie der Gesellschaftspsychologie, die genauso flach und offensichtlich ist, wie undurchdringlich und rätselhaft.
Die Autorin folgt der Protagonistin aus einem ihrer Interviews. Halszka
Opfer (der Name wurde, ähnlich wie die Ortsnamen, geändert), eine reife,
früher völlig unbekannte Frau, hat in Polen vor ein paar Jahren eine laute
Diskussion ausgelöst. Sie publizierte ihre Bekenntnisse, in denen sie detailzurück zum Inhaltsverzeichnis
liert und drastisch über das Trauma berichtet, vom eigenen Vater sexuell
missbraucht worden zu sein. Sie beschrieb, wie sie, ein vierjähriges Mädchen, von ihrer Mutter eigenhändig ins Bett des Vaters getragen wurde. Wie
sie, während sie aufwuchs, zur ’bewussten’, auf die Geschenke erpichten,
Geliebten des Vaters wurde. Wie die Mutter ihr ganzes Leben schwieg und
sich einem düsteren, maskierten Schatten gleich durch das Haus bewegte.
Dieses Buch – wie Surmiak-Domańska schreibt – wurde zu einem großen
Erfolg in Sumpflein, dem Wohnort von ’unserer Halszka’. Ähnlich wie zuvor
ein sehr ähnliches, doch aus dem Deutschen übersetztes Buch. In der Ortsbibliothek haben sich alle ‚normalen’, ’wir’, ’einfachen Leute’, auf die Liste
setzen lassen, um das zu erfahren, was „einem nicht in den Kopf gehen will“.
‚Unsere Halszka’, das ist klar, ist gar nicht ’unsere’. Sie ist fremd, merkwürdig, anders. Wie wir erfahren, war sie schon immer so. Das sagen die Ortsansässigen. Trotz der offensichtlichen Mechanismen ist für die Autorin eine
Sichtweise, die lieber die Schuld dem Opfer gibt als den „Henker-Vater“ zu
verurteilen, nicht ohne Belang. Im Gegenteil. Sie versucht, diese Sicht aufzuzeigen und zu vertiefen, sie anderen Erzählungen gegenüberzustellen. So
gelingt es Katarzyna Surmiak-Domańska, etwas sehr Flüchtiges zu greifen:
das Gefühl, dass die Wirkung des Bösen unumkehrbar ist und dass Schutzprojekte, Therapien und die Situation, wenn Opfer zu Wort kommen, sehr
fragil sein können.
Kazimiera Szczuka
Sumpflein
ist kein typisches Dorf. Hier gibt es
keine Bauernhütten oder Scheunen,
eher solide mehrstöckige Häuser mit
Thujen vor den Eingängen und gepflegten Rasen auf der Rückseite. Niemand
züchtet hier Kühe, die Männer fahren täglich mit ihren eigenen Autos in die
nah gelegene Stadt zur Arbeit, die Frauen kümmern sich für gewöhnlich um
den Haushalt. Obwohl die Böden hier feucht sind, an manchen Stellen geradezu sumpfig, wächst die Bevölkerung stetig, da die Gegend als die schlesische
Enklave der Ruhe, der Natur und der sauberen Luft bekannt ist. Im Dorf gibt
es einen Gasthof und ein Kulturhaus, und viele der zweitausend Einwohner
nutzen regelmäßig die Ortsbibliothek, die selbst an Samstagen geöffnet hat.
In der Geschichte der Bibliothek von Sumpflein gab es zwei Bücherhits; das
erste Mal gegen Ende der 1990er Jahre. Damals handelte es sich um die deutsche Reportagen-Erzählung Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter, die von
der Journalistin Karin Jäckel in enger Zusammenarbeit mit der Titelheldin
herausgegeben wurde. Monika B., eine über dreißigjährige Deutsche, enthüllte darin die Wahrheit über ihre Kindheit; über ihren Vater, der sie zehn Jahre
lang regelmäßig vergewaltigte und den Söhnen zum Vergewaltigen überließ,
sowie über die Mutter, die die Augen davor verschloss.
’Für Monika’ trugen sich die Einwohner von Sumpflein auf einer Warteliste
in der Bibliothek ein. Danach stellte so mancher fest, es sei das erschütterndste
Buch gewesen, das er in seinem Leben gelesen habe. Die Bibliotheksleiterin
erinnert sich an die allgemeine Solidarität, die der jungen Frau entgegengebracht wurde, an das Wettern gegen die Eltern: „Solche gehören mit dem Tod
bestraft“, und an die Kommentare: „Wie war so etwas in der zweiten Hälfte
des zwanzigsten Jahrhunderts möglich, in diesem – wie man meinen könnte
– zivilisierten Deutschland?!“
Zehn Jahre später kam der zweite Bücherhit heraus. Diesmal war es das polnische Buch Kato-tata. Nie-pamiętnik (Henker-Vater. Nicht-Erinnerungen),
deren Autorin eine gewisse Halszka Opfer war.
Auch bei diesem Buch handelte es sich um Tatsachenliteratur, und es erzählt
eine ähnliche Geschichte wie die von Monika B. Die Autorin beschließt als
reife Frau, sich ihre Vergangenheit genau anzuschauen. Sie beschreibt, wie sie
über zwanzig Jahre die Geliebte des eigenen Vaters war. Laut Halszka hatte der
Vater nicht nur sie zum Sex gezwungen, sondern auch ihre Geschwister und
die Mutter körperlich und psychisch misshandelt. Er hatte zum Beispiel die
Angewohnheit, seine Frau zu ’erziehen’, indem er sich in ihre Handtasche oder
auf das nicht abgewaschene Geschirr entleerte. Sie hingegen brachte abends
die gebadete und in ein Handtuch eingewickelte Halszka, die gerade ein paar
Jahre alt war, zu ihm ins Bett und zog sich diskret in ein anderes Zimmer
zurück.
Auch ’Halszka’ haben fast alle in Sumpflein gelesen, und man musste sich
wieder auf eine Warteliste setzen lassen. Und auch diese Bekenntnisse riefen
große Emotionen hervor. Doch die Haltung gegenüber der Heldin war eine
völlig andere als beim ersten Buch.
Das, was die zwei Bücher vor allem unterscheidet, fasste die Bibliothekarin nach einiger Überlegung zusammen, ist die Tatsache, dass Monika B. in
Deutschland wohnt und niemand hier sie persönlich kennt. Dagegen wissen
alle im Dorf, dass sich hinter dem Pseudonym Halszka Opfer die eigene Nachbarin und langjährige Einwohnerin von Sumpflein verbirgt.
Ich habe Halszka Opfer im Winter 2008 kennengelernt, als ich ein Interview zu ihrem Buch mit ihr führte. Schon damals machte mich, mehr als
der degenerierte Vater, die Gestalt der Mutter neugierig: eine Frau, die unerschütterlich die Fakten verdrängte, Dinge rationalisierte, die – könnte man
meinen – unmöglich zu rationalisieren sind, die jedoch dabei nicht für einen
Moment aus ihrer Rolle als polnische Mutter, Christin und gute Hausfrau
fiel. Für mich war es unvorstellbar, wie die zwei Frauen miteinander reden
konnten, in einem Moment, als der Verfolger schon nicht mehr lebte, als es
also niemanden mehr gab, vor dem sie sich hätten fürchten müssen und das
Buch bereits erschienen war.
Als ich zwei Jahre später nach Sumpflein zurückkehrte, nahm ich wieder
Kontakt mit Halszka auf, und überredete sie, mich mit ihrer Mutter bekannt
zu machen. Darauf fragte sie, ob ich mich einer delikaten Mission annehmen
könnte, und diese Mission wurde zum Kern meiner Erzählung.
Halszka Opfer bekam nach dem Erscheinen ihres Buchs viel Unterstützung
und man bewunderte sie. Dank ihr haben viele Frauen den Mut gefunden,
über den eigenen Missbrauch laut zu reden und sich damit von der Scham
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und dem Gefühl der Schuld zu befreien, die so erfolgreich die Täter schützen.
Die Sache ist nur die, dass für all diese Personen Halszka als Person genauso
weit weg ist wie Monika B. aus dem deutschen Buch für die Einwohner von
Sumpflein.
Ich wollte wissen, was Halszkas Buch in ihrem näheren Umfeld verändert
hat. Ich wollte wissen, wie man im Alltag mit jemandem lebt, der sich selbst
den Namen ‚Opfer’ gegeben hat. Deshalb habe ich außer der Mutter noch ein
paar andere Personen aus Halszkas Umfeld besucht und sie gebeten, mir zu
erzählen, wie sie die Autorin und ihr Buch sehen.
Auf ihren Wunsch nenne ich keine Nachnamen und nicht die wirklichen
Vornamen oder andere Details, die dazu führen könnten, dass man die Personen außerhalb ihrer Familie oder Nachbarschaft erkennen könnte. Ich behielt
Halszkas Pseudonym bei, um vor allem ihre Mutter und ihre Geschwister zu
schützen. Für andere Angehörige aus ihrer Familie, die in meinem Buch auftreten, habe ich die Namen übernommen, die Halszka in Kato-tata (HenkerVater) und Monidło (Retusche), das 2011 herauskam, verwendet hatte. Für die
übrigen Personen habe ich mir die Namen ausgedacht. Ich werde auch den
wirklichen Namen von Sumpflein nicht preisgeben, sowie von Kormoranów,
dem Heimatort von Halszka, wo ihre Mutter, Frau Karolina, immer noch
wohnt – eine Frau, die von niemandem mit dem Namen Opfer oder mit irgendeinem Buch in Verbindung gebracht wird. Höchstwahrscheinlich.
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
CZARNE, WOŁOWIEC 2012
125 × 195, 144 PAGES
ISBN: 978-83-7536-364-7
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM
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PAWEŁ SMOLEŃSKI
PAWEŁ SMOLEŃSKI (GEB. 1959),
REPORTER, PUBLIZIST, JOURNALIST.
ARBEITET SEIT 1989 FÜR DIE „GAZETA
WYBORCZA”, ZUVOR WAR ER FÜR DIVERSE
UNTERGRUNDZEITSCHRIFTEN TÄTIG. SEIN
BUCH „BEGRÄBNIS FÜR EINEN BANDITEN”
WURDE 2003 MIT DEM PREIS FÜR
POLNISCH-UKRAINISCHE VERSÖHNUNG
AUSGEZEICHNET. DIES IST SEIN 10. BUCH.
Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Der Araber schießt, den Juden freut‘s
Paweł Smoleński, Publizist und Reporter bei der „Gazeta Wyborcza“, setzt
sich in seinen Texten seit Jahren mit israelischen Fragen auseinander. In
seinem Buch mit dem provokanten Titel Der Araber schießt, den Juden freut‘s
beschäftigt er sich größtenteils mit dem israelisch-arabischen Konflikt.
Smoleńskis Erzählung beginnt auf sinnbildliche Weise, nämlich mit einem
alten Fotoalbum. Es stammt von der armenischen Familie Kahvedjian aus
dem christlichen Teil der Jerusalemer Altstadt, sodass die Bilder darin auf
vielsagende Weise die Kreuzungspunkte der verschiedenen Kulturen festhalten. Doch nicht die Kultur an sich oder die sich aus dem kulturellen Leben ergebenden politischen Konsequenzen sollen Smoleński in Der Araber
schießt, den Juden freut‘s interessieren. Die wichtigste Geschichte gestalten
hier die Menschen selbst – jeder seine eigene, wahre Geschichte, die zusammen mit den anderen ein umfassendes, vielschichtiges Bild der Situation in
Israel ergibt.
Das Buch ist in Kapitel zu einzelnen Städten gegliedert. In jedem dieser Kapitel begegnet der Leser anderen Charakteren. In Akkon versuchen die Regisseure des städtischen Theaters – der sephardische Jude Moti, der Araber
Chalid – das Wesen des Konflikts zu ergründen. Hauptperson in Be‘er Scheva
wiederum ist Riad Abarii, Professor der Pharmakologie an der Ben-GurionUniversität, an der bis vor Kurzem nur zwei Professoren von insgesamt 500
arabischer Abstammung waren (mittlerweile sind es schon 20 arabische Prozurück zum Inhaltsverzeichnis
fessoren). Chalil aus Jaffa wiederum hält sich bedeckt, was sein Arabertum
angeht – „ein Macho“ zwar, schreibt Smoleński, „aber nicht von arabischer
Fasson“. Viel über den Konflikt weiß Wadi aus Haifa zu berichten: „Wir alle,
Araber und Juden, haben dieselbe grässliche Eigenschaft. Jeder spricht nur
über sich. Wir reden nur von unserem eigenen Leid.“
In Smoleńskis Buch erhält jeder der Protagonisten seine „fünf Minuten“ –
egal, welchen gesellschaftlichen Status er besitzt oder für welche Seite er
sich einsetzt. Das Buch bildet ein Mosaik der verschiedensten Einstellungen,
Gefühle, persönlichen Geschichten. Von der Qualität des Erzählten künden
hingegen die einzelnen, so einfach wie möglich gehaltenen Sätze sowie die
Distanz und der zeitweise sogar sarkastische Humor, die Smoleński stilistisch in die Nähe Etgar Kerets rücken.
Marcin Wilk
Fangen
wir bei einem Foto an, das – denke ich – sinnbildlich für Israel ist. Die steinernen Wohnblocks
sind die gleichen wie heute, und sogar die Pflanzen, die es geschafft haben, einen Platz in den Mauerritzen zu finden, sind die
gleichen. Nur die Enge verwundert; die Häuser drängen sich geradezu gegen
die Mauer, der Gehsteig ist schmal und überfüllt. Und die Mauer: eine Mauer
eben, nichts weiter. Dennoch sehen wir ins Gebet versunkene Menschen direkt neben gleichgültigen Fußgängern, mit Waren beladene Esel, einen Händler und ekstatische Gesichter. Das ist die Klagemauer; heute erstreckt sich
vor ihr herrschaftlich ein Platz. Der Anfang aller Dinge, für manche jedoch
auch – das Ende von allem. Wäre diese uralte Mauer an anderer Stelle erbaut
worden, gäbe es die heutigen Streitigkeiten nicht.
Betrachten wir das Bild einiger weiser Männer. Sie sehen wie Wüstenscheiche aus: alt, bärtig und weißhaarig, in langen Gewändern, die auf dem Foto
würdevoll wirken, in Wirklichkeit jedoch abgetragene Fetzen sein konnten.
Sie beugen sich – so habe ich es in Erinnerung – über ein dickes Buch, fahren
mit den Fingern die Zeilen nach, haben die Stirnen in Falten gelegt und tiefe
Runzeln auf den Wangen. Es sind allerdings keine Scheiche, sondern sephardische Juden beim Studium der Thora.
Nehmen wir nun die Mitleid erregenden Fotografien einiger Blinder; es sind
die Jahre, in denen der damals unheilbare Grüne Star einen hohen Tribut
forderte. Sitzen sie auf dem weißen Pflaster vor der Klagemauer, wissen wir,
dass es Juden sind; sitzen sie auf dem weißen Pflaster des Innenhofes der AlAqsa-Moschee, müssen es Araber sein. Sie betasten die Steine, flüstern etwas,
heben die vom Grünen Star getrübten Augen zur Sonne, vielleicht beten sie,
vielleicht sprechen sie auch Verwünschungen aus. In ihrem Aussehen, und erst
recht in ihrer Krankheit, unterscheiden sie sich in nichts voneinander; ihre
Brüderschaft ist in ihrem Unglück mit eingeschlossen. Wären die Fotos nicht
mit Ort und Datum versehen, könnte man meinen, es wären verschiedene
Aufnahmen derselben Szene.
Oder die Segelboote, die auf die Mündung des schmalen und flachen Flusses Yarkon zusteuern, der heute die Innenstadt von den reichen, nördlichen
Vierteln Tel Avivs trennt. Rumpfform und Flaggstöcke sind wie bei den Booten, die sich auf den ältesten arabischen Abbildungen den Weg über das Meer
bis nach Indien und zu den Molukken bahnen. Schwer zu erraten, was diese
Segelboote geladen haben, aber von anderen Fotos wissen wir, dass der heutige
Hafen von Jaffa, der vielleicht größte Hafen dieser Erde, die Anlegestelle für
ein paar Dutzend Fischerboote war; Ufer und Mole sahen aus wie heute.
Der Hafen von Tel Aviv dagegen muss sich – einem weiteren Bild zufolge
– erst in jenen Hafen verwandeln, der den von Jaffa übertrumpfen wird, so
wie auch Tel Aviv selbst Jaffa übertrumpfte. Heute kann man sich in dieser
Stadt bis zum Morgengrauen in gut besuchten Bars und Clubs amüsieren.
Man kann ein Vermögen in eleganten Boutiquen ausgeben. Den Hafen gibt
es schon lange nicht mehr, auch wenn es vor nicht allzu langer Zeit ohne ihn
Tel Aviv gar nicht gegeben hätte.
Einige Bilder haben mich in ihren Bann gezogen: die Schuhputzer beim
Jaffator in Jerusalem. Ein arabischer Mann, der Mokkakannen verkauft.
Aber auch ein Beduinenmädchen hat es mir angetan. Auf dem Kopf trägt es
einen Korb voller Kräuter, oder vielleicht auch frisch gewaschener Wäsche. Es
ist sehr jung, hübsch und offensichtlich ohne Schamgefühl; das aufgeknöpfte
Kleid gibt den Blick auf die nackten, kleinen Brüste frei. Wie kam es, dass Elia
Kahvedijan in dieser Zeit und an diesem Ort ein solches Modell fand? Hat er
den richtigen Moment abgepasst? Hat er sie überredet, für ihn zu posieren?
Keine Ahnung.
Unter diesen Bildern ist plötzlich eines, das wohl den Ausgangspunkt aller
dieser Geschichten darstellt. Ein so trauriges Bild, dass es schmerzt. Es zeigt
zwei alte Menschen, sicherlich Mann und Frau, oder auch ein Geschwisterpaar; sie müssen sich lieben, da sie sich so fest aufeinanderstützen. Sie haben
runzlige Gesichter und tragen weiße Kopftücher. Ihre Kleider sind zerlumpt
und schmutzig. Sie sind barfuß, was allerdings kaum verwundert, und – ob
ihr es glaubt oder nicht – bis zu den Knien mit schwerem, lehmigem Schlamm
beschmiert; zu all dem Unglück mussten sich auch noch ein Regenguss und
(wir sehen es, spüren es fast körperlich) eine schneidende Kälte gesellen. Die
Frau hält einen dicken Ast in der Hand. Der Mann stützt sich auf einen Stock.
Sie blicken auf die Erde. Vor ihnen ist nur die vom Regen aufgeweichte, öde
und traurige Landschaft.
Wer ist dieses Paar? Der armenische Fotograf hat vergessen, zu fragen. Wohin gehen sie? Wir wissen es nicht. Das Foto ist wirkungsvoll genug, um uns
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die Antwort einzugeben: Sie gehen ins Ungewisse, einem schlimmen Schicksal, dem Verderben entgegen. Sie gehen dorthin, wo sie nicht hingehen wollen
und sollten. Doch sie gehen, weil sie müssen. Unter dem Bild die Beschriftung:
„An Nakba“, und das Datum: 1948. Soll es für die ganze Geschichte gelten.
Für die Juden ist 1948 das Jahr des Unabhängigkeitskrieges: Einige verbündete arabische Länder überfielen damals das Land Israel, um das zu zunichte
zu machen, was erst im Entstehen war, und die Juden im Mittelmeer zu ertränken. Für die in Palästina lebenden Araber (damals sagte noch niemand
„Palästinenser“; dieses Volk, und nicht nur dieses, erschien erst später, und ich
habe das Gefühl, dass an so etwas zu der Zeit noch niemand gedacht hätte)
ist es „An-Nakba“ – die Katastrophe. Das Ende war eingetreten, die Endzeit
erreicht. Ohne An-Nakba sähe alles anders aus.
Jeder Krieg hat seine Symbole – sicher jede der kämpfenden Seiten ihre eigenen. Sie erklären, warum das geschah, was geschah. Für die palästinensischen
Araber ist das Dorf Deir Yassin zweifellos so ein Symbol. Frühmorgens im April 1948 wurde die Siedlung von der Irgun, einer rechtsextremen, paramilitärischen jüdischen Organisation, umstellt. Hundert Untergrundkämpfer (man
sagt auch, nicht völlig zu Unrecht, Terroristen) töteten über hundert Araber,
ohne Rücksicht auf Frauen, Säuglinge, alte Menschen; auf einen jüdischen
Kämpfer kamen Eins-Komma-irgendwas arabische Tote. Alles zusammen
dauerte nur wenige Stunden und hatte, scheint‘s, militärisch keine besondere
Bedeutung. Es gab in diesem Krieg Ereignisse von größerem Gewicht, und
auch dramatischere. Doch nach Deir Yassin ging ein Aufschrei durch Palästina: Flieht, Araber, sonst ergeht es euch ähnlich.
So schrien manche Juden, aber auch die Politiker aus Amman, Damaskus,
Kairo, Bagdad, Beirut, Riad. Wäre da nicht die Angst vor den Juden gewesen,
aber auch das Zureden von arabischer Seite, hätten die 700.000 arabischen Bewohner Palästinas ihre Häuser nie verlassen. Was nicht heißt, dass das Morden
in Deir Yassin irgendeine Rechtfertigung erfahren soll. In den israelischen Geschichtsbüchern wird es, wohlgemerkt, als ein Massaker beschrieben, das den
Geburtstag Israels befleckt hat. Die arabischen Schulen in Israel begehen den
Tag der Nakba. Das heißt – manchmal gibt es Politiker (in letzter Zeit leider
immer öfter), die fordern, das zu verbieten, da es ihrer Meinung nach nicht sein
dürfe, dass irgendein israelischer Bürger den Unabhängigkeitstag als den Tag
einer Katastrophe in Erinnerung hat. Allerdings, und das wissen wir mit Sicherheit, reagiert das menschliche Gedächtnis nicht auf Gebote und Verbote.
Nach dem Blutbad in Deir Yassin nannte David Ben-Gurion, der erste Premierminister des jüdischen Staates, den damaligen Leiter der Irgun und späteren Premierminister und Friedensnobelpreisträger Menachem Begin „Menachem Hitler“. Es hätte kaum stärkere Worte geben können; die Öfen der
Krematorien waren noch warm. Die Araber griffen einen Sanitätskonvoi auf
dem Weg nach Jerusalem an und ermordeten alle Verwundeten. In Kairo, Rabat und Tunis gab es antijüdische Pogrome. In der Jerusalemer Altstadt blieb
nicht ein einziger Jude. Alle Synagogen der Altstadt wurden zerstört.
Doch es sind die Juden, die letzten Endes diesen Krieg gewannen, auch
wenn sie ihn nicht gewinnen sollten. Sieger richtet man nicht, heißt es. Was
das betrifft, bin ich mir nicht ganz sicher. Ich kenne viele israelische Bürger –
Juden und Araber –, die ähnlich denken. Und selbst Ben-Gurion hat einmal
gesagt, dass man sein Glück nicht auf dem Unglück anderer aufbauen könne.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012
135 × 215, 272 PAGES
ISBN: 978-83-7799-006-3
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM
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38
MARIUSZ WILK
MARIUSZ WILK (GEB. 1955), PROSAIST,
JOURNALIST, REISENDER, AKTIVIST DER
DEMOKRATISCHEN OPPOSITION, DER ENDE
DER ACHTZIGER JAHRE DIE POLITIK UND
EUROPÄISCHE ZIVILISATION AUFGAB,
UM SICH IM HOHEN NORDEN RUSSLANDS
NIEDERZULASSEN.
Photo: Piotr Wójcik
Der Zug der Gänse
Der neueste Teil des Nördlichen Tagebuchs von Mariusz Wilk mit dem Titel
Der Zug der Gänse scheint den vorhergehenden Büchern der Serie zu ähneln,
in denen der Autor seine Streifzüge durch den hohen Norden beschrieben
hat. Noch immer scheint er in kurzen Tagebuchnotizen die Erlebnisse seiner realen und intellektuellen Streifzüge einfangen zu wollen, die ihn zu
einer befreienden Leere führen, mit der er sich vom Trubel der Wirklichkeit
abgrenzt, um in sich selbst vorzudringen und sich kontemplativen Betrachtungen der ihn umgebenden Welt hinzugeben. Noch immer scheint Wilk sich
desselben, einzigartigen Stils zu bedienen, in dem er Phrasen und Worte
aus dem Russischen mit dem Altpolnischen mischt – und doch ist Der Zug der
Gänse im Werk des Autors von Voloki ein außergewöhnlicher Band.
Wilk ist Vater geworden, seine Tochter Marta bewirkte, dass – wie er selbst
anmerkt – „meine Welt durcheinandergeraten ist, das heißt, sie hat sich
auf den Kopf gestellt. Obwohl manche meiner Bekannten behaupten, es
sei umgekehrt – sie habe sich auf die Füße gestellt.“ Die Geburt des Kindes
zwang den Autor und Vagabunden zu einer grundlegenden Revision seiner
Lebensstrategien, zu neuen Zielsetzungen. Zwar begibt er sich weiterhin
auf Wanderschaft und erstattet dem Leser Bericht von seinen Fahrten. In
dem neuen Buch beschreibt er Petrosawodsk und Menschen, die mit der
Stadt in Zusammenhang stehen (Wasserspiegel), einen Abstecher nach Labrador (Karibu-Hackfleisch) oder eine weitere Jahreszeit im alten Holzhaus
zurück zum Inhaltsverzeichnis
am Onegasee (Hinter den Spiegeln), stellt weitere Lieblingsautoren vor (vor
allem den Autor und Weltenbummler Kenneth White, den Schöpfer solcher
Begriffe wie „intellektueller Nomade“ oder „Geopoetik“) und macht uns mit
seinen geistigen Eingebungen bekannt. Jedoch hat er pausenlos das Bild
des geliebten Töchterchens im Hinterkopf und den Gedanken, dass er von
nun an der Spur, dem Pfad seines Lebens vor allem mit dem Ziel folgen wird,
Marta darauf vorzubereiten, die Spur aufzunehmen, wenn er selbst nicht
mehr weiter wird gehen können.
Der Autor hat sich verändert, ebenso seine Prosa. Der Zug der Gänse ist vor
allem eine berührende und tiefgründige Erzählung von den Freuden und
Sorgen einer späten Vaterschaft.
Robert Ostaszewski
11. August
Derweil werden die Nächte wieder dunkel und immer länger. Morgens steigt
dichter Dampf (Peter zufolge ist es die Schlacke unter Pudosch) über dem
aufgeheizten Zaoneschje auf. Am Himmel grollt es ein wenig und jeden Tag
toben Gewitter mit unvorstellbarer Macht. Vielleicht hat die Erde es satt und
versucht, uns abzuwerfen? Wie Rentiere, die hochgiftige Parasiten und Fliegen
abschütteln.
Der ängstliche Zustand der Natur ließ mich Die Straße von Cormac McCarthy zur Hand nehmen, auch wenn ich keinen Geschmack an Katastrophenromanen finde. Die Straße handelt von einer postapokalyptischen Welt,
durch die ein Vater mit seinem kleinen Sohn wandert. Man weiß nicht, was
die Katastrophe ausgelöst hat, vielleicht ein Atomkrieg, vielleicht die Kollision
unseres Planeten mit einem Asteroiden – aber das ist auch unwichtig … Die
Welt liegt in Schutt und Asche, die Sonne scheint nicht, es gibt weder Vögel noch Pflanzen noch irgendwelche Nahrung, deshalb machen die wenigen
Menschen, die überlebt haben, des Fleisches wegen Jagd aufeinander. Ich hätte
Die Straße rasch beiseitegelegt, wenn ich nicht auf den Gedanken des Autors
aufmerksam geworden wäre, dass, wenn du ein guter Vater bist, zwischen dir
und deinem Tod einzig dein Kind steht. Etwas wurde mir klar.
Seit unsere Marta auf die Welt gekommen ist, mache ich mir sehr oft Gedanken über den eigenen Weg. Die Geburt meiner Tochter hat mir das baldige Ende vor Augen geführt. Sie war ein eigenartiges Erwachen, der Stock des
Zen-Meisters, der zuschlägt, um den Schüler aus der Lethargie einer wohligen
Meditation zu reißen. Vielleicht mag sich jemand darüber entrüsten, dass ich
vom baldigen Ende schreibe, obwohl ich gerade einmal fünfundfünfzig Jahre
alt bin. Nun ja, aber vor ihr liegt der Weg eines ganzen Lebens, auf dem ich sie
nur ein kurzes Stück begleiten kann, soweit die Beine mich tragen. Deshalb
hat mich dieser Gedanke von McCathy so berührt.
12. August
Der Wind zerzaust die Pappeln vor dem Fenster, er wirft ein bewegliches Netz
von Blättern auf die Wand – wie auf einen Bildschirm –, die Sonne flimmert
und streut ihre Lichttupfen über den Boden. Der Schimmer auf der Holzdecke wiederholt das Spiel der Ohrenquallen im See, und selbst die Wiege, die
an einem Deckenbalken aufgehängt ist, schaukelt im Rhythmus des Onega.
Das ganze Haus ist in ein sanftes, zitterndes Netz aus Licht gehüllt.
Marta ist ein Jahr alt. Obwohl sie, streng genommen, schon älter ist, denn
für mich – genau wie für die Saami – beginnt das Leben des Menschen im
Moment der Empfängnis und nicht beim Verlassen des Mutterleibes. Ich erinnere mich, wie wir sie beim Ultraschall betrachtet haben. Sie schwamm im
Fruchtwasser wie im kosmischen Ozean aus Tarkowskis Solaris.
Noch bis zu ihrer Geburt standen wir vor dem Dilemma, wo wir mit dem
winzigen Kind leben sollten: in der Stadt oder hier, auf dem halb ausgestorbenen Dorf. Bekannte rieten uns zur Stadt, weil es sowohl einen Arzt in der
Nähe als auch warmes Wasser aus der Wand gibt und hier bekanntlich die
Wege im Winter nicht geräumt werden, und falls dann, Gott bewahre, etwas
passiert, dann kommt kein Notarztwagen rechtzeitig. Genau, und außerdem
– fragten sie –, wie kommt ihr denn ohne fließendes Wasser zurecht, in alten
Zimmern, die man nie und nimmer bis zur durchschnittlichen Raumtemperatur aufheizen kann? Wo wascht ihr, wo badet ihr die Kleine?
An Ärzte hatte ich nicht gedacht, denn wenn ich das Leben mit der kleinen Marta von einem Krankenhaus abhängig gemacht hätte, dann hätte ich
mich sicherlich nie dafür entschieden, ihr so etwas anzutun. Und was den
sogenannten Komfort betrifft, also fließendes Wasser und eine warme Toilette
– das sind Bequemlichkeiten für die Eltern, folglich muss man sich nicht hinter dem Säugling verstecken. Dagegen hat das Leben in Konda unvergleichlich viel mehr Vorteile als in Petrosawodsk. Erstens Ruhe und Frieden, keine
Autosirenen, die mit ihrem durchdringenden Geheul die Nacht in der Stadt
zerreißen, keine Nachbarn hinter der Wand. Zweitens ist hier ringsum Natur,
man muss weder Park noch Ufermauer suchen, um ein wenig frische Luft zu
schnappen, es genügt, die Kleine im Kinderwagen vor das Fenster zu stellen,
um sie im Auge zu haben, und das Rauschen des Sees und das Rascheln der
Pappeln wiegen sie von selbst in den Schlaf. Drittens beginnt Marta ihr Leben hier umgeben von Schönem, schließlich ist die Umgebung das Erste, was
den Verstand prägt (erst danach kommen Sprache, Schule …), zudem ist es
von Beginn an von Bedeutung, was sie sieht, riecht, was sie berührt und in
den Mund nimmt, ob das Holz, Lehm und Gras ist oder Duraluminium,
Polyethylen und Beton. Hier wird ihr Bewusstsein geformt vom Raum eines
39
großen Hauses, den bernsteinfarbenen Lichttupfen auf dem Fußboden, dem
richtigen Feuer im Ofen, dem Rhythmus der Natur, dem Gesang der Vögel
und den Gerüchen von draußen; dort würde sie pausenlos attackiert werden
vom Gestammel der Reklame (das überall erschallt), von Neonlichtern und
abwechselnd dem Geruch von Deodorants und Abgasen. Viertens wird hier
der erste Geschmack geprägt von frischen Nahrungsmitteln – frisch aus dem
Garten, See und Wald –, es ist also nicht verwunderlich, dass Marta das von
ihrer Mutter gebackene Vollkornbrot und den Schnittlauch sehr gern hat, den
sie selbst aus den Beeten reißt; in der Stadt würde sie bestimmt von irgendwelchen Bebivita-Gläschen kosten … Noch lange könnte ich so die Vorteile
aufzählen, die das Leben mit dem Kind in Konda bietet, jedoch meine ich,
dass ich den denkenden Leser überzeugt habe.
Ich werde nicht so tun, als ob es einfach gewesen wäre. Vor allem der Winter
hat uns zugesetzt, obwohl wir uns frühzeitig auf ihn vorbereitet hatten, indem
wir die Böden erneuert haben, damit es nicht von unten zieht, und indem wir
die Zimmer über uns abgedichtet haben, damit die Wärme nicht durch die
Holzdecke entweicht. Wer hätte vorhersehen können, dass es wieder einen
Jahrhundertwinter geben würde (der zweite in diesem Jahrhundert!), wir so
einfrieren und eingeschneit werden, dass ich die meiste Zeit jeden Tages mit
Schneeschippen verbringe?
Trotz der Beschwerlichkeiten war es der zauberhafteste Winter in meinem
Leben, denn alles war zum ersten Mal, obwohl es das zweite Mal war – der
erste Schnee und die ersten Lichtlein am Weihnachtsbaum, der erste Heiligabend, das erste Silvester und das erste Neujahr. Auch wenn ich das selbst
irgendwann schon einmal zum ersten Mal erlebt habe, ohne es zu verstehen, so
konnte ich dank der Kontemplation von Marta dieses erste Mal wiederholen
– mit ihr. Denn in Wirklichkeit habe ich mich, dank meiner Tochter, auf die
weiteste Reise meines Lebens begeben – eine Expedition zum Ursprung begonnen. Dabei geht es nicht um eine Rückkehr zum eigenen Ursprung durch
die Blutsgemeinschaft, das kommt später, wenn wir gemeinsam Märchen lesen werden, jetzt geht es ganz allgemein um die Anfänge des Menschen.
Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel
NOIR SUR BLANC, WARSZAWA 2012
145 × 235, 210 PAGES
ISBN: 978-83-7392-372-0
TRANSLATION RIGHTS: NOIR SUR BLANC
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40
OLGA TOKARCZUK
OLGA TOKARCZUK (GEB. 1962)
IST DIE BEKANNTESTE UND
ANGESEHENSTE POLNISCHE
SCHRIFTSTELLERIN. SIE WURDE MIT
ZAHLREICHEN LITERATURPREISEN
AUSGEZEICHNET UND IHR WERK
IN 21 SPRACHEN ÜBERSETZT. AUF
DEUTSCH ERSCHIENEN SIND ZULETZT
SPIEL AUF VIELEN TROMMELN (2006),
UNRAST (2008) UND DER GESANG DER
FLEDERMÄUSE (2009).
Photo: Wojciech Wojtkielewicz
Der Moment des Bären
Olga Tokarczuks neuestes Buch stellt eine besondere Art der Einheit dar,
auch wenn es nicht als Einheit geschrieben wurde. Die Sammlung von Artikeln, Vorworten, Gelegenheitsauftritten, Gedankenspielen und manches
Mal auch feuilletonistischen Scherzen wird unerwartet zu einem wichtigen
Kompendium der Philosophie der Schriftstellerin. Und auch zu einem Manifest der politischen Ideen. Tokarczuk hat das politische Potenzial ihres
Schreibens nie bestritten, es nie der eigenen künstlerischen Freiheit oder
Vervollkommnung der literarischen Form entgegengestellt. Ganz im Gegenteil betrachtet sie gerade die Fähigkeit zur Reaktion auf Gewalt, Ausbeutung, propagandistische Lügen in der Welt der Herrschenden als eine ihrer
schriftstellerischen Pflichten. Unter einer einzigen Bedingung allerdings:
Dass sie selbst in ihrer eigenen Sprache und nach ihren eigenen Vorstellungen die Ideen formuliert und ausspricht, die heute Gesellschaft und Generationen zusammenhalten. Das Politische und das Literarische trennt die
Autorin von Der Moment des Bären nie voneinander.
Tokarczuk bedient sich häufig der Form des ausgebauten Aphorismus, schafft
manches Mal eigentümliche, sich zu Zyklen zusammenfügende Gleichnisse und dann wieder scherzhafte Reiseführerartikel – wie den „Kleinen Polenführer für Deutsche zum Anlass des EU-Beitritts“. Den Vorrang gab sie
hier jedoch den „Heterotopien“. Der hinterlistig im Untertitel ein „Gesellschaftsspiel“ genannte Text „Wie erfindet man eine Heterotopie?“ ist ein
zurück zum Inhaltsverzeichnis
gut verständlicher – und literarisch hervorragend verarbeiteter! – Vortrag
über Olga Tokarczuks politische Philosophie. Diese ist, führt man sie auf ihre
Grundlagen zurück, keine großartige Entdeckung. Eine Entdeckung ist die
Sprache, welche die Schriftstellerin den Ideen gibt. „Eine andere Welt ist
möglich. Man muss sie sich nur zuerst denken und dann aufschreiben“ – so
lautet, in aller Kürze, das Credo, dem Tokarczuk ihr ganzes Werk verschreibt.
Ihre Heterotopien sind Welten, die beispielsweise die Heteronorm mit ihrer
Anprangerung sexueller Minderheiten in Frage stellen; es ist in ihnen auch
großer Raum für einen heftigen Protest gegen die Misshandlung und den
Verzehr von Tieren.
Manches Mal ist Tokarczuk in Der Moment des Bären todernst, nur um dem Leser kurz darauf den goldenen Sand des Scherzhaften, Erdachten, Amüsanten
in die Augen zu streuen. Radikale Gegnerin jeglicher nationaler Ideologien,
vermag sie ihrem eigenen Polentum auf exzellente Weise Stimme zu verleihen. Und schließlich: der „Moment des Bären“ aus dem Titel, ein Gleichnis
darüber, dass die Verzauberung der Welt nur unter der Bedingung gelingt,
dass vom monotheistischen Verständnis des Wahrheitsbegriffs abgewichen
wird. Ein entschiedenes „Ja!“ zur Literatur, diesem „seltsamen und von
Kraft erfüllten Ort zwischen vielen individuellen Wahrheiten“.
Kazimiera Szczuka
Kleiner subjektiver Polenführer
für Deutsche zum Anlass des EU-Beitritts
Lage
Ungünstig. Großes Flachlandgebiet zwischen Osten und Westen, zwei raubgierigen Großmächten, zwei zivilisatorischen Urgewalten, erinnert an eine
Ping-Pong-Platte. Von Napoleon bis zum Zweiten Weltkrieg Bühne aller großen Schlachten. Das Gute an einer solchen Lage: Überallhin ist es nah.
Grenzen
Recht flexibel. In einigen geschichtlichen Epochen weit, manchmal gar von
der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. In anderen ganz verschwunden. Zuletzt
in Jalta von drei Großmächten – USA, Großbritannien, Sowjetunion – nach
eigenem Ermessen festgelegt, wodurch Polen Lwów und Wilno verlor und
Wrocław und Szczecin gewann. Ob das gut oder schlecht ist, wird noch immer diskutiert.
Sprache
Slawisch, angeblich sehr schwierig wegen der vielen Zischlaute (wer das nicht
glaubt, der lese laut „Chrząszcz brzmi w trzcinie“). Etablierte sich nach der
Abschaffung des Lateinischen im multikulturellen polnischen Staat als gemeinsame Sprache und war, als es den polnischen Staat nicht gab, einziger
Träger der gemeinsamen Identität. Wird deswegen von den Polen hoch geschätzt, die sogar den Ausdruck „ojczyzna-polszczyzna“ schufen, der so viel
bedeutet wie: „Unsere Heimat ist die polnische Sprache“. Heute sprechen auf
der Welt über 50 Millionen Menschen Polnisch.
Bevölkerung
Fast 40 Millionen im In- und um die 10 Millionen im Ausland (siehe „Emigration”). Das Ergebnis einer jahrhundertelangen ethnischen Durchmischung
(Ukrainer, Juden, Weißrussen, Litauer, Deutsche, Schlesier und sogar Tataren). Dass jeder Pole einen Schnauzbart trägt, ist nicht wahr.
Frauen
Hier gibt es das noch nicht ganz aufgeklärte soziologische Phänomen, dass
ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von Polinnen auswandert und im Ausland heiratet, wodurch inoffizielle diplomatische Minivertretungen entstehen.
Dank diesen trifft man, wenn man als Pole durch die Welt reist, überall auf
die Seinen. Möglicherweise befassen sich mit diesem Phänomen aber schon
die Geheimdienste der anderen Länder.
Religion
Der polnische Katholizismus. Eine besondere Art des Katholizismus: Es kennzeichnen ihn eine starke Verbundenheit mit der nationalen Identität und dem
Gefühl einer Mission (siehe „Große Mythen“) und ein besonders ausgeprägter Marienkult. Der Kirche zufolge ist die Muttergottes die unstürzbare und
einzige Königin Polens. Von diesem Gesichtspunkt her kann die polnische
Staatsform zu den Monarchien gezählt werden. Die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche erklären in Polen 95,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung
(in Spanien sind es 94,1 und in Italien 97,1 Prozent; die statistischen Jahrbücher geben nicht an, welcher Prozentsatz seinen religiösen Glauben auch
praktiziert). Dieser Zustand besteht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges,
als Polen infolge dieses Krieges und der geopolitischen Verschiebungen (siehe
„Grenzen“) aufhörte, ein multikultureller und multiethnischer Staat zu sein.
Kunst und Kultur
Der höchste Pro-Kopf-Poetisierungsfaktor. In Polen schreiben ungefähr hunderttausend Menschen Gedichte, darunter zwei Nobelpreisträger, die noch
dazu in ein und derselben Stadt lebten – Krakau.
Wissenschaft
Polen ist eine der bedeutenderen Eliteschmieden der Wissenschaft. Die überwiegende Mehrheit der in Polen ausgebildeten Wissenschaftler arbeitet jedoch
außerhalb Polens und trägt so zum Wohle der Menschheit bei (siehe „Emigration“). Achtung: In Polen hat niemand Zweifel daran, dass Kopernikus Pole war.
Stabilisierter Krisenzustand
Der natürliche gesellschaftspolitische Zustand, an den die Polen seit Generationen gewöhnt sind und mit dem sie wunderbar zurechtkommen. Es steht zu
befürchten, dass jedwede Normalisierung der Verhältnisse zu gesellschaftlichen Unruhen führt.
Nationaler Charakter
Die Polen machen auf den ersten Blick einen recht mürrischen Eindruck, wirken manchmal gar arrogant. Individualisten kommen vor, Exzentriker eher
nicht. Häufig verhalten sie sich um des lieben Friedens willen konformistisch,
auch wenn paradoxerweise jede Art der Herrschaft ihr Misstrauen weckt und
sie somit geborene Anarchisten sind. Achtung: Polenwitze mögen sie nicht.
Ihre Laune pendelt zwischen Bewunderung für sich selbst und einem melancholischen Minderwertigkeitsgefühl.
41
Große Mythen
Erstens: Polen ist das Antemurale Christianitatis, das Bollwerk der Christenheit.
Damit verbindet sich die Pflicht zur Verteidigung der westlichen Zivilisation
gegen die Barbaren (hier findet sich eine entfernte Ähnlichkeit zum Selbstbild
der Ungarn und Spanier). Zweitens: Vor zweihundert Jahren bildete sich aus
einem sehr engen Zusammenleben mit der jüdischen Kultur bei den Polen der
Begriff des nationalen Messianismus heraus. Das ist die Überzeugung von der
eigenen Außergewöhnlichkeit und der Mission, den Rest der Welt zu erlösen,
wobei die Leiden der Nation Teil dieser Mission sind. Die Polen sind bekannt
dafür, überall auf der Welt sofort zur Hilfe zu eilen, wo Freiheit und Unabhängigkeit in Gefahr sind. Die Realisierung dieser Mythen ist sehr kostspielig und
wird von den Verteidigten und Geretteten normalerweise nicht verstanden.
Küche
Wenig spektakulär, der deutschen recht ähnlich. Als typisch polnische Gerichte gelten ukrainischer Borschtsch, russische Piroggen und Karpfen nach jüdischer Art. Empfehlenswert sind hingegen die Pilzgerichte und der polnische
Bergkäse. Polen gehört zu den unglückseligen Orten Europas, an denen keine
Weinreben wachsen und die Bewohner somit lernten, Wodka zu produzieren.
In letzter Zeit nimmt jedoch im Zusammenhang mit der Erderwärmung der
Genuss importierter Weine zu. Es ist nicht wahr, dass der Pole in Europa den
meisten Alkohol zu sich nimmt. Statistiken zeigen, dass der Alkoholgenuss
sich nur leicht über dem Durchschnitt ansiedelt.
Städte
Warszawa – das Hongkong Mitteleuropas. Hauptstadt des Landes und Sitz
der Politiker. Eine eilige Stadt mit einer Besessenheit für Neues, Erfolg und
Geld. Polenweit die stärkste Invasion von Anglizismen. Bewohner der Provinzen verstehen hier nicht viel. Eine schöne neue Altstadt.
Kraków – hält seit Jahren traditionell an der Einteilung der Bevölkerung
fest: die Hälfte sind Künstler, die Hälfte Philister. Dank dieser dialektischen
Spannung blühen hier Kunst und Kultur.
Wrocław – eine deutsche Stadt, vollkommen zerstört von den Deutschen,
wiederaufgebaut und bewohnt von den Polen, hauptsächlich aus Lwów und
Umgebung.
Land
In westlichen Dokumentarfilmen über die polnische Landwirtschaft werden
mit großer Vorliebe und in langen Sequenzen Pferdewagen gezeigt. Es besteht
der Verdacht, dass irgendein Logistikunternehmen ihren Verleih organisiert.
Verdienste für die Welt
Erstens: die fachmännische und diskrete Demontage des Kommunismus.
Zweitens: die Einführung des Kaffeetrinkens in Europa und Eröffnung der
ersten Kaffeehäuser in Wien. Drittens: die Erfindung des Baseballs für die
Amerikaner (was diese bis heute viel Aufmerksamkeit kostet); laut Norman
Davies soll er vom Schlagballspiel der polnischen Emigranten abgeleitet sein.
Viertens: die polnische Wurst.
Was Polen in die EU einbringen kann
Die Fähigkeit, in schwierigen Situationen zurechtzukommen (siehe „Stabilisierter Krisenzustand“).
Das Talent, Löcher im Steuerrecht ausfindig zu machen. Den Bialowiezer
Urwald. Etwas Chaos.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
WYDAWNICTWO KRYTYKI POLITYCZNEJ, WARSZAWA 2012
125 × 195, 192 PAGES
ISBN: 978-83-62467-36-5
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM
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42
FILIP SPRINGER
FILIP SPRINGER (GEB. 1982),
JOURNALISTISCHER AUTODIDAKT,
ARBEITET SEIT 2006 ALS
REPORTER UND FOTOGRAF.
VERGANGENES JAHR DEBÜTIERTE
ER MIT DEM REPORTAGEBUCH
MIEDZIANKA. HISTORIA ZNIKANIA
[MIEDZIANKA. EINE GESCHICHTE
DES VERSCHWINDENS].
Photo: private
Von schlechter Geburt
Bücher und Ausstellungen wie David Crowleys Cold war modern haben gezeigt, dass die Architektur und die Ideologie der späten Moderne eine wichtige Front im ideologischen Krieg zwischen den beiden Seiten des eisernen
Vorhangs waren. In den ehemaligen Ostblockländern fand sich diese Architektur auf der Müllhalde der Geschichte wieder. Besonders die kritiklos kapitalismusfaszinierten Polen zerstören bis heute mit der Leidenschaft von
Neophyten alles an die Vergangenheit Erinnernde. Auf den Trümmern des
Warschauer Supermarktes Supersam oder des brutalistischen Kattowitzer
Bahnhofes erschien jedoch eine junge Generation von Aktivisten, Kunsthistorikern, Künstlern und Schriftstellern. Weitere Ausstellungen, Publikationen und Bücher verteidigen oder beschreiben ganz einfach die Kunst
zur Zeit des Kommunismus, inklusive der sozialistischen Moderne, die sich
als von „schlechter Geburt“ erwies, was der Titel von Filip Springers Buch
ausgezeichnet wiedergibt. Der Journalist und Fotograf betrachtet die Denkmäler der vorherigen Epoche mit dem unschuldigen Blick des gerade einmal
sieben Jahre vor den ersten freien Wahlen Geborenen und stellt fest, das sei
doch „gute Architektur“!
Von schlechter Geburt ist sowohl ein mit wertvollen archivalischen und Springers gegenwärtigen Aufnahmen gefülltes Fotoalbum als auch eine Sammlung von Reportagen über bauliche Stiefkinder. Beide Narrationen ergänzen einander hervorragend. Wichtiger als die gebrandmarkten Bauprojekte
erweisen sich nämlich die Architektenschicksale, die die Wirklichkeit der
Volksrepublik Polen in den vielfältigsten Schattierungen zeigen. Der Auzurück zum Inhaltsverzeichnis
tor deckt die Schicksale der Kriegsgeneration auf, die nach dem Sieg des
Kommunismus an Weichsel und Oder nach einer lokalen Version der Moderne
suchte. Besonders spannend sind deren Spiele mit den Machthabern. In den
Zeiten des Stalinismus, als die Behörden mit bitterem Ernst auf dem historisierenden Stil des Sozrealismus bestehen, errichtet der Kunsthistoriker und
Architekt Marek Leykam für die Regierung eine eklektische Kopie der italienischen Renaissancedenkmäler. In Kattowitz bekommen die Architekten
Buszko und Franta den besonderen Segen des lokalen Parteibonzen erteilt.
Der Warschauer Architekt und Städteplaner Jerzy Hryniewiecki spottet öffentlich über die Regierung und ihre Machthaber und erhält trotzdem die
Aufsicht über die wichtigsten und ehrgeizigsten Projekte, indem er sie dank
seiner Beziehungen aus der Zeit in einem deutschen Gefangenenlager durch
die entsprechenden Kabinette schleust.
Der Reportagenschreiber Filip Springer baut daher im Grunde auf die Menschen und nicht auf die Architektur. Doch zwischen den Zeilen seines Buches scheinen auch die Schicksale der Gebäude nach dem Jahr 1989 durch,
der Umbau und die Eingrenzung von Wohnsiedlungen, die Zerstörung ihrer
Struktur durch neue Investitionen. Immer noch offen bleibt hingegen die
Frage: Lässt es sich in diesen künstlerisch genialen, modernen Symbolen für
den Stil eines offiziellen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ überhaupt
wohnen?
Max Cegielski
Lord Vader gegen
die Quelle der Wahrheit
In tiefstem Granitschwarz schimmernd tauchte er recht unvermittelt an der
Bracka-Straße auf und füllte die Lücke in der südlichen Frontfassade an den
Jerozolimskie-Alleen. Es war das Jahr 2011, eben waren die Baugerüste verschwunden, und so blieben die Vorbeigehenden stehen und legten den Kopf
in den Nacken, um ihn sich anzusehen. Gewöhnlich schauten sie schweigend
und gingen nach einer Weile in ihre Richtung weiter. Er zog jedoch magisch
an, sie drehten sich noch einmal um und schenkten ihm einen letzten Blick.
Vielleicht dachten sie sogar noch an ihn, wenn sie in den Bus stiegen oder um
die Ecke bogen.
Andere Bezeichnungen für Lord Vader: Sarkophag, Totenschuh, Monolith.
Mit einem Wort: Die dunkle Seite der Macht.
Es ist eines der letzten Bauprojekte Stefan Kuryłowiczs. Das pechschwarze
Einkaufs- und Bürozentrum ließ die bekannte Krakauer Familie Likus hier
erbauen. Mit seinen abgerundeten Ecken korrespondiert das von Kuryłowicz
entworfene Gebäude mit dem gegenüberliegenden Zentralen Warenhaus,
heute allgemein „Smyk“ („Knirps“) genannt. Der helle, modernistische Sandsteinblock des Smyk und Kuryłowiczs schwarzer Monolith begannen einen
Dialog, eine architektonische Konversation. Das ist gut. Vielleicht blieben die
Vorbeigehenden – wenn auch völlig unbewusst – gerade deshalb hier stehen,
um sich diese Schwärze anzusehen.
Darth Vader zog jedoch nicht nur magisch an. Der schwarze undurchdringliche Block hatte noch eine weitere Eigenschaft. Er konnte vernichten. Das,
was er absorbierte, war seine Antithese, sein völliges Gegenteil. Es war eine
Wolke aus Licht und Luft, ein Glänzen. Ein Kritiker schrieb gar darüber:
„Wer das nicht gesehen hat, wird die Quelle der Wahrheit nie begreifen.“
Diese Quelle nannte sich „Chemiepavillon”. Entworfen haben ihn Jan
Bogusławski und Bohdan Gniewiewski, und in Trümmern lag er am elften
April 2008.
Die Kritiker konnten sich kaum fassen vor Begeisterung über das, was im
Jahr 1960 an der Ecke Bracka- und Nowogrodzka-Straße im Entstehen begriffen war. Bereits der Ort war nicht zufällig gewählt – die Bracka war die
natürliche Fußwegsverbindung zwischen dem Trzech Krzyży-Platz und dem
Zentralen Warenhaus an den Jerozolimskie-Alleen und, etwas weiter, der
Chmielna-Straße. Gerade aus städtebaulichen Gründen wurde hier ein Spalt
in der Bebauung und ein kleiner Platz gelassen. Den Pavillon selbst beherrschten asymmetrische Formen und viel Licht. Er war fast vollständig verglast,
stützte sich auf kunstvolle, V-förmige Pfeiler und einen von außen unsichtbaren Betonsockel. So erweckte er den Eindruck, ganz aus Glas zu sein und sich
nur dank unsichtbarer Kräfte zu halten. Oder eben dank des Lichtes, das an
den Abenden sein ganzes Inneres ausfüllte. Es war geradezu ein Übermaß an
Licht, und so drang es durch die unsichtbaren Wände und überflutete die ganze Umgebung. Von der Straße sah der Chemiepavillon wie eine Lichtwolke
aus, eine übernatürliche Kumulation von Energie. Er sah wie etwas Gutes aus.
(Darth Vader sieht wie etwas Schlechtes aus, auch wenn er in Wirklichkeit
nichts Schlechtes ist.)
Ganze Jahre hindurch zog der Chemiepavillon auch wegen seines Warenangebots an, von dem wir heute sagen würden, dass es nicht besonders erlesen
war und in jedem größeren Supermarkt eher einen unteren Rang einnähme.
In den schlichten Zeiten ihrer Geburt lieferte die Quelle der Wahrheit aus
Kunststoff gemachte Schüsseln und Schälchen, Eimer, Bürsten und Deckchen. Sie waren die in exakten Reihen angeordneten Beweise dafür, dass die
heimatliche chemische Industrie nicht nur Düngemittel mit den wundersamen Eigenschaften von Raketentreibstoff produzierte.
Als die Zeit der Lügen vorbei war, fiel die Quelle der Wahrheit in Ungnade. Sie wurde mit Werbeplakaten zugehängt und ihre Neonbuchstaben
verschwanden unter immer neuen Bannern. Die Vitrinen vor dem Eingang
wurden zerstört und mussten entfernt werden, um den dort parkenden Autos
Platz zu machen. Drinnen richtete sich eine private Initiative ein. Alles wurde
hoffnungslos schmutzig und grau. Die wie in einem Kaleidoskop wechselnden
Mieter hatten nicht die Zeit, die Mittel und die Lust, sich um das Gebäude zu
kümmern. Die Quelle der Wahrheit hatte keine begeisternde Wirkung mehr,
sondern nur noch eine abschreckende. Es musste etwas mit ihr geschehen.
Im Jahr 2001 kaufte die Krakauer Familie Likus den Abschnitt zwischen
Nowogrodzka- und Bracka-Straße und den Jerozolimskie-Alleen. Der in seiner Mitte stehende verwahrloste, einst so ätherische Pavillon interessierte sie
nicht im Geringsten. Für das Grundstück hatten sie dicke Millionen ausgegeben, die Investition musste sich lohnen. Sie beschlossen also, Darth Vader hier
hinzustellen, die Verkörperung der dunklen Seite der Macht: ein randvoll mit
43
Luxusartikeln angefülltes Einkaufszentrum, das die weltweit teuersten und
namhaftesten Marken in sich versammelte. Es sollte ein in Warschau noch nie
dagewesener Ort sein.
Ein Konflikt war unausweichlich. Zur ersten Schlacht gegen das Imperium
rückten die Bewohner eines nahen, in der Bracka-Straße 13 gelegenen Mietshauses aus. Nach den Plänen Stefan Kuryłowiczs sollte sich die schwarze und
fast fensterlose Wand des neuen Einkaufszentrums gerade einmal zwölfeinhalb Meter vor ihren Fenstern und Balkonen befinden. Und das bedeutete de
facto die völlige Verdunklung ihrer Wohnungen. Der gerichtliche Kampf um
das Licht dauerte fünf Jahre – dann kamen Wojewodschafts- und Oberstes
Berufungsgericht zu dem Schluss, die Klagen der Bewohner seien unbegründet und das Gebäude könne entstehen. Von Journalisten nach dieser Sache
gefragt, antwortete Kuryłowicz: „Es tut mir ehrlich leid für die Bewohner der
Bracka-Straße 13, aber das ist die Warschauer Innenstadt. Jahrelang war dort
ein scheußlicher Parkplatz. Das Gebäude hat eine Bebauungslücke gefüllt.“
Auf diesem scheußlichen Parkplatz stand auch die Quelle der Wahrheit.
Kuryłowicz muss ihren Wert gekannt haben. Er hatte einen Professorentitel
und zu seinen Seminaren an der Fakultät für Architektur am Warschauer Polytechnikum strömten die Studenten in Massen.
Trotzdem wird am elften April 2008 der Platz eingezäunt und die ersten
Bulldozer fahren beim Chemiepavillon vor. Sein Abriss dauert nicht lange.
Viele Warschauer bemerkten ihn erst, als ihnen auffiel, dass mit dem Pavillon
auch der Secondhandshop verschwunden war, in dem sie sich mit billiger,
gebrauchter Kleidung eingedeckt hatten.
Am Tag nach dem Abriss der Quelle der Wahrheit erscheint in der „Gazeta
Wyborcza” ein Text von Jerzy Majewski. Er schreibt darin, dass die Sache
mit dem Chemiepavillon vor allem ein Zusammenprall der bekanntesten Namen in der Geschichte der polnischen Architektur sei – auf der einen Seite
Bogusławski und Gniewiewski, auf der anderen der absolute Star des freien
Polen, Stefan Kuryłowicz: „Es ist auch ein Zusammenprall zweier verschiedener Denkweisen über die Stadt – die modernistische aus den 1960er Jahren,
voller freier Räume, und die postkommunistische, zufällig erbaute Stadt. Und
schließlich ist es ein Kampf zwischen David und Goliath, in dem zu unserer
Verwunderung Goliath sich als der Gewinner herausstellt.“
2011 ist Kuryłowiczs Einkaufszentrum schließlich fertig, die finstere
schwarze Wand nimmt den Bewohnern der Bracka-Straße 13 erfolgreich die
Sicht auf die Welt. Von der Quelle der Wahrheit, der ätherischen Lichtwolke,
ist nicht die kleinste Spur geblieben. Man könnte sagen, die Dunkelheit ist an
ihre Stelle getreten.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
KARAKTER, KRAKÓW 2012
190 × 245, 272 PAGES
ISBN: 978-83-62376-12-4
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM
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44
MARTA GUZOWSKA
MARTA GUZOWSKA, HAT EINEN
DOKTOR IN ARCHÄOLOGIE UND IST
SEIT ZWÖLF JAHREN MITGLIED DES
AUSGRABUNGSTEAMS IN TROJA.
„DIE OPFERUNG DER POLYXENA“
IST DER ERSTE BAND DER REIHE
VON ARCHÄOLOGIE-KRIMIS UM
DEN PROTAGONISTEN MARIO YBL.
DIE AUTORIN ARBEITET GERADE
AM NÄCHSTEN BAND.
Photo: Farkas Pinter
Die Opferung der Polyxena
Der polnische Kriminalroman wird immer vielseitiger. Zwar dominieren in
diesem Genre immer noch Gegenwarts- und Retro-Krimis, doch immer interessanter präsentieren sich auch Unterarten dieser Gattung, zum Beispiel
der archäologische Kriminalroman, der bei Ausgrabungen spielt und in dem
Wissenschaftler als Ermittler fungieren. Für diese Variante des Genres entschied sich Marta Guzowska in ihrem Debüt „Die Opferung der Polyxena“. Der
Roman eröffnet die Reihe um den Anthropologen Mario Ybl.
Die Autorin hat einen Doktor in Archäologie und ist seit mehreren Jahren
Mitglied des Ausgrabungsteams in den Ruinen des antiken Troja. Kein Wunder also, dass der Roman gerade an diesem Ort spielt. In einem außergewöhnlich heißen Sommer entdeckt ein internationales Team von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen auf einer Nekropole in der
Nähe von Troja ein ungewöhnliches Grab mit den Überresten einer Frau. Die
Forscher vermuten, dass sie einen sensationellen Fund gemacht haben: die
Knochen der mythischen Polyxena. Es stellt sich jedoch heraus, dass das
Skelett durchaus modern ist. Die Wissenschaftler sind nicht nur frustriert,
sondern auch entsetzt, denn jemand fängt an, nach dem Muster antiker
Überlieferungen in Troja Frauen zu morden.
Der Roman von Guzowska verzaubert vor allem aus zwei Gründen. Zum einen
ist man von der Szenerie hingerissen: der Roman spielt in der Türkei und die
Autorin beschreibt vor dem Hintergrund der Intrige das heutige Land, aus
zurück zum Inhaltsverzeichnis
der Sicht eines westlichen Besuchers. Zum anderen fasziniert der Protagonist (und gleichzeitig der Erzähler der Story): der brillante Anthropologe
Mario Ybl.
Es ist schwer, diese Figur in wenigen Worten zu beschreiben. Ybl ist eine
Kreuzung aus Adrian Monk, Indiana Jones und Philipp Marlowe, ein „Säufer,
Possenreißer und Zyniker“, wie er sich selbst charakterisiert. Ein Mann mit
einem ausgesprochen losen Mundwerk und der Gabe, sich die Menschen zu
Feinden zu machen; ein unangepasster Typ, der stets nur das tut, war er will,
ohne Rücksicht auf jegliche Regeln.
Ybl leidet unter Nyctophobie, der krankhaften Angst vor der Dunkelheit,
und er bändigt diese Angst auf die denkbar einfachste Art, indem er sich
abends bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt. Er ist ein einsamer Wolf, der
letztlich – auf eigene Faust und unter zahlreichen Gefahren – das Rätsel der
Morde klären wird.
Robert Ostaszewski
Wenn
euch jemand erzählen sollte, dass die Arbeit eines
Archäologen spannend sei, könnt ihr ihn gleich auslachen. Spannend sind Filme mit Indiana Jones und
Lara Croft. Wobei die letzteren sogar noch besser sind, wegen der ästhetischen
Vorzüge von Angelina Jolie in Shorts. Die Archäologie ist so dermaßen langweilig, dass es einem den Magen umdreht.
Ihr denkt bestimmt, dass das alles so romantisch ist: ein Archäologe in coolen Klamotten steht über einem Erdloch und schaut zu, wie immer weitere
Hiebe mit einer Spitzhacke immer weitere Schichten von Ruinen vergangener
Zivilisationen enthüllen. Tut mir Leid, wenn ich euch enttäuschen sollte, aber
das ist kompletter Schwachsinn. Erstens: vergesst die Spitzhacke. Die meiste
Arbeit auf einer Ausgrabung wird mit einer kleinen Spachtel und einem Pinsel
ausgeführt. Wisst ihr, wie lange es unter solchen Bedingungen dauert, nicht
eine Zivilisation, sondern auch nur einen blöden kaputten Tonkrug auszugraben? Ihr wisst es nicht? Dann stellt es euch vor.
Zweitens, meine werten Herrschaften: es gibt keine verborgenen Zivilisationen. Sie wurden allesamt schon längst entdeckt, katalogisiert und mit Laufzetteln versehen. Die Archäologie ist ungefähr genauso romantisch wie die
Buchhaltung. Auch die Arbeit sieht ähnlich aus, denn sie besteht aus dem
Notieren von Hunderten und Tausenden von Nummern. Nummern von Erdschichten, Nummern von Objekten, Nummern von Scherben, Nummern von
Was-Auch-Immer, verdammt noch mal. Diese Nummern werden später in
eine Datenbank eingearbeitet, analysiert, und anschließend wird ein Bericht
verfasst, der so viel Romantik enthält wie die Quartalsabrechnung eines Zeitungskiosks.
Außerdem fällt es einem normalen Menschen schwer, einen Arbeitstag zu
ertragen, der mit Aufstehen um fünf beginnt, noch vor Sonnenaufgang, und
der lange nach Mitternacht in einem Besäufnis endet – einen Tag, der voller
unendlicher Stunden in der heißen Sonne ist, in einer Hitze, die durch die
Genfer Konvention verboten werden sollte. Ich sage nur eines: wenn irgendein
Gefangener, egal ob ein Politischer oder ein stinknormaler Krimineller, unter solchen Bedingungen arbeiten müsste, hätte Amnesty International schon
längst eingegriffen.
Heute war es genauso wie gestern, vorgestern und an jedem der beschissenen
letzten vierzehn Tage. Die Sonne brannte wie ein atomarer Scheiterhaufen
und der Himmel, von der Farbe und dem Gewicht wie flüssiges Blei, hing zwei
Zentimeter über meinem armen Kopf. Die Erde erhitzte meine Füße durch die
dicken Schuhsohlen hindurch. Nicht einmal der Wind brachte Linderung,
sondern verbrannte die Haut und trieb mir Staub in den Rachen.
Die Bäume waren schon längst zu raschelnden Skeletten geworden, der
Fluss zu einem schlammigen Bachbett, und das Meer zu einem nach Algen
stinkendem Brei. Hinter dem Vorhang aus vibrierender Luft schoben sich weiße Schiffe wie Gespenster durch den engen Hals der Dardanellen. Von dem
Platz aus, an dem ich stehen geblieben war, um zu Atem zu kommen, konnte
man nicht genau sehen, ob sie über das Wasser fuhren oder über die glühenden Felder marschierten. Ein feuchter Dunst verbarg die Inseln Bozcaada und
Tavşan Adası. Nur abends fletschte die untergehende Sonne ihre Zähne und
die Konturen der Eilande wurden lebendig, wie die Figuren aus Kamelhaut
vor dem Seidenvorhang im türkischen Schattentheater.
(…)
Als mich Pola vor einem halben Jahr angerufen hatte, frühmorgens, schlief
ich selbstverständlich noch.
„Erzähl keinen Unsinn“, meinte sie. „Wie spät ist es eigentlich?“
„Mmmm.“
Ich versuchte, auf den Wecker zu schauen. Ich lupfte das Augenlid. Das
Licht der Nachttischlampe blendete mich.
„Egal. Du musst jetzt zuhören. Wir haben eine Nekropole. Die Bulldozer
haben die Fundamente für irgendwelche Datschen gegraben und sind dabei
direkt auf ein Grab gestoßen. Nicht in Troja selbst, zehn Kilometer weiter, an
der Küste. Du weißt, was das bedeutet?“ Pola hielt einladend inne.
„Eee …“
Ich verzichtete auf einen erneuten Versuch, die Augen aufzumachen und
tastete blindlings auf dem Nachtschränkchen herum, auf der Suche nach dem
Wasserglas.
„Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, was es zu bedeuten hat! Das bedeutet, dass es die Begräbnisstätte der Achaier sein könnte!“
„Aha …“, murmelte ich.
45
„Das erste Grab, das die Planierraupe zerstört hatte, war eine Urne. Also
eine Feuerbestattung. Die Fotos sind ein bisschen undeutlich, aber alles
spricht dafür, dass …“
Sie verstummte.
„Du weißt, wovon ich spreche, oder?“
„Nein.“
„Du Banause!“
„Pola“, röchelte ich. „Rufst du mitten in der Nacht an, um mich zu beleidigen? Kannst du nicht bis um neun warten?“
„Kann ich. Die Achaier kamen nach Troja, um die schöne Helena zurückzuholen. Der Trojanische Krieg, vielleicht sagt es dir etwas?“
„Verdammte Scheiße!“
Das Wasserglas tat genau das, was alle Gläser tun, wenn man sie im Dunkeln sucht: es fiel auf den Boden und zerstob in winzige Teilchen.
„Genau!“ In Polas Stimme schwang Befriedigung mit. „Frank hat eine Lizenz und hat mir versprochen, dass ich die Grabung leiten werde. Im ganzen
Abschnitt der Begräbnisstätte. Begreifst du das?“
„Klar.“
„Und du weißt, worum es mir geht?“
„Sicher.“
„Und du weißt, welchen Frank ich meine?“
„Sicher.“
Ein Moment der Stille im Hörer.
„Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche, oder? Und es interessiert dich
nicht einmal besonders. Oder irre ich mich?“
„Nein.“
Ein Moment der Stille.
„Ich werde einen Anthropologen brauchen.“
Mit zugekniffenen Augenlidern setzte ich mich auf den Bettrand und stellte
die Füße auf dem kalten Fußboden ab. Von den Fenstern her zog es fürchterlich; ich konnte mich die ganze Zeit nicht aufraffen, sie abzudichten. Ich rieb
mit den Handflächen über die Stoppeln in meinem Gesicht und räusperte
mich ein paar Mal.
„Was hat das mit mir zu tun?“
„Im Juli. Oder Anfang August. Und ich möchte, dass du mindestens zwei
Studenten mitbringst.“
„Pola …“
„Ehrlich gesagt hätte ich gerne jemanden von den höheren Semestern. Oder
Doktoranden, damit du sie nicht ständig beaufsichtigen musst.“
„Pola …“
Es gelang mir endlich, ein Auge aufzumachen und einen Blick auf den Wecker zu werfen. Der rote Doppelpunkt zwischen der Zwei und der Dreißig
pulsierte in einem hypnotischen, schläfrigen Rhythmus.
„Pola, es ist halb drei Uhr. Morgens. Am siebten Januar.“
Sie verstummte für einen Augenblick und sagte dann leise:
„Ich dachte, du würdest dich freuen …“
Also freute ich mich. Hatte ich eine andere Wahl?
Aus dem Polnischen von Paulina Schulz
W.A.B., WARSZAWA 2012
123 × 195, 432 PAGES
ISBN: 978-83-7747-646-8
TRANSLATION RIGHTS: W.A.B.
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©Das Polnische Buchinstitut, Krakau 2012
Redaktion: Izabella Kaluta, Andre Rudolph
Übersetzung: Olaf Kühl, Joanna Manc, Lisa Palmes, Antje Ritter-Jasińska,
Paulina Schulz, Benjamin Voelkel, Thomas Weiler
Weitere Informationen über die polnische Literatur auf:
www.bookinstitute.pl
Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel
New Book From Poland Fall 2012 kann über
das Buchinstitut bezogen werden.
Graphik und Satz:
Studio Otwarte, Krakau
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